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Texte von Necla Kelek –

Islamkritik
Inhaltsverzeichnis
Die falsche Spur - Sexuelle Gewalt unter Aleviten
Freiheit, die ich meine
Das Minarett ist ein Herrschaftssymbol
Bist du nicht von uns, dann bist du des Teufels
Der Fall Sürücü - Zum Ehrenmord an Hatun Sürücü
Eure Familien, unsere Familien
Die Stereotype des Mr. Buruma
Heimat, ja bitte! - Wie Integration gelingen kann
Scharia, nein! - Die deutschen Türken müssen sich ändern
Sie haben das Leid anderer zugelassen!
Entgegnung - Necla Kelek antwortet 60 Migrationsforschern
Anwälte einer Inszenierung - Islambonus im Ehrenmordprozess?
Islamkonferenz - Sie wollen ein anderes Deutschland
Muslime missbrauchen Rassismusbegriff
Importbräute für verlorene Söhne
Frauen werden zu Unruhestifterinnen stigmatisiert
Glück gibt es nur ohne den Vater
Das ist eine Art Paschatest - Necla Kelek verteidigt Muslim-Fragebogen
Geschwister-Scholl-Preis an Türkei-kritische Schriftstellerin
Es sind verlorene Söhne - Gewalt in muslimischen Familien
Warum türkische Gemüsehändler mit Sarrazin kein Problem haben
Dr. Necla Kelek's Bericht an die Islamkonferenz

Die falsche Spur Top

Aleviten aus aller Welt empören sich über einen deutschen Krimi. Die Gemeinde
stilisiert sich als Opfer von Diskriminierung, um unter den muslimischen Vereinen in
der Öffentlichkeit ihren Platz zu finden. Dabei entspricht das im Film gezeigte Szenario
durchaus der Realität
VON NECLA KELEK - 21.01.2008
Die Aufregung der alevitischen Gemeinde und anderer Migrantenverbände über den
"Tatort"-Krimi "Wem Ehre gebührt" macht stutzig - stehen doch Anlass und Aufregung
offenbar in keinem Verhältnis. Soll hier durch Empörung über Vorurteile gegenüber
Aleviten vielleicht etwas anderes bewirkt werden? Jeden Tag werden im Kino, im
Fernsehen und in der Literatur fiktive Verbrechen gezeigt, und wenn wir genau
hinsehen, steckt in jeder Biografie eine ganze Welt.
Bei dem Protest geht es um zwei Dinge, die gar nicht Thema des Films waren. Zum
einen versucht die alevitische Gemeinde seit langem Anerkennung, vor allem
Gleichberechtigung gegenüber den anderen muslimischen Richtungen, den Schiiten und
Sunniten, zu erlangen. Und zum anderen wollen die Aleviten - ganz nach dem Motto
"Wehret den Anfängen" - verhindern, dass die Binnenverhältnisse ihrer Gemeinschaft,
das Verhältnis der Aleviten zu ihren Frauen, die Verhältnisse in ihren Familien an die
Öffentlichkeit geraten. Denn die ist nicht anders als bei den Sunniten oder Schiiten.Die
Aleviten sind nicht im Koordinierungsrat der Muslime (KRM) vertreten, weil die
anderen Verbände sie, bis jetzt, nicht als Muslime akzeptieren und die Aleviten sich
bewusst als eigenständige Glaubensrichtung verstehen und sich von ihnen distanzieren.
So ist es ihnen - im Gegensatz zu den anderen Islamvereinen - gelungen, in einigen
Bundesländern als Religionsgemeinschaft anerkannt zu werden. Die Aleviten fühlen
sich und werden in der Türkei immer schon "kollektiv marginalisiert", das heißt, sie
werden ignoriert, verfolgt und ausgegrenzt. Sie unterscheiden sich von anderen
Muslimen durch einen anderen Umgang mit Koran und Bibel, verehren den
"präexistenten" Ali, folgen anderen Gebetsriten, ihre Frauen tragen kein Kopftuch.
Vielen gelten sie deshalb als Musterbeispiel des modernen Islams und der Integration.
Den anderen muslimischen Richtungen gelten die Aleviten nicht als "richtige" Muslime,
weil sie nicht die "fünf Säulen" des sunnitischen wie schiitischen Islams akzeptieren
und praktizieren.

Aleviten verteidigen ihre Ehre


Dass hinter der Aufregung über den "Tatort" mehr stecken muss als die Empörung über
einen Film, wird auch schon durch den Aufwand deutlich, mit dem die Aleviten sich
selbst in die Öffentlichkeit gedrängt haben. Die Demonstration von 20.000 Leuten ist
eine Botschaft an die Politik: Achtung, es gibt viele Aleviten, und die sind bereit, auf
die Straße zu gehen, wenn über sie geredet wird. Sie wenden sich gegen das
"Anschwärzen", wie das türkische Massenblatt Hürriyet die Darstellung des "Tatorts"
nennt, und Verbandssprecher von der Linkspartei bis zur Türkisch-Islamische Union
(Ditib) übten Solidarität wegen der angeblichen Ehrverletzung. Bisher waren die
Aleviten gewohnt, als die guten oder als die anderen Muslime in Ruhe gelassen zu
werden. Aber nun wird auch über sie in der Öffentlichkeit diskutiert. Und sie zeigen,
dass sie, wie andere türkisch-muslimische Männer auch, ihre Ehre verteidigen, wenn es
um ihre Töchter und Frauen geht. "Bis zum Tod" war auf einem Transparent in Köln zu
lesen. Sie wollen, dass Berichte über ihre Art zu leben weiterhin tabu bleiben. Dabei
sollen die Fakten unter den Tisch fallen. Die Aleviten verhalten sich, als wollten sie
durch den organisierten Aufschrei die Sache selbst übertönen. Tatsächlich stellen in der
türkisch-muslimischen und besonders auch der alevitischen Community Gewalt und
sexueller Missbrauch ein ernst zu nehmendes und umfassendes Problem dar.
Alle Untersuchungen, ob in Deutschland oder der Türkei, zeigen, dass in den
muslimisch-patriarchalisch geprägten Gesellschaften - eben auch unter Aleviten -
sexuelle Gewalt Alltag ist. Das Thema wird seit Jahren tabuisiert. Wer es anspricht, den
trifft die Wut, und der wird mit allen Mitteln bekämpft und diffamiert. Der
Sexualtherapeut Halis Cicek, selbst Alevit, hat erschütternde Berichte und
Lebensgeschichten des sexuellen Leidens veröffentlicht. Das Buch heißt "Resmen irza
Gecme" (Die erlaubte Vergewaltigung), ist leider nur auf Türkisch erschienen und
schildert die Probleme auch in den alevitischen Gemeinschaften über alevitische
Männer. Darin beschreibt Cicek, dass psychisches Elend, sexuelle Probleme wie
Impotenz, Depressionen, Sodomie, Pädophilie, Gewalttätigkeiten vieler durch den
Zwang zur Heirat, mangelnde Aufklärung durch die patriarchalisch-religiösen
Verhältnisse hervorgerufen und reproduziert werden. Der Vorwurf, Inzest und Inzucht
seien unter den Aleviten verbreitet, hat neben der diffamierenden Seite ganz reale
Ursachen, die nicht nur im religiösen Bereich zu suchen sind, sondern auch mit der
besonderen Situation als Minderheit zu tun haben. Bei Aleviten heiraten überwiegend
Cousins und Cousinen ersten Grades untereinander.
Grund dafür ist ihre islamische Tradition. Mohammed verheiratete seine Tochter Fatima
mit seinem Neffen Ali, Cousin und Cousine ersten Grades. Sie gelten als Begründer des
Alevitentums, und ihr Beispiel ist Vorbild. Alle alevitischen Geistlichen müssen aus
dieser einen Familie entstammen. Und es gibt in der Tradition dieser Glaubensrichtung
wie auch bei sunnitischen Kurden und Türken in Ostanatolien die Sitte der "Besik
kertmesi", der Babyhochzeit. Dabei werden Mädchen bei der Geburt oder kurz danach
von den Eltern dem Sohn einer verwandten Familie als Braut versprochen. Die
eigentliche Hochzeit wird dann bei Geschlechtsreife vollzogen. Wer das Versprechen
nicht einhält, muss mit Zwang bis hin zu Mord und Blutrache rechnen.
Bei meinen Recherchen im Herbst 2007 in den hauptsächlich von alevitischen Kurden
und Türken bewohnten Gebieten in Südostanatolien berichteten Frauenorganisationen,
dass der "Zwang zur Heirat" für alle gilt, dass aber besonders Kindesheirat und
Verwandtenehe immer noch Praxis in den Dörfern und dass sexueller Missbrauch an der
Tagesordnung ist, dass fast die Hälfte der Mädchen im Alter von 12 bis 16 Jahren
verheiratet werden. Auch die Anzahl der Suizidfälle unter jungen Frauen ist
erschreckend hoch.
Die Empörung der sich in Deutschland aufgeklärt und säkular gebenden Aleviten
müsste diesen Missständen und den missbrauchten Frauen und Mädchen ihrer
Glaubensgemeinschaft gelten. Das wäre die "offene und ehrliche Debatte", die der
Vorsitzende der alevitischen Gemeinde Ali Toprak immer fordert. Den anderen
muslimischen und türkischen Verbänden ist die Aufregung nur recht, kann man sich
wieder mal gemeinsam als Opfer fühlen und gegen die böse deutsche Gesellschaft
wettern.
Die böse deutsche Gesellschaft
Man denkt in diesen Fragen gleich: Das Leben der Muslime, besonders ihr Verhältnis
zu den Frauen, geht die Deutschen nichts an. Solidarität und gemeinsames Auftreten
unter Muslimen und Türken steht wieder, vor allem seit der Wahlkampfdiskussion um
die Jugendkriminalität, an erster Stelle der Tagesordnung. Man kämpft dafür, als
Religionsgemeinschaft anerkannt zu werden, um gleichzeitig weiter unbeobachtet "sein
religiöses Leben" führen zu können. Deshalb wird man nicht gemeinsam gegen das
Gewaltproblem von jugendlichen Migranten tätig, sondern man beklagt die
Vorverurteilung der Migranten durch die Politik. Vor einer Woche hat der KRM zu
einer Konferenz geladen, auf der sich die Muslimvertreter vor der Islamkonferenz gegen
"Islamophobie" und Ausländerfeindlichkeit positionieren wollen. Zu einem
konstruktiven Bekenntnis zur deutschen Gesellschaft konnten sie sich nicht
durchringen. Der kleinste gemeinsame Nenner scheint die Ablehnung, die
Selbstbeschreibung als Opfer zu sein. Wo Bekenntnis zur Verfassung und Rechtstaat,
selbstkritische Prüfung und Diskussion, Diskurs über den Islamismus und die eigenen
Probleme gefragt wären, gibt man wieder mal den zu Unrecht unter Generalverdacht
stehenden Ausländer. Tatsachen wie Zwangsheirat und Frauendiskriminierung werden
als üble Nachrede diffamiert, Religionsfreiheit als Freibrief für unkontrolliertes Handeln
verstanden und Kritik als "Islamophobie" abgetan.
Islamverbände, Türkenvereine und Aleviten formieren sich. Sie positionieren sich
wieder mal als Opfer der deutschen Gesellschaft. Das ist eine alte und bewährte
Masche. Es zeigt aber auch, dass die Migranten- und Islamverbandsfunktionäre nicht in
der Lage sind, sich als Teil der deutschen Gesellschaft zu begreifen. Denn dann würden
sie anders, nämlich offen mit den eigenen Problemen umgehen und nach gemeinsamen
Lösungen suchen. Das ist die eigentliche Nachricht und ein fatales Signal für die
Integration.
Die Diskussion über den "Tatort" führte auf die falsche Spur.
NECLA KELEK, geboren 1957, ist Soziologin, Islamkritikerin und
Migrationsforscherin. Sie hat über den "Islam im Alltag" promoviert und gilt als eine
der streitbarsten Figuren in der Integrationsdebatte. Kelek ist Teilnehmerin in der vom
Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU) initiierten Islamkonferenz.
Quelle: Die falsche Spur

Freiheit, die ich meine Top


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Von Necla Kelek


15. Dezember 2007 Zurzeit leben etwa fünfzehn Millionen Menschen mit einem
anderen als dem deutschen kulturellen Hindergrund in Deutschland, darunter etwa drei
Millionen Muslime und von ihnen etwa 2,4 Millionen Menschen türkischer Herkunft.
Arbeitsmigration war ein Prozess, der beiden Seiten, der deutschen Wirtschaft und den
Migranten, Vorteile brachte, wenn auch die Bedingungen kompliziert waren und die
Belastungen ungleich verteilt. Linke und grüne Politik sah und sieht die gewollte
Zuwanderung unter anderem immer noch als Mittel der globalen sozialen
Umverteilung. Migranten erscheinen als Opfer der internationalen Ausbeutung und sind
deshalb zu schützen.
Die Mehrzahl der Zu- und Einwanderer hat sich trotz alledem in die deutsche
Gesellschaft integriert oder gar assimiliert. Die deutsche Gesellschaft hat - Fehler und
Rückschläge eingerechnet - insgesamt eine große Integrationsleistung vollbracht.
Griechen, Italiener oder Portugiesen kamen wie die Türken als Gastarbeiter nach
Deutschland. Nicht alle Einwanderergruppen hatten die Neigung, sich in ihre Kultur
zurückzuziehen und abzuschotten. Wenn wir von gescheiterter Integration sprechen,
müssen wir differenzieren.
Muslimische Enklaven
Das mehrheitlich von Portugiesen bewohnte Viertel in der Nähe der Landungsbrücken
am Hamburger Hafen zum Beispiel wird von niemandem als Parallelgesellschaft
angesehen, obwohl sehr stark landsmannschaftlich geprägt. Mit seinen Gaststätten, der
Musik, den Kultur- und Sportvereinen und der bilingualen Schule bereichert es die
kulturelle Vielfalt der Stadt. Hier zeigt sich, dass man die kulturelle Identität bewahren
und deutscher Staatsbürger sein kann. Ganz anders die muslimischen Enklaven
Hamburg-Wilhelmsburg und Veddel oder bestimmte Viertel in Berlin, in denen
Polizistinnen nicht auf Streife gehen, weil sie von den Männern nicht akzeptiert werden,
oder in denen arabische Clans mit selbsternannten Friedensrichtern ihre Streitigkeiten
untereinander schlichten. Die Menschen sehen sich als Muslim, Türke oder Araber; die
eigene Kultur und Religion gibt ihnen Identität - in Abgrenzung zur Mehrheitskultur
und nicht als deren Bereicherung.
Wir können davon ausgehen, dass in den nächsten Jahren vor allem in den Großstädten
etwa vierzig Prozent der Bevölkerung einen sogenannten Migrationshintergrund haben.
Die aufnehmende Gesellschaft wird nicht auf Dauer die Mehrheitsgesellschaft sein, und
wenn sie sich nicht heute auf Werte und Formen des Zusammenlebens verständigt und
auch die Einwanderer davon überzeugt, dass die Werte dieser Gesellschaft das
menschliche Miteinander zum Wohle des Einzelnen und aller zu regeln verstehen, dann
wird unsere Demokratie Schaden nehmen und der gesellschaftliche Frieden gefährdet.
Diese Gesellschaft wird sich in Gruppen und Parallelgesellschaften aufspalten. Im
Moment will das, glaube ich, niemand.
Freiheit nur für Männer
In diesem Jahr bin ich vierzig Jahre in Deutschland. Die ersten zehn Jahre meines
Lebens verbrachte ich in Istanbul und in einem Dorf in Anatolien. Mit neunzehn verließ
ich mein Elternhaus, und seit 1994 bin ich deutsche Staatsbürgerin. Ich bin in zwei
Kulturen zu Hause, in der türkisch-muslimischen Familie wurde ich sozialisiert, in der
deutschen Gesellschaft ausgebildet, lernte den kritischen Blick und den
interdisziplinären Diskurs. Für mich bedeutet „Freiheit“ etwas ganz Besonderes. Und
auch etwas Neues, denn das, was das deutsche Wort bedeutet - „unabhängig sein“ -, ist
in der türkisch-muslimischen Erziehung kein Wert. „Freiheit“ habe ich als Kind nur als
etwas Fremdes, den Männern Vorbehaltenes kennengelernt. In der muslimisch-
türkischen Gesellschaft wird das Kind nicht zum Individuum, zur selbständigen Person,
sondern zum Sozialwesen erzogen, das vor allem zu gehorchen und der Familie, der
Gemeinschaft, zu dienen hat. Insbesondere dann, wenn es ein Mädchen ist. Nicht das
Individuum, sondern die Gemeinschaft ist in der türkischen, besonders aber in der
muslimischen Kultur prägend. Das Kollektiv wird über das Individuum gestellt.
Der Einzelne wird als Teil der Familie, des Clans, des Landes gesehen, und so haben
zum Beispiel die Gruppenziele in der türkischen Verfassung eine größere Bedeutung als
der Schutz des Individuums. Aus ebendiesem Grund versuchen türkische und
muslimische Verbände, auch ihre Interessen als Gruppe durchzusetzen. „Hürriyet“ heißt
auf Türkisch Freiheit. Dieses Wort stammt von dem arabischen Begriff hurriya ab, der
in seiner ursprünglichen Bedeutung das Gegenteil von Sklaverei meint, und nicht das,
was in der westlichen Tradition mit „libertas“ verbunden wird, die Befreiung des
Einzelnen von jedweder, auch religiöser Bevormundung. Für gläubige Muslime besteht
Freiheit in der bewussten Entscheidung, „den Vorschriften des Islam zu gehorchen“. So
wird von den Islamvereinen auch das Grundrecht „Religionsfreiheit“ verstanden,
nämlich als Recht, in diesem Land dem Islam gehorchen zu dürfen. Dass diese
Auffassung so ganz anders ist als unser europäischer Begriff von Freiheit, markiert die
kulturelle Differenz.
Der Gewalt ausgeliefert
Als Jugendliche fragte ich meine Mutter, wann ich frei sein würde, in dem Sinne, wann
ich denn für mich entscheiden könne, was ich tun will. Sie antwortete: „Die Freiheit ist
nicht für uns gemacht.“ Sie verstand meine Frage im Grunde auch gar nicht. Für sie war
„frei sein“ gleichbedeutend mit „vogelfrei“, das heißt ohne Schutz zu sein. „Frei sein“
ist schutzlos, verlassen sein; die Frau ist im Zweifelsfall der Gewalt der Männer
ausgeliefert. Die Männer schützen die Frauen vor der Gewalt fremder Männer. Ist der
eigene Mann gewalttätig, so ist das Kismet. Männer, das sind in der Lebenswelt der
muslimischen Frauen Beschützer und Bewacher. Und Männer sind die Öffentlichkeit,
die Frauen deren Privatheit.
Natürlich gibt es Frauen, denen es gelungen ist, sich diesem kulturellen System zu
entziehen, weil es den Anforderungen der modernen Gesellschaft und den Wünschen
der Frauen in der heutigen Zeit widerspricht. Und zum Glück bietet unsere Gesellschaft
diese Möglichkeit. Diejenigen, die es geschafft haben, sich ihre Freiheit zu nehmen,
vergessen aber leider allzu schnell die anderen und sprechen von ihrem Freiraum, als sei
der für alle selbstverständlich.
Gehorsam als oberstes Prinzip
Wir haben es hier mit einer muslimischen Vorstellungen folgenden Leitkultur zu tun,
die als oberstes Prinzip den Gehorsam gegenüber Gott, als seine Stellvertreter aber auch
den Staat, die Älteren, die Männer oder auch den Bruder kennt. Der Islam beansprucht
als Offenbarungs- und Gesetzesreligion, alle Lebensbereiche zu regeln. Er kennt nicht,
wie der Historiker Dan Diner schreibt, den „Prozess ständiger Interpretation,
Verhandlung und Verwandlung dessen, was entweder ins Innere der Person verlegt oder
nach außen hin entlassen und durch etablierte Institutionen reguliert wird“.
Wir müssen dies vor Augen haben, wenn wir die kulturellen Werte vergleichen. Wir
sprechen von unterschiedlichen Dingen, auch wenn wir dieselben Begriffe verwenden.
Freiheit, Anstand, Würde, Ehre, Schande, Respekt, Dialog - mit alldem verbinden
westlich-europäische Gesellschaften bestimmte Vorstellungen, die von der islamisch-
türkisch-arabischen Kultur ganz anders definiert werden. Es müsste so etwas wie ein
Wörterbuch Islam-Deutsch, Deutsch-Islam erstellt werden, das diese Differenzen
benennt.
Der Mut zur Bratwurst
Ich selbst musste mir meine Freiheit nehmen, sonst hätte ich sie nicht bekommen. Ich
war achtzehn Jahre alt, also volljährig und im letzten Ausbildungsjahr zur technischen
Zeichnerin, als ich auf dem Nachhauseweg von der Arbeit allen Mut zusammennahm,
um - was ich lange beschlossen hatte - eine Bratwurst zu essen.
Bratwürste aßen nur die gavur, die Ungläubigen, denn sie bestehen meist aus
Schweinefleisch - und Schweinefleisch ist haram, verboten. Ich bestellte also die Wurst
und erwartete, dass mit dem ersten Biss sich entweder die Erde auftat und mich
verschlang oder ich vom Blitz erschlagen wurde. Die Wurst war nicht besonders lecker,
aber das Entscheidende war, dass - nichts geschah.
Schwarze Pädagogik
So harmlos sich diese Anekdote anhört, so exemplarisch ist sie für die Sozialisation
vieler muslimischer Kinder. Sie werden vor allem mit Mitteln der „schwarzen
Pädagogik“, also mit Angst und oft auch mit Gewalt, zu Sozialwesen erzogen, die der
Gemeinschaft, sprich den Älteren, gehorsam zu sein haben. Was erlaubt und verboten,
was rein und schmutzig ist, das ist genau definiert. Eine Erziehung zu Selbständigkeit
und Selbstverantwortung ist nicht vorgesehen.
Freiheit, wie wir sie als selbstverständlich ansehen, macht vielen Frauen Angst. Sie
wissen nicht, was es bedeutet, frei und unabhängig zu sein. Wem von Kindesbeinen an
eingebleut wird, dass man zu gehorchen hat, und wer nichts anderes sieht als die
eigenen vier Wände, der fürchtet sich irgendwann vor eigenen Entscheidungen, und sei
es nur, im Wald spazieren oder allein zum Arzt zu gehen. Ich bin deshalb vehement
dafür, dass Kinder, ganz gleich woher sie kommen, erst lernen, sich selbst
auszuprobieren. Dass sie schwimmen, auf Berge klettern, in Museen und Theater gehen,
dass man verhindert, dass sie „freiwillig“ ein Kopftuch aufsetzen, weil sie erst lernen
müssen, unabhängig zu werden und selbständig zu denken.
Selbsterfahrung und Selbstständigkeit
Körperliche und geistige Autonomie ist neben einer guten Ausbildung die
Voraussetzung für Freiheit. Ich möchte, dass alle Kinder möglichst früh, bereits im
Kindergarten mit dieser Kultur der Selbsterfahrung und Selbstständigkeit in Berührung
kommen. Sie lernen das nicht bei einer Mutter, die aus Anatolien kommt, kein Deutsch
spricht und nichts von dieser Gesellschaft weiß. Im Grundgesetz ist die Erziehung das
Privileg der Eltern, aber es gehört für mich auch zu ihrer Pflicht, dies im Sinne der
Freiheit zu tun.
Im türkisch-muslimischen Wertekanon spielt der Begriff „Respekt“ eine große Rolle,
ein weiteres Beispiel für Kulturdifferenz. Respekt vor dem Älteren, dem Stärkeren, vor
der Religion, vor der Türkei, vor Vater, Onkel, Bruder. Wenn ein Abi, ein älterer
Bruder, von Jüngeren oder Fremden „Respekt“ erwartet, fordert er eine Demutsgeste
ein, die absolute Orientierung auf den hierarchisch Höherstehenden, auf ein
patriarchalisches System.
Unterwerfung und Hingabe
Respekt bedeutet deshalb nichts anderes als Unterwerfung - wie auch das Wort „Islam“.
Auch „Islam“ bedeutet im Wortsinn Unterwerfung und Hingabe. „Respekt haben“
bedeutet, die gegebenen Machtverhältnisse anzuerkennen, folglich auch das Prinzip
dieser Religion zu akzeptieren. Seine Meinung zu sagen ist für ein Mädchen gegenüber
einer Älteren oder gar gegenüber einem Mann undenkbar. Die Unterordnung der Frauen
in Frage zu stellen ist undenkbar. Ich habe beobachtet, dass Söhne im Alter von
vielleicht 12 Jahren mit ihren Müttern zum Einkaufen gingen und das Portemonnaie in
der Hand hielten und zahlten, weil der Junge während der Abwesenheit des Vaters als
ältester Mann im Haus das Sagen hat. Die Hierarchie ergibt sich nicht aus einer
natürlichen Autorität, sondern wird über Alter und Geschlecht definiert, und dies ist
gottgegeben.
Gesellschaftlich und im Glauben passiert etwas Ähnliches. Man muss „Respekt“
gegenüber dem Propheten oder der Religion zeigen und darf keine Kritik üben oder
Karikaturen zeichnen, weil man als Muslim - und als Ungläubiger schon gar nicht - kein
Recht hat, die göttliche Ordnung in Frage zu stellen. Man hat auch kein Recht,
überhaupt Fragen zu stellen. Kritische Fragen zu stellen bedeutet zu zweifeln. Zweifel
ist Gotteslästerung. Der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan gebrauchte in
einem Interview die Formel „Unsere Religion ist ohne Fehler“. Mit dieser Feststellung
befindet sich der türkische Ministerpräsident theologisch wieder im siebten Jahrhundert.
Individualismus als Egoismus
Wenn wir im Westen von „Respekt“ sprechen, meinen wir damit Hochachtung,
Rücksicht und auch „gelten lassen“. Man muss sich den „Respekt verdienen“. Dieses
Prinzip der Selbstverantwortung ist vielen Muslimen zutiefst verdächtig. Sie halten
Individualismus für Egoismus. Wir müssen uns darüber klar werden, wenn wir uns auf
unsere Identität als Europäer besinnen, dass die Errungenschaften unserer Kultur und
des Miteinander in Frage gestellt werden - nicht durch einen anderen Glauben oder
besondere Formen der Spiritualität, sondern durch eine anderes politisches und
gesellschaftliches Ideal, durch ein differentes Welt- und Menschenbild. Diese andere
Kultur ist aber nicht tolerant, sondern sie klagt unsere Toleranz ein, um sich selbst zu
entfalten. Dort wo sie die Mehrheit hat oder Muslime bestimmend auftreten können,
verschwinden diese Freiheiten Schritt um Schritt.
Und sie versucht auf vielen Feldern, das „religiöse Leben“ der Muslime als zu
akzeptierende Norm zu etablieren und damit das Leben in unserem Land zu
entsäkularisieren. Der Kopftuchstreit und Moscheebauten sind nur ein Teil dieses
religiös-politischen Kampfes, der von Muslimen unter dem Schleier der
Religionsfreiheit geführt wird.
Lange für Verständnis geworben
Es handelt sich bei der Auseinandersetzung mit dem muslimischen Wertekonsens nicht
um Probleme, die man nur „erklären muss, um sie zu verstehen“. Lange haben die
Integrationsbeauftragten und Islamkundler so gearbeitet, haben sie für Verständnis
geworben, um den Muslimen ein „Ankommen“ in dieser Gesellschaft zu erleichtern.
Wenn wir aber genau hinsehen, werden wir erkennen, dass wir es mit einem
Wertekonflikt zu tun haben. Er berührt die Grundlagen unseres Zusammenlebens und
wird Europa verändern, wenn wir uns nicht zu einer eigenen europäischen Identität
bekennen.
Dieser Konflikt ist seit einiger Zeit Thema auf der deutschen Islamkonferenz, an der ich
teilnehme. Seit fast einem Jahr diskutieren wir mit den Islamverbänden über eine
gemeinsame Erklärung zum Wertekonsens. Der strittige Text lautet: „Grundlage ist
neben unseren Wertvorstellungen und unserem kulturellen Selbstverständnis unsere
freiheitliche und demokratische Ordnung, wie sie sich aus der deutschen und
europäischen Geschichte entwickelt hat und im Grundgesetz ihre verfassungsrechtliche
Ausprägung findet.“ Die Islamverbände des Koordinierungsrates der Muslime weigern
sich bis heute, dieser Formulierung zuzustimmen.
Leere Verfassung
Dass die Funktionäre des Islam dieser so selbstverständlichen Formulierung nicht
zustimmen mögen, hat aber einen einfachen Grund: Sie misstrauen den
Wertvorstellungen von Freiheit und Selbstverantwortung. Sie sagen, wir stehen zur
Verfassung, meinen damit aber nur das Recht auf Religionsfreiheit, meinen ihr Recht
als Gruppe, ungestört ihren Glauben zu leben - nicht aber das Recht auf Freiheit von
Religion oder die Freiheitsrechte Einzelner. In der Satzung des muslimischen
Koordinierungsrates hat man sich auf die Leitkultur „Koran und Sunna“ festgelegt.
Diese muslimischen Vertreter akzeptieren die Verfassung, wollen sie aber nicht mit
Leben füllen.
Der Islam kennt keine Hierarchie, keinen Klerus, keine verbindliche Lehre, sondern nur
die Tradition. Aber selbst der Koran ist in sich widersprüchlich und der Umgang mit
ihm unter Muslimen umstritten, und die Sunna, das Vorbild Mohammeds, ist nichts
weiter als Tradition und Sitte gewordene Ideologie. Trotzdem spricht jeder
Verbandsvertreter für „den Islam“, andererseits hat je nach Lage jedes Problem - vom
Terrorismus bis zur gescheiterten Integration - „nichts mit dem Islam zu tun“. Es gibt
keine Verbindlichkeit und damit auch keine Verantwortlichkeit in dieser
Weltanschauung. „Der Islam ist das, was man daraus macht“, sagt Bassam Tibi. Oder,
wie ich es ausdrücke, der Islam ist das, was die Islamfunktionäre jeweils dafür
ausgeben.
Nicht integrierbar
Für mich ist der Islam als Weltanschauung und Wertesystem nicht in die europäischen
Gesellschaften integrierbar und deshalb generell nicht als Körperschaft öffentlichen
Rechts anzuerkennen. Das ist keine Frage des guten Willens. Es fehlen die
institutionellen, strukturellen und theologischen Voraussetzungen dafür und seinen
Vertretern, mit einem Wort von Habermas, „eine in Überzeugung verwurzelte
Legitimation“. Der Islam ist nicht integrierbar, wohl aber der einzelne Muslim als
Staatsbürger. Er kann in unserer Gesellschaft seinen Glauben und seine Identität
bewahren, denn die europäische Toleranz der Aufklärung begreift die Angehörigen aller
Religionen als gleichberechtigt.
Ein grundlegendes Problem des Islam ist die fehlende Trennung von Staat und Religion,
die spätestens mit der Einführung der Orthodoxie im Jahr 847 staatliche muslimische
Tradition wurde. In den christlichen Gesellschaften fand die Trennung von Religion und
Staat im Zuge der Aufklärung statt. Unter Säkularisierung wird die „Verweltlichung“
einer Gesellschaft verstanden. An die Stelle von Gottes Gesetz trat das von Menschen
gemachte „Gesetz“, das Recht. An die Stelle des von Gott gewollten Schicksals trat der
sein Schicksal selbst in die Hand nehmende vernunftbegabte Mensch. Wahre
Aufklärung ist deshalb auch die Aufklärung des Menschen über seine Grenzen und die
Erkenntnis, eigenverantwortlicher Gestalter des Diesseits zu sein und nicht Vollstrecker
eines jenseitigen Auftrags. Der Glaube wurde dadurch nicht abgeschafft, auch nicht bei
den Christen.
Die Soziologin Necla Kelek, geboren 1957, veröffentlichte zuletzt das Buch „Die
verlorenen Söhne“.
Quelle: Freiheit, die ich meine

