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Der Beginn der Sprache

Beim folgenden Text handelt es sich um eine Abschrift der Seiten 240 bis 244 und 263
bis 269 des Buches Warum der Mensch spricht von Ruth Berger∗.

Indizien
1. Dicke Nervenkanäle zur Atemkontrolle sind ein anatomisches Indiz für Sprache.
Sie finden sich seit den frühesten echten Urmenschen (Homo ergaster vor 1,8
Millionen Jahren.

2. Ein 1952 gefundener, 600 000 Jahre alter Heidelbergensis-Schädel ist der
früheste direkte Beleg für die typisch menschliche Zungenbeinform. Ein kürzlich
entdecktes, 3,3 Millionen Jahre altes Australopithecus–Baby besass dagegen ein
schimpansenartiges Zungenbein. Anatomische Modellrechnungen zeigen: Der
Übergang zur menschlichen Zungenbeinform geschah wahrscheinlich schon bei
der Entstehung der Art Homo ergaster vor über 1,8 Millionen Jahren. Ein
Hinweis mehr, dass dieser frühe Urmensch seines Stimmapparates anders
verwendete als seine Ahnen.

3. Über die Hörfähigkeiten noch älterer Menschenformen weiss man nichts. Der
Homo heidelbergensis zeigt vor 600 000 Jahren eine sprachtypische
Hörspezialisierung im knöchernen Ohr: Bei diesem Ureuropäer und Vorfahre der
Neandertaler war die Form des Gehörgangs auf die optimale Verstärkung jener
Frequenzen eingestellt, anhand derer sich die Konsonanten menschlicher
Sprachen unterscheiden lassen.

4. Eine wichtige Rolle für das Sprechen spielen Schaltkreise im Gehirn, die unser
sogenanntes «Sprachzentrum», das Broca-Areal, mit tieferen Hirnstrukturen, den
Basalganglien, verbinden. Heute weiss man: Das Broca-Zentrum dient nicht
ausschliesslich der Sprache. Vielmehr dient es allgemein dem Planen und
Verstehen von Handlungen, insbesondere von feinmotorischen Bewegungen der
Hand. Vor etwa 1,5 Millionen Jahren waren diese sprachwichtigen
Hirnstrukturen bereits über das Menschenaffenniveau hinaus entwickelt. Darauf
deutet die Werkzeugkultur der damaligen Menschen hin.

5. Sprechen fordert viele verschiedene geistige Fähigkeiten, einschliesslich dessen,


was man landläufig Intelligenz nennt. Fast jede Struktur des Gehirns ist in
irgendeiner Weise an der Sprachverarbeitung beteiligt. Die allgemeine
Verbesserung der Intelligenz und Lernfähigkeit, wie wir sie von den frühesten
Urmenschen an beobachten können, optimierte also zugleich die
Sprachbegabung unserer Vorfahren.

6. Wörter sind Lautkombinationen, die nur aufgrund einer kulturellen Konvention


etwas bedeuten. Sie stehen symbolisch für das, was sie bezeichnen, auch wenn es
nicht da ist. Sie können sich aufeinander beziehen, bedeuten im Zusammenhang
etwas anderes als jedes Wort einzeln. All dies sind Eigenschaften menschlicher
Sprachen, die in der Tierkommunikation selten oder gar nicht vorkommen.
Dennoch können Menschenaffen diese speziellen Eigenheiten unserer Sprachen
im Grundsatz erlernen. Die wichtigsten Intelligenz-Voraussetzungen für eine sehr
einfache Sprache waren demnach in der menschlichen Evolution früh gegeben,
nämlich schon bei den Vorfahren der frühesten Menschen.

7. Grammatik und Wörter sind von ihrer Funktion her verwandt, von ihrer Form
her nicht scharf trennbar und ergänzen sich. Mehr noch: Die sprachgestörte
Familie Brown und Schlaganfallpatienten zeigen, dass die Artikulation von
Wörtern und die Grammatik neurologisch die gleiche Basis haben. Daher ist es
nicht sinnvoll zu glauben, Urmenschen wären zwar zu Wörtern, nicht aber zu
Grammatik fähig gewesen.


Berger, R. Warum der Mensch spricht. Eichborn Verlag AG, 2008.