Das Minarett ist ein Herrschaftssymbol Top

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Zum Kölner Moscheenstreit - Von Necla Kelek

06. Juni 2007 Ralph Giordano hat einen Fehler gemacht. Er hat sich beklagt, dass
Islamorganisationen in Köln eine Großmoschee bauen wollen, obwohl es seiner
Meinung nach ein falsches Zeichen für die Integration ist. Und er hat sich darüber
mokiert, dass in Köln Frauen im Tschador herumlaufen. Prompt wurde er bedroht und
beschimpft, weil er religiöse Gefühle beleidigt habe. Sein Fehler war, dass er es gewagt
hat, die religiösen Motive der Moscheebauer in Zweifel zu ziehen. Dafür glaubt man,
ihn abstrafen zu dürfen.
Aber Ralph Giordano hat recht. Der Islam ist und macht Politik. Die Kopftücher, die die
Gesichter der Frauen einschnüren, und die farblosen Mäntel, die die Körper der Frauen
verbergen sollen, sind das modisch Unvorteilhafteste, was Schneider je
zusammengenäht haben, nur noch übertroffen vom schwarzen Zelt, dem Tschador: Er
macht die Frauen zu einem entpersönlichten Nichts. Als Muslimin verwahre ich mich
dagegen, dass diese Frauen solch eine Verkleidung im Namen des Islam tragen. Es gibt
dafür keine religiösen, sondern nur politische Begründungen.
Ein sozialer, kein sakraler Ort
Wenn man in Ankara die größte Moschee, die Kocatepe Camii besichtigen will, steht
man zunächst vor einem Einkaufszentrum. Man geht durch die Hosen- und
Hemdenabteilung des Kaufhauses, bevor man den Aufgang zur Moschee findet. Die
riesige Moschee ruht in ihrer ganzen Breite auf einem Geschäft. Das hat Tradition im
Islam, war der Prophet doch selbst Kaufmann; auch beruhen viele Praktiken dieses
Glaubens auf einem Handel mit Gott. Moscheen, masjids, sind Orte, an denen man sich
niederwirft, und sie sind in der islamischen Tradition keine heiligen Stätten, sondern
Plätze, an denen sich die Männer der Gemeinde zum Gebet und Geschäft versammeln.
Die Moschee ist in der islamischen Tradition ein sozialer und kein sakraler Ort.
Mohammed traf sich dort mit seinen Getreuen. Der Koran erwähnt Moscheen nur in
einem Vers: „. . . in Häusern, hinsichtlich derer Gott die Erlaubnis gegeben hat, dass
man sie errichtet und dass sein Name darin erwähnt wird . . .“ (Koran Sure 24, Vers 36).
Moscheen erfüllten, wie der Islamwissenschaftler Peter Heine in seinem Islam-Lexikon
schreibt, administrative Funktionen: „Hier fanden die Sitzungen des Stammesrates statt,
und sie waren Versammlungsorte, wenn sich die Männer zu einem Kriegszug
aufmachten.“ Im Laufe der Geschichte haben sich zwei Arten von Gebetshäusern
herausgebildet. Einmal als Gebetsraum für das tägliche Gebet der Gläubigen, und zum
anderen die „Freitagsmoschee“, in der am Freitag gebetet und die Predigt gehalten wird.
Freitagsmoscheen hatten seit jeher einen politischen Charakter, dort verkündete der
Kalif seine Doktrin. Die Kölner Moschee ist von Größe und Ausstattung her kein
Gebetshaus, sondern eine „Freitagsmoschee“.
Sie verstecken sich in Kulturvereinen
Es ist im Prinzip nichts dagegen zu sagen, dass in Deutschland solche Gebäude errichtet
werden. Es gibt die Religions- und Versammlungsfreiheit. Aber die islamischen
Vereine sind keine anerkannten Religionsgemeinschaften. Sie könnten diesen Antrag
jederzeit in den Bundesländern stellen. So wie es die Aleviten - eine Glaubensrichtung,
die von anderen Islamvereinen nicht als muslimisch anerkannt wird - erfolgreich getan
haben. Dachverbände wie „Milli Görus“ und die von der Türkei gesteuerte „Ditib“
(Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion) haben das versäumt. Sie bauen
erst ihre Moscheen und setzen auf eine politische Anerkennung auf Bundesebene, etwa
als Ergebnis der Islamkonferenz. Bis dahin verstecken sie sich in Kulturvereinen und
hinter anderen rechtlichen Hilfskonstruktionen. Das erspart kritische Fragen nach
Mitgliedern, Finanzierung und dem Einfluss fremder Regierungen auf ihre Statuten.
Moscheen sind selbst nach muslimischer Lesart keine Sakralbauten wie Kirchen oder
Synagogen, sondern „Multifunktionshäuser“. Das wird gern verschwiegen. So wie der
Islam eben keine Kirche ist. Der Islam begreift sich nicht nur als spirituelle Weltsicht,
sondern als Weltanschauung, die das alltägliche Leben, die Politik und den Glauben als
eine untrennbare Einheit sieht. Eine verbindliche theologische Lehre gibt es nicht.
Keimzellen einer Gegengesellschaft
In diesem Sinne haben viele Islamvereine in Deutschland die Funktion einer
Glaubenspartei, einer politischen Interessenvertretung. Deshalb ist die Frage des
Moscheebaus auch keine Frage der Glaubensfreiheit, sondern eine politische Frage.
Bau- und Vereinsrecht sind da überfordert. Ein Kriterium für die Erteilung der
Baugenehmigung für ein Gebäude eines politischen Islamvereins müsste deshalb die
positive Beantwortung der Frage sein: Werden dort die Gesetze eingehalten? Wird, zum
Beispiel, dafür gesorgt, dass Frauen nicht diskriminiert werden? Und eine zweite Frage
darf und muss gestellt werden: Dienen sie der Integration? Hier sind Zweifel
angebracht. So wie in vielen Moscheen in Deutschland der Islam praktiziert wird,
erweist er sich als ein Hindernis für die Integration. Diese Moscheen sind Keimzellen
einer Gegengesellschaft.
Vor allem die größeren Moscheen in Deutschland entwickeln sich zu „Medinas“. Dort
praktizieren die Muslime, was sie das Gesetz Gottes nennen. Dort wird eben nicht nur
die Spiritualität gepflegt und sich um das Seelenheil der Gläubigen gesorgt, sondern
dort wird das Weltbild einer anderen Gesellschaft gelehrt und ein Leben im Sinne der
Scharia praktiziert. Dort üben schon Kinder die Abgrenzung von der deutschen
Gesellschaft, dort lernen sie die Gesellschaft in Gläubige und Ungläubige zu
unterscheiden, dass Frauen den Männern zu dienen haben, dass Deutsche unrein sind,
weil sie Schweinefleisch essen und nicht beschnitten sind.
Diese Moscheen entwickeln sich zu Zentren, in denen wie in einer kleinen Stadt alle
Bedürfnisse abgedeckt werden. So finden sich meist in unmittelbarer Nähe, oft in
örtlicher Einheit, die Koranschule, koschere Lebensmittelläden, Reisebüros, der Friseur,
das Beerdigungsinstitut, Restaurants, Teestuben und anderes mehr - eben alles, was ein
Muslim außerhalb seiner Wohnung braucht, wenn er nicht nur beten, sondern auch
nichts mit der deutschen Gesellschaft zu tun haben will.
Das kann kein Integrationsmodell sein
Frauen werden - es soll eine Ausnahme geben - nur in separaten Räumen geduldet. Eine
Demokratie, vor allem unsere Gesellschaft lebt aber davon, dass Männer und Frauen
gemeinsam in der Öffentlichkeit Verantwortung tragen, sie haben gleiche Rechte, und
sie müssen gleich behandelt werden. Die Trennung der muslimischen Gemeinde in die
der Männer, die in der Moschee sitzen, beten und ihre Geschäfte machen, und die der
Frauen, die in ihre Wohnungen verbannt sind, kann kein Integrationsmodell sein. Wenn
über Moscheebau diskutiert wird, muss darum die Frage gestellt werden, welche
Möglichkeiten der gleichberechtigten Teilhabe die Frauen haben. Solange aber
Moscheen archaische und patriarchalische Strukturen befördern, sind solche Häuser für
mich nicht akzeptabel. Und ich verstehe auch die Repräsentanten und Vertreter der
meisten Parteien nicht, die Toleranz für die Muslime einfordern und gleichzeitig
zulassen, dass Frauen auf diese Art diskriminiert werden.
Muslime beklagen oft, dass sie ihre Gebetsräume in Wohnungen oder stillgelegten
Fabriketagen einrichten mussten. Dabei ist dies durchaus nicht unmuslimisch oder
diskriminierend. Die Ur-Moschee war Mohammeds Wohnhaus in Medina: ein Hof mit
offener Säulenhalle. Erst als der Islam christliche Kirchen eroberte, änderte sich auch
die Architektur der Moscheen. Die Kuppel, wie sie jetzt auch den Kölner Entwurf ziert,
verdankt ihre Idee dem Rundzelt, aber ihre Durchsetzung der Eroberung
Konstantinopels durch die Osmanen. Durch Umwidmung des Kuppelbaus der
byzantinischen Hagia Sophia zur Moschee wurde eine christliche Kirche zum Vorbild
für die türkische Moschee. Minarett und Kuppel wurden Zeichen osmanischer
Herrschaft - auch in Mekka.
Ein politisches Statement des Islam in Beton
Der Entwurf für die Kölner Moschee nimmt diese Tradition des Gestus der Eroberung
auf. Eine offene Kuppel mit stilisierter Weltkugel zeigt noch keine Weltoffenheit. Es ist
entscheidend, was darunter passiert. Man könnte diese Kuppel und das Minarett auch
als Hegemonieanspruch deuten, ganz so wie der Islam sich als „Siegel“, als Vollendung
der Religionen begreift und den Anspruch auf Weltherrschaft reklamiert. Jedenfalls
steht auch dieser Entwurf in osmanischer Tradition und zielt weder von der äußeren
Form, noch von der inneren Funktion her auf Erneuerung oder Integration. Die
Architekten haben geliefert, was ihre konservativen Auftraggeber wollten: ein
politisches Statement des Islam in Beton. Damit steht der Streit um den Bau der Kölner
Moschee in einer Linie mit dem Streit um das Kopftuch. Freitagsmoscheen im Stadtbild
sind wie die Kopftücher auf der Straße ein sichtbares politisches Statement. Es soll
sagen: Wir sind hier, wird sind anders, und wir haben das Recht dazu. Das haben sie
tatsächlich. Nur müssen sie sich dann auch gefallen lassen, dass gefragt wird, was sie
mit diesem Recht anfangen und für diese Gesellschaft tun. Oder geht es nur um
Abgrenzung?
Die islamischen Organisationen drängen auf öffentliche Anerkennung. Sie wollen mit
den christlichen Kirchen gleichgestellt werden. Wie kann man diesen Anspruch besser
deutlich machen als mit Steinen, die sagen: Seht her, wir haben auch solche Gebäude
wie Christen und Juden? Dass sich gegen eine solche Politik Widerstand erhebt, ist
verständlich. Denn die Muslime in Deutschland haben ein großes Problem: das der
Glaubwürdigkeit. Wort und Tat liegen zu oft und zu weit auseinander. Öffentlich gibt
man sich verfassungstreu, doch was in den Gemeinden gedacht und gemacht wird, das
wird verschleiert, dort gibt es keine wirkliche Transparenz.
Anderswo wären muslimische Spenden besser aufgehoben
Mich beschämt, wie sich viele Vertreter der Muslime in Deutschland präsentieren. Es
gibt eine Reihe großer sozialer Probleme: mit der deutschen Sprache, in den Familien,
mit der Erziehung, in Fragen der Gleichberechtigung. Es gibt das Problem der
Jungenkriminalität, der Gewalt in der Familie und mit der Integration. Das sind
drängende Fragen, deren Lösung das Engagement und die millionenteuren Spenden der
Muslime eher bräuchten als die Demonstration von Stärke durch Repräsentativbauten.
Doch immer, wenn diese sozialen Probleme angesprochen werden, wird sofort
behauptet, das habe nichts mit dem Islam zu tun. Doch eine Religion, die den Anspruch
erhebt, alle Aspekte des öffentlichen und privaten Lebens eines Gläubigen in
Vorschriften und Gebote zu fassen - und dies über vierundzwanzig Stunden eines jeden
Tages - kann sich nicht bei erstbester Gelegenheit vor den Folgen dieses Anspruches
drücken.
Wo ist die Spendenkampagne islamischer Organisationen, die es allen Muslimen
ermöglicht, Deutsch zu lernen? Wo sind die Initiativen für frühkindliche Bildung, wo
die Aktion für die Gleichberechtigung der Frau? Fehlanzeige. Man hat Geld für
Architekten und Anwälte und Beton, man gründet Koordinierungsräte und fordert
Anerkennung, ohne auch nur einen Gedanken darauf zu verschwenden, was Muslime
für diese Gesellschaft tun könnten und was sie ihr verdanken. Religionsfreiheit zum
Beispiel, die den Christen, Aleviten, Aramäern in der Türkei und anderen islamischen
Ländern verwehrt wird.
Muslime müssen sich Fragen gefallen lassen
Die Zahl der Sekten und konkurrierender Glaubensrichtungen des Islam ist kaum zu
überschauen, doch wird vorgegeben, man trete gemeinsam auf und es wird die taqiyya,
die Kunst der Verstellung und des Verschweigens der wahren Haltung gegenüber
„Ungläubigen“ praktiziert. Die Initiatoren der Kölner Moschee sind Vertreter der
türkischen Religionsbehörde Diyanet. Was die Ditib in Deutschland vorführt, ist Politik
im Auftrag der türkischen Regierung, nicht aber im Interesse der Muslime, die
mehrheitlich zu vertreten sie jedoch vorgibt.
Die Organisationen sollten sich deshalb nicht wundern, wenn die Sorge und das
Misstrauen wachsen, zumal sie auf Kritik immer wieder beleidigt reagieren. Für unsere
westliche Gesellschaft gilt der Satz von Max Frisch: „Demokratie bedeutet, sich in die
eigenen Angelegenheiten einzumischen.“ Der Islam ist eine Realität in Deutschland.
Und er ist deshalb eine Angelegenheit der ganzen deutschen Gesellschaft. Muslime
müssen es sich gefallen lassen, wenn andere sie fragen, wie sie leben wollen und wie sie
es mit den Grundwerten dieser Gesellschaft halten. So wie es Ralph Giordano in Köln
getan hat.
Quelle: Freiheit, die ich meine

Bist du nicht von uns, dann bist du des Teufels Top


Zur Integration der Muslime - Von Necla Kelek
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25. April 2007 In dieser Woche treffen sich die Vertreter der Islamkonferenz zum
zweiten Mal in ihren Arbeitsgruppen. Es geht um die Integration der Muslime und
somit um das Verhältnis der Religion, des Islam zur Gesellschaft, um Menschenrechte,
die unteilbar sind, auch für muslimische Frauen und Männer. Es wird über europäische
Werte wie die Religionsfreiheit gestritten und den säkularen Staat. Die Publizistin und
Soziologin Necla Kelek („Die fremde Braut“) setzt sich in ihrer Streitschrift mit den
Prämissen auseinander, unter denen diese Gespäche geführt werden. Ohne kritische
Auseinandersetzung mit dem historischen Kontext, dem Koran, islamischen Traditionen
und Sitten, der Freiheitsfeindlichkeit und dem kollektivistischen Gesellschaftsmodell,
das der Islam verfolgt, werde es keine Integration der Muslime in Europa geben.
Islamwissenschaftlern wie Tariq Ramadan wirft sie Frauenfeindlichkeit und eine
Gegenaufklärung vor, die das Ziel hat, die europäische Moderne zu islamisieren und
den Westen zu diffamieren.
In den aktuellen Grenzen der Europäischen Union leben zurzeit mehr als zwanzig
Millionen Menschen, zwölf Millionen davon sind Migranten in Westeuropa, die zu den
Muslimen gerechnet werden und deren Zahl sich in den kommenden Jahren verdoppeln
wird. Erfüllen sich die Wünsche der Türkei, wird der Islam in absehbarer Zukunft ein
bedeutender Faktor nicht nur der Außen-, sondern auch der europäischen Innenpolitik
sein. Die Auseinandersetzung mit dem, was Islam ist und wie er gelebt wird, berührt
also den Kern der europäischen Zukunft.
Der Islam selbst hat in den 1400 Jahren seiner Geschichte in Europa so gut wie keine
Wurzeln schlagen können. Der Islam ist eine arabische Religion, auch wenn sie sich
universalistisch gibt. Er kennt keine Individualität, sein Menschenbild ist nicht gerüstet
für die Moderne, die den selbstverantwortlichen Einzelnen braucht; der Islam verfolgt
ein anderes, ein kollektivistisches Gesellschaftsmodell. Der Islam hat nicht nur den
Anspruch, ein Glaube zu sein, sondern er steht als Religion für die Einheit von Leben,
Glauben, Gesetzen und Politik. Dies widerspricht der Säkularisierung. Der Islam
versucht, seine Rechte als Kollektiv von Gläubigen einzufordern, wobei die aufgeklärte
Gesellschaft zuallererst das Recht des Einzelnen schützt.
Die militärischen Eroberungszüge scheiterten
Wenn jemand bei uns die Haltung der katholischen Kirche zur Verhütung oder zur
Homosexualität kritisiert, würde niemand auf die Idee kommen, dass damit zugleich der
katholische Glaube an sich oder die Religiosität Einzelner in Frage gestellt wird.
Kritisiert man aber die Haltung der Muslime zu Frauen und nennt man diese
unmenschlich, kommt der Einwand, man könne doch den Glauben nicht in Frage
stellen. Das ist das Dilemma des Islam: dass er im Persönlichen ein Weg zur
Spiritualität sein kann, dass niemand das Erleben des Einzelnen in Frage stellen will,
sich aber der einzelne Muslim als ein der Gemeinschaft verpflichtetes Sozialwesen
verhält, das die eigene Anschauung für das Ganze hält.
Die ersten beiden großen Versuche des Islam, in Europa Fuß zu fassen, waren
militärische Eroberungszüge und scheiterten - im siebten Jahrhundert in den Schlachten
von Tours und Poitiers und 1683 vor Wien. Nach seiner intellektuellen Blütezeit im
neunten Jahrhundert, als sich Mohammeds Lehre mit der Ratio des Aristoteles zu
vereinen schien und die Neugier die Wissenschaften entfachte, gewann der Islam
beispielsweise durch den islamischen Gelehrten Ibn Rushd, genannt Averroes (1126 bis
1198), Einfluss auf das christlich-europäische Denken und eröffnete Europa einen
Zugang auf das umfassende Erbe der griechischen Philosophie. Aber spätestens mit
Averroes' Niederlage verschwand der Zweifel und damit auch die Innovationskraft aus
dem islamischen Denken und führte zu dem beklagenswerten Zustand, in dem sich die
islamische Theologie und die Wissenschaften der muslimischen Welt nach
Untersuchungen des Arab Human Development Report der Vereinten Nationen auch
heute noch befinden. Weder von den militärischen noch von den intellektuellen
Niederlagen hat sich der Islam seither erholt. Sie haben vielmehr ein nachhaltiges
Minderwertigkeitsgefühl erzeugt, das seine Kompensation im Fundamentalismus sucht.
Der Versuch, die europäische Moderne zu islamisieren
Diese Haltung hat in Europa in Tariq Ramadan, einem Professor für Islamstudien an der
Universität Oxford, ihren eloquentesten Fürsprecher. Er versucht die offensichtlichen
Niederlagen des Islam in Siege umzudeuten. Ramadan ist ein Vertreter der
Antiaufklärung und der Restauration des Islam. Wenn er in seinem Buch „Der Islam
und der Westen“ zu dem Schluss kommt: „Die islamische Welt ist eine Welt der
Erinnerung“, meint er damit die Haltung, das Streben danach, den Zustand des
„Jahrhunderts des Propheten“ Mohammed wiederherzustellen. Er hält es demzufolge für
sinnlos, gar beleidigend, eine Modernisierung des Islam einzufordern, weil die Umma
im Medina des siebten Jahrhunderts das Ideal der islamischen Gesellschaft darstellt.
Dafür muss er einen großen Teil der islamischen Theologie und Philosophie aus der
Geschichte streichen. So kommen in seiner Darstellung der Geschichte des Islam das
achte bis elfte Jahrhundert gar nicht vor, weil es ihm offensichtlich nicht passt, was die
Mu'taziliiten über die Freiheit des Menschen, die Vernunft und den Glauben mit den
Methoden der Rationalität gemeinsam mit Christen erdachten.
Wenn Tariq Ramadan achthundert Jahre später immer noch die Vernunft und den
Zweifel aus dem Glauben zu verbannen sucht - „Erforschen, erkunden, verstehen
bedeutete niemals, mit Gott in Widerstreit zu treten oder die Spannung des Zweifels
über das höchste Wesen und seine Präsenz zu erfahren“ -, dann bewegt er sich auf einer
Linie mit dem Ajatollah Chomeini, der sagte: „Wir wollen keine Kopfmenschen.“ Und
wie für Chomeini sind auch für Ramadan westliche Werte nichts anderes als Geißeln
des Imperialismus: „Die westliche Lebensweise stützt sich auf und erhält sich durch die
Verführung zur Aufstachelung der natürlichsten und primitivsten Instinkte des
Menschen: sozialer Erfolg, Wille zur Macht, Drang zur Freiheit, Liebe zu Besitz,
sexuelles Bedürfnis usw.“ Obwohl er darüber redet: Zur Integration der Muslime in
Europa trägt Ramadan nichts bei, er sagt, es gehe nicht um eine „Integration der
Muslime in ihre westliche Umwelt, sondern eine Integration der Umwelt in das ewige
Universum der Muslime“. Es ist der Versuch, die europäische Moderne zu islamisieren.
Der „Islam an sich“ soll sauber bleiben
Das Bekenntnis zu westlichen Verfassungen und Gesetzen erscheint in diesem Kontext
als Lippenbekenntniss. Wer wie Ramadan sagt: „Der Koran verbietet es, dass eine
muslimische Frau einen Nichtmuslim heiratet. Wenn das geschieht, dann können wir
sagen, dass die Frau die Gemeinschaft verlässt“. Wer sich dann konsequenterweise
nicht zur Ächtung der Steinigung von Frauen bekennen kann, der schließt sich selbst
aus dem Diskurs über die Reform des Islam und der europäischen Werte aus.
Das scheint ganz im Sinne einer anderen Reformbewegung des Islam, der von der
türkischen Religionsbehörde Diyanet geförderten „Ankaraner Schule“. Den Ankaraner
Gelehrten zufolge ist der Koran kein Buch, sondern eine Rede Gottes an eine bestimmte
Gruppe von Menschen zu einer bestimmten Zeit in einer bestimmten Region. Nur wer
die Umstände der Offenbarung kennt - die Geschehnisse um den Propheten Mohammed
vor 1400 Jahren -, kann verstehen, was Gott den Menschen mitteilt. Nur zehn Prozent
dessen, was der Koran sagen will, stehen im Text, der Rest sei interpretationsbedürftige
Geschichte.
Neu an dieser Auffassung und zu begrüßen ist, dass der Koran im historischen Kontext
gelesen werden soll. Das war überfällig, für die Rechtsschulen aber stellt diese
Auffassung ein Sakrileg dar. Doch ein heiliger Kernbestand bleibt auch in dieser
Auffassung. Sie unterstellt, es gäbe eine „wahre“ göttliche Botschaft, einen mythischen
Kern, der sich nur verberge und den es zu suchen gelte. Um eine historisch-kritische
Annäherung geht es auch den Ankaranern nicht. Eher um eine listige Aussperrung aller
Grausamkeiten der islamischen Geschichte und gegenwärtigen Praxis. Der „Islam an
sich“ bleibt sauber.
Der Prophet als Freund der Frauen
Mir kommt diese Methode vor, als schäle jemand eine Zwiebel, um ihren eigentlichen
Kern freizulegen. Ich fürchte nur, die Häute, der Geruch, der Geschmack, die Tränen
waren schon das Eigentliche. Den Islam von den Sitten, den Riten, den Traditionen, der
Sunna, den Hadithen, dem historischen Kontext zu befreien und zu hoffen, so auf die
eigentliche Offenbarung zu stoßen, scheint mir aussichtslos.
Ähnliche Schwierigkeiten weisen die Argumentationsketten der feministischen
Koranauslegung auf, wie sie in den verdienstvollen Büchern von Fatima Mernissi und
derzeit auch von Nahed Selim mit ihrem Buch „Nehmt den Männern den Koran!“
entwickelt werden. Beide verstehen sich als Teil einer Frauenbewegung im Islam. Beide
wollen den muslimischen Frauen zu ihrem Recht verhelfen und berichten von
aufschlussreichen historischen Begebenheiten um den Propheten, seine Frauen und die
Deutung von Koran und Hadithen. Fatima Mernissi ist bemüht, den Propheten als
Freund der Frauen zu rehabilitieren, und schiebt die Schuld an ihrer Unterdrückung
seinen Nachfolgern zu.
Freiheit erlangt, wer sich Allahs Gesetzen unterwirft
Nahed Selim macht deutlich, welche patriarchalischen Interessen hinter einzelnen
Geschichten um Mohammed und Aisha verborgen sind, und empfiehlt schlicht, die
diskriminierenden Verse des Korans einfach zu ignorieren. Sie schreibt: „Muslimische
Frauen von heute brauchen persönliche, intime Interpretationen der Texte, die so
weitgehend ihr Leben bestimmen . . . Persönliche Interpretationen, in denen die Frau
nicht wie selbstverständlich der geborene Sündenbock der Familienehre ist und dem
Fortbestand des Stammes geopfert wird.“ Ihre Empfehlung lautet: jeder Frau ihren
Koran. Die Frauen sollten doch einfach bestimmte Verse „vergessen“. Solange sich
Frauen in einer ausweglosen sozialen Situation befinden, solange sie „unter“ dem Islam
und „unter“ ihren Männern leben, muss alles, was gepredigt und verlangt wird, darauf
überprüft werden, ob es überhaupt mit den Lehren übereinstimmt. Diese feministische
Interpretation des Korans ist legitim. Aber sie ist nicht die Lösung. Zumindest in Europa
haben wir diese Lösung schon - die Gleichberechtigung der Frau und die Trennung von
Staat und Religion.
Der Koran, Sure 3, Vers 20 sagt über den Kern des Glaubens: „Ich ergebe mich.“
Stellen wir die Frage: Wann ist der Mensch frei? Das arabische Wort für Freiheit ist
„hurriyya“, es meint, erläutert der Historiker Dan Diner, in seiner ursprünglichen
Bedeutung einfach das Gegenteil von Sklaverei und nicht die Befreiung des Einzelnen
von jedweder, auch jeder religiösen Bevormundung sowie das Recht, sich in die
politischen Angelegenheiten einzumischen. Für gläubige Muslime besteht in diesem
Sinne Freiheit in der bewussten Entscheidung, „den Vorschriften des Islam zu
gehorchen“. Freiheit erlangt, wer sich Allahs Gesetzen unterwirft. Und da Gott auf
Erden „vertreten“ wird durch die Väter, die Brüder, die Onkel und so weiter, ist der
Gehorsam gegenüber allen Autoritäten des Patriarchats gottgegeben.
Gleiche Würde, nicht gleiche Rechte
Die europäischen westlichen Gesellschaften halten den Menschen für vernunftbegabt
und fähig, seine Triebe zu beherrschen. Selbst der Mann, der in der eigenen Wohnung
seiner Frau Gewalt antut, muss mit Strafverfolgung rechnen. Wenn die Muslime
meinen, die Triebhaftigkeit des Mannes nur dadurch beherrschen zu können, dass man
die Frau aus der Öffentlichkeit verbannt oder die Frauen und Töchter unter den Schleier
zwingt oder verheiratet, dann widerspricht das den Werten unserer Gesellschaft von der
Selbstbestimmung des Menschen.
Der Koran, Sure 4, Vers 34 sagt: „Die Männer stehen über den Frauen, weil Gott sie
von Natur vor diesen ausgezeichnet hat und wegen der Ausgaben, die sie von ihrem
Vermögen gemacht haben. Und die rechtschaffenden Frauen sind (Gott) demütig
ergeben und geben acht auf das, was den (Außenstehenden) verborgen ist, weil Gott
darum besorgt ist, weil Gott darauf acht gibt. Und wenn ihr fürchtet, dass Frauen sich
auflehnen, dann vermahnt sie, meidet sie im Ehebett und schlagt sie!“
Diese und andere Verse, die die Frauen mal freundlicher, mal feindlicher behandeln,
beschreiben Frauen nicht als Wesen mit gleichen Rechten, sondern bestenfalls mit
gleicher Würde. Die Gesellschaft bleibt vertikal getrennt, in die Gesellschaft der
Männer, denen die Öffentlichkeit gehört und die Gesellschaft der Frauen, die ins Haus
und unter die Herrschaft der Männer gehören. Die Gleichberechtigung von Mann und
Frau, von manchen Muslimvertretern als selbstverständlich dargestellt, gibt es im Islam
nicht. Die ganzen Regelungen des Korans in Bezug auf Scheidung, Kinder, Sexualität
stellen die Männer über die Frauen. Gleichberechtigung unter Muslimen gibt es nur in
säkularen Gesellschaften und auch nur dort, wo die Muslime selbst sich säkularisiert
und keine Parallelgesellschaften gebildet haben.
Zwangsheirat und Jungfernkult
Es gibt Säkularisierung und Gleichberechtigung in keinem islamischen Land, weder in
Iran noch in Marokko, noch für große Gruppen von Frauen in der Türkei, offiziell ein
laizistischer Staat, in dessen Verfassung die Gleichberechtigung verbrieft ist. Der Islam,
seine Traditionen und Riten zwingen die Frauen überall dort, wo der Islam dominiert, in
die Apartheid. Deutlich wird das auch in dem von den muslimischen Gemeinschaften in
Europa praktizierten „Zwang zur Heirat“ und in dem auf den Propheten Mohammed
zurückgehenden Jungfernkult. Der Koran sagt: „Und verheiratet die Ledigen unter euch
und die Rechtschaffenden von euren Sklaven und Sklavinnen.“ Das bedeutet in der
Tradition des islamischen Lebens, dass die Familie oder ein Vormund (ein männlicher
Verwandter), „Wali“, für die Heirat der Kinder verantwortlich sind.
Noch heute gilt in fast 52 Ländern mit muslimischen Ehestandsrecht, dass eine Frau,
ganz gleich welchen Alters, ohne Zustimmung ihres Wali nicht heiraten darf. Die Praxis
der Zwangsheirat und der arrangierten Ehe widerspricht den europäischen Werten und
Gesetzen, wonach niemand zur Ehe genötigt werden darf. Mohammed sagt nach einem
Hadith zu einem Mann, der nicht heiraten will: „Dann bist du nicht von unserer
Gemeinde, dann bist du ein Bruder des Teufels.“ In Europa muss gewährleistet bleiben,
dass jede Frau und jeder Mann frei entscheiden kann, wen, wann und ob er heiraten
will. Das aber ist in der muslimischen Gemeinschaft nicht möglich, denn sie sieht in
dem Menschen kein Individuum, sondern ein Sozialwesen, das der Gemeinschaft der
Muslime, der Umma, verpflichtet ist.
Es geht grundsätzlich um das Selbstverständnis Europas
Am 5. August 1990 unterzeichneten 45 Außenminister der Organisation der Islamischen
Konferenz, des höchsten weltlichen Gremiums der Muslime, die „Kairoer Erklärung der
Menschenrechte“. Darin legten Muslime aus aller Welt gemeinsam ihre Haltung zu den
Menschenrechten dar. Das Dokument hat keinen völkerrechtlich verbindlichen
Charakter, erhellt aber die Haltung des Islam zu den Grundrechten. Die wichtigsten
Feststellungen dieser Erklärung stehen in den letzten beiden Artikeln. Artikel 24: „Alle
Rechte und Freiheiten, die in dieser Erklärung genannt werden, unterstehen der
islamischen Scharia.“ Artikel 25: „Die islamische Scharia ist die einzig zuständige
Quelle für die Auslegung oder Erklärung jedes einzelnen Artikels dieser Erklärung.“
Und in der Präambel heißt es: „Die Mitglieder der Organisation der Islamischen
Konferenz betonen die kulturelle Rolle der islamischen Umma, die von Gott als beste
Nation geschaffen wurde und die der Menschheit eine universale und wohlausgewogene
Zivilisation gebracht hat.“
Anders als in demokratischen Verfassungen ist hier nicht vom Individuum die Rede,
sondern von der Umma, der Gemeinschaft der Gläubigen, vom Kollektiv. In
konsequenter Fortsetzung dessen erkennt die Erklärung der Muslime nur jene Rechte
an, die im Koran festgelegt sind, und wertet - gemäß der Scharia - nur solche Taten als
Verbrechen, über die auch Koran und Sunna gleichermaßen urteilen: „Es gibt kein
Verbrechen und Strafen außer den in der Scharia festgelegten“ (Artikel 19).
Gleichberechtigung ist in dieser Erklärung nicht vorgesehen, dafür soziale Kontrolle
und Denunziation legitimiert, wie Artikel 22 deutlich macht: „Jeder Mensch hat das
Recht, in Einklang mit den Normen der Scharia für das Recht einzutreten, das Gute zu
verfechten und vor dem Unrecht und dem Bösen zu warnen.“ Das ist eine mittelbare
Rechtfertigung von Selbstjustiz.
Wenn wir also über den Islam in Europa reden, müssen wir ganz grundsätzlich über das
Selbstverständnis Europas reden. Bei der geforderten Anerkennung der „Kultur des
Islam“ geht es um Freiheit, Säkularisierung und um Menschenrechte. Können wir, wie
Tariq Ramadan fordert, es den Muslimen überlassen, „selbst zu entscheiden“, was
Integration für sie heißt?
Quelle: Bist du nicht von uns, dann bist du des Teufels

Der Fall Sürücü - Zum Ehrenmord an Hatun Sürücü Top

Sie zahlt den Preis für unsere Freiheit - Von Necla Kelek
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24. April 2006 Es ist von einem Fall geglückter Integration zu berichten. Der Mord an
Hatun Sürücü konnte nur aufgeklärt werden, weil ein achtzehnjähriges türkisches
Mädchen und dessen Mutter den Mut aufbrachten, nicht zu schweigen. Die Rede ist von
Melek, der Zeugin der Anklage. Sie braucht seitdem Polizeischutz, muß unter fremdem
Namen leben und konnte den Gerichtssaal nur mit schußsicherer Weste betreten. Melek
hat mit ihrer Aussage die Ermittlung gegen die drei Brüder Sürücü ermöglicht und dem
Mörder das Geständnis abgetrotzt. Melek hat persönliche und gesellschaftliche
Verantwortung übernommen; ohne sie wäre der Mord unaufgeklärt geblieben.
Wer bei Meleks mehr als zehnstündiger Befragung durch die Verteidiger dabei war und
erlebt hat, wie diese mit sich wiederholenden Fragen versuchten, die Zeugin in
Widersprüche zu verwickeln und unglaubwürdig zu machen, der konnte meinen, dabei
sei es nicht um die Aufklärung einer Mordtat, sondern um die Verschleierung von
Motiven gegangen. Die Verteidiger verfolgten eine Strategie, der das Gericht und die
Staatsanwaltschaft nichts entgegenzusetzen hatten. Es wurde der unreife und reuige
Einzeltäter präsentiert, die Tatbeteiligung der Brüder bestritten. Das einzige Risiko
dieser Prozeßstrategie waren die Angeklagten selbst. Jede Antwort, jede Nachfrage
hätte diese Strategie des Schweigens gefährdet. Deshalb wurde selbst das Geständnis
Ayhan Sürücüs von seinem Verteidiger verlesen.
Das Vorgehen war auf das genaueste abgestimmt
Jeder Angeklagte hat das Recht auf einen Verteidiger. Aber ob es der von Anwälten
hochgehaltenen „Standesehre“ entspricht, wenn sich Ayhans Verteidiger in der
Verhandlung von seinem Mandanten umarmen läßt und schließlich das Urteil mit der
Familie wie einen Sieg feierte, mögen die Juristen unter sich ausmachen. Wenn man die
Anwälte im Gerichtssaal agieren sah, konnte man den Eindruck haben, sie verteidigten
nicht Mordverdächtige, sondern sich selbst gegen eine absurde Unterstellung. Sie
versuchten das Bild einer intakten Familie zu zeichnen, mit dem geständigen Mörder als
schwarzem Schaf.
Und es zeigte sich, daß das Vorgehen aller Familienangehörigen im Prozeß auf das
genaueste abgestimmt war. Bis hin zur Nebenklage, die von der Schwester Arzu mit
ihren Anwälten und einem „Berater“ vertreten wurde. Alle Familienangehörigen
schwiegen im Prozeß - das ist ihr gutes Recht -, bis auf die, die Entlastendes vorbringen
wollten, wie die Frau des Angeklagten Alpaslan, die ihrem Mann ein Alibi gab. Doch
niemand aus der Familie rührte auch nur einen Finger für Hatun. So wie man jetzt, da
der Prozeß zu Ende ist, zuweilen den Eindruck bekommen kann, nicht nur die Familie,
sondern auch Teile der Öffentlichkeit atmeten auf, daß vermeintlich alles wieder seine
Ordnung hat. Für die tote Hatun scheint es mancherorts weniger Mitgefühl zu geben als
für ihre befreiten Brüder. Hatun, eine von fünfundvierzig in Deutschland hingerichteten
Frauen und Männern, die in den letzten zehn Jahren im Namen der Ehre sterben
mußten. Ihre Schwester Arzu bemerkte vor der Presse: „Meine Schwester ist im
Paradies. Ihr geht es gut.“
Muslimisch-archaische Parallelwelt ohne eigenständiges „Ich“
Die Anwälte sagten, die Weltanschauung der Angeklagten stehe nicht vor Gericht, und
versuchten mit diesem Argument zu verhindern, daß die Ursachen der Tat ans Licht
kamen. Sie haben damit alles dafür getan, die Tat und den Tod einer jungen Frau zu
verharmlosen. Sie machten ihren Job und sich gleichzeitig zu Anwälten der Scharia,
ganz im Sinne des Imams von Izmir, der spöttisch über die rechtschaffenen Deutschen
sagte: „Mit euren Gesetzen werden wir euch besiegen.“
Diese Strategie der Verteidigung entsprach dem Ansatz des Gerichts, das keinen
Präzedenzfall schaffen wollte, sondern voraussetzte, daß selbstverantwortliches
Handeln des einzelnen grundsätzlich außer Frage stehe. Aber damit war in diesem Fall
der Sache nur unzureichend beizukommen. Es gibt auch in unserer Gesellschaft, mitten
in Deutschland, Menschen, die nach anderen Regeln leben, als es das
Individualstrafrecht vorsieht. Sie leben in einer muslimisch-archaischen Parallelwelt, in
der es ein vom Familienverband losgelöstes „Ich“ gar nicht gibt.
Der Sohn ist dem Vater, dem älteren Bruder, dem Onkel sowie Gott gegenüber zu
„Respekt“, sprich Gehorsam, verpflichtet. Die Männer sind für „namus“, für die Ehre
der Töchter und Schwestern verantwortlich, sie kontrollieren die Frauen im Namen der
Familie. Diesem Islam fehlt das Konzept der entscheidungsfähigen, moralisch
verantwortlichen Person vollkommen. Und nach dieser Lesart des Korans ist die Tat
nicht verwerflich, denn so wie Hatun lebte, verstieß sie gegen den Koran und die
Tradition. Die Sure 24 „Das Licht“, Vers 2, lautet: „Wenn eine Frau und ein Mann
Unzucht begehen, dann verabreicht jedem von ihnen hundert (Peitschen-)Hiebe! Und
laßt euch im Hinblick darauf, daß es (bei der Scharia) um die Religion Gottes geht,
nicht von Mitleid mit ihnen erfassen, wenn ihr an Gott und den jüngsten Tag glaubt!“
Zeigt sich hier vielleicht die Legitimation der Tat?
Und so hätte das Gericht, wenn es sich genauer mit der Tat und den Motiven beschäftigt
hätte, durchaus mit den Mitteln der Strafprozeßordnung zu weiteren Erkenntnissen
kommen können, als nur den reinen Tathergang zu rekonstruieren. Vielleicht hätte es
mit Hilfe von Sachverständigen die Strukturen, das Welt- und Menschenbild solcher
Communities aufzeigen sollen und der Sozialisation der Angeklagten nachgehen
müssen, um die Tat verstehen zu können. Ayhan gestand, daß er hoffte, den Sohn
Hatuns vor dem schlechten Einfluß seiner Mutter bewahren zu können. Er wollte den
Sohn in die Familie zurückholen, damit er muslimisch erzogen werden könne. Dieser
Bemerkung wurde im allgemeinen Entsetzen über den Hergang der Tat keine besondere
Bedeutung beigemessen. Woher stammt dieses Weltbild von „rein“ und „unrein“ bei
einem Jungen, der in Berlin aufgewachsen ist?
Jetzt meint die ältere Schwester Arzu, das „sahib cikmak“, Besitzansprüche auf das
Kind geltend machen zu können. Zeigt sich in dieser Bemerkung neben der
vermeintlichen „Ehre der Familie“ vielleicht ein Motiv oder die Legitimation der Tat?
Kinder aus einer geschiedenen Ehe gehören in dieser religiös-archaischen Welt immer
dem Mann beziehungsweise seiner Familie. Spätestens mit dem siebten Lebensjahr -
nämlich dann, wenn die religiöse Erziehung beginnt - soll der Sohn in der Familie des
Vaters sein. Da es sich bei dem Vater von Hatuns Sohn um einen Cousin handelt, in
diesem Fall also der Familie Sürücü.
Sollte Hatuns Sohn vor dem Unglauben bewahrt werden?
„Wenn der Sohn mit fünfzehn immer noch kein Muslim ist, trägt der Vater die Schuld“,
sagte mir ein Hodscha, als ich ihn zu den Erziehungsaufgaben eines Vaters befragte.
Hatun hatte, weil kein muslimischer Mann sie beaufsichtigte, in dieser Welt kein Recht
auf das Kind. Und aus diesem Umstand wird vielleicht auch der Zeitpunkt der Tat
erklärbar. Hatun lebte bereits einige Jahre allein mit ihrem Sohn. Ihre Familie hatte sie
verstoßen, und für Alpaslan war sie bereits „gestorben“. Da war der kleine Sohn namens
Can, was „die Seele“ oder „Leben“ bedeutet, aber noch kein religiöses Subjekt. Erst mit
zunehmendem Alter wurde die Frage, ob er muslimisch erzogen wird, für die Gläubigen
in der Familie drängender. Mußte Hatun vielleicht nicht nur sterben, weil sie „wie eine
Deutsche“ lebte, sondern auch, weil sie einen Sohn hatte, der davor bewahrt werden
sollte, ein Ungläubiger zu werden?
Ritualmorde folgen einem bestimmten Prinzip. Je jünger ein Mitglied der Familie ist,
desto weniger „saygi“, „Achtung“ steht ihm zu und desto unangenehmer sind die
Aufgaben, die er verrichten muß. Besonders dort, wo die Gefahr besteht, daß der Staat
archaisches Verhalten sanktioniert, wird immer der jüngste Sohn „geopfert“ und ein
älterer, „wertvollerer“ verschont.
So gibt der Täter der Familie ihr Gesicht zurück
Nachdem Ayhan seine Schwester aufgefordert hatte, um Vergebung für ihre Sünden zu
bitten, schoß er ihr „alnindan vurmak“, von Angesicht zu Angesicht in die Stirn. Dieses
Vorgehen kommt bei fast allen sogenannten „Ehrenmorden“ zur Anwendung, denn
damit gibt der Täter der „yüzsüz aile“, „der gesichtslosen Familie“, „das Gesicht“
zurück. Aber solche Zusammenhänge wurden vom Gericht nicht hinterfragt.
Unser Strafrecht kennt weder Rache noch Vergeltung, es kennt zum Glück auch keine
Sippenhaft. Ayhan wurde wegen Mordes zu neun Jahren und drei Monaten Jugendstrafe
verurteilt, seine Brüder Alpaslan und Mutlu mangels Beweisen freigesprochen. Für
seine Kumpels auf Neuköllns Straßen und im Gefängnis ist Ayhan wohl ein „yigit“, ein
Held. Im Prozeß trug er die goldene Uhr, die ihm sein Vater kurz nach der Tat
vermachte. Melek wird sich ein Leben lang verstecken müssen. Sie zahlt den Preis für
unsere Freiheit.
Die Soziologin Necla Kelek veröffentlichte zuletzt das Buch „Die verlorenen Söhne -
Plädoyer für die Befreiung des türkisch-muslimischen Mannes“.
Quelle: Der Fall Sürücü

Eure Familien, unsere Familien Top

Necla Kelek zur Integration


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23. Februar 2006 Ein Jahr nach dem Erscheinen hat „Die fremde Braut“ von Necla
Kelek eine heftige Kontroverse über die Ausländerintegration und deren Erforschung
ausgelöst. Kritiker werfen der 1957 in Istanbul geborenen, in Deutschland ausgebildeten
Autorin vor, sie arbeite unwissenschaftlich und schüre Vorurteile. Mitte März erscheint
Necla Keleks neues Buch „Die verlorenen Söhne“.
F.A.Z.: Frau Kelek, Sie haben Ihre Familie in den Mittelpunkt Ihres Buches „Die
fremde Braut“ gestellt. Warum?
Ihre Geschichte ist exemplarisch für die Entwicklung der Türkei seit 1923, aber auch für
die Migration in Deutschland. Sie fängt an, als der Traum von der Republik in das
private Leben meiner Familie einzog, die sich langsam aus dem Kollektiv, das der Islam
prägt, zu lösen beginnt. Ich beschreibe Menschen, die die individuelle Freiheit
entdecken, die versuchen, selbst über ihr Leben zu bestimmen. Ich wollte erklären, wie
es zu diesem Bruch mit dem Kollektiv, der Umma, kam. Meine Kindheit in Istanbul war
wunderbar, wir schwärmten für Amerika, für diese Filme, diese Musik, diese Autos.
Aber vor allem für die unendliche Freiheit des Individuums. Mein Vater gehörte zu
jener Aufbruchsgeneration, die sich davon anstecken und wegen dieses Traums das
Dorf verließ. Meine Eltern waren Anhänger von Kennedy und Atatürk. Aber das ist
lange vorbei.
Und heute?
Die Illusionen, die meine frühe Kindheit prägten, sind mit der millionenfachen
Binnenmigration, vom Dorf in die Stadt erstickt. Sollte ich heute ein Resümee ziehen,
würde ich sagen: Die Dörfer mit ihren islamischen Traditionen haben die Städte erobert,
auch Istanbul. Nicht mehr der einzelne trägt für seinen Lebensweg die Verantwortung,
sondern wieder das islamische Kollektiv.
Während der ersten Jahre, die Ihre Familie in Deutschland lebte, schien das noch
anders zu sein. Wie erklären Sie sich diese Umkehr?
Der kulturelle Hintergrund, die Religion, ist inzwischen viel entscheidender geworden
als sozioökonomische Ursachen. Der Islam spielt heute eine größere politische Rolle,
als viele wahrhaben wollen, und er regelt auch den Alltag: wie gelebt, was gedacht und
was abgelehnt wird - Unreine zum Beispiel, zu denen für viele Türken die Deutschen
gehören, die sie verachten.
Existiert denn nur dieser traditionelle Dorfislam, oder gibt es auch liberalere
Spielarten?
Natürlich. Der Islam war auch für meine Familie eine Bereicherung in diesen Jahren, als
sich die Türkei öffnete, doch nicht das Bestimmende, so wie heute, wo die politische
Dimension dazugekommen ist. Religion ist eigentlich Privatsache, aber der Islam darf
nicht nur als persönlicher Glaube diskutiert werden. Er muß politisch gesehen werden,
er ist Politik. Der gewaltige Demonstrationszug durch Istanbul zum Beispiel gegen die
dänischen Karikaturen, da brüllten und schrien die radikalen Nationalisten gemeinsam
mit den Islamisten. Das ist Islam-Faschismus. Und doch freut sich der deutsche Radio-
Reporter über diese „friedliche“ Demonstration, weil keine Botschaft brannte.
Haben Sie das früher anders wahrgenommen? Oder haben sich die Verhältnisse
verändert?
Meine Auseinandersetzung mit dem Islam begann schon 1988 mit meiner Diplomarbeit.
Ich stellte die These auf, daß die türkisch-muslimische Frau - wegen der Stellung der
Frau im Islam - sich nicht wie andere Migrantinnen integrieren kann in Deutschland.
Die Frau existiert eigentlich gar nicht als Mensch in diesen Glaubensvorschriften. Sie
kommt auf die Welt, um den Mann auf das Paradies vorzubereiten, sie hat ihm zu
dienen und Kinder zu gebären.
Wird der Glaube denn auch auf diese Weise in Deutschland praktiziert?
Natürlich, das habe ich erlebt, und wer sehen will, kann es jederzeit sehen. Das war
nicht nur so auf dem Dorf bei meiner Großmutter, sondern in der gesamten, wenn auch
kleinen türkisch-muslimischen Welt, in der ich groß geworden bin und die nur ein
exemplarisches Beispiel für andere, hier etablierte Parallelwelten ist. Nur ganz zu
Beginn, als meine Familie neu in Deutschland war, hatten wir noch Kontakte zu
Deutschen, spielte das Kopftuch keine Rolle, war nur die Erziehung sehr traditionell.
Aber das hat sich rasend schnell geändert.
In Ihrem Buch „Die fremde Braut“ erzählen Sie, wie Sie Ihrer deutschen Lehrerin
unter Tränen gestehen, daß sie nicht mehr am Sportunterricht teilnehmen, weil
Ihre Eltern das so beschlossen. Die Lehrerin glaubte sie zu beruhigen, als sie
versprach, sie werde Ihre Eltern nicht ärgern...
Das war ein furchtbarer Schlag. Ich kam ja überhaupt schlecht mit auf der Oberschule,
aber meine Eltern interessierte das wenig. Ich gehöre zu dieser zweiten Generation, von
der viele glauben, die habe es noch so gut gehabt. Aber vielen Kindern ging es wie mir,
die Väter sparten, es ging ihnen um ihre Häuser in der Türkei, nicht um uns. Nicht
einmal ihren Lohn durften die meisten Frauen behalten, die Töchter sowieso nicht.
Haben die Deutschen darauf nicht reagiert?
Ich mußte schon als Schulkind begreifen, daß es Freiheiten gibt, die für Deutsche
selbstverständlich sind, für solche wie mich aber nicht gelten. Und daß die Deutschen,
nicht nur die Lehrerin, das genauso wie meine Eltern sahen. Diese Spaltung in Die und
Wir, das ist die kritische Debatte, die ich jetzt zu führen versuche. Denn ich habe ein
ähnlich gespaltenes Leben geführt, eines, das ich mit deutschen Freunden lebte, und ein
türkisch-muslimisches. Wenn ich meine Großmutter besuchte, habe ich mich gekleidet
wie die anderen, die Tanten bedient und mich verhalten wie alle. Und ich habe auch
hingenommen, daß meine dreizehnjährige Cousine einem fremden Mann versprochen
wurde, aber nicht in die Schule durfte. Ich habe also genau das gemacht, was ich von
den Deutschen gelernt habe: Das kann man von muslimischen Türken nicht verlangen,
die sind noch nicht soweit, die hatten noch keine Aufklärung! Wenn ich im Radio höre,
warum man verstehen soll, daß ein Film wie „Tal der Wölfe“ Erfolg hat - weil „die“
eben so sind -, dann glaube ich, daß diese Haltung immer noch sehr verbreitet ist.
Sind wir blind gegenüber dem, was sich vor unseren Augen abspielt?
Nein, aber wir unterschätzen die Macht der Kultur und Politik des Islam. Man kann hier
dreißig Jahre mitten in einer deutschen Großstadt leben, ohne sein anatolisches Dorf im
Geiste auch nur einen Tag verlassen zu müssen. Und es wird von der Mehrheit
akzeptiert, daß die Emanzipation der europäischen Gesellschaft, und seien es nur die in
den siebziger Jahren errungenen Frauenrechte, für andere mitten unter uns nicht
unbedingt gelten muß. Das gilt als kulturelle Differenz, zuweilen offenbar
schützenswerter als Menschenrechte. Und weil es einige geschafft haben, werden die
Mißstände in der Parallelwelt einfach hingenommen. Mißstände, die ich in meinen
Büchern anprangere, vor allem das erschreckende Defizit an individueller Freiheit für
viele Migranten, Jungen wie Mädchen.
Warum hat die Freiheit nicht die Verführungskraft entwickelt, die wir ihr gern
zuschreiben?
Weil die Kulturbarriere zu hoch ist. Wir vergessen, daß sehr viele muslimische
Migranten in Kollektiven leben, deren Weltbild der Islam ist. Was wir liebevoll
Großfamilie nennen, lebt nach anderen Regeln, es gibt keine individuelle Freiheit, kein
Ja oder Nein zum Kopftuch, zu importierter Braut oder Bräutigam. Wer dieses Kollektiv
verläßt, begeht Verrat. Das wagen nicht viele, und weder die Schulen noch die Arbeits-
oder Sozialämter senden so starke Signale aus, daß sich das ändern könnte. Ich habe in
meinen Interviews mit muslimischen Jugendlichen gefragt: Habt ihr deutsche Freunde?
Nein, war die häufigste Antwort, die haben keinen Stolz, keine Ehre. Meine Hoffnung,
das werde sich erledigen, weil die Moderne ihre Kraft entfaltet, habe ich verloren. Wir
können die Entwicklung doch sehen, spätestens seit den neunziger Jahren. Ich habe
viele Interviews nach zwei Jahren wiederholt. Die Haltungen hatten sich noch
verfestigt.
Man hat versucht, gegen Sie und andere Autorinnen eine Kampagne zu
inszenieren. Warum?
Meine Kritiker blenden die soziale Wirklichkeit aus, und aus politischen Gründen lassen
sie den Islam und seine Wirkungsmacht außer acht. Aber es gibt andere
Forschungsansätze, die durchaus den Nachweis erbringen, warum es einen auffälligen
Zusammenhang zwischen islamischer Religiosität und Gewaltbereitschaft bei jungen
Türken gibt. Die politische Dimension des Islam ist in unserer Gesellschaft
angekommen, das ignorieren diese Leute. Es geht um einen Richtungsstreit. Hinter den
Kulissen werde ich mit übler Nachrede überzogen, meine Kritiker wollen die
Deutungsmacht behalten. Aber die soziale Realität läßt sich nicht wegforschen.
Ihre Kritiker werfen Ihnen vor, Vorurteile zu schüren und zu übertreiben.
Ich übertreibe nicht. Aber im kulturalistischen Verständnis meiner Kritiker sind
Diskussionen über Mehrehen, den Zwang zur Heirat, der auch die arrangierten Ehen
umfaßt, undenkbar. So habe ich das ja auch an der Hochschule erlebt, so wird
Migrationsforschung immer noch betrieben: Arbeitet mit positiven Beispielen, denkt an
die positiven Ressourcen! Probleme gibt es überall, im Leitbild vom positiven Aufstieg
stören sie nur. So werden hierzulande auch Lehrer ausgebildet - das wirkliche Leben an
Schulen dürfte sie schnell überfordern.
Die Fragen stellten Regina Mönch und Heinrich Wefing.
Quelle: Eure Familien, unsere Familien

Die Stereotype des Mr. Buruma Top

Von Necla Kelek


05.02.2007. Der Islam ist nicht so stark in sich differenziert, wie es Ian Buruma in
seiner Antwort auf Pascal Bruckner behauptet: Im Gegenteil - er ist eine drückende
soziale Realität, kodifiziert in der "Kairoer Erklärung der Menschenrechte", die von 45
muslimischen Staaten unterzeichnet wurde und die die Scharia zum Maßstab macht.
"Hättest du doch geschwiegen, Ian Buruma" möchte man dem Autor bei Lektüre seiner
Antwort auf Pascal Bruckners Essay "Fundamentalismus der Aufklärung oder
Rassismus der Antirassisten?" zurufen. Hier fühlt sich einer ertappt und seine
Erwiderung führt ihn, trotz gegenteiliger Beteuerung, nur noch weiter in den Sumpf des
Kulturrelativismus. Wäre Mr. Buruma mit seiner Meinung allein, könnte man es dabei
belassen und dem interessierten Leser stattdessen Bruckners Artikel, eine Antwort auf
Timothy Garton Ash, zur Lektüre empfehlen. Aber sowohl Ash wie Buruma sind in
ihrer Argumentation durchaus repräsentativ, geradezu exemplarisch in ihrem politisch
bedenklichen Kulturrelativismus.
Beide benutzen gern Stereotype. Das erste Stereotyp lautet: Der Islam ist anders.
Buruma schreibt: "Der Islam, der in Java praktiziert wird, ist nicht derselbe wie in
einem marokkanischen Dorf, im Sudan oder in Rotterdam." Das mit den Unterschieden
mag im Detail stimmen, im Grundsatz nicht. Für Buruma aber taugen schon die Details,
um zu einer ebenso vernichtenden wie falschen Kritik auszuholen: Man könne nicht,
wie Ayaan Hirsi Ali es tue, generelle Aussagen über den Islam treffen. Eine ziemlich
verblüffende Aussage aus dem Munde eines Mannes, der Wissenschaftler am Bard
College in New York und Professor für Demokratie und Menschenrechte ist. Mr.
Buruma versucht mit seinem kleinen Satz die Auseinandersetzung mit dem Islam auf
ein persönliches Problem von Ayaan Hirsi Ali zu reduzieren.