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8. Immer wenn wir sprechen, sind all jene uralten Hirnstrukturen aktiv, mit denen
Affen und andere Säugetiere ihre soziale Kommunikation regeln. Viele im Alltag
hochwichtige Funktionen der Sprache sind denn auch mit den Aufgaben von
Tierkommunikation engstens verwandt. Dazu gehören:

− Stimmungssignale: Wir signalisieren beim Sprechen über den Klang unserer


Stimmen, ob wir gerade traurig oder fröhlich, böse oder freundlich gestimmt
sind.
− Bindungs- und Rangsignale: Unsere Grussrituale bestätigen beispielsweise die
soziale Verpflichtung zwischen den sich Grüssenden, und sie verweisen darüber
hinaus auf die Enge der Bindung und die Hierarchieverhältnisse.
− Fitnesssignale: Die Qualität unserer Sprache (gute Artikulation, guter
Wortschatz, korrekte Grammatik ...) ist ein Zeichen für geistige Gesundheit und
Begabung («Fitness» im darwinschen Sinne), das wir Menschen an potenzielle
Kooperationspartner oder Sexualpartner senden. Nicht viel anders, als es
Kanarienvögel beim Trällern tun.
− Signale der Gruppenzugehörigkeit: So wie die gelernten «Passwörter» mancher
Fledermausarten oder der regionale Dialekt von Dompfaffen signalisiert die
kulturell geprägte sprachliche Form unserer Äusserungen den andern, ob wir
«Insider» sind oder «Outsider», waschechte Schwaben oder Zugereiste, Mediziner
oder Laien.

Unsere Sprache stellt in diesen Bereichen natürlich ein leistungsfähigeres,


nuancenreicheres Medium dar als Tierkommunikation. Doch die Funktionen
sind im Grundsatz die gleichen, und sie wären schon mit einfacheren
sprachlichen Mitteln erfüllbar, als wir heute dafür verwenden. Das deutet auf
eine Kontinuität in der Entwicklung von der «Sprache» der Tiere zur Sprache der
modernen Menschen hin.

9. Es gibt Anzeichen aus Neurologie (Spindelneuronen), Körperanatomie (das


Weisse in unseren Augen) und Verhalten, die zeigen: Auch unabhängig von
Sprache sind wir Menschen mehr noch als Menschenaffen auf soziale
Kooperation und Kommunikation aus. Diese Eigenart kann ein Selektionsdruck
für die Entstehung von Sprache gewesen sein.

10. Bei Affen ist es so: Je komplexer das Sozialleben einer Art, desto grösser ihr
Gehirn. Da unsere Vorfahren Menschenaffen waren (und wir nach der
biologischen Klassifizierung immer noch welche sind), können wir davon
ausgehen: Als vor 2,6 bis 2 Millionen Jahren in unserer Linie das Gehirn zu
wachsen begann, wurde das Sozialleben intensiver und komplizierter. Dies und
die vorherigen beiden Punkte legen nahe. Sprache ist als Teil einer sozialen
Spezialisierung des Menschen in genau dieser Zeit entstanden – und nicht
Jahrmillionen später durch Zufallsmutation.

Fazit: (Fast) alle Indizien weisen in die gleiche Richtung. Der sprachliche Weg der
Menschheit hatte bei den ersten echten Urmenschen (Homo ergaster) vor 1,8 Millionen
Jahren bereits begonnen.

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Vom Menschenaffen zur Schrift in 30 Schritten
Bei den Daten für die letzten 50 000 Jahre wurden die Radiokarbon-
Rohdatierungsergebnisse in Kalenderjahre umgerechnet, zudem sind viele Funde in den
letzten Jahren neu und besser datiert worden. Daher rühren etwaige Abweichungen mit
anderer Literatur.