Der Islam ist soziale Realität. In seinen Schriften und in seiner Philosophie vertritt er
über alle Unterschiede hinweg ein geschlossenes Menschen- und Weltbild. Nehmen wir
zum Beispiel die Frage der Menschen- oder Frauenrechte. In der sind sich die Muslime
durchaus einig. Am 5. August 1990 unterzeichneten 45 Außenminister der
Organisation der Islamischen Konferenz, dem höchsten weltlichen Gremium der
Muslime, die "Kairoer Erklärung der Menschenrechte" (hier als pdf). Darin legten
Muslime aus aller Welt gemeinsam ihre Haltung zu den Menschenrechten dar. Das
Dokument soll das Pendant zur Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte der
Vereinten Nationen sein. Es hat keinen völkerrechtlich verbindlichen Charakter, erhellt
aber die globale Haltung des Islam zu den Grundrechten. Es ist ein Minimalkonsens
und kein Extrem und deshalb besonders aufschlussreich.

Die wichtigsten Feststellungen dieser Erklärung stehen in den letzten beiden Artikeln:
Artikel 24: Alle Rechte und Freiheiten, die in dieser Erklärung genannt werden,
unterstehen der islamischen Scharia.
Artikel 25: Die islamische Scharia ist die einzig zuständige Quelle für die Auslegung
oder Erklärung jedes einzelnen Artikels dieser Erklärung."

Und schon in der Präambel heißt es, im Gegensatz zur Erklärung der Allgemeinen
Menschenrechte der Vereinten Nationen: "Die Mitglieder der Organisation der
Islamischen Konferenz betonen die kulturelle Rolle der islamischen Umma, die von
Gott als die beste Nation geschaffen wurde und die der Menschheit eine universale und
wohlausgewogene Zivilisation gebracht hat...".

Anders als in demokratischen Verfassungen ist hier nicht vom Individuum die Rede,
sondern von der Umma, der Gemeinschaft der Gläubigen, vom Kollektiv. In
konsequenter Fortsetzung dessen erkennt die Erklärung der Muslime nur jene Rechte
an, die im Koran festgelegt sind und wertet - gemäß der Scharia - nur solche Taten als
Verbrechen, über die auch Koran und Sunna gleichermaßen urteilen: "Über Verbrechen
oder Strafen wird ausschließlich nach den Bestimmungen der Scharia entschieden."
(Art. 19)

In Artikel 2 d) der Kairoer Erklärung heißt es: "Das Recht auf körperliche
Unversehrheit wird garantiert. Jeder Staat ist verpflichtet, dieses Recht zu schützen, und
es ist verboten, dieses Recht zu verletzen, außer wenn ein von der Scharia
vorgeschriebener Grund vorliegt." Das wäre zum Beispiel der Fall nach Sure 17, Vers
33: "Und tötet niemand, den zu töten Gott verboten hat, außer wenn ihr dazu berechtigt
seid! Wenn einer zu Unrecht getötet wird, geben wir seinem nächsten Verwandten
Vollmacht zur Rache", heißt es im Koran. Was ist das anderes als eine von den
muslimischen Außenministern abgesegnete Lizenz zur Blutrache?
Gleichberechtigung ist in dieser Erklärung nicht vorgesehen, sondern es heißt in Art. 6:
"Die Frau ist dem Mann an Würde gleich" - an "Würde", nicht an Rechten, denn so der
Koran, Sure 4, Vers 34: "Die Männer stehen über den Frauen, weil Gott sie von Natur
vor diesen ausgezeichnet hat" und damit sind sie zu sozialer Kontrolle und
Denunziation legitimiert, wie Artikel 22 der Kairoer Erklärung deutlich macht: "Jeder
Mensch hat das Recht, in Einklang mit den Normen der Scharia für das Recht
einzutreten, das Gute zu verfechten und vor dem Unrecht und dem Bösen zu warnen."
Das ist der Koran, verkündet im siebten Jahrhundert christlicher Zeitrechnung und heute
noch für Muslime verbindlich.

Und so geht es weiter in der Kairoer Erklärung: Der Islam gilt als die wahre Religion,
niemand habe das Recht, die in ihm festgehaltenen Gebote "ganz oder teilweise
aufzuheben, sie zu verletzen oder zu missachten, denn sie sind verbindliche Gebote
Gottes, die in Gottes offenbarter Schrift enthalten und durch Seinen letzten Propheten
überbracht worden sind." Jeder Mensch sei "individuell dafür verantwortlich, sie
einzuhalten - und die Umma trägt die Verantwortung für die Gemeinschaft." Das ist
nicht nur eine Absage an die Menschenrechte, sondern auch eine mittelbare
Rechtfertigung von Selbstjustiz. Mr. Buruma kennt das Problem, er hat in seinem Buch
"Murder in Amsterdam" über einen solchen Fall von Selbstjustiz geschrieben.

Die islamischen Staaten haben diese Erklärung als Selbstvergewisserung ihrer


Geschlossenheit formuliert. Sie ist darüber hinaus auch politisches Programm, mit
dem die kulturelle Identität der islamischen Kultur gegen die kapitalistische
Globalisierung verteidigt werden soll. Zur Basis dieser kulturellen Identität wird die
Scharia erklärt. Das zu kritisieren, soll ein persönliches Problem von Ayaan Hirsi Ali
sein?

Aber Mr. Buruma hat noch weitere Stereotype im Köcher. Das nächste lautet: Der Islam
ist eine Religion wie jede andere oder alle Religionen sind gleich (schrecklich). Diesmal
geht es gegen seinen Kritiker Pascal Bruckner. Mr. Buruma schreibt: "In einem
weiteren typischen Fall von Übertreibung und assoziativer Anschuldigung erwähnt
Bruckner die Eröffnung eines islamischen Krankenhauses in Rotterdam und für
muslimische Frauen reservierte Strände in Italien. Ich verstehe nicht, warum es soviel
schrecklicher sein soll als die Eröffnung koscherer Restaurants, katholischer
Krankenhäuser oder für Nudisten reservierte Strände…."

Ich kann Ihnen sagen, Mr. Buruma, warum der für muslimische Frauen reservierte
italienische Strand schrecklicher ist. Anders als beim koscheren Essen oder einer
krankenhausreifen Grippe geht es beim Strand um eine von den Muslimen angestrebte
Veränderung. Der politische Islam will, mit dem Kopftuch, mit der
geschlechterspezifischen Trennung öffentlicher Räume die Apartheid der
Geschlechter in den freien europäischen Gesellschaften etablieren.

Ein muslimisches Krankenhaus unterscheidet sich grundsätzlich von einem katholischen


Krankenhaus. In einem muslimischen Krankenhaus werden die Patienten nach
Geschlechtern getrennt - Männer dürfen nur von Männern behandelt werden, Frauen
werden nur von Frauen behandelt. Muslimische Krankenschwestern waschen zum
Beispiel keine männlichen Patienten, sie fassen sie noch nicht einmal an. In
Deutschland häufen sich die Klagen von Ärzten über muslimische Männer, die immer
öfter zu verhindern trachten, dass ihre Frauen in Krankenhäusern von Ärzten behandelt
oder auch nur untersucht werden. Ich weiß von Müttern, die nur in Begleitung ihres
Sohnes zum Arzt dürfen. In islamischen Krankenhäusern wird der Ehemann
entscheiden, ob ein Kaiserschnitt durchgeführt wird oder ob sich seine Frau nach vier
Geburten sterilisieren lassen darf - in Le Monde gab es hierzu jüngst eine bestürzende
Reportage. Und in der türkischen Zeitung Hürriyet wurde kürzlich berichtet , dass sich
eine Radiologin in Istanbul aus religiösen Gründen weigerte, einen jungen Mann zu
untersuchen, der am Unterleib verletzt war. Das ist schrecklich, Mr. Buruma.

Die Nächstenliebe ist der islamischen Religion genauso fremd wie die Seelsorge. Aber
das ist ein anderes Thema. Ich halte es für geschmacklos, die Arbeit von katholischen
Nonnen durch diesen "Religionen sind alle gleich"- Relativismus zu denunzieren.
Offensichtlich weiß Mr. Buruma nicht, wovon er spricht, wenn er vom Islam spricht. Es
geht den islamischen Betreibern von Stränden, von Krankenhäusern oder Moscheen
nicht um humane Anliegen, es geht auch nicht um religiöse Kategorien, sondern es geht
darum, die vertikale Trennung von Männern und Frauen in den demokratischen
Gesellschaften zu etablieren.

Das dritte Stereotyp von Buruma lautet: Islamkritiker sind Denunzianten. Buruma
schreibt, die "Denunziationen" Hirsi Alis seien wenig "hilfreich". Ob für ihn historisch
belegte Fälle, wie die Heirat Mohammeds mit der sechsjährigen Aishe, die er dann mit
neun beschlafen hat, auch unter die "wenig hilfreichen Denunziationen" fallen würden?
Hirsi Ali jedenfalls erzählt in ihrem Buch "Ich klage an" davon, um daran die in der
Nachfolge Mohammeds sich entwickelnde Sexualmoral des Islam als "Jungfrauenkäfig"
zu kritisieren. Nach Mr. Burumas Auffassung sollte sie das nicht tun, denn als
"bekennende Atheistin" - nächstes Stereotyp - könne sie ohnehin nicht zur Reform des
Islam beitragen. Wiederum eine erstaunliche Auffassung eines für Menschenrechte und
Demokratie zuständigen Wissenschaftlers.

Kulturrelativisten wollen nichts mehr von arrangierten Ehen, von Ehrenmorden (allein
in Istanbul im letzten Jahr 25 Tote) und anderen Menschenrechtsverletzungen hören. Sie
sind ihnen lästig. Oder wie ist das gemeint, wenn Mr. Buruma schreibt: "Den Islam zu
verurteilen, ohne seine Variationen in Betracht zu ziehen, ist zu unüberlegt." Nun, was
die Missachtung von "Variationen" anbetrifft, dürfte sich für Mr. Buruma in der
muslimischen Welt ein weites Feld eröffnen: Was ist - um nur ein Beispiel unter vielen
möglichen Beispielen zu nennen - mit den Frauen in über 60 Ländern, in denen das
Gesetz der Scharia herrscht, die nicht ohne Wali, das heißt ohne die Genehmigung
eines Vormund, heiraten dürfen? Wo ist die Vielfalt, Mr. Buruma?

Mr. Buruma lobt sich dafür, dass er die Welt der südkoreanischen Rebellen kennt. Die
Welt der Muslime scheint ihm fremd, die Werte der westlichen Gesellschaft relativ. Er
fürchtet - Pascal Bruckner sei Dank - mit Recht um seine intellektuelle Reputation. Dass
er diese in seiner Replik auf Kosten von Ayaan Hirsi Ali zu retten versucht, macht die
Sache nicht besser. Misslungen, Mr. Buruma.

Necla Kelek, geboren 1957 in Istanbul, hat in Deutschland Volkswirtschaft und


Soziologie studiert und über das Thema "Islam im Alltag" promoviert. Sie forscht zum
Thema Parallelgesellschaften und berät unter anderem die Hamburger Justizbehörde zu
Fragen der Behandlung türkisch-muslimischer Gefangener. Necla Kelek unterstützt eine
aktuelle Gesetzesinitiative in Baden-Württemberg, Zwangsheiraten unter Strafe zu
stellen. Sie hat zwei Bücher veröffentlicht: "Die fremde Braut. Ein Bericht aus dem
Inneren des türkischen Lebens in Deutschland" (2005) und "Die verlorenen Söhne.
Plädoyer für die Befreiung des türkisch-muslimischen Mannes" (2006).

Pascal Bruckner hat mit seiner Polemik gegen Ian Burumas Buch "Murder in
Amsterdam" und einen Artikel Timothy Garton Ashs eine internationale Debatte
ausgelöst. Alle Artikel zu dieser Debatte finden Sie auf Deutsch hier, auf Englisch hier.
Quelle: Die Stereotype des Mr. Buruma

Heimat, ja bitte! Top


Von Necla Kelek
Wie Integration gelingen kann: Ein Plädoyer für klare Regeln – und für eine
gemeinsame Zukunft von Deutschen und Einwanderern
Die deutsche Gesellschaft hat mit dem Zuwanderungsgesetz – wenn auch spät – den
Migranten ein Angebot zur Aufnahme in diese Gesellschaft gemacht. Seit Anfang des
vorigen Jahres kann jeder Einwanderer bei Erfüllung bestimmter Voraussetzungen
deutscher Staatsbürger werden. Aber wer Bürger dieses Landes werden will, sollte
Grundsätzliches über das Leben dieses Landes wissen, seine Regeln und Gesetze
akzeptieren und sich zur Verfassung dieses Landes bekennen. Es gibt keinen
Automatismus, Deutscher zu werden, das Angebot ist vielmehr an die Zustimmung zu
der Grundordnung gebunden, die sich dieses Land selbst gegeben hat.
Man kann die Migranten in Orientierungskursen auf ihre Staatsbürgerschaft vorbereiten;
aber die Bundesrepublik ist mehr als die Summe ihrer Gesetze, Verordnungen und
Institutionen. Sie ist ein Stück von Europa und seiner Geschichte. Und Europa ist eine
durch die Erfahrungen von Kriegen und Krisen, von Aufklärung und Vernunft, von
Freiheits- und Emanzipationskämpfen zusammengewachsene Gemeinschaft. Mit einem
islamischen Welt- und Menschenbild, das, über Jahrhunderte hinweg »versiegelt«, wie
Dan Diner es formuliert, von Generation zu Generation weitergereicht wird, hat diese
nicht viel gemein – in den grundlegenden Prinzipien sind beide unvereinbar.
Viele der traditionell gläubigen Muslime gehen davon aus, dass die im Koran
niedergelegten Offenbarungen des Propheten Gottes Wort sind, Gesetzeskraft haben
und gegenüber den von Menschen gemachten Gesetzen eine »überlegene Wahrheit«
darstellen. Viele glauben, sie könnten auch in Europa nach dem Gesetz des Islams, nach
der Scharia, leben. Die Scharia aber kollidiert mit säkularen Rechtsnormen. Sie ist ein
Vergeltungsrecht, das körperliche Schmerzen für ein Vergehen verlangt. Wer Ehebruch
begeht, ein so genanntes Hadd-Vergehen, verletzt Gottes Recht. Mit den Schuldigen
gibt es laut Sure 24, Vers 2, kein Mitleid, hundert Peitschenhiebe oder Steinigung als
Vergeltung gibt der Koran vor. Die Tötung eines Menschen hingegen – auch Mord –
gehört nicht zu den Kapitalverbrechen, sondern zu den Qisas-Vergehen, den Verbrechen
mit der Möglichkeit der Wiedervergeltung: »Ihr Gläubigen! Bei Totschlag ist euch die
Wiedervergeltung vorgeschrieben: ein Freier für einen Freien…« (Sure 2, Vers 178).
Und so reißt die Blutrache bis heute ganze Familien in den Abgrund.
Ohne die Ächtung der Scharia und des Prinzips der Vergeltung sind alle Bemühungen
um Integration der Muslime zum Scheitern verurteilt.
Durch eine falsche Integrationspolitik, die ihre Herkunftsidentität stärkte, fühlen sich
selbst türkische Migranten, die schon Jahrzehnte hier leben und einen deutschen Pass
haben, immer noch als Türken. Sie gehören nirgendwo richtig dazu – für das Land, aus
dem sie kommen, sind sie die »Deutschländer«, und zu dem Land, in dem sie leben,
wollen sie nicht gehören. Diese ungeklärte Identität trägt zum Rückzug in die eigene
Community, in die »Parallelgesellschaft« bei. Wer seinen Kindern nach 30 Jahren
Aufenthalt in Deutschland immer noch die Türkei als die wahre Heimat verkauft, wer
ihnen die Maxime en büyük türk, »Der Türke ist der Größte«, vorlebt, der diskreditiert
seinen eigenen Lebensweg als Irrtum.
Wer als Migrant gekommen ist, muss Deutschland als seine »wahre Heimat« annehmen.
Er muss aufhören, die Deutschen als Fremde zu sehen, deren Sitten und Gebräuche er
verachtet; er muss lernen, sich mit diesem Land auseinander zu setzen, und er muss
respektieren, dass auch ein Migrant vor Einmischungen in seine »Angelegenheiten«, vor
Kritik nicht gefeit ist. »Es ist völlig in Ordnung, dass Muslime, dass alle Menschen in
einer freien Gesellschaft Glaubensfreiheit genießen sollten«, schreibt der Muslim
Salman Rushdie. »Es ist völlig in Ordnung, dass sie gegen Diskriminierung
protestieren, wann und wo immer sie ihr ausgesetzt sind. Absolut nicht in Ordnung ist
dagegen ihre Forderung, ihr Glaubenssystem müsse vor Kritik, Respektlosigkeit, Spott
und auch Verunglimpfung geschützt werden.« Diesen selbstbewussten Umgang mit den
Errungenschaften der Aufklärung wünschte ich den Muslimen, aber auch ihren selbst
ernannten Verteidigern, die auf Kritik reagieren, als würde damit ein Dschinn, ein böser
Geist, losgelassen.
Wir dürfen die Migranten, ihr Verhältnis zu ihren Söhnen und Töchtern, ihre
Einstellung zu Glauben und Religion, zu Rechtsstaatlichkeit und Demokratie nicht
länger unter Naturschutz stellen. Migranten sind nicht per se »Opfer«. Mit ihnen auf
gleicher Augenhöhe zu verkehren heißt, sich überall dort einzumischen, wo sie den
»Geist der Gesetze« dieser Republik verletzen, aber auch jede vormundschaftliche
Politik aufzugeben, die sie zu Mündeln degradiert. Niemand kann ihnen die
Verantwortung für ihr eigenes Leben abnehmen. Wir müssen alles tun, um sie vor der
Willkür, besonders auch der ihrer eigenen Väter, zu schützen, aber wir sollten aufhören,
sie als Bedürftige zu sehen. Wir müssen sie anspornen und fördern, aber wir müssen
auch etwas von ihnen fordern.
Ich möchte, dass die Integration gelingt, dass wir gemeinsam diese Gesellschaft
gestalten. Viele Migranten, das ist mir bewusst, fühlen sich überfordert. Sie wollen von
der Gesellschaft, von den Deutschen, von den Behörden in Ruhe gelassen werden, um
nach ihren Traditionen und religiösen Vorstellungen leben zu können. Aber es sind
gerade diese archaischen Traditionen, die einem freien Leben im Wege stehen. Kinder
von Migranten sind Kinder dieser Gesellschaft, ihre Not und ihr Scheitern trifft uns alle.
Den Söhnen fehlt oft der Mut und auch die Perspektive, sich aus den Verstrickungen der
Tradition zu lösen. Dabei müssen wir ihnen helfen. Und das fängt mit ganz einfachen
Dingen an:
Jedes Kind muss vor Gewalt geschützt werden. Körperliche Züchtigung ist in
Deutschland verboten und muss geahndet werden. Wer Kindesmisshandlung nicht
anzeigt, macht sich unterlassener Hilfeleistung schuldig. Gewalt gegenüber Kindern und
Frauen ist, so zeigen Untersuchungen, unter Migranten ein häufig auftretendes Problem.
Kinderärzte, Kindergärten und Schulen müssen darüber gezielte Aufklärung unter
Eltern, Schülern und Lehrern betreiben, und sie sollten jede Möglichkeit der Kontrolle
zum Schutz der Kinder wahrnehmen. Beschneidung ohne medizinische Indikation ist
eine Körperverletzung und nicht zulässig.
Gewalt, Rassismus, diskriminierendes Verhalten werden nicht geduldet – weder gegen
Migranten noch von ihnen. Schulen sollten entsprechende Schulverfassungen
formulieren, auf die sich alle Beteiligten verpflichten. Besonders Jugendliche sollten
durch Kampagnen über ihre Rechte informiert werden. Es muss verhindert werden, dass
16-jährige Schülerinnen in den Sommerferien in der Türkei gegen ihren Willen
verheiratet werden und aus Deutschland verschwinden.
Die Schule ist generell als deutscher Sprach- und Kulturraum zu begreifen; es wird
Wert darauf gelegt, dass während der Schulzeit, auch auf dem Schulgelände, Deutsch
gesprochen wird. Die Migrantenkinder haben oft keinen anderen Ort als die Schule, um
die deutsche Sprache zu sprechen und die deutsche Kultur kennen zu lernen. Ziel ist es,
möglichst früh sprachliche Defizite abzubauen und Deutsch als Umgangssprache der
Kinder zu etablieren. Gute Deutschkenntnisse sind Voraussetzung für einen Schul- und
Integrationserfolg. In einer von Eltern, Schülern und Lehrern gemeinsam beschlossenen
Hausordnung einer überwiegend von Migrantenkindern besuchten Schule im Berliner
Stadtteil Wedding steht: »Die Schulsprache unserer Schule ist Deutsch, die
Amtssprache der Bundesrepublik Deutschland. Jeder Schüler ist verpflichtet, sich im
Geltungsbereich der Hausordnung nur in dieser Sprache zu verständigen.«
Kindergärten mit Sprachförderung, Vorschule und Sprachtests werden vom fünften
Lebensjahr an obligatorisch; Sexualkunde-, Schwimm- und Sportunterricht sind
Regelunterricht. Eine Befreiung aus religiösen Gründen wird abgelehnt. Die Schule
muss als »Integrationsagentur« verstanden werden, die die Kinder auf ein
selbstbestimmtes Leben in dieser Gesellschaft vorbereiten soll.
Jede Frau, jeder Mann muss das Recht haben, selbst zu entscheiden, ob sie oder er
heiraten will, wann und wen. Um Zwangsehen zumindest zu erschweren, wird eine
Familienzusammenführung erst vom 21. Lebensjahr an zugelassen. Es wird verstärkt
darüber aufgeklärt, welche Gesundheitsrisiken Ehen zwischen Cousin und Cousine für
die Nachkommen haben. Elternschulen unterrichten Väter und Mütter in der
Kinderpflege und -erziehung. Schwangerschafts- und Babykurse sollen junge
Migrantenmütter und -väter auf die Geburt vorbereiten.
Die Mehrehe wird geächtet. In den Sozialversicherungssystemen werden entsprechende
Regelungen geschaffen, die eine Unterstützung der Polygamie verhindern. Polygamie
ist ein Grund, die Aufenthaltsgenehmigung zu entziehen.
Der organisierte Islam hat eine besondere Verantwortung für die Integration. Auch an
ihn sind Forderungen zu richten:
Koranschulen müssen ihr Programm und ihr pädagogisches Konzept öffentlicher
Kontrolle zugänglich machen; Unterricht und Predigten müssen in deutscher Sprache
erfolgen; Männern und Frauen ist gleichberechtigter Zutritt zu allen Veranstaltungen zu
gewähren; die Betreiber von Moscheen haben ihre Satzung und ihre Finanzen offen zu
legen; Moscheevereine verpflichten sich, ein Angebot für Sprachförderung anzubieten;
Hodschas haben neben Sprachkenntnissen auch Kenntnisse in Landes- und
Gesetzeskunde nachzuweisen.
Ich plädiere für diese klaren Regeln, statt die Integrationspolitik weiterhin dem Zufall
zu überlassen – wohl wissend, dass die politischen Vertreter der
Migrantenorganisationen und ihre Freunde diese Vorschläge mit Entrüstung zur
Kenntnis nehmen werden und sich gegen jeden »Generalverdacht« und gegen jede
»Gängelung« der Muslime und Migranten wehren werden. Aber ich bin davon
überzeugt, dass uns gar nichts anderes übrig bleibt, wenn wir die Söhne und Töchter der
Migranten nicht verlieren wollen. Wir brauchen ihre Talente und Tatkraft für unsere
gemeinsame Zukunft.
Sich an die Arbeit der Integration zu machen bedeutet nicht, seine Muttersprache zu
vergessen, seine Identität zu verraten oder seinen Glauben aufzugeben. Bis heute
berührt mich nichts so sehr wie meine türk halkmüzigi, türkische Volksmusik, ich esse
immer noch nur zu gern meinen Döner und tanze leidenschaftlich gern tscherkessische
Tänze – so wie ich Latte Macchiato, Grünkohl, Bach und Jazzrock schätzen gelernt
habe. Kultur ist ein ständiger Lernprozess, eine sinnliche Erfahrung, die anderes hören,
anderes sehen, anderes schmecken, anderes fühlen lässt – eine Erweiterung für alle.
Es kann nicht darum gehen, Identitätspolitik zu betreiben, wie es die türkisch-
muslimischen Vereine immer noch gern tun. Es kann nicht darum gehen, normativ für
alle Türken und Muslime zu definieren, was es heißt, »türkisch« oder »muslimisch« zu
sein, wie die Gesellschaft den Türken zu begegnen hat und was die Türken selbst zu tun
und zu lassen haben. Verräterisch sind Formeln wie »wir Türken« oder »wir Muslime«,
sie erheben immer noch das »Türkentum« und das »Muslim-Sein« zur kollektiven
Identität. An dem »Sprachenstreit« auf deutschen Schulhöfen wird deutlich, dass die
Auseinandersetzung um die Integration erst jetzt begonnen hat. Jeder in dieser
Gesellschaft hat das Recht, Türke, Deutscher, Muslim, Christ oder etwas anderes zu
sein. Als Individuum kann er frei wählen, seine Integration als Türke oder Türkin, als
Muslim oder Muslimin muss daran keineswegs scheitern – wohl aber, wenn er sich
zurückzieht auf die kollektive Identität. Ein Einzelner kann integriert werden, ein
Kollektiv nicht.
Viele Söhne haben sich verloren, weil sie den Gesetzen der Väter folgen. Sie imitieren
ein Ideal oder spielen eine Rolle, die sie im Leben scheitern lässt. Macht nichts, wird
ihnen beigebracht, die Familie sorgt für dich, sie schützt dich, die Familie ist das, woher
du kommst, was du bist, wohin du gehen wirst. Sie ist alles, was du hast. In Wahrheit ist
die Familie ein Kontrollsystem, in dem das Wort der Väter Gesetz ist und die Söhne die
Rolle der Wächter über Frauen und Kinder spielen. Sie sind Mitglied eines fest gefügten
Ensembles, das ein Stück mit festgelegten Rollen aufführt, auf einer Bühne, die sie nicht
erbaut haben, mit Texten, die ihnen vorgegeben werden. Ihre Zuschauer sind die
Mitglieder der Umma, der Gemeinde. Sie achten darauf, dass keiner das Theater
verlässt. Aber auf eine Teilhabe an der Welt außerhalb des Theaters sind die
muslimischen Söhne ohnehin nicht vorbereitet. Dafür taugt das Repertoire nicht, das sie
erlernen müssen. Macht nichts, wird ihnen beigebracht, denn – »Alles ist
vorherbestimmt«, so hat der Hodscha bei meinem Moscheebesuch gepredigt. »Nur Gott
kennt unser Schicksal«, warnt der Vorbeter, »wollt ihr euch in Gottes Handwerk
einmischen?«
Niemand hat den »verlorenen Söhnen« beigebracht, Fragen zu stellen, an Autoritäten zu
zweifeln; niemand hat sie gelehrt, sich fremden Einflüssen zu öffnen, die Welt mit den
Augen der anderen zu sehen. Sie bleiben Fremde in einem fremden Land,
eingeschlossen in eine versiegelte Welt.
Der türkisch-muslimische Mann in Deutschland wird, wenn er sich dem Leben, der
Liebe und der Freiheit aussetzt, seinem eigenen Empfinden nach zunächst »verlieren«.
Er wird die Welt künftig mit seiner Frau und seinen Kindern teilen müssen. Mit
Widerspruch und Kritik wird er leben müssen, denn seine Auffassung wird nur noch
eine Meinung unter mehreren Meinungen sein, kein Gesetz. Er wird sie begründen
müssen und nicht mehr mit Gewalt durchsetzen können. Glauben werden ihm nur die,
die keine Angst vor ihm haben, sondern ihm vertrauen. Geliebt wird er nur werden,
wenn er selbst lieben kann. Und das heißt auch, die Söhne und Töchter loslassen zu
können, sie in »die Fremde« ziehen zu lassen. Sie dafür zu lieben, nicht zu strafen, dass
sie andere werden, als ihre Väter und Mütter gewesen sind. Sie bleiben die Kinder ihrer
Mütter und Väter, was immer auch passiert, und eines Tages werden sie heimkehren, als
Menschen mit einer eigenen Geschichte, ihrer Geschichte.
Es ist ein ganz anderes Leben, als der türkisch-muslimische Mann es kennt. Vielleicht
ist es nicht das Paradies, aber es ist ein Leben, das auch ihn selbst reicher und freier
machen wird.
Necla Kelek steht seit einigen Wochen im Mittelpunkt einer scharfen Debatte über
Immigranten in Deutschland. Nachdem sie in ihrem Bestseller »Die fremde Braut« die
Zwangsehe angeprangert hatte, kritisierten Migrationsforscher in einem offenen Brief
(ZEIT Nr. 6/06) Keleks Methoden als »unwissenschaftlich« und deren öffentliche
Wirkung als »besorgniserregend«. In diesen Tagen erscheint nun das neue Buch der
1957 in Istanbul geborenen Soziologin. Unter dem Titel »Die verlorenen Söhne.
Plädoyer für die Befreiung des türkisch-muslimischen Mannes« (Kiepenheuer &
Witsch, Köln 224 S., 18,90 Euro) porträtiert Kelek türkisch-deutsche Väter, Söhne und
Brüder. Wir drucken einen Auszug mit den Schlussfolgerungen der Autorin.
Quelle: Heimat, ja bitte!

Scharia, nein! Top

Von Necla Kelek


Die deutschen Türken müssen sich ändern
Leyla Sahin hat verloren. Am 10. November wies der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte ihre Klage ab, mit der die 32-jährige Medizinstudentin feststellen
lassen wollte, dass sie 1998 zu Unrecht von der Universität in Istanbul ausgeschlossen
wurde, weil sie sich weigerte, ihr Kopftuch abzulegen.
Seit Jahren versuchen Muslime mit Unterstützung ihrer Organisationen vor deutschen
und anderen europäischen Gerichten, ihre Lebensweise durchzusetzen. Sie klagen gegen
das Kopftuchverbot, gegen Teilnahme ihrer Töchter an Schwimmunterricht und
Klassenreisen, fordern das religiöse Schächten ein. Auch in der Türkei, wo es seit 1925
verboten ist, in öffentlichen Gebäuden religiöse Kleidung zu tragen, versuchen die
Religiösen die Trennung der Geschlechter und die Prinzipien der Scharia, des
islamischen Rechts, Stück für Stück wieder im Alltag zu etablieren. Da die Verfassung
der Türkei in diesem Punkt nicht zu ändern ist, es sei denn die Regierung wollte sich
den Unmut der Europäer einhandeln, probierten die Religiösen es über den Umweg des
Europäischen Gerichtshofs. Nichts wäre ihnen lieber gewesen, als wenn das Gericht das
Kopftuchverbot an türkischen Universitäten gekippt hätte. Dann hätten sie die türkische
Verfassung ändern können mit dem Hinweis: Europa verlangt es von uns.
Nun aber ist der Ärger groß, und Ministerpräsident Tayyip Erdog˘an ist entsprechend
ungehalten. Am Rande einer Nato-Tagung Mitte November in Dänemark sagte er der
Zeitung Hürriyet zu dem Urteil: »Das Gericht hat kein Recht, zu diesem Thema etwas
zu sagen. Das steht nur der Ulema zu.«
Die Ulema, das ist der Rat der islamischen Rechtsschulen, der über die richtige
Anwendung der Scharia wacht. Für Erdog˘an stehen die islamischen Rechtsgelehrten
offenbar über dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Eine Trennung von
Staat und Religion, ein Grundpfeiler der türkischen Republik, scheint es für Erdog˘an
nicht zu geben. Der Weg der Türkei nach Europa könnte sich auch als Zug des
unaufgeklärten Islams gegen die westliche Lebensweise entpuppen. Dabei hatte der
Weg der Türken nach Europa vor 40 Jahren ganz anders begonnen.
Der Aufbruch von Anatolien über Istanbul nach Deutschland war für mich und für
meine Familie – deren Schicksal in vieler Hinsicht ganz typisch für die türkische
Entwicklung und den Migrationsprozess ist – der Weg vom Kollektiv des Familienclans
zur Kleinfamilie, von der Vormundschaft in die Freiheit, von der Tradition in die
Moderne, vom Sozialwesen zum Individuum. In den türkischen Städten, in denen die
Industrie aufblühte, wuchs mit ihr auch das Bürgertum, das die neuen Freiheiten
annahm und genoss. Gleichzeitig verfielen die ländlichen Strukturen, und allmählich
begann eine Binnenmigration aus allen ländlichen Gebieten in die großen Städte,
vornehmlich nach Istanbul. Auch meine Eltern folgten diesem Zug und zogen an den
Bosporus.
Das erste Mal in ihrem Leben waren mein Vater und meine Mutter für sich selbst
verantwortlich, entschied nicht die Großfamilie für sie. Meine Mutter, die noch
verheiratet worden war, ohne gefragt zu werden, und die, wäre sie im Dorf geblieben,
ihr Leben lang der Schwiegermutter hätte dienen müssen, war plötzlich auf sich selbst
gestellt, musste allein einen Haushalt führen. Die Macht der Umstände machte aus ihr
und den vielen Frauen, die auf ähnliche Weise in die Stadt kamen, selbstständige
Frauen, die eher dem Vorbild von Doris Day und Jackie Kennedy nacheiferten.
Mein Vater ging als einer der ersten »Gastarbeiter« nach Deutschland. Er ging als
Republikaner, als Anhänger Atatürks, er wollte die Chance des »Wirtschaftswunders«
nutzen. Viele schlugen diesen individuellen Weg ein. Ihn zu gehen ist Voraussetzung
für die Moderne, in der jeder Einzelne Rechte und Pflichten wahrnimmt, Verträge
abschließt und nicht als Mitglied einer Gruppe, einer Familie auftritt. Nur wer in der
Lage ist, Verantwortung für sich selbst und sein Handeln zu übernehmen, wird
gesellschaftlich erfolgreich agieren, sich zurechtfinden können. Jene, die dies begriffen,
haben Europa als Chance genutzt.
Jedoch: Die ersten Migranten blieben nicht allein. Im großen Stil wurden in Anatolien
Arbeitskräfte angeworben, sie wohnten in Deutschland dann in Heimen unter
einfachsten Bedingungen. Männer und Frauen blieben dabei getrennt wie im
anatolischen Dorf. Es sollte ja nur ein Provisorium für zwei, drei Jahre sein. Aber es
kam anders. Die Gastarbeiter holten ihre Familien nach, sie entschlossen sich, in
Deutschland zu bleiben, wurden Einwanderer, ohne dass die Politik darauf reagierte.
Vielleicht hat sie es nicht einmal richtig registriert. Doch mit den Verwandten kamen
auch die muslimisch-türkischen Familientraditionen nach Deutschland. Die Frauen, die
in die Moderne aufgebrochen waren, wurden heim ins Haus geholt. Es wurde kein
Deutsch mehr gelernt, es wurde türkisch gesprochen, muslimisch gelebt. »Ich bin nicht
nach Deutschland gekommen, sondern in eine Familie«, sagte mir einmal eine
»Importbraut«, die seit zehn Jahren in Deutschland lebt.
An der ländlichen Türkei hatte sich schon Atatürk die Zähne ausgebissen. Hier gelang
der Weg in die Moderne nicht, auch weil die ökonomischen Voraussetzungen fehlten.
Die traditionell muslimisch-türkische Kultur, das komplexe System von
Glaubensvorstellungen, Bräuchen, Sitten blieb unangetastet. Das Leben ging weiter wie
seit Jahrhunderten.
Wozu Bildung? Sie leben in Deutschland einfach wie in ihrer dörflichen Welt
Das galt auch für die Binnenmigranten, die aus den Dörfern nach Istanbul gingen:
Landarbeiter ohne Land und Arbeit, die ihre Sitten mit nach Istanbul und später nach
Deutschland nahmen. Sie hatten von der Moderne nichts zu erwarten. Und von ihnen
wurde auch nichts anderes erwartet, als dass sie die einfachen Arbeiten tun sollten, für
die sich die Deutschen zu schade geworden waren. Ihnen konnte es ziemlich gleich sein,
wo sie lebten – ob in Istanbul oder in Iserlohn, sie waren auf jeden Fall die Verlierer der
Entwicklung. So hielten sie sich an das, was ihnen blieb: an ihre Traditionen und in
immer stärkerem Maße an den Glauben mit seinen festen Lebensregeln und der dem
Islam innewohnenden Schicksalsgläubigkeit.
Der Islam wurde – auch mit finanzieller Unterstützung durch die türkische Republik
und aus Saudi-Arabien – wieder identitätsstiftend. Hinzu kam ein Gefühl, mit dem
Erstarken des politischen Islams seit 1979 erst im Iran, später dann in der Türkei,
endlich auf der Seite der moralischen Sieger der Geschichte zu stehen. So blieben die
patriarchalischen Familien- und Dorfstrukturen unangetastet.
In einer Untersuchung des Bundesfamilienministeriums im Jahr 2004 wurden 150
türkische Frauen befragt, jede zweite gab an, ihr Ehepartner sei von den Eltern
ausgesucht worden, jede vierte kannte den Partner vor der Ehe nicht, und zwölf der 150
Frauen fühlten sich zur Ehe gezwungen. Ich selbst habe als junges Mädchen in
Deutschland miterlebt, wie eine Freundin in der Nachbarschaft über zehn Jahre lang im
Haus festgehalten wurde. Dieses Mädchen durfte nicht zur Schule, weil ihre Eltern
arbeiteten und sie auf den jüngeren Bruder aufpassen musste. Mit 16 Jahren wurde sie
in die Türkei geschickt und dort verheiratet.
Diese Mentalität, das Festhalten am türkisch-muslimischen Common Sense in der
Fremde, führt zu der Situation, die wir heute in Deutschland bei mindestens der Hälfte
der hier lebenden Türken beobachten. Sie leben in der Moderne, sind dort aber nie
angekommen. Sie leben in Deutschland nach den Regeln ihres anatolischen Dorfes. Sie
haben sich in ihren Glauben, in ihre Umma, eine Parallelwelt, zurückgezogen und
erhalten diese, indem sie ihre Kinder mit Mädchen und Jungen ihrer alten Heimat Ehen
schließen lassen.
Die Folgen sind dramatisch. Mangelnde Selbstverantwortung zieht auch mangelnden
Bildungswillen nach sich. Wenn Eltern davon ausgehen, dass sie ihre Tochter mit 16
Jahren verheiraten, warum sollten sie ihr Kind dann das Abitur machen lassen?
Mangelnde Verantwortung für die Zukunft, mangelnde Investition in die Bildung ihrer
Kinder reproduzieren immer wieder den eigenen sozialen Status. Und so relativiert sich
auch die Mär von der türkischen Familie, in der alle so gut aufgehoben sind. Es ist in
vielen Fällen ein Kontrollsystem, in dem die älteren Männer bestimmen, was die
Familienmitglieder zu tun und zu lassen haben. Dort herrscht das Prinzip des Respekts
und der Ehre, ein Jüngerer hat dem Älteren nicht zu widersprechen, und die Frauen sind
die »Ehre«, sprich Besitz der Männer, sie haben in der Öffentlichkeit nichts zu suchen.
Es ist kein System der Fürsorge, sondern eine Besitzanzeige.
Keine guten Voraussetzungen für eine Demokratie, denn sie braucht mündige Bürger.
So ist letztlich an der Frage der Gleichberechtigung der Frau die Integration einer
großen Zahl von Türken in Deutschland gescheitert. Diese Erkenntnis ist umso bitterer,
weil in Deutschland in den letzten Jahrzehnten vielfältige Initiativen staatlicher,
politischer und sozialer Politik darauf gerichtet waren, die Stellung der Frau zu
verbessern. In der türkisch-islamischen Welt ist der Mensch ein Sozialwesen, das der
Gemeinschaft gehört.
Aus der Vorstellung der Umma, der Glaubensgemeinschaft, leitet sich ein soziales
Konzept von Gemeinschaftlichkeit ab, das der Gemeinschaft den Vorrang vor dem
Individuum gibt und damit im Gegensatz zum Bild von der Einzigartigkeit des
Individuums in Gesellschaften christlicher Prägung steht. Der Christenmensch wurde
durch die Entdeckung des Gewissens zum verantwortlichen Einzelnen. Wer
Verantwortung trägt, kann auch schuldig werden.
Eine weitere zivilisatorische Errungenschaft ist die Regelung des gesellschaftlichen
Lebens durch demokratische Entscheidungen über Gesetze. Nicht Gott, sondern die
Menschen machen die Gesetze. Sie gelten für alle. Die Rechtsschulen des Islams
akzeptieren dies nicht, für sie steht Gottes Offenbarung im Koran, und der ist heilig. Die
traditionell-gläubigen Muslime gehen davon aus, dass Gott selbst der Gesetzgeber ist,
dass seine im Koran niedergelegten Offenbarungen Gesetzeskraft haben und es keinen
»säkularen« Lebensbereich gibt.
Viele glauben, sie könnten auch in Europa nach dem Gesetz des Islams leben. Die
Scharia bestimmt bis heute die Erziehungsidee vieler muslimischer Menschen. Sie geht
davon aus, dass der Islam »Hingabe« oder auch »Unterwerfung« bedeutet. Die Scharia
ist ein Vergeltungsrecht, das körperliche Schmerzen für ein Vergehen verlangt. Der
politische Islam versteht sich blendend darin, Grundrechte wie das der Religionsfreiheit
unserer Gesellschaft zu benutzen, um seine kollektivistischen Ideen unter dem Schleier
der Persönlichkeitsrechte durchzusetzen. Die Debatte um das Kopftuch ist dafür nur ein
Beispiel.
Meine Hoffnung: Ich erlebe täglich, wie Frauen die Chance der Freiheit ergreifen
Die türkische Regierung hätte über ihr Amt für Religion die große Möglichkeit, das
dringend nötige Reformwerk – die öffentliche Abwendung von den Prinzipien der
Scharia – anzustoßen. Dazu könnte auch gehören, dass die nach Deutschland entsandten
Imame Deutsch lernten und die im Zuwanderungsgesetz vorgesehenen
Orientierungskurse besuchten. Auch hier steht die Reformwilligkeit der Türkei auf dem
Prüfstand. Wer, wenn nicht eine islamisch geprägte Regierung könnte kraft Amtes eine
Reform des Islams hin zu mehr persönlicher Freiheit befördern? Es geht auf dem Weg
nach Europa nicht darum, »Türken-Politik« oder »islamische Politik« zu betreiben,
sondern am gemeinsamen europäischen Haus zu bauen.
Ich habe die Hoffnung, dass die in Deutschland lebenden Muslime und Türken
erkennen, welche Möglichkeiten und persönlichen Sicherheiten ihnen eine säkulare
Gesellschaft bietet. Ich erlebe jeden Tag, wie türkische Frauen den Mut fassen und die
Freiheit als ihre Chance ergreifen, ein gleichberechtigtes Leben zu führen. Diese Frauen
brauchen Ermutigung und Unterstützung. Die Akzeptanz der Gleichberechtigung von
Mann und Frau und die grundsätzliche Distanzierung von der Scharia sind
Grundvoraussetzungen für ein gemeinsames Europa.
Anders als meine Eltern und meine Geschwister bin ich in Deutschland geblieben. Mein
Vater, von uns der Erste, der hierher gekommen war, kehrte auch als Erster wieder in
die Türkei zurück. Ihm ist es trotz guten Willens nicht gelungen, seine Freiheit zu
nutzen. Ich will nicht behaupten, dass der individuelle Weg einfach ist. Er fordert den
Einzelnen in seiner ganzen Persönlichkeit.
Necla Kelek promovierte über das Thema »Islam im Alltag«. Sie forscht zum Thema
Parallelgesellschaften. Für ihr Buch »Die fremde Braut« wurde ihr am 14. November
2005 der Geschwister-Scholl-Preis verliehen.
Quelle: Scharia? Nein!

Sie haben das Leid anderer zugelassen! Top

Von Necla Kelek zur Migrationsforschung


Eine Antwort auf den offenen Brief von 60 Migrationsforschern: Sie ignorieren
Menschenrechtsverletzungen, weil sie nicht in ihr Konzept von Multikulturalismus
passen
In meinem Buch Die fremde Braut habe ich aus dem Inneren des türkischen Lebens in
Deutschland berichtet, über Zwangsheirat, arrangierte Ehen und Frauen geschrieben,
denen ihre Familien die elementarsten Rechte verweigern. Das Buch hat eine heftige
öffentliche Diskussion ausgelöst, weil es gegen eines der bestgehüteten Tabus der
türkischen Gemeinschaft verstieß – es machte das Schicksal der gekauften Bräute
öffentlich, die mitten in Deutschland ein modernes Sklavendasein führen.
Jetzt werfen mir 60 Migrationsforscher unter anderem aus Instituten in Hamburg, Köln
und Essen vor, ich hätte mit meinem Buch die Beachtung bekommen, die eigentlich
ihnen zustehe. Sie kritisieren, ich hätte »Einzelfälle zu einem gesellschaftlichen
Problem aufgepumpt«. Ich empfehle ihnen Besuche von Schulen, Beratungsstellen, bei
Frauenärzten oder in Moscheen – dort können sie, wenn sie die Sprache der Frauen
sprechen und Zugang zu ihnen finden, erfahren, dass es in diesem Land verbreitet
Zwangsheirat, Gewalt in der Ehe, Vergewaltigungen und sogar die Mehrehe gibt; dass
kurdische Familienväter minderjährige Nichten nach Deutschland holen, sie als ihre
Töchter ausgeben – natürlich Kindergeld beziehen – und mit ihnen in Polygamie leben.
Und ich empfehle aktuell die Lektüre der Studie des Frauenberatungszentrums Selis des
Stadtrats von Batman in Ostanatolien von Ende Januar 2006. Dort wird berichtet, dass
62 Prozent der Frauen von Familienmitgliedern verheiratet wurden, ohne dass sie
vorher nach ihrer eigenen Meinung gefragt wurden. Alles »Einzelfälle«?
Werner Schiffauers Studie Die Migranten aus Subay , in der er anhand von acht
Schicksalen über die Türken in Deutschland Schlüsse zieht, war ein Meilenstein der
Migrationsforschung. Schiffauer hat damit die qualitative Migrationsforschung auf
einen neuen Stand gebracht. Seine grundlegende These allerdings, dass der Weg in die
Moderne unaufhaltsam mit einer Ablösung der Einwanderer von ihrer Herkunftskultur
und ihrer Neuorientierung an den Werten der westlichen Gesellschaft verbunden sei, ist
inzwischen von der Realität widerlegt worden.
Forschung heißt auch, Ergebnisse durch Beobachtung in Frage zu stellen
Die politisch Aufgeschlossenen sind nur allzu gern Schiffauers These gefolgt, die
Integration der Türken und Muslime erledige sich gleichsam »von selbst«. Nicht die
Integration schien das »Problem« zu sein, sondern die Befürchtung, die Migranten
könnten in diesem Anpassungsprozess an die Moderne ihre Identität verlieren. Auch ich
bin anfangs dieser These gefolgt und habe die »kulturelle Dimension des Muslim-
Seins« ebenso sträflich unterschätzt wie die Macht des islamischen Weltbildes. Als ich
1995 in Berlin versuchte, kopftuchtragende junge Türkinnen zu interviewen, musste ich
selbst in Kreuzberg lange suchen, um überhaupt die eine oder andere ausfindig zu
machen.
Gehen Sie heute zum Kottbusser Tor in Kreuzberg: Sie werden eher Probleme haben,
muslimische Frauen ohne Kopftuch zu finden. Ich habe in den vergangenen zehn Jahren
genau hingesehen, habe mit einigen meiner Interviewpartner wiederholt gesprochen, die
Veränderung in der türkisch-muslimischen Community registriert und dabei
dazugelernt. Nach meinem Verständnis macht erst das seriöse Forschung aus: die
Bereitschaft, die eigenen Ergebnisse durch genaue Beobachtung auch wieder infrage
stellen zu lassen. Der Vorwurf, angeblich »Einzelfälle« zu Verallgemeinerungen
»aufzupumpen«, ist auch noch deshalb besonders absurd, weil die Mit-Initiatorin dieses
offenen Briefes an mich, Yasemin Karakasoglu, in ihrer Dissertation auf über 400
Seiten die Ergebnisse ihrer Befragungen von 15 muslimischen, kopftuchtragenden
Pädagogikstudentinnen ihres Instituts auswertet. Sie kommt zu dem Schluss, dass das
Kopftuchtragen junger muslimischer Frauen viele »Facetten« habe und das Kopftuch
ein Zeichen des neuen Selbstbewusstseins junger Musliminnen ist, dass sie die
»glücklichen Töchter Allahs« sind. Diese Erkenntnis qualifizierte Frau Karakasoglu
sogar zur Gutachterin vor dem Verfassungsgericht.
Kurios an dem Vorwurf, ich könne keine empirischen Daten vorlegen, ist ferner, dass
gerade meine Kritiker aus der gut ausgestatteten Welt der öffentlich finanzierten
Migrationsforschung kommen. Auch die Ergebnisse, die der Sozialforscher Wilhelm
Heitmeyer in einer empirischen Studie über Gewaltbereitschaft muslimischer
Jugendlicher (Verlockender Fundamentalismus, 1997) vorgelegt hat, passten ihnen nicht
ins multikulturelle Konzept. Anstatt inhaltliche Ergebnisse auf den Tisch zu legen,
kaprizieren sie sich auf persönliche und wissenschaftliche Diskreditierungen – alles nur,
weil ihnen die Richtung nicht passt. Dabei hätten die Institutsleiter, C3- und C4-
Professoren, in den vergangenen Jahrzehnten Zeit, Mittel und Assistenten gehabt, die
Fragen von Zwangsheirat, arrangierten Ehen, Ehrenmorden und Segregation sowohl
quantitativ wie qualitativ zu untersuchen.
Die 60 Migrationsforscher hätten die Fragen stellen können, die ich gestellt habe. Sie
hätten auch andere Frage stellen können. Sie haben es nicht getan, weil solche Fragen
nicht in ihr ideologisches Konzept des Multikulturalismus passen und weil sie die
Menschenrechtsverletzungen nicht sehen wollten und wollen. Damit haben sie aber
auch das Tabu akzeptiert und das Leid anderer zugelassen.
Die Unterzeichner bestreiten nicht die Existenz von Zwangsehen, sehen dieses
Phänomen aber als eine Art »Heiratsmarkt«, der sich der europäischen
Abschottungspolitik verdankt. Gibt es also keine Zwangsheirat in Anatolien? Hat
Europa eine Bringschuld gegenüber Ländern, die der EU beitreten wollen? Oder ist es
nicht umgekehrt so, dass bestimmte Bedingungen in diesen Ländern erfüllt sein müssen,
bevor sie der EU beitreten können?
»Wenn es keine transparenten Möglichkeiten für Einwanderung gibt«, so schreiben die
Migrationsforscher, »nutzen die Auswanderungswilligen eben Schlupflöcher.« Soll das
heißen, die Europäer sind für die Menschenrechtsverletzungen in Kurdistan und für den
Zwang zur Ehe im Islam verantwortlich? Ist also das Brechen von Gesetzen vor einem
solchen Hintergrund durchaus legitim? Ebenso wenig bestreiten die Unterzeichner die
Existenz von Ehrenmorden, doch »dafür gibt es bekanntlich Gesetze«, schreiben sie.
Damit ist das Thema für sie erledigt.
Integrationspolitik darf keine Probleme wegidealisieren
Für mich offenbaren die Forscher in solchen Aussagen ein merkwürdiges
Demokratieverständnis und ein merkwürdiges Selbstverständnis ihrer eigenen Arbeit.
Offensichtlich verstehen sie ihren Beitrag zu gesellschaftlicher Aufklärung und zur
Integration nicht so, dass solche kriminellen Praktiken verhindert werden. Sie wollen sie
bestenfalls »in ihrem Entstehungskontext« erklären können. Ich habe ein anderes
Verständnis von meiner Aufgabe als Migrationsforscherin. Ich möchte mit meinen
Arbeiten zur Integration beitragen und habe deshalb auch keine Probleme damit, mit
dem Innenminister der Bundesrepublik, dem Bundesamt für Migration und anderen
Stellen zusammenzuarbeiten.
Die 60 Migrationsforscher werfen mir eine unseriöse Vorgehensweise vor, sind sich
aber selbst nicht zu schade für den Versuch, mich und andere zu diskreditieren – und
damit die ersten Ansätze einer anderen Integrationspolitik in Deutschland. Und mit
Seyran Ates und Ayaan Hirsi Ali denunzieren sie Autorinnen, die ihr Leben riskieren,
um die Gewalt gegen Frauen zu beenden.
Vielleicht haben die Unterzeichner auch nur Angst um ihre Forschungsmittel. Sie
kommen nicht mehr unwidersprochen damit durch, vom unaufhaltsamen Weg der
Migranten in die Moderne zu sprechen. Sie merken, dass vielleicht endlich die ersten
Ansätze einer realistischen Integrationspolitik betrieben werden, die die real
existierenden Probleme nicht mehr wegidealisiert, sondern anzugehen versucht. Zu
einer solchen Politik aber hat ihre Forschung nichts beizutragen.
Quelle: Sie haben das Leid anderer zugelassen