20 Millionen Jahre Menschenaffen∗ (Hominiden) entstehen.


5–8 Millionen Jahre Zeit der letzten gemeinsamen Vorfahren von Menschen und
Schimpansen.
5,5 Millionen Jahre Ardipithecus kaddaba, ein schimpansenähnlicher
Waldbewohner mit Neigung zu aufrechtem Gang (nichts
Ungewöhnliches bei fossilen Menschenaffen).
4,4 Millionen Jahre Ardipithecus ramidus, ähnlich wie kaddaba, aber mit
kleineren Eckzähnen.
4–2,5 Millionen Jahre Australopithecus (entstanden wohl aus Ardipithecus
ramidus), ein Menschenaffe mit menschenähnlichem
Gebiss, lebt in verschiedenen eng verwandten Arten zumeist
an bewaldeten See- und Flussufern und ist spezialisiert auf
(langsamen) aufrechten Gang. Die Australopithecinen haben
ein schimpansenartiges Zungenbein und keine willkürliche
Atemkontrolle.
2,6 Millionen Jahre Die Polkappen vereisen, die Erde rutscht ins Eiszeitalter,
das durch stark schwankendes Klima und Phasen von
Trockenheit gekennzeichnet ist.
2,6 Millionen Jahre Erste behauene Steine (Urheber ein Australopithecus mit
Gehirngrösse wie Schimpanse).
2,6–2 Millionen Jahre Die typischen Australopithecinen verschwinden.
Wahrscheinlich Aufspaltung in zwei Linien: die Gattungen
Homo (grösseres Gehirn bei nur leicht vergrösserten
Zähnen) und Paranthropus (grössere Zähne bei nur leicht
vergrössertem Gehirn). Homo ist in dieser Zeit nur durch
wenige Fragmente nachgewiesen. Einen Unterkiefer rechnet
man zu der nicht von allen anerkannten Art Homo
rudolfensis. Ein anderer Fund zeigt einen Hirnschädel von
600 Millilitern Volumen, ein knappes Drittel mehr als bei
Schimpansen üblich.
1,9 Millionen Jahre Beginn der Blüte der Gattung Homo. Die Artzuteilung aller
sicher in dieser Zeit datierten Fossilien ist fraglich.
Wahrscheinlich Auswanderung nach Asien während einer
feuchten Phase mit guten Lebensbedingungen in der Sahara.


Der Fettdruck zeigt an, dass ein wichtiger Vorfahre hier zum ersten Mal vorkommt.

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1,8 Millionen Jahre Homo ergaster, ein perfekt angepasster Geher und
Läufer, ist erstmals sicher nachgewiesen. Seine erweiterten
Nervenkanäle im Brust-Zwerchfellbereich deuten auf volle
menschliche Feinkontrolle der Atemmuskeln hin.
Schädelvolumina zu dieser Zeit 600 bis 800 Milliliter. Eine
andere Homo-Art, Homo habilis, ist kleiner und sieht
Australopithecus noch etwas ähnlicher.
Home ergaster wird von vielen zu Homo erectus
gerechnet, ein Begriff, der sehr unterschiedlich verwendet
wird. Im weitesten Sinne können damit Home ergaster und
all dessen archaische Nachkommen mit Ausnahme der
Neandertaler gemeint sein. Im engeren Sinne steht Homo
erectus aber für Urmenschen mit stärkeren Brauenwülsten,
lang gezogeneren Schädeln und um circa 200 Milliliter
grösseren Gehirnen als der ganz frühe Homo. Besonders in
Ostasien war dieser Typ verbreitet («Javamensch»). Waren
die verschiedenen Homo-Varianten tatsächlich
verschiedene Arten? Darüber streiten sich die Geister, und
es kommt auch auf die Definition von «Art» an. Dass alle
diese Menschentypen untereinander fruchtbare
Nachkommen hätten zeugen können (wenn sie denn gewollt
hätten), ist sehr wahrscheinlich. Denn sie waren genetisch
nicht weiter voneinander entfernt als heutige Pavianarten.
Diese sind aber untereinander fortpflanzungsfähig und in
den Grenzbebieten kommen Mischlinge vor.
1,5 Millionen Jahre Beginn neuer Techniken in der Steinbearbeitung. Das
Gehirn von Homo ergaster ist weiter gewachsen, liegt jetzt
bei circa 700 bis 900 Millilitern.
1,4 Millionen Jahre Letzter Nachweis von Homo habilis (dessen Gehirn bis zu
seinem wahrscheinlichen Aussterben schrumpfte).
1,2 Millionen Jahre Letzter Nachweis von Paranthropus, dem anderen
Abkömmling der Australopithecinen.
800 000 Jahre Erstmals einzelne Schädel mit über 1 200 Millilitern
Volumen, dicht am heutigen Durchschnitt von circa 1 350
Millilitern. Erstmals Besiedelung Westeuropas
nachgewiesen.
700 000–200 000 Jahre Homo heidelbergensis: Menschen, die ein wenig wie eine
Mischung aus uns heutigen Menschen und Homo erectus
aussehen, deren Schädelvolumen jedoch jetzt bei allen
Individuen im heutigen Normbereich liegt. Gehör angepasst
an Konsonanten; heutige Zungenbeinkonfiguration (erster
direkter Nachweis). Andere Bezeichnung für Homo
heidelbergensis: Manche ordnen ihn Homo erectus zu,
andere sehen ihn als «archaischen Sapiens». In Asien scheint
der Heidelbergensis-Typus etwas jünger zu sein als in Afrika
und Europa.
300 000–100 000 Jahre Homo heidelbergensis entwickelt sich in Afrika zu Homo
sapiens; in Europa und Westasien zu Homo
neanderthalensis. Diese Schwesterspezies unterscheiden
sich in Gesicht- und Schädelform stärker als Schimpansen
und Bonobos, sind jedoch genetisch enger verwandt als
diese. Bei beiden erreicht die durchschnittliche Grösse der
Hirnschädel Spitzenwerte, die in der nacheiszeitlichen
Phase wieder abfallen.
100 000 Jahre Erste Nachweise von Schmuck (Muschelperlen, Homo
sapiens, Afrika).
100 000 Jahre Erste nachgewiesene Bestattung bei Homo sapiens (Israel).