Entgegnung Top
Necla Kelek antwortet auf eine Petition von 60 Migrationsforschern zur deutschen
Integrationspolitik und die Kritik an ihren Büchern über den Islam
In meinem Buch Die fremde Braut habe ich aus dem Inneren des türkischen Lebens in
Deutschland berichtet, über Zwangsheirat, arrangierte Ehen und Frauen geschrieben,
denen ihre Familien die elementarsten Rechte verweigern. Das Buch hat eine heftige
öffentliche Diskussion ausgelöst, weil es gegen eines der bestgehüteten Tabus der
türkischen Gemeinschaft verstieß – es machte das Schicksal der gekauften Bräute
öffentlich, die mitten in Deutschland ein modernes Sklavendasein führen.
Jetzt werfen mir 60 Migrationsforscher aus Instituten in Hamburg, Köln und Bielefeld
vor, ich hätte mit meinem Buch die Beachtung bekommen, die eigentlich ihnen zustehe.
Kurios daran ist, dass gerade diese Kritiker aus der gut ausgestatteten Welt der
öffentlich finanzierten Migrationsforschung kommen. Sie hätten in den vergangenen
Jahrzehnten Zeit, Mittel und Gelegenheit gehabt, die Frage von Zwangsheirat,
arrangierten Ehen, Ehrenmorden, Segregation und dem Islam zu untersuchen. Sie hätten
die Fragen stellen können, die ich gestellt habe. Sie haben es nicht getan, weil solche
Fragen nicht in ihr ideologisches Konzept des Mulitkulturalismus passte. Damit haben
sie aber auch das Tabu akzeptiert und das Leid anderer zugelassen.
Die Unterzeichner bestreiten nicht die Existenz von Zwangsheiraten, sehen diese aber
als eine Art “Heiratsmarkt“, der sich der europäischen Abschottungspolitik verdankt.
Gibt es also keine Zwangsheirat in Anatolien? Hat Europa eine Bringschuld gegenüber
Ländern, die der EU beitreten wollen? Oder ist es nicht umgekehrt so, dass bestimmte
Bedingungen in diesen Ländern erfüllt sein müssen, bevor sie der EU beitreten können?
„Wenn es keine transparenten Möglichkeiten für Einwanderung gibt,„ so schreiben die
Migrationsforscher, “nutzen die Auswanderungswilligen eben Schlupflöcher“. Das soll
doch wohl heißen, die Europäer sind für die Menschrechtsverletzungen in Kurdistan
und für den Zwang zur Ehe im Islam verantwortlich. Die Unterzeichner bestreiten
keineswegs die Existenz von Ehrenmorden, doch „dafür gibt es bekanntlich Gesetze“.
Für mich offenbart sich darin ein merkwürdiges Selbstverständnis der unterzeichnenden
Migrationsforscher. Offensichtlich verstehen sie ihren Beitrag zu gesellschaftlicher
Aufklärung und zur Integration nicht so, dass solche kriminellen Praktiken verhindert
werden, sondern sie wollen sie bestenfalls „in ihrem Entstehungskontext“ erklären
können. Da habe ich in der Tat ein anderes Verständnis von meiner Aufgabe als
Migrationsforscherin. Ich möchte mit meinen Arbeiten zur Integration beitragen und
habe deshalb auch keine Probleme damit, mit dem Innenminister der Bundesrepublik,
dem Bundesamt für Migration und anderen Stellen zusammenzuarbeiten. Und wenn sie
kritisieren, ich hätte „Einzelfälle zu einem gesellschaftlichen Problem aufgepumpt“,
dann empfehle ich Ihnen Werner Schiffauers Studie Die Migranten aus Subay , in der er
anhand von acht Schicksalen über „die Türken in Deutschland“ Schlüsse zieht. Ein
Standardwerk Migrationsforschung.
Nach Max Weber ist alles Handeln „Mittel zum Zweck“. Ich verstehe deshalb auch,
dass sich die 60 Migrationsforscher die Mühe machen, einen Brief zu schreiben. Sie
haben Angst um ihre Forschungsmittel, sie merken, dass sie nicht mehr
unwidersprochen vom unaufhaltsamen Weg der Migranten in die Moderne schwätzen
können, denn inzwischen hat auch der letzte Bürger, Politiker und Entscheidungsträger
gemerkt, dass diese Institute der Integrationspolitik seit Jahren einen Bärendienst
erweisen.
Für mich sind es gerade diese Migrationsforscher, die seit 30 Jahren für das Scheitern
der Integrationspolitik verantwortlich sind. Die Politik hat viel zu lange auf sie gehört.
Die Unterzeichner beanspruchen, sich „auf Erkenntnisse zu stützen“, die „auf rationale
Weise gewonnen wurden“: auf den Tisch damit!
Quelle: Entgegnung
Petition von 60 Migrationsforschern

Anwälte einer Inszenierung Top

Von Necla Kelek


Die Verteidiger der angeklagten Brüder im Berliner Ehrenmord-Prozess versuchen
milde Strafen zu erhalten. Verständlich. Doch sie sollten deutlich machen, dass kein
Islambonus verteilt, sondern die Werte der Zivilisation verteidigt werden
Die drei Männer sitzen lässig auf ihren Stühlen, die Füße des einen ragen weit unter
dem Tisch hervor, ein anderer öffnet seine Aktentasche und holt sich ein Getränk
heraus, der Höfliche stellt seinen Stuhl so, dass er den Richter ansehen kann. Die
Männer strahlen eine Selbstzufriedenheit aus, die fast mit Händen zu greifen ist. Und sie
sind auch rein optisch die ideale Besetzung. Der Draufgänger mit dem Stoppelschnitt,
der Schwiegermutter-Typ mit lockigem Haar und Brille und der Fuchs, der die Fäden
zieht. Es sind die Anwälte der drei Brüder Sürücü, die angeklagt sind, gemeinsam ihre
Schwester Hatun ermordet zu haben.
Die drei Angeklagten sitzen hier im Oberlandesgericht Berlin-Moabit hinter Panzerglas,
dessen spiegelnde Scheiben sie wie ein Schleier verbirgt. Das ist den Anwälten
sicherlich recht, denn die Angeklagten sind das einzige Sicherheitsrisiko in diesem
Prozess. Ein falsches Wort von ihnen könnte die hübsche Verteidigungsstrategie
durcheinanderbringen. Die Angeklagten reden deshalb auch nicht selbst und lassen ihre
Anwälte Erklärungen abgeben und ankündigen, fortan zu schweigen. Der Anwalt des
jüngsten Angeklagten liest ein Geständnis vor: "Ich habe meine Schwester getötet. Ich
habe die Tat allein begangen." Er habe den Lebenswandel der Schwester missbilligt,
würde die Tat jetzt bereuen. Damals sei er zu unreif gewesen, um zu begreifen, was er
tat. Der Anwalt redet von der Sorge um die Familie, der fünfjährige Sohn der Schwester
könne auf die schiefe Bahn geraten, empört sich über ihren Lebenswandel und als sie
ihm auch noch sagt, dass sie selbst entscheide, mit wem sie ins Bett gehe ("Ich ficke mit
wem ich will", soll Hatun gesagt haben) lässt er den Angeklagten gestehen: "Das war
für mich zu viel, ich zog die Pistole und schoss."
Für mich klingt dieses Geständnis wie die Phantasie eines oberschlauen Juristen: "Lass
mich mal machen. Ich weiß, was das Gericht hören muss, um ein mildes Urteil zu
fällen."
Der Richter fragt nach, ob dieses Geständnis von ihm sei, denn es ist zu offensichtlich,
dass sowohl die Diktion wie der Inhalt nicht vom inzwischen 20-jährigen Täter
stammen kann. Auch bei dieser Antwort ist der Anwalt schneller als sein Mandant und
mit einem Lächeln verteilt er das schriftlich vorliegende Mordgeständnis. Es enthält
alles, was nicht mehr zu bestreiten ist (den Mord) und was strafmildernd wirken kann
(Unreife, Reue, Einsicht). Die Anwälte der Brüder, der Brillenträger mit dem lockigen
Haar für den Brillenträger, der Fuchs für den mutmaßlichen Drahtzieher, verlesen
Erklärungen, die eine Tatbeteiligung bestreiten, ja sie versuchen ein Bild einer Familie
zu zeichnen, die sich auseinandergelebt hat.
Und doch scheint das Vorgehen aufs Genaueste miteinander abgestimmt, bis hin zur
(sicher durch Prozesskostenbeihilfe finanzierten) Nebenklage, die von einer Schwester
der Ermordeten vertreten wird und offensichtlich den vorrangigen Zweck verfolgt, der
Familie den ständigen Zugang zum Prozess zu ermöglichen. Wenigstens machen die
aufmunternden Blicke der verschleierten Schwester Richtung Anklagebank nicht den
Eindruck, dass sie noch eine Rechnung mit den Brüdern offen hat.
Die Anwälte werden vermutlich beantragen, für den jüngsten Bruder das
Jugendstrafrecht anzuwenden. Dann würde er zu höchstens acht bis zehn Jahre
Jugendstrafe verurteilt werden und seine Brüder straflos davonkommen. Die Anwälte
präsentieren einen Einzeltäter, um von der gesellschaftlichen Dimension des Falls
abzulenken. Das ist einfach, denn deutsche Juristen, auch Staatsanwälte und Richter
sind Spezialisten im Individualstrafrecht, für sie ist das selbstverantwortliche Handeln
des Einzelnen Grundlage ihres Weltbildes.
Wir haben es aber inzwischen auch in Deutschland in muslimischen Communities mit
einem ganz anderen Menschen- und Weltbild zu tun. Diese Menschen leben nicht nach
den zehn Geboten oder den Prinzipien unserer Verfassung. Diese Werte sind ihnen
unbekannt und widersprechen ihrer Kultur. Sie leben in einer muslimisch-archaischen
Parallelwelt, in denen sie den vermeintlichen Gesetzen der Scharia folgen.
Zunächst bedeutet das, dass nach Auffassung dieser Muslime - und die Familie Sürücü
stellt sich in allen bekannten Details als strenggläubig dar - es ein vom Familienverband
losgelöstes "Ich" gar nicht gibt. Der Sohn ist dem Vater, dem älteren Bruder, Onkel
oder Gott zu "Respekt", sprich Gehorsam, verpflichtet. Die Männer sind für die Töchter
und Schwestern, die "Ehre der Familie" verantwortlich. Sie kontrollieren die Frauen im
Namen der Familie. Dem Islam fehlt das Konzept der entscheidungsfähigen, moralisch
verantwortlichen Person vollkommen. In diesem Weltbild gelten die von Allah über
Mohammed den Menschen gegebenen Gesetze vor allen anderen. Darauf gründet sich
nach Auffassung der Muslime die unerschütterliche Autorität der Scharia. Und nach
dem Koran ist das, was die Brüder Sürücü getan haben, nicht verwerflich. Sexualität ist
nach muslimischer Auffassung nur innerhalb der Ehe zulässig. Alles andere ist Unzucht
und die kennt im Koran kein Mitleid.
So wie Hatun lebte, verstieß sie nach dieser Auffassung gegen den Koran. Sure 24 "Das
Licht", Vers 2: "Wenn eine Frau und ein Mann Unzucht begehen, dann verabreicht
jeden von ihnen hundert (Peitschen-)Hiebe! Und lasst euch im Hinblick darauf, dass es
(bei der Scharia) um die Religion Gottes geht, nicht von Mitleid mit ihnen erfassen,
wenn ihr an Gott und den jüngsten Tag glaubt!" Der Mörder nannte in seinem
Geständnis seine Schwester mit dem Kosenamen Aynur, was soviel wie "Licht" oder
"so hell wie der Mond" bedeutet. Und in Sure 17, Vers 32 heißt es: “Und lasst euch
nicht auf Unzucht ein! Das ist etwas Abscheuliches – eine üble Handlungsweise! 33:
Tötet niemand, den zu töten Gott verboten hat, außer wenn ihr dazu berechtigt seid.“
Und Sure 4, 18: „Diejenigen (gemeint sind die Frauen) haben keine Vergebung zu
erwarten, die schlechte Taten begehen und darin verharren.“ Nach Auffassung der
Scharia gehört die Tötung eines Menschen – auch der vorsätzliche Mord – nicht zu den
Kapitalverbrechen, weil hier nicht Gottes Recht, sondern nur menschliches Recht
verletzt wurde. Ehebruch wird allerdings unter die Hadd -Vergehen, die
Kapitalverbrechen eingeordnet, während Mord zu den Qisas -Vergehen, den
Verbrechen mit Wiedervergeltung gehört.
Die Anwälte werden sagen, die Weltanschauung der Angeklagten stehe nicht vor
Gericht. Sie werden versuchen zu verhindern, dass die Ursachen der Tat ans Licht
kommen, weil der Prozess dann möglicherweise schlecht für ihre Mandanten ausgeht.
Sie verhelfen so vielleicht dem Mörder und seinen mutmaßlichen Komplizen zu
vorzeitiger Freiheit, sie verharmlosen aber im Namen der (Rechts-)Freiheit den Tod
einer jungen Frau. Sie machen ihren Job und gleichzeitig sich selbst zu Anwälten der
Scharia, ganz im Sinne des Imams von Izmir, der spöttisch über die rechtschaffenden
Deutschen sagte: „Mit euren Gesetzen werden wir euch besiegen.“ Dieser Prozess
könnte ein Lehrstück werden, um der um sich greifenden Praxis der „Ehren-“ oder
„Schandemorde“ Einhalt zu gebieten. Nämlich in dem sich das Gericht dazu bekennt,
gründlich nicht nur Umstände, sondern auch die Hintergründe und Ursachen der Tat zu
ergründen. Es würde vielen Frauen zukünftig das Leben retten, wenn klar wird, dass
diese Gesellschaft keinen Ausländer- oder Islambonus verteilt, sondern die Werte der
Zivilisation verteidigt. Die Anwälte können ihren Teil dazu beitragen indem sie die
Angeklagten auffordern, für sich selbst zu sprechen.
* Die Autorin lehrt Migrationssoziologie an der Evangelischen Fachhochschule für
Sozialpädagogik in HamburgDie Autorin lehrt Migrationssoziologie an der
Evangelischen Fachhochschule für Sozialpädagogik in Hamburg
Quelle: Anwälte einer Inszenierung

Islamkonferenz - Sie wollen ein anderes Deutschland Top

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Sie versteht sich als Unabhängige, als säkulare Muslimin: Necla Kelek
14. März 2008 Lieber Herr Alboga, lieber Herr Köhler, lieber Herr Kizilkaya und lieber
Herr Yilmaz vom „Koordinierungsrat der Muslime“, Ihre beständigen Angriffe auf uns,
die säkularen Muslime, Ihre andauernde Negation unseres Muslimseins, Ihre unsägliche
Taktiererei, Ihr auf nichts gründender Hochmut haben uns gezeigt, dass mit Ihnen kein
Staat zu machen ist. Jedenfalls keiner, der unseren Vorstellungen von Demokratie und
Säkularität entspricht. Wir haben Ihnen und Ihren Verbänden viel zu lange die
Deutungshoheit überlassen, was muslimisches Leben in Deutschland ist.
Ich spreche hier als Unabhängige, als säkulare Muslimin, aber ich weiß, dass viele
Menschen, in diesem Plenum und anderswo, derselben oder ähnlicher Meinung sind.
Ich erlaube mir deshalb, einige Feststellungen im Plural zu treffen.
Was ist Ihr Verständnis von Islam und Demokratie
Die Vertreter des „Koordinierungsrates der Muslime“ (KRM) haben während der
letzten anderthalb Jahre nichts Substantielles zur Debatte über unser Verfassungs- oder
Werteverhältnis beigetragen. Kein Islamgelehrter dieser Seite trat auf, um sein
Verständnis von Islam und Demokratie darzulegen. Es war ernüchternd, feststellen zu
müssen, dass der organisierte Islam in Deutschland offenbar nicht in der Lage oder
willens ist, solche Fragen zu erörtern, sondern immer nur bekundete, was der Islam alles
nicht ist. Es macht den Eindruck, dass die Verbandsfunktionäre diese Islamkonferenz
als einen Ort ansehen, wo sie einen Vertrag über das ungestörte religiöse Leben der
Muslime und ihre staatliche Anerkennung aushandeln können. Aber wir sind in dieser
Konferenz zum Glück nicht auf einem Bazar, auf dem die Bundesrepublik und ihre
Werteordnung zur Debatte stehen.
Ich möchte hier, stellvertretend für die nichtorganisierten Muslime in diesem Land,
sagen, dass wir es Ihnen nicht länger überlassen, in der Öffentlichkeit zu vertreten, wie
und was der Islam in diesem Land sein kann. Mit Ihnen, das ist die Konsequenz der
letzten dreißig Sitzungen der Arbeitsgruppen, scheint es keinen Konsens geben zu
können. Sie wollen offenbar ein anderes Deutschland als wir.
Ein Bekenntnis zu Deutschland
Für uns ist Deutschland das Land, das unseren Kindern zur Heimat geworden ist und in
dem wir friedlich und in Freiheit leben. Dieses Bekenntnis zu Deutschland beruht auch
darauf, weil dieses Land uns allen gestattet und ermöglicht hat, aus freien Stücken und
ohne Bevormundung zu werden, was wir sind: Volkswirte, Ärzte, Schriftsteller, Lehrer,
Professoren, Politiker, Ingenieure, Unternehmer, Facharbeiter - und dies alles ohne
Integrationskurse und Sprachhilfe. Allein, weil wir zeigen durften, was in uns
Gastarbeiter- und Migrantenkindern steckt: der Wille und die Fähigkeit zum Erfolg!
Wir wollen daher selbstbewusst den Grad und die Form unserer Religiosität selbst
bestimmen und dort, wo sie sich kollektiv manifestiert, mitbestimmen, wie diese
Religiosität zum Ausdruck gelangt. Wir lehnen es ab, immer wieder gerichtlich die
Grenzen der deutschen Verfassung und der deutschen Rechtsprechung auszuloten.
Als deutsche Bürger leben
Wir wollen nicht auf eine muslimische Identität reduziert werden, sondern an den
Werten Deutschlands teilhaben, in dem wir diese Werte als die unseren anerkennen und
im wahrsten Sinn des Wortes als deutsche Bürger leben. Wir wollen nicht, dass junge
Frauen und Männer, mit Berufung auf Tradition und den Islam, nicht frei entscheiden
können, ob, wann und wen sie heiraten. Wir sind gegen Import- und Ferienbräute, weil
damit jungen Menschen die Selbstbestimmung verweigert und die Integration immer
wieder unmöglich gemacht wird.
Wir wenden uns gegen jegliche Form der Legitimierung von Gewalt - sei es in der
Erziehung, der Ehe oder in der politischen Auseinandersetzung. Es beschämt uns, dass
Gewalt gegen Frauen ein islamisches Problem ist; es beschämt uns, dass Gewalt gegen
Kinder ein islamisches Problem ist; es beschämt uns, dass Gewalt gegen
Andersgläubige ein islamisches Problem ist. Und es beschämt uns, dass dies von den
Islamverbänden geleugnet wird.
Wer darf die Muslime in Deutschland vertreten?
Wir wollen, dass unsere Kinder an den Schulen dieses Landes einen Religionsunterricht
erhalten, der sich in nichts von dem Religionsunterricht für Kinder anderer
Konfessionen unterscheidet. Wir wollen nicht, dass Islamvereine wie zum Beispiel die
Milli Görus mit der Regierung von Nordrhein-Westfalen oder anderswo definieren,
welche Rolle der Islam in der Schule zu spielen hat. Wir wollen an Schulen weder das
Kopftuch noch Gebetsräume, noch dass an Ramadan von Kindern gefastet wird. Es
kann nicht sein, dass, von Moscheen unterstützt und Behörden gebilligt, in deutschen
Städten Scharia-Richter sich anmaßen, zivil- und strafrechtliche Belange zu regeln, die
eindeutig dem Gewaltmonopol des Staates vorbehalten sind.
Es widerspricht unserem Verständnis von der Souveränität unseres Landes, dass
Religionsvereine wie die Ditib, die politisch, organisatorisch und finanziell von
ausländischen Regierungen und Organisationen abhängig sind, für die deutschen
Muslime sprechen und maßgeblichen Einfluss auf die Innen- und Integrationspolitik
unseres Landes haben. Wir bedauern, dass Moscheen oft Ausgangspunkt einer
Selbstausgrenzung und Fixpunkte einer Parallelgesellschaft sind. Es fehlt die Offenheit
und Transparenz, die Vertrauen entstehen lassen.
Wir bedauern, dass die Verbände den Islam in Deutschland selbst um das nötige
Vertrauen bringen. Dazu gehört, dass die Verbände die Finanzierung der 187 geplanten
Moscheeneubauten mit einem Geheimnis umgeben. Stimmt es, was der Herr
Innenminister in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ auf die Frage, wer die
Kölner Moschee finanziert, feststellt: „Wenn der Verein Ditib die Moschee baut, kommt
das Geld vom türkischen Staat.“ Ich frage Herrn Alboga, wer finanziert die Ditib und
die Kölner Moschee? Ich frage Herrn Köhler, war es der Bruder des Herrschers von
Dubai, der die Frankfurter Abu-Bakr-Moschee finanziert hat?
Es fehlt die Offenheit und Transparenz
Innerhalb von achtzehn Monaten haben die Vertreter des religiösen Koordinierungsrates
nur einen einzigen Satz (!) aus eigener Feder beigesteuert, dafür aber, sprichwörtlich in
letzter Minute, Änderungen verlangt, die juristisch zwar unbedenklich sind, aber uns
deutlich vor Augen führen: Sie wollen oder können nicht verstehenn, worum es geht.
Durch die europäische Geschichte der Aufklärung ist ein Wertekanon entstanden, der
sich auch, aber eben nicht nur in der Verfassung spiegelt.
Wir leben in einem säkularen Gemeinwesen, das Staat und Religion trennt. Dem
Einzelnen verschafft es die Luft zum Atmen, die „innere Freiheit“, die geschützt ist wie
unsere Grundrechte. Das ist mit Koran und Sunna nicht auf einer Ebene zu sehen. Zum
einen, weil deren Lehre den Menschen diese Freiheit nicht gewährt, sondern
Vorschriften macht. Aber vor allem, weil diese Werteordnung die moralische
Verfassung Europas darstellt. Das ist der elementare Unterschied, der den „Scharia-
Islam“ , wie Professor Tilman Nagel es formuliert hat, von den Säkularen trennt.
Eine demokratisch legitimierte Vertretung
Navid Kermani hat im vergangenen Mai die deutschen Muslime aufgerufen, sich eine
demokratisch legitimierte Vertretung zu schaffen. Doch hat der Koordinierungsrat, der
eine Minderheit vertritt, bisher nichts getan, sich mit uns, den Säkularen, der
unorganisierten Mehrheit, zu verständigen. Warum sagen uns die Islamverbände nicht
einfach, was wir schon immer wussten: Sie lehnen letztlich die Werteordnung
Deutschlands ab. Dieser endlose Streit über Selbstverständliches hat auch sein Gutes.
Wir wollen weitermachen, und wir können uns nicht von den Ewiggestrigen aufhalten
lassen. Ich möchte darum einige Punkte zur Diskussion stellen:
1.Die Deutsche Islamkonferenz sollte sich ein öffentliches Forum im Internet geben,
damit die Unterschiede zwischen Religiösen und Säkularen öffentlich diskutiert werden
können.
2.Das Resümee der Konferenz sollte ins Türkische übersetzt werden, damit die Debatte
auch in die türkischen Gemeinden getragen wird.
3.Wir brauchen die intellektuelle Debatte über einen säkularen Islam und die Probleme
der Muslime in Deutschland. Lassen Sie uns diese Auseinandersetzung öffentlich
führen.
4.Die wissenschaftlich rationale Auseinandersetzung und Forschung mit und über den
Islam aus theologischer und religionssoziologischer Sicht sollte gefördert werden, damit
der Islam aus der intellektuellen „Versiegelung“ befreit wird.
5.Lassen Sie uns eine Kampagne für die Rechte der muslimischen Frauen und Mädchen
initiieren, die junge Frauen darüber aufklärt, dass es nicht im Sinn der Integration und
eines säkularen Islam ist, junge Menschen nicht selbst entscheiden zu lassen, ob, wann
und wen sie heiraten.
6.Lassen Sie uns unsere Kinder zu selbständigen und selbstverantwortlichen Bürgern
erziehen. Klären wir sie über die Religionen auf, doktrinieren sie aber nicht in
Koranschulen.
7.Wir brauchen die finanzielle und organisatorische Unabhängigkeit der deutschen
Muslime.
8.Die in Deutschland aktiven muslimischen Verbände sollten über eine freiwillige
Prüfung ihrer Organisations- und Finanzverhältnisse durch eine unabhängige
Wirtschaftsprüfungsgesellschaft nachdenken.
9.Ich fordere die Islamverbände und auch die Säkularen auf, die einmalige historische
Chance nicht zu verspielen, auf dieser Konferenz, im öffentlichen Diskurs, den Islam
mit der Moderne und der Demokratie zu versöhnen.
Die Soziologin Necla Kelek, säkulare Muslimin, sitzt in der Arbeitsgruppe „Deutsche
Gesellschaftsordnung und Wertekonsens“ der Islamkonferenz.
Quelle: Sie wollen ein anderes Deutschland
Siehe auch: Dr. Necla Kelek's Bericht an die Islamkonferenz

Muslime missbrauchen Rassismusbegriff Top

Der menschliche Makel


Die Muslimverbände bagatellisieren nicht nur den Rassismus-Begriff, sie schlagen auch
Kapital aus dem Schreckenswort. Es wird zum Knüppel gegen Kritik und verschleiert
eigene Ressentiments. VON NECLA KELEK
Der Mensch wird als Muslim geboren, wenn nicht, macht ihm der Islam das Angebot,
diesen menschlichen Makel durch Übertritt zu tilgen. Jedes Kind mit einem
muslimischen Vater ist nach islamischem Brauch per Geburt Muslim, denn Muslimsein
ist in den Augen der Gläubigen die natürliche Form des Menschseins. Austreten kann
man aus dieser Religion nicht, es sei denn, man nimmt den Tod mit anschließender
Höllenfahrt in Kauf.
Necla Kelek wurde 1957 in Istanbul geboren. In Deutschland hat sie über das Thema
"Islam im Alltag" promoviert. Sie ist Mitglied der Deutschen Islamkonferenz und
engagiert sich gegen Zwangsheirat.
Der Einzelne ist per Geburt Muslim, wie ein anderer große Ohren oder blonde Haare
hat. Eine Entscheidung über diesen Zustand steht ihm nicht zu, er ist sozusagen von
Gott gegeben. Ihn wegen dieser Besonderheit oder dieses Stigmas zu kritisieren, ist
deshalb diskriminierend, weil Muslimsein das eigentliche menschliche Privileg ist und
ein Muslim nichts dafür kann, dass er Muslim ist.
So jedenfalls erscheint das schlichte Argumentationsmuster des Koordinierungsrats der
Muslime (KRM), der Dachorganisation der Islamverbände in Deutschland, und des
Interkulturellen Rats, eines Zusammenschlusses von Gewerkschaftern und anderen
"Antirassisten", zu sein. Sie rufen ab heute zu "Internationalen Wochen gegen
Rassismus" auf: "Islamfeindlichkeit ist die gegenwärtig an meisten verbreitete Form
von Rassismus in Deutschland", lassen sie verlauten.
Nun könnte man sich über die Schlichtheit der Argumentation lustig machen (es würde
wohl wiederum den Vorwurf des Rassismus nach sich ziehen), wenn die Sache nicht so
politisch irre wäre. Irre, weil hier die Spitzenorganisation des Islam in Deutschland die
Muslime zu Opfern von Rassismus stilisiert, ohne auch nur einen Gedanken daran zu
verschwenden, wie gefährlich es ist, Begriffe auf diese Weise zu bagatellisieren. "Unter
Islamfeindlichkeit verstehen wir", so im Aufruf der Organisatoren "wenn Muslime
herabwürdigend beurteilt und Diskriminierungen befürwortet werden".
Das Kopftuchverbot für Lehrerinnen zum Beispiel wird in diesem Sinne als
Diskriminierung gewertet und ist somit rassistisch. Der Versuch, den Diskurs über
Wesen und Alltag des Islam, seiner Sitten und Auswüchse zu verhindern, indem man
Kritik oder Ablehnung als "rassistisch" diskriminiert, zeigt wie weit die Islamverbände
und die sogenannten Antirassisten ideologisch argumentieren. Das Schreckenswort
"Rassismus" wird zum Knüppel gegen Kritik.
In den türkischen Zeitungen und dem inzwischen inhaltlich von der AKP (Adalet ve
Kalkınma Partisi, AK Parti (Deutsch: Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung, eine
islamisch-konservativ ausgerichtete politische Partei in der Türkei)) dominierten
staatlichen Rundfunk TRT (Türkiye Radyo ve Televizyon Kurumu) werden täglich
ausführliche Berichterstattungen über die angeblichen Diskriminierungen der Muslime,
besonders in Europa, gesendet. Der Ton gegenüber Deutschland und Europa wird
zunehmend anklagender, es scheint ein gezieltes Interesse daran zu bestehen, die
Muslime aus der europäischen Gemeinschaft auszugrenzen. Täglich führt man den
Landsleuten vor: Seht her, man will euch nicht.
Islamfunktionäre, die einerseits in allen möglichen staatlichen Gremien und
Konferenzen sitzen und die Integrationspolitik mitbestimmen, beklagen sich wortreich
darüber, in Europa ausgegrenzt zu werden.
Die türkische Tageszeitung Hürriyet schreibt täglich darüber, wie schrecklich es den
Türken und Muslimen in Deutschland geht, gibt aber gleichzeitig Tipps, wie man nach
Deutschland kommen kann, ohne einen Deutschkurs zu belegen. Nämlich: Man wird
schwanger. Es gibt im Türkischen ein Sprichwort, das lautet: "Die Katze, die nicht ans
Futter kommt, sagt, es sei verdorben." So kann man sich auch einem Dialog entziehen,
indem man Kritik zu Beleidigungen umdeutet und der Bevölkerung ein Feindbild
suggeriert, weil die eigenen Konzepte scheitern.
Da solche Kampagnen aus der Türkei über den regierungstreue türkischen Islamverband
Ditib (Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V.) nach Deutschland
transportiert werden, macht es Sinn, dass sich der KRM (Koordinationsrat der
Muslime), in dem die Ditib großen Einfluss hat, sich an solchen "Rassismus"-
Kampagnen beteiligt.
Irre ist es auch, weil KRM und Interkultureller Rat dann wiederum aus "rassistischer"
Diskriminierung (öffentliches) Kapital zu schlagen versuchen. Rassismus ist wie
Nazismus und Antisemitismus das Schlüsselwort, um zum Beispiel öffentliche Gelder
zu akquirieren. Wer es schafft, Rassismus, Antisemitismus und Islamkritik und
-feindlichkeit in einem Atemzug zu nennen, der steht kurz davor, seine Koranschulen
und Moscheeführungen mit Mitteln aus den Fonds gegen Rechtsradikalismus zu
finanzieren.
Es gibt einige Projekte, die gegründet wurden, um Aufklärungsarbeit gegen Rassismus
zu leisten, die werden auf diese Weise "umgewidmet". Veranstalter, die Fortbildung in
Sachen Antifaschismus anbieten, erweitern ihr Geschäftsfeld auf den Bereich
"Islamophobie". Gern betonen die Muslime in diesem Zusammenhang (in anderen
weniger) die Nähe zu den Juden. Man empfiehlt in dem Aufruf "abrahamische Teams
aus Juden, Muslimen und Christen" in die Universitäten und Schulen zu schicken, damit
sie verkünden können: "Islam bedeutet Frieden und freiwillige Hingabe an Gott."
Es wird mit Schlagworten wie "Völkerverständigung und Toleranz" versucht, einen
"Schulterschluss der Opfer gegen Rassismus und Diskriminierung" herzustellen, wo es
gar keine ursächliche Übereinstimmung gibt, weil die Ausgangslage grundverschieden
ist. Nach dem Motto "Wir glauben alle an den einen Gott und werden von den
Deutschen diskriminiert" wird eine Pseudo-Solidarität postuliert.
Natürlich müssen wir über Rassismus in Deutschland sprechen und gegen
Diskriminierung vorgehen. Aber die Islamverbände sollten dabei zunächst vor der
eigenen Tür kehren und kritisch hinterfragen, wie manche, angeblich so tolerante und
friedliebende Muslime über die Deutschen denken. Wer mitbekommt, wie eine Gruppe
muslimischer Jungen und Mädchen, Männer und Frauen unter sich über deutsche
Mädchen, die Deutschen oder die Juden reden, dem wird es schlicht die Sprache
verschlagen über die Ablehnung und die Verachtung, die ihm entgegenschlägt.
Nicht nur die Ausbrüche der Familie des Schwesternmörders Obeidi nach der
Urteilsverkündung in Hamburg werfen ein grelles Licht auf diese Weltsicht. Eine
Kampagne gegen Rassismus und Nationalismus in den Reihen der Islamverbände, eine
Aufarbeitung des Verhältnisses zu Christen, Juden und "Ungläubigen", die Klärung der
Verhältnisse zu den Deutschen, den Minderheiten in den Herkunftsländern, all das wäre
ein Thema nicht nur für Wochen, sondern für Generationen.
Quelle: Muslime missbrauchen Rassismusbegriff

Importbräute für verlorene Söhne Top


Von Henryk M. Broder
Necla Kelek sorgte mit ihrem Buch "Die fremde Braut" für erbitterte Diskussionen
unter deutschen Migrationsforschern. In Berlin stellte die Soziologin gestern ihr neues
Werk vor - ein Plädoyer für die "Befreiung des deutsch-türkischen Mannes". Neuer
Streit ist programmiert.
Ein Wort sagt mehr als tausend Bilder. Am Anfang waren es "Fremdarbeiter", die in das
Deutsche Reich verschleppt wurden, um in der Rüstungsindustrie und anderen
kriegswichtigen Bereichen der deutschen Wirtschaft auszuhelfen. Das Wort ist
inzwischen vollkommen out, nur Oskar Lafontaine greift gelegentlich darauf zurück,
meint es aber nicht so. Dann kamen die "Gastarbeiter", die beim Aufbau des zerstörten
Landes gebraucht wurden, aber nicht zum Bleiben animiert
werden sollten.
Und nun, da sich die Einsicht langsam durchgesetzt hat, dass Deutschland entgegen
allen Beteuerungen doch ein Einwanderungsland ist, reden alle von "Menschen mit
Migrationshintergrund". Gemeint sind natürlich nicht Friesen, die nach Bayern
umziehen, sondern vor allem Türken, die nach Deutschland gekommen und hier
geblieben sind.
"Menschen mit Migrationshintergrund", das klingt einerseits wertneutral, signalisiert
zugleich einen erheblichen Beschäftigungs- und Subventionsbedarf. Und so ist rund um
die "Menschen mit Migrationshintergrund" eine ganze Industrie von
"Migrationsforschern" entstanden, die sowohl die objektiven Lebensumstände wie die
subjektive Befindlichkeit der "Migranten" untersuchen, ohne die Worte "Ausländer",
"Inländer" oder "Einwanderer" zu gebrauchen.
Besonders günstig ist die Situation für Kultur-Ethnologen.
Mussten sie früher in ferne Länder reisen, brauchen sie heute nur um die Ecke zu gehen,
in eine Gegend, die von "Menschen mit Migrationshintergrund" bewohnt wird, um den
Gegenstand ihres Interesses zu finden. Die Feldforschung findet vor der eigenen
Haustür statt.
Wie absurd die Situation ist, konnte man vor kurzem erleben, als 60 überwiegend
deutschstämmige Migrationsforscher ohne eigenen Migrationshintergrund über die
deutsch-türkische Soziologin Necla Kelek hergefallen sind. Sie hatte es
gewagt, in ihrem Buch "Die fremde Braut" auf die Situation der türkischen Frauen in
Deutschland aufmerksam zu machen, ohne pauschal "die Gesellschaft" für deren Nöte
verantwortlich zu machen. Allein schon Keleks Verweis auf patriarchale
Strukturen in den "Migranten"-Familien wurde von der Berufsgenossenschaft der
"Migrationsforscher" als diskriminierend, wenn nicht gar als rassistisch bewertet.
Nun liefert Necla Kelek den Rohstoff für die Fortsetzung der Debatte. Ihr neues Buch
heißt "Die verlorenen Söhne" und will ein "Plädoyer für die Befreiung des türkisch-
muslimischen Mannes" sein. Gestern stellte sie es im Berliner Maxim-Gorki-Theater
vor. Es sei, sagte "Zeit"-Redakteur und Moderator Jörg Lau, "eine Streitschrift, eine
Ethnografie, ein Bildungsroman", geschrieben von einer Frau, die sich selbst "unter
Mühen von der Herrschaft des Vaters befreit hat".
Kelek, 1957 in der Türkei geboren, schreibe über "seelische, geistige und kulturelle
Obdachlosigkeit", über junge Männer, die ein "Leben zwischen Freibad, Koran und
Herumhängen in der Clique" leben und es nicht wagen, gegen die Autorität der Väter zu
rebellieren, die vor allem eines wollen: "Dass ihre Kinder genauso werden wie sie."
Denn die Familien "sind Kontrollsysteme, in denen das Wort der Väter Gesetz ist". Die
jungen Männer lassen sich mit "Importbräuten" zwangsverheiraten, sie lernen es nicht,
Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. Die Eltern schaffen es nicht, "ihre Kinder
in die Moderne zu entlassen". Die Folgen sind katastrophal, das Elend wird in den
Familien reproduziert.
Die anschließende Diskussion litt unter zwei Handicaps. Erstens waren diejenigen, über
die gesprochen wurde, nicht da, zweitens wussten diejenigen, die da waren, alles besser.
"Sie bestätigen die Vorurteile und tragen dazu bei, dass die Migranten noch weniger
Chancen haben", empörte sich ein Mann. "In der Türkei gibt es mehr C-3-
Professsorinnen als in Deutschland", behauptete eine Frau, worauf Necla Kelek
erwiderte: "In der ganzen Türkei gibt es so viele
Professoren wie in Hamburg."
Eine "deutsch-deutsche Mutter" berichtete von einer "irritierenden Erfahrung", die sie
bei einem Elternabend gemacht habe, nämlich, dass sich die türkischen Mütter und
Väter nicht an der Diskussion beteiligten. Wie üblich wurde nach den "Ursachen für die
Integrationsprobleme" gefragt und die eine oder andere Lösung angeboten. Eine Frau
schlug die Bildung von "Männergruppen" vor. "Die Söhne sollten mit den Vätern
reden."
Und da sich diesmal alles um "die verlorenen Söhne" drehte, wurde ein wichtiger Punkt
nicht einmal angesprochen: dass es muslimische Frauen sind, die derzeit die heftigsten
Debatten auslösen, weil sie einen klaren Blick für die Situation und keine Angst haben,
ausgegrenzt zu werden, da sie es schon sind. Frauen wie die Niederländerin Ayaan Hirsi
Ali, die Kanadierin Irshad Manji, die Amerikanerin Wafa Sultan und die Deutsche
Necla Kelek, eine Hand voll Dissidentinnen und Ketzerinnen, die sich nicht nur gegen
ihre Familien behaupten mussten, sondern auch gegen eine große Koalition aus
Ignoranten und Gutmenschen, die den Diskurs bestimmen wollen. Freilich: Jeder
soziale und kulturelle Dammbruch fängt mit winzigen Haarrissen an. Es geht nicht
anders.
Alles ist nur eine Frage der Zeit. Und deswegen irrte sich die nette Berlinerin, die von
der Diskussion mehr erwartet hatte: "Man regt sich uff und hat nischt davon."
Quelle: Importbräute für verlorene Söhne

Frauen werden zu Unruhestifterinnen stigmatisiert Top

Necla Kelek zum Kopftuch-Streit

Das Kopftuch muslimischer Frauen sei eine "Art Branding, vergleichbar mit dem
Judenstern", hat Alice Schwarzer in einem "FAZ"-Interview erklärt. Die Autorin und
Frauenrechtlerin Necla Kelek teilt diese Einschätzung. Mit SPIEGEL ONLINE sprach
sie über Gründe und Folgen von Verschleierung.

Frage: Frau Kelek, Alice Schwarzer hat in einem Zeitungsinterview erklärt, das
Kopftuch stigmatisiere muslimische Frauen zu Menschen zweiter Klasse - ähnlich wie
im Dritten Reich der Judenstern. Teilen Sie diese Auffassung?

Necla Kelek: Frau Schwarzer hat vollkommen Recht: Mit dem Tragen eines Kopftuchs
werden Frauen zu sexualisierten Wesen reduziert, anstatt gleichberechtigte Menschen
zu sein. Frauen müssen sich zudecken, damit die Männer nicht unruhig werden. Sie
verhüllen sich nicht für Gott, sondern weil Männer ihrer Triebe nicht Herr werden. Die
Aussage, die dahinter steckt, lautet: Jede Frau, die kein Kopftuch oder keinen Tschador
trägt, bringt Unruhe in der Öffentlichkeit. Frauen werden als Unruhestifterinnen
stigmatisiert und haben einem einzigen Mann zu gehören. Das Recht auf
Selbstbestimmung wird ihnen damit genommen.
Frage: Gibt es nicht auch Frauen, die sich freiwillig für das Tragen eines Kopftuches
entscheiden?
Kelek: Wenn Menschen sich freiwillig zu einem faschistischen System bekennen, dort
glücklich und davon überzeugt sind, dann kritisieren wir das doch auch und sehen den
gesellschaftlichen Kontext. Wir fragen uns etwa: Was bewirken diese Neonazi-
Gruppen? Und eine Frau, die Kopftuch tragen will, flaggt für eine islamistische Partei.
Auch wenn sie sich selbst dafür entschieden hat, sagt sie damit, dass die Frauen
Sexualwesen sind. Das tut sie vielleicht nicht bewusst, weil sie keine Soziologin ist.
Meine Aufgabe und die von Alice Schwarzer ist es deshalb einen gesellschaftlichen
Kontext herzustellen. Seit 1979 wissen wir, was das Tragen eines Kopftuchs bedeutet.
Als die islamistische Revolution im Iran begann, mussten die Frauen sich verschleiern.
Das ist immer das erste, was die Islamisten tun.
Frage: Gegner eines Kopftuchverbots führen immer an, dass es keine allgemeingültige
Interpretation dessen gibt, was es für die Einzelne bedeutet, ein Kopftuch zu tragen. Sie
widersprechen dem?
Kelek: Ja, im gesellschaftlichen Bild gibt es eine allgemeingültige Bedeutung. Nach der
Scharia hat die Frau sich zu verschleiern, weil der Mann seine Triebe nicht beherrschen
kann und er sich versündigt, wenn er sie anguckt. Wenn sie sich dafür entscheidet und
sagt: Ja, ich bin ein Wesen, das die Männer zur Unruhe treibt und sich bedeckt,
akzeptiert sie das doch. Bewusst oder unbewusst. Ich sage nicht, dass die Frauen das
wissentlich machen. Meine ganzen Bücher drehen sich darum, dass die betroffenen
Frauen durch ihre Sozialisation keine andere Alternative haben. Ihnen wird gesagt, sie
seien Unruhestifterinnen und dürften nicht in die Öffentlichkeit.
Frage: Es ist in der letzten Zeit häufiger vorgekommen, dass sich ganz junge Mädchen
aus scheinbar aufgeklärten Familien dafür entschieden haben, Kopftuch zu tragen -
obwohl ihre Mütter es nicht machen. Was bedeutet das?
Kelek: Nicht jeder Junge, der ein Hakenkreuz malt, ist ein politisch überzeugter
Neonazi. Vielleicht will er damit nur seine Eltern, seine Lehrer provozieren. Das mag
sein. Nicht jedes Mädchen, das ein Kopftuch trägt, ist eine Islamistin. Vielleicht will sie
sich damit nur abgrenzen. Von den Eltern, von den Deutschen, von den Ungläubigen.
Auch das mag sein. Im Kern ist es aber eine politische Bewegung. Seit 1979 ist das
Kopftuch eine Flagge der Islamisten. Wer sich dem anschließt - egal aus welchem
individuellen Grund - entscheidet sich politisch - für eine politische Marke. Auch diese
jungen Mädchen. Es ist ein Zeichen dafür, dass sie meinen: Die Frau hat in einer
anderen Gesellschaft zu leben.
Frage: Hat sich in den letzten Jahren etwas an der Art der Verhüllung geändert?
Kelek: Seit Tayyip Erdogan 2003 türkischer Ministerpräsident ist, gibt es eine neue
Form der Verhüllung auch bei türkischen Migrantinnen in Deutschland - die langen
Mäntel und die Kopftücher. Das kommt ganz klar von den islamistischen Parteien. Wer
sich in der Türkei so verhüllt, der wählt auch die AKP. Das ist so.
Frage: Was bedeutet es für Frauen, sich zu verschleiern?
Kelek: Zunächst einmal heißt es, dass sie alles dafür tun muss, dass ihr Körper in der
Öffentlichkeit nicht gesehen wird - mit Auswirkungen auf die gesamte Kommunikation.
Auch Alice Schwarzer fragt ja: Wie soll man mit einer verschleierten Frau reden? "Von
Angesicht zu Angesicht" ist vor diesem Hintergrund ein bedeutsamer Begriff. Man
muss einen Menschen sehen, um mit ihm persönlich kommunizieren zu können. Sich zu
verschleiern ist ja auch eine Körpersprache -beziehungsweise eben keine: Sich
nonverbal zu verständigen geht für verschleierte Frauen nicht - denn sie schließen sich
aus der Öffentlichkeit aus.
Frage: Inwiefern?
Kelek: Verhüllte Frauen nehmen nicht mehr an den Errungenschaften der
Menschlichkeit teil. Sie dürfen ihren Körper nicht erfahren, nicht schwimmen, nicht
turnen, nicht am Biologieunterricht teilnehmen, werden ihrer Sexualität beraubt. Wenn
diese Frauen sich dann persönlich sagen: "Ich mache das doch alles freiwillig", ist das
auch ein Muster, das wir aus extremistischen Gesellschaften kennen.
Frage: Umgekehrt gefragt: Was ändert sich konkret für eine Frau, die sich dafür
entscheidet, das Kopftuch abzulegen?
Kelek: Plötzlich wird sie wieder eins mit der Natur - spürt den Wind und die Sonne. Es
ist ein unglaubliches Gefühl für diejenigen Frauen, die dann Schwimmen gelernt haben
- plötzlich können sie eine Naturgewalt beherrschen. Eine Frau, die im Wasser nicht
ertrinkt, kann sich auch in einer Krise über Wasser halten: Die Redewendung "Sich über
Wasser halten können" hat in diesem Zusammenhang eine große Bedeutung. Dazu muss
man etwas können und wenn den Frauen verboten wird, etwas zu können, will man sie
weiter in der Abhängigkeit halten.
Das Interview führte Anna Reimann
Quelle: Frauen werden zu Unruhestifterinnen stigmatisiert

Glück gibt es nur ohne den Vater Top


Necla Kelek über das Leid türkischer Söhne und die blinden Flecken der
Migrationsforschung
Michaela Schlagenwerth
Frau Kelek, Ihnen wird vorgeworfen, das Leben der türkischen Migranten in Ihren
Büchern zu verzerren und zu skandalisieren. Was antworten Sie darauf?
Ich versuche darzulegen, was ich in der Migrantengesellschaft in Deutschland täglich
sehe. Was dort stattfindet, ist der Skandal - nicht, dass jemand die Zustände öffentlich
macht. Ich bestreite doch nicht, dass es auch einen aufgeschlossenen türkischen
Mittelstand gibt. Aber mein Thema sind die Verlierer, die, die es nicht geschafft haben.
Man wirft mir vor, ich spräche nur von Ausnahmen. Aber man muss sich nur die
Statistiken anschauen, dann weiß man, das ist falsch. Die Mehrheit ist nicht in diesem
Land angekommen. Nur ein Drittel der hier geborenen muslimischen Kinder spricht
überhaupt deutsch! Jede zweite Mutter, die ihr Kind in die Schule schickt, ist eine
Importbraut.
Sie zeichnen ein Bild vom Kreuzberger Prinzenbad, als würden sich dort nur türkische
Rowdies tummeln. Tatsächlich sind dort viele türkische Bikini-Schönheiten anzutreffen.
Darunter gläubige Mosleminnen, die fünf Mal am Tag beten.
Gläubige Mosleminnen im Bikini? Wer hat Ihnen denn das erzählt?
Die Mädchen selbst.
Die führen dann wohl ein Doppelleben. Natürlich gibt es Türken, die Moderne und
Glauben für sich vereinbaren, die ihr Leben selbstbestimmt gestalten. Ich behaupte, dass
die Mehrheit genau das nicht geschafft hat. Und denjenigen, die da herausgekommen
sind, werfe ich vor, dass sie sich für dieses Problem nicht interessieren, dass sie keine
soziale Verantwortung übernehmen.
Dass viele muslimische Mädchen strengen Regeln unterworfen sind, wird öffentlich
diskutiert. Weniger Aufmerksamkeit erhielten deren Brüder, denen ein relativ freies
Leben erlaubt schien. Sie zeigen in Ihrem Buch ein ganz anderes Bild.
Ja, und es muss in der Öffentlichkeit besprochen und diskutiert werden, was diese
Kinder zu erleiden haben, wie viel Gewalt ihnen zugefügt wird, was für eine
Verantwortung ihnen aufgebürdet wird, wie verloren sie sind. Sie müssen auf die Ehre
der Schwestern, der Mutter, der Schwägerinnen aufpassen. Ein 21-Jähriger, der wegen
eines Mordes zehn Jahre Haft bekommen hat, sagte zu mir, der von ihm getötete Mann
habe seine Schwägerin belästigt. Der Vater kam nachts zu ihm, gab ihm eine Pistole und
sagte: "Du weißt, was du tun musst." Als ich ihn fragte, "Warum hast du nicht einen
Moment an dein eigenes Leben gedacht?", kam als Antwort: "Hätte ich meinen alten
Vater losschicken sollen?" Er hat die Frage gar nicht verstanden. Es handelt sich um
einen schönen, ungemein liebenswerten Menschen, aber er ist unfähig ein persönliches
Verantwortungsgefühl für die Tat zu entwickeln. Sein Leben gehört nicht ihm selbst,
sondern der Familie. So war es mit einer Ausnahme bei allen Gefangenen, mit denen ich
gesprochen habe. Sie sind Extremfälle, aber sie spiegeln die fatale Grundstruktur, die in
der türkischen Migrantengesellschaft ständig reproduziert wird. Diesen Kindern ist es
nicht erlaubt, Unabhängigkeit zu erlernen, Selbstverantwortlichkeit zu entwickeln.
Selbst im Gefängnis sind sie nicht im Stande sich zu fragen: Habe ich etwas Falsches
getan?
Gleichzeitig bietet die Familie auch Sicherheit und Geborgenheit, ein stabiles soziales
Netz.
Das ist nicht sozial, das ist Sippenhaft. Und wenn in einer Sippe etwas schief läuft,
schauen die Nachbarn weg. Wenn, wie ich es in meinem Buch beschreibe, der Vater
seinem kleinen Sohn zur Strafe, weil er ihn bestohlen hat, heißes Öl über die Hand gießt
und ihn zum Krüppel macht, denken die Nachbarn, was für ein grausamer Vater, wie
furchtbar. Aber sie zeigen den Vater nicht an, sie kritisieren ihn nicht einmal öffentlich.
Er ist der Vater, es ist sein Recht.
Ihnen wurde von Migrationsforschern vorgeworfen, dass Sie aus Interviews, die Sie
schon in Ihrer Doktorarbeit ausgewertet hatten, nun auf einmal entgegen gesetzte
Schlüsse ziehen.
Als ich 1997 meine ersten Interviews mit jungen Muslimen auswertete und von
neonazihaften Entwicklungen sprach, hat mir mein Professor deutlich gemacht: So
etwas darfst du hier nie wieder sagen. Es gibt in meiner Doktorarbeit auch kritische
Töne, aber ich habe meine Ergebnisse den Vorstellungen des Instituts angepasst. Ich
habe nicht geglaubt, dass etwas anderes durchgeht. Natürlich war ich verunsichert und
habe mich zum Teil auch überzeugen lassen, vor allem von Werner Schiffauer, dessen
Publikationen ich verschlungen habe. Ich finde nach wie vor vieles davon richtig.
Sie haben sich für die Konfrontation entschieden. Warum?
Ich brauchte Distanz. Die Haltung vieler Migrationsforscher ist: Wir wollen keine
Vorurteile schüren, wir wollen nicht verurteilen, wir wollen nicht diskriminieren. Um
nicht zu stigmatisieren versucht man immer das Positive zu sehen. Der Preis für diese
Haltung ist, dass sie das Leid zulässt. Zwangsverheiratung, Gewalt, Familienstrukturen,
die den Kindern nicht erlauben, sich zu selbstständigen Menschen zu entwickeln,
werden letztlich verharmlost.
Als Sie und Ihre Cousine in einer Disko gesehen wurden, hat man die Cousine in die
Türkei zwangsverheiratet. Fühlten Sie sich in Ihrer Jugend selbst bedroht?
Es gibt die Sache mit meinem Vater. Ich habe ihm nicht mehr gehorcht, als ich siebzehn
war, und er hat uns daraufhin verlassen. Er hat mir damit die Freiheit geschenkt. Er
wusste, er kann die Familie nicht mehr steuern, und statt von seinem Thron herunter-
zusteigen, sich anzupassen und mit uns zu leben, ist er weggegangen und ich habe ihn
nie wieder- gesehen. Als er gegangen ist, haben mein Bruder und ich über Wochen in
allen Zimmern, selbst im Bad das Licht angelassen, als Feier, weil der Vater fort ist.
Wie traurig, das der eigene Vater weggehen muss, damit man glücklich sein kann.
Darum geht es doch, die Väter müssen sich ändern.
Ist das der Konflikt, den die meisten Jugendlichen nicht bewältigen? Sie wünschen sich
mehr Freiheit, aber am Ende fügen sie sich, weil sie ihre Familie nicht verlieren wollen?
Ja. Ich hätte das auch nicht so leben können, wenn nicht der Rest der Familie
zusammengehalten hätte. Meine Mutter hat mich und meinen kleinen Bruder sehr
unterstützt. Mit ihr zu brechen, das hätte ich nicht gekonnt. Woher soll dann noch die
Kraft kommen, das Selbstbewusstsein? Ich wünsche mir sehr, dass sich die Mütter auf
die Seite ihrer Kinder stellen, dass sie dem Vater den Gehorsam verweigern, dass sie ihn
dazu bringen, zu begreifen, dass er nicht Herrscher, sondern Teil der Familie ist.
Das Gespräch führte Michaela Schlagenwerth.
Necla Kelek
Die Hamburger Soziologin machte mit einem Buch über Zwangsheiraten ("Die fremde
Braut") 2005 Schlagzeilen.
58 Wissenschaftler, darunter Migrationsforscher, griffen Kelek im Februar in der "Zeit"
an: Sie bediene anti-muslimische Klischees.
Die verlorenen Söhne. Plädoyer für die Befreiung des türkisch-muslimischen Mannes.
Kiepenheuer & Witsch (208 S., 18,90 Euro).
Quelle: Glück gibt es nur ohne den Vater

Das ist eine Art Pascha-Test Top

Die Soziologin Necla Kelek verteidigt den Muslim-Fragebogen in Baden-Württemberg


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Seit Wochen wird über einen Fragebogen diskutiert, mit dem das baden-
württembergische Innenministerium die Gesinnung der Muslime überprüfen will, die
eingebürgert werden möchten. Sie haben das Innenministerium bei der Entwicklung des
Fragebogens beraten. Was war Ihnen wichtig?

Das Innenministerium hat mir die Fragen geschickt und wollte meine Meinung wissen.
Ich fand die Fragen in Ordnung. Schließlich hat der deutsche Staat ein Recht zu
erfahren, was in den Köpfen der Leute vor sich geht, die eingebürgert werden wollen.
Denn wer die Werte nicht akzeptiert, die sich in unserer Verfassung widerspiegeln, kann
doch kein Deutscher werden, glaubte ich zu wissen.

[an error occurred while processing this directive]Die Verfassung schreibt aber nicht
vor, wie Eltern mit ihrem Kind umzugehen haben, das homosexuell ist. Der Fragebogen
will aber genau das wissen. Das geht den Staat doch gar nichts an.

Doch. Einer der Pfeiler unserer Demokratie ist doch das Selbstbestimmungsrecht eines
jeden, also auch homosexueller Kinder gegenüber Eltern. Außerdem will man mit den
Fragen gezielt herausfinden, wie Muslime zu Dingen stehen, die in ihrer Heimat
verboten sind. Dort werden Homosexuelle mitunter gesteinigt.
Viele Fragen zielen auf das Selbstverständnis der Männer ab. Warum?

In traditionellen muslimischen Familien haben Männer das Sagen und üben Gewalt aus,
wenn man ihnen nicht folgt. Der Fragebogen ist eine Art „Pascha-Test“.

Muslime kritisieren, dass sie unter Generalverdacht gestellt würden. Auch Innensenator
Ehrhart Körting hat den Fragebogen als diskriminierend zurückgewiesen. Verstehen Sie
das?

Nein, denn Muslime, die nach westlichen Werten leben – und nur ihnen werden die
Fragen fremd vorkommen – müssen sich nicht angesprochen fühlen. Außerdem sollen
die Fragen nur im Verdachtsfall gestellt werden. Wenn Sie an den Fall Kaplan denken,
dann ist es sogar notwendig.

Auch deutsche Familienväter würden unter Verdacht geraten, würde man ihnen diese
Fragen stellen. Auch hier gibt es welche, die ihren Töchtern keine freie Berufswahl
gestatten, auch unter Deutschen gibt es Antisemiten.

Aber darum geht es doch hier nicht. Wenn ich einen Muslim, der Deutscher werden
will, nach seinen Kenntnissen über die Verfassung frage, muss ich doch nicht gleich
jeden Deutschen befragen. Dass es Neonazis gibt, ist ein Problem. Aber ein ganz
anderes. Wenn alles gleich in einen Topf geworfen wird, können wir doch gar nichts
mehr problematisieren.

Vielleicht ist ein bürokratischer Fragebogen das falsche Mittel?

Es ist ja kein Fragebogen, den man ausfüllen muss. Es ist ein Gesprächsleitfaden, eine
Hilfe für die Beamten in den Behörden, die keine multikulturelle Kompetenz besitzen,
die nicht wissen, was zum Beispiel Ehre für einen türkischen Mann bedeutet. Viele
Beamten ahnen gar nicht, dass es etwa muslimische Männer gibt, die drei Ehefrauen
haben oder Ehrenmorde gutheißen. Und die einen Pass bekommen haben, weil sie die
Formalien erfüllt haben. Den meisten Deutschen ist es doch egal, wer den deutschen
Pass bekommt.

Hat Sie die Kritik an dem Gesprächsleitfaden überrascht?

Sie hat gezeigt, dass Muslime unter Naturschutz stehen. Nicht mal fragen ist erlaubt.
Aber offenbar empfinden tatsächlich viele die Fragen als nicht konstruktiv. Das sollte
man ernst nehmen. Schließlich wollen wir ja, dass sich die Leute mit Deutschland
identifizieren. Deshalb sollten wir den baden-württembergischen Leitfaden
weiterentwickeln – zusammen mit denen, die Kritik geübt und vielleicht bessere Ideen
haben, wie man ein Einbürgerungsgespräch führen könnte.

Quelle: Das ist eine Art Pascha-Test

Geschwister-Scholl-Preis an Türkei-kritische Schriftstellerin Top


Zivilcourage, Mut, mit dem Schreiben Wahrheit aufdecken, Partei ergreifen für die
Sprachlosen und dafür selbst ein Risiko auf sich nehmen - das alles trifft in besonderem
Maße auf die türkisch-deutsche Autorin Necla Kelek (48) zu. In ihrem Buch "Die
fremde Braut" (Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln, 267 Seiten, 18. 90 Euro)
thematisiert die Soziologin auf höchst eindrucksvolle Weise die Zwangsheirat
türkischer Mädchen, den Im- beziehungsweise Export der Töchter, die schleichende
Islamisierung. Für dieses Wagnis wird Necla Kelek in diesem Jahr mit dem
Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet. Am 14. November wird der mit 10 000 Euro
dotierte Preis des Börsenverbandes des Deutschen Buchhandels, Landesverband
Bayern, und der Stadt München an die Autorin überreicht.
"Manchmal verstehe ich die Deutschen nicht, besonders wenn sie alles verstehen." Ein
Satz aus Ihrem Buch "Die fremde Braut". Verstehen Sie die deutsche Jury, die Ihnen
jetzt den Geschwister-Scholl-Preis zuerkannt hat?
Necla Kelek: Also mich hat diese Auszeichnung irgendwie schon überwältigt. Ich habe
nicht im Entferntesten damit gerechnet. Als ich den Namen Scholl hörte, waren meine
Gedanken sofort bei Sophie Scholl. Ja, ich bin überwältigt.
Der Preis zeichnet einen Autor auch für seine Zivilcourage aus. Brauchten Sie
besonderen Mut, dieses Buch zu schreiben?
Kelek: Nachdem mein Vater uns verlassen hatte und zurück gegangen ist in die Türkei,
hatte ich mich auf einen schweren Weg begeben. Das war mein erster Kampf. Und
dafür brauchte ich Mut: meine Familie von mir zu überzeugen. Aber ich musste doch
warten, bis mein Vater gestorben war, um dieses Buch schreiben zu können.
Zum einen hilft Ihr Buch dem deutschen Leser, die gesellschaftlichen Traditionen der
Türkei zu verstehen; zum anderen aber trägt es dazu bei, unsere so genannte Toleranz,
die oft nichts weiter als Bequemlichkeit ist, zu überprüfen. Welchen Zweck verfolgen
Sie mit der "Fremden Braut"?
Kelek: Genau diese falsche Toleranz aufzubrechen. Überall bin ich in Deutschland
dagegengestoßen. Was war das für ein Kampf auf der Universität! Ich habe mich immer
geschüttelt vor dieser "Toleranz". Das ist nicht Toleranz, das ist Ignoranz. Es geht ihnen
nur um sie selbst, nicht um die soziale Realität. In Deutschland wird von Reformen in
der Türkei gesprochen, aber seit 1923 gab es dort keine so große Islamisierung wie jetzt.
Ich weiß nicht, wo die Reformen sind. Als ich 1967 die Türkei verlassen habe, war sie
eine Republik. Heute ist sie ein islamistisches Land. Istanbul hat jährlich eine Million
Zuwanderer vom Land. Sie tragen die alten Traditionen in die Stadt, und von dort
werden sie nach Deutschland gebracht . . .
Haben Sie nicht manchmal Angst?
Kelek: Nein. Die hatte ich, während ich das Buch schrieb. Jetzt nicht mehr.
Immerhin aber gab es kürzlich eine regelrechte Kampagne gegen Sie in der
Deutschland-Ausgabe der türkischen Tageszeitung "Hürriyet".
Kelek: Diese Zeitung ist wie die türkischen Männer, sie arbeitet mit Strafe und Gnade.
Aber es ist so: Wenn man ein Problem anspricht, ist es immer so, als sei man gleich ein
Feind der ganzen Türkei.
Es existiert der Vorwurf, Ihr Buch sei dem guten Zusammenleben von Türken und
Deutschen nicht förderlich, vielmehr bestätige es vorhandene Vorurteile.
Kelek: Ganz im Gegenteil. Endlich wird gemeinsam darüber diskutiert, dass wir
Parallelgesellschaften haben. Es ist doch an der Zeit, dass wir darüber sprechen: Wollen
wir miteinander leben oder nebeneinander? Es muss darüber geredet werden: Täglich
entstehen hier Moscheen, überall. Damit sind wir Türken kulturell abgestempelt, denn
es gibt keine türkischen Literaturhäuser oder Kulturzentren. Nur Moscheen.
Sie arbeiten an einem neuen Buch?
Kelek: Ja. Es geht - und das ist auch der Titel - um die "Verlorenen Söhne", um die
Erziehungskonzeption für die türkischen Jungen.
Sie schreiben in den autobiografischen Passagen der "Fremden Braut" über die Reise,
die Sie als Zehnjährige allein mit Ihrer Schwester von Istanbul nach Deutschland
machten: "In München mussten wir umsteigen und standen dort wie bestellt und nicht
abgeholt auf dem Bahnsteig" - bis sich schließlich ein Bahnwärter erbarmte . . Hätten
Sie sich jemals träumen lassen, eines Tages ausgerechnet in dieser Stadt ausgezeichnet
zu werden?
Kelek: Nein, niemals. Aber es ehrt mich sehr. München ist so schön. Und ich war
immer sehr traurig, dass mein Vater uns 1967 nicht da hingebracht hat, sondern
irgendwo in die Pampa bei Hannover.
Das Gespräch führte Sabine Dultz
Quelle: Geschwister-Scholl-Preis an Türkei-kritische Schriftstellerin

Es sind verlorene Söhne - Gewalt in muslimischen Familien Top

Hatun Aynur Sürücü wurde ermordet, weil sie "wie eine Deutsche lebte". Die
Betroffenheit über die Gewalt in muslimischen Familien ist groß. Aber: Was treibt
junge muslimische Männer zum Mord an ihren Nächsten? Unter welchem Druck stehen
sie, welcher Moral sind sie verpflichtet? Eine kennt sich aus: die
Sozialwissenschaftlerin Necla Kelek. Sie sagt: "Sie kennen die Liebe nicht"

Interview: Jan Feddersen und Martin Reichert


taz: Frau Kelek, an welcher Macht ist Hatun Aynur Sürücü gescheitert?
Necla Kelek: An der ihrer Familie. Auch ein sozial aus der Unterschicht stammender
Mann versucht sehr früh zu heiraten und eine Familie zu gründen. Mit ihr hat er dann
einen, seinen Ordnungsstaat gegründet. Und je mehr Söhne er hat, desto stärker wird
sein Staat, nach innen wie nach außen.
Ist das Familienoberhaupt, der Staatspräsident weniger wert, wenn er nur
Mädchen gezeugt hat?
Nur Töchter als Kinder? Ha! Dann hätte er keinen Staat. Seinen Staat bildet er mit
seinen Söhnen, die Hauptaufgabe dieser Staatsmitglieder ist es, die Ordnung so
aufrechtzuerhalten, dass die weiblichen Mitglieder im Haus unter Kontrolle sind. Über
die bestimmen sie dann: etwa, ob sie zur Schule gehen dürfen oder nicht.
Warum sind Mädchen weniger wert?
Weil sie für die Männer auf die Welt kommen. Das ist ein muslimischer Gedanke. Die
Frau ist die Sünderin, die ihn verführt hat zum Ungehorsam gegenüber Gott. Sie ist
jene, die beim Mann den Trieb weckt, dafür muss sie zahlen.
Was war die Sünde der Hatun Aynur Sürücü?
Dass sie ihre Familie verlassen hat und damit genau die Ordnung, die in diesem Haus
herrschte, durchbrochen hat. Sie hat den Männern damit bewiesen, dass sie versagt
haben.
Worin, bitte?
Dass sie nicht einzusperren war - und der Macht des Vaters und der Brüder getrotzt hat.
Die Männer der Familie Sürücü müssen dies als tiefe Kränkung empfunden haben.
Ja, und der Vater macht natürlich seine Söhne verantwortlich: Habe ich euch so
erzogen, dass ihr versagt und nicht auf eure Schwester aufpasst? Sobald er seine Söhne
bekommen hat, kann er sich zurückziehen. Er geht in ein Männercafé. Das heißt: Ich
habe meine Macht weitergegeben.
Aber müsste es für die Brüder nicht unerträglich sein, die eigene Schwester
prügeln, gar töten zu müssen?
Sie wissen ja nicht, dass sie etwas Schlimmes tun, denn es gilt ja das Gesetz der Väter.
Aber Geschwister haben doch eine Bindung …
… sie kennen sich doch kaum. Das Mädchen wird rasch Teil der Frauengesellschaft.
Der Junge jedoch muss draußen sein, bestehen, sich raufen. Und dann kommt er nach
Hause, wird bedient, Hausschuhe werden ihm herangebracht, ganz wie dem Vater. Was
ihn am meisten verletzt, ist, wenn das Mädchen sagt: Ich mache, was ich will.
Ist er dann kein Mann mehr?
Ja, und er schämt sich auch vor dem Vater: dass der arme Vater so leiden muss.
Geht es also immer um Liebe zum Vater?
Liebe? Nein. Es geht nie um Liebe, wie wir sie verstehen. Es geht hier um die
Herstellung von Ordnung. Liebe gibt es im Islam nur zu Gott. Gott liebt man, aber
Ordnung hält man.
Eine Tragödie für die Brüder?
Nein, denn sie mögen die Schwester nicht, wenn sie in der Öffentlichkeit mit einem
Mann - einem deutschen außerdem - sich küsst. Sie fühlen sich von morgens bis abends
persönlich von ihr beleidigt, da baut sich solch ein Hass bei ihnen und Angst bei den
Schwestern auf.
Kennen diese Jungs Liebe?
Liebe? Ja. Die Liebe zur Mutter ist unendlich. Für die Liebe zur Mutter würden sie ihr
Leben geben.
Wir meinten Liebe im Sinne von Verliebtheit.
Nein, das können Sie vergessen. Sich verlieben heißt sich verlieren. Das versucht man
zu vermeiden, indem man eine Wildfremde holt, die er nicht bestimmt hat. Genau, um
diese Liebe zu vermeiden, denn dann würde sich das Paar verselbstständigen, sie wären
dann ein Bund - ein Nebenstaat quasi.
Ist deshalb türkische Musik oft so traurig?
Volkslieder kann ich nicht ertragen, ich breche immer in Tränen aus. Allein wenn ich
darüber erzähle …
… warum?
Weil sie von der Sehnsucht nach dieser Liebe erzählen, die man nicht haben darf: O
Falke, sie haben sie mir genommen / Nun ist sie die Braut eines anderen / O Falke,
nimm mich mit fort, ich kann es nicht ertragen
Die Liebe ist unmöglich?
Ja, denn Liebe ist Freiheit. Zur Liebe gehört dazu, dass man verletzt wird, weil der
Geliebte auch weggehen kann. Vor diesem Ausgeliefertsein, vor diesem Gefühl
versucht man sich immer zu schützen, hart zu werden. Es geht hier nicht um Liebe,
sondern darum, dass wir dieses Leben bestehen, dass wir Gott gehorchen. Außerdem
gehört die Liebe ja eigentlich der Mutter, und die fühlt sich dann verraten, wenn er sagt:
Du, ich liebe jetzt Aysche.
Ungütige Härte: Wer streichelt diese Jungs eigentlich?
Die Mutter. Aber wenn die Jungs älter werden, hört das auf. Das würde der Vater schon
nicht erlauben, weil die Söhne sonst nicht groß und stark werden und sein Erbe antreten.
Die Mütter machen das mit?
Der Frau, den Müttern, Tanten und Töchtern, wird suggeriert, dass sie keine Rechte hat,
dass sie ein Teil des Systems ist, dem sie sich unterzuordnen hat. Sie wird natürlich erst
verwöhnt, auch vom Vater. Aber sobald sie in die Pubertät kommt, ist Schluss damit,
dann muss er sie disziplinieren, weil er dann Angst hat, sie könnte ausarten. Er muss ihr
dann Härte zeigen.
Wie erleben türkische Jugendliche ihre Sexualität?
Sexualität? Die Hochzeitsnächte sind, wenn es Zwangsheiraten waren, gesellschaftlich
organisierte Vergewaltigungen. Der Mann wird auf diese Nacht hin erzogen, er hat ein
paar Stunden Zeit, die gesamte Hochzeitsgesellschaft steht vor der Tür, und das blutige
Laken muss präsentiert werden
Der Mann steht offenbar unter mächtigem Druck.
Grauenhaft! Und das geht dann so, dass er, mir haben ja so viele Frauen davon erzählt,
der springt da halt auf sie und muss es hinter sich bringen. Den Beweis antreten. Da
habe ich gehört, dass sich die Frau dann schneidet, irgendwo Blut tropfen lässt, mit
einem Messer rangeht und sich aufschlitzt, weil er es nicht kann. Sie ist ja dafür
zuständig, dass er als Mann dasteht.
Auch allein verantwortlich?
Immer. Nur sie hat einen Ruf zu verlieren. Sonst heißt es: Ach, dein Mann konnte dich
nicht einmal schwängern.
Gibt's denn eine Vorstellung von Spaß, Befriedigung in der Sexualität?
Habe ich von niemandem gehört. Als ich vierzehn Jahre alt war, sagte mir meine Tante:
Er kommt und entleert sich. Wenn du dich nicht bewegst, dich steif machst und deine
Hände zu Fäusten, dann ist er ganz schnell fertig. Wenn du dich zu sehr bewegst, dann
wird er sich lange an dir aufhalten.
Ist der weibliche Orgasmus, ist der Spaß ihrer Frauen eine Dimension unter
türkischen Männern?
Kein Thema, ach was. Er muss doch nur kommen!
Schön scheint das nicht, auch nicht für die Männer.
Nein, sie sind für mich die verlorenen Söhne, auch was die Integration angeht. Sie
werden zu einem bestimmten Typen gemacht, zu einem Wesen, das ihrem Ich nicht
entspricht. Sie werden in diesem Wir groß und sind gleichzeitig von der Nestwärme
ausgeschlossen.
Inwiefern?
Die meisten sagen mir, wenn sie die Schule nicht schaffen, und sie sind ja generell
schlechter als die türkischen Mädchen in der Schule: Wo hätte ich denn meine
Schulaufgaben machen sollen, ich habe ja zu Hause keinen Platz. Tagsüber gehört das
Haus den Frauen, nachmittags treffen sie sich zum Tee, die kleine Schwester bedient sie
dabei. Da kann der kleine Junge nicht einfach aus der Schule kommen und sich
dazwischen setzen. Der stört, der muss raus.
Deprimierend.
Meinen eigenen Bruder habe ich ab 16 nicht mehr gesehen. Er hätte ja nicht mal Besuch
mit nach Hause bringen dürfen, weil ich ja da war. Er wurde schon verspottet, weil er
mit 15 immer noch zu Hause rumhing.
Das heißt, bildungspolitisch sind diese Jungen verloren?
Was ich erfahren hab, ist das: Wenn eine Schule bis vier Uhr nachmittags geöffnet hat,
wird das vor allem von türkischen Mädchen und Jungen in Anspruch genommen. Die
Mädchen müssten sonst zwei Stunden mehr putzen oder ein Kind betütteln.
Die sind froh, aus diesen familiären Zwängen herauszukommen?
Alle Kinder, die ich befragt habe, sagen: Hier in der Schule bin ich zu Hause, hier
werde ich verstanden. Zu Hause ist das Mädchen die Putzfrau, und der Junge ist auf der
Straße.
Um noch einmal über Sexualität zu sprechen: Sprechen die Jugendlichen über
Begierde, über die Sinnlichkeit zwischen den Geschlechtern?
Wenn das so wäre, würde man die Frauen ja nicht unter das Kopftuch stecken. Man
beschützt die Frauen vor den Blicken der Männer, damit diese Gedanken nicht
aufkommen. Die Frau wird ja als ein abstraktes Wesen für Beischlaf und Reproduktion
gesehen, idealtypisch trifft man sich in der Hochzeitsnacht und überlässt sie dann sich
selbst. Wie er das macht, ist ihm überlassen, zärtlich oder schnell. Begehren? Das sind
alles europäische Gedanken.
Haben Sie nicht Angst, dem Rassismus Vorschub zu leisten?
Das ist für mich so absurd, dass ich nicht einmal weiß, was ich sagen soll. Ich spreche
hier von Menschenrechtsverletzungen, von Unfreiheit, von Menschen, die ihre Leben
nicht leben können. Dieses zu verschweigen, ist für mich Rassismus.
Sie antworten sehr erregt. Gibt es denn keine Hoffnung?
Mich berührt der Fall der ermordeten Hatun Sürücü zutiefst. Ich gehe regelmäßig zum
Prozess - und ich lass mir von den "Ehrenmördern", die ich für mein neues Buch
befrage, berichten. Ich will verstehen.
Was?
Woher die Gewalt rührt. Hatun Sürücü darf nicht umsonst gestorben sein.
Quelle: Es sind verlorene Söhne

Warum türkische Gemüsehändler mit Sarrazin kein Problem haben Top

Von Necla Kelek

22.10.2009: Die Sozialwissenschaftlerin Necla Kelek


unterstützt die Kritik von Bundesbankvize Thilo
Sarrazin an der verfehlten Ausländerintegration in
Berlin. Migrantenverbänden, Politikern und
„Gutmenschen“ wirft sie vor, die Augen vor den
Problemen zu verschließen.

Thilo Sarrazin redet Tacheles. Er analysiert in einem


Interview mit der Kulturzeitschrift „Lettre-International“
die Lage Berlins, benennt Filz, Korruption und
Schlamperei, lobt und tadelt Migranten, fragt nach
Ursachen und bietet eine Gesamtschau der Berliner Misere, die ich so noch von
niemandem gelesen habe. Ich würde mir diesen klaren Blick auch von manchen
verantwortlichen Politikern wünschen.

Sarrazin macht das nach meinem Empfinden nicht aus Übermut, sondern aus Sorge um
Berlin. Sein Ton ist eigen, seine Bilder sprechend, die Analyse allerdings alarmierend.
Wie sich durch Recherchen der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung am letzten
Wochenende herausstellte, kannte sein Primus inter pares im Vorstand der Deutschen
Bank, der Vorsitzende Axel Weber, den Text und distanzierte sich erst, als er bereits im
Druck war. Eine Kabale um Macht und Einfluss im Vorstand der Währungshüter.

Türkenvereine sind beleidigt

Obwohl Sarrazin der Berliner Politik insgesamt gehörig die Leviten liest, heulten nicht
seine Parteifreunde auf, sondern die üblichen Verdächtigen. Die
Migrantenorganisationen und die Fraktion der Gutmenschen.

Was hatte Sarrazin gesagt? Unter anderem wiederholte er die aus Integrationsberichten
und Studien bekannten Tatsachen, nach denen, vor allem türkische und arabische
Migranten schlechter integriert sind, dass sie dies oft selbst zu verantworten haben, weil
sie ein anderes Lebensmodell verfolgen als die Mehrheitsgesellschaft. Er sagte: „Eine
große Zahl an Arabern und Türken in dieser Stadt hat keine produktive Funktion außer
für den Obst- und Gemüsehandel.“ Die Gemüsehändler jedenfalls waren nicht beleidigt,
denn sie gehören zu den Gewinnern der Migration, sie versorgen sich und ihre Familien
selbst und sind nicht auf staatliche Leistungen angewiesen. Die sich davon ertappt,
neudeutsch: „diskriminiert“, gefühlt haben, waren nicht jene, die die Misere zu
verantworten haben, sondern reflexhaft die Türkenvereine und ihre Verbündeten, die
Teil der Misere sind. Sie rufen „Haltet den Dieb“, sind beleidigt, geben sich als Opfer,
in der Hoffnung, nicht über den Diebstahl reden zu müssen.

„Opferanwalt“ ist eine Paraderolle der Sprecher der türkischen und muslimischen
Lobby, die ihre Stellung mithilfe der Politik und dem Integrationsplan zu einem
subventionierten Mandat machen konnten. Die Empörung der Islamisten vom
„Muslimmarkt“ unterscheidet sich in Ton und Inhalt kaum von der Fraktion der
„Linken“, der Türkenverbände und des Generalsekretärs des Zentralrats der Juden in
Deutschland, der im Übereifer Sarrazin sogar mit Hitler verglich.

Alle bezeichnen sie die Äußerungen als „rassistisch“, wobei die Islamisten mit der
Kritik am weitesten gehen, sie bezichtigen den Banker des „hasserfüllten
Herrenmenschendenkens“. Und der Generalsekretär des Zentralrats der Juden, Stephan
Kramer, der sich gern gemeinsam mit Islam- und Türkenfunktionären als Opfer der
deutschen Gesellschaft präsentiert, und die sich dafür gegenseitig als Dialogpartner
loben, ist unterwegs, die Ehre der Migranten zu retten. Kein Vergleich ist ihnen zu
absurd, keine Keule zu groß, nach dem Motto, wer am lautesten schreit, hat recht.

Nebenbei schützen sie durch dieses Ablenkungsmanöver ihre Geldgeber in Senat und
Opposition vor der Blamage, die der ehemalige Finanzsenator seinen Kollegen bereitet
hat. Und natürlich liegt die Ursache für die Misere der Migrantenjugend, der schlechten
Ausbildung, der parallelen Strukturen nach dieser Auffassung nicht auch in der
Verantwortung der Migranten und deren kultureller Bestimmtheit, sondern
ausschließlich in der verfehlten deutschen Sozial- und Bildungspolitik. Der Staat als
Leistungslieferant, der Migrant als Mündel, der keine Verantwortung hat, sondern
Integration ganz nach Belieben konsumiert. Die Vertreter dieser Richtung sind froh,
nicht über die Fakten reden zu müssen, sondern Solidarität mit den diskriminierten
Eltern der „Kopftuchmädchen“ üben zu können.

Bürgergesellschaft erschüttert

Sarrazins Interview hat diesen Schleier wieder einmal gelüftet. Die Bundestagsparteien
hatten ja im Wahlkampf ein stilles Übereinkommen, nicht über Integration oder Islam
zu diskutieren. Roland Koch hatte sich an dem Thema die Finger verbrannt, das wollte
von Linkspartei bis CSU niemand riskieren. Jetzt ist das Thema wieder da und wird uns
begleiten.

Ich wundere mich, dass die deutsche Gesellschaft so wenig Selbstbewusstsein zeigt,
offen über die damit verbundenen Probleme sprechen zu wollen. Das in Jahren mühsam
aus Zielen, Werten und Tugenden und der Aufarbeitung der eigenen Geschichte
erarbeitete Selbstwertgefühl, das Haus unserer Bürgergesellschaft, wird erschüttert,
wenn jemand mal die Tür laut zuschlägt. Die demokratische Öffentlichkeit verliert sich
– wie der Kulturanthropologe René Girard feststellt – in einer Art „depressiver
Erschöpfung“ über die gesellschaftlichen Hypotheken, die man sich aufgebürdet hat.
Politik gestaltet nicht mehr, sondern moderiert und übt sich darin, möglichst keine
Fehler zu machen.

Themen, die Ärger machen können, wie Integrationsfragen werden peinlichst


vermieden oder in der Islamkonferenz relativiert. In einer Empfehlung der Konferenz
erkennt man Elemente der Scharia, des islamischen Rechts, als „religiöses Leben“ an
und begründet dies mit „Pragmatismus“. Die deutsche Politik scheint der Probleme
überdrüssig und überlässt das Feld in diesem Fall der kulturellen Konkurrenz von
Türken- und Islamfunktionären, die sich als Opfer darstellen und Themen tabuisieren
wollen.

Dabei wird übersehen, dass es sich hierbei tatsächlich um einen Kampf um die
Deutungsmacht handelt. Kritik an Religion oder Grundrechtsverletzungen durch
Migranten sollen wieder ein Tabu werden, man bemüht dafür Begriffe wie
„Islamophobie“ und gründet staatlich bezahlte „Antidiskriminierungsvereine“, die alles,
was unter der Decke gehalten werden soll, mit dem Rassismusvorwurf belegen. Das
spielt den „Depressiven“ in die Hände, denn so brauchen sie sich um die Ursachen und
Folgen von Fehlentwicklungen im Moment nicht mehr zu kümmern.

Wenn von der Bundesregierung fast 200 Millionen Euro im Jahr für Sprach- und
Integrationskurse ausgegeben werden (und einige Islam- und Türkenvereine damit nicht
schlecht verdienen) und es gleichzeitig kaum Kontrollen der Qualität und des Erfolgs
dieser Maßnahmen gibt, fragt man sich, was die Verantwortlichen in Politik und
Verwaltung mit dieser Haltung bezwecken. Wenn man den Erfolg will, muss man auch
die Lernleistung der Teilnehmer einfordern, sie nötigenfalls kontrollieren und bei
Verweigerung sanktionieren. Wenn man allerdings nur Symbolpolitik betreibt, dann
schreibt man einen Bericht, rühmt sich für die Maßnahmen und lässt Allah einen feinen
Mann sein.

Wenn man will, dass die Migrantenkinder Deutsch lernen, dann muss man die
Vorschulpflicht einführen und Kindergeld einbehalten, wenn die Kinder nicht zur
Schule kommen. Wenn man nicht will, dass die Integration auch in der 4. und 5.
Generation immer wieder von vorn beginnt, dann muss man endlich das Gesetz gegen
Zwang zur Ehe auf den Weg bringen. Vor vier Jahren stand ein Gesetz gegen
Zwangsheirat schon einmal im Regierungsprogramm, jetzt wahrscheinlich wieder.

Aufregung über den Ton

Wenn von der Öffentlichkeit kein Druck kommt, wird nichts geschehen. Nennt dann
jemand wie Sarrazin die Missstände beim Namen, meldet sich das schlechte Gewissen.
Man regt sich über den Ton und nicht über die Fakten auf. Aber die soziale Realität
lässt sich auf Dauer nicht wegempören und mit einem „Aber bitte nicht in diesem Ton!“
beschwichtigen. Der Lack der Schönrednerei blättert schneller ab, als gestrichen werden
kann.

Wer die klaren Worte Sarrazins