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70 000–65 000 Jahre Auswanderbewegung von Homo sapiens aus Afrika nach
Südasien. Vielleicht in der gleichen Zeit
Auswanderbewegung von Neandertalern nach Zentralasien
und Sibirien, wo sie wenig später erstmals nachweisbar sind.
Im Nahen Osten finden sie sich schon seit etwa 120 000
Jahren.
70 000–40 000 Jahre Neandertaler im Nahen Osten, Frankreich dem Balkan und
Zentralasien bestatten ihre Toten.
50 000? Jahre Neandertaler gewinnen Birkenpech, einen Kunststoff, durch
Destillation.
50 000? Jahre In Südasien finden sich noch immer erectusähnliche
Menschen. Möglicherweise gab es Kontakt mit
afrikanischen Einwanderern. Deren Technologie bleibt in
Südostasien und Australien noch lange altertümlich.
43 000 Jahre Warmes Intervall in Europa, dort erster nachgewiesener
Schmuck: Neandertaler tragen Kettenanhänger aus
Tierzähnen und Knochen.
42 000 Jahre Homo sapiens erstmals in Europa nachgewiesen, wandert
während der Warmphase von Westasien aus ein.
Anatomische Hinweise auf gelegentliche Vermischung mit
der Neandertaler-Urbevölkerung.
39 000 Jahre Kältemaximum und ein katastrophischer Vulkanausbruch in
Europa. Die besiedelbare Fläche schrumpft auf ein Drittel.
Danach erste Skulpturen und Wandmalereien, Urheber
vermutlich Homo sapiens (zweite Einwanderungswelle?).
Wahrscheinlich kaum noch Neandertaler diesseits des Ebru.
32 000 Jahre Letzte verlässlich datierte Neandertaler-
Hinterlassenschaften in Gibraltar. Etwas weniger
verlässliche Daten gehen auf der Iberischen Halbinsel bis zu
28 000 Jahren.
28 000 Jahre Sapiens-Kind mit klaren anatomischen Neandertaler-
Merkmalen in Portugal.
18 000 Jahre Sehr kleine Menschen («Hobbits») mit einigen archaischen
Merkmalen leben auf der indonesischen Insel Flores. Der
einzige bislang gefundenen Hirnschädel ist nur so gross wie
bei Schimpansen. Litt das Individuum unter der Krankheit
Mikrozephalie oder war dieses kleine Gehirn typisch für die
Spezies? Handelte es sich um moderne Pygmäen mit
archaischen Merkmalen oder waren diese Wesen
Nachkömmlinge von Homo ergaster, erectus oder gar
habilis, die sich hier knapp zwei Millionen Jahre lang vom
Rest der Menschheit isoliert entwickelten? Niemand kann
das derzeit mit Sicherheit sagen.
12 000 Jahre Ende der letzten Eiszeit, Landwirtschaft auf der nördlichen
Halbkugel, erste Städte.
6 000 Jahre Erste eindeutige Schrift. Damit erster direkter Beleg für die
Sprache.

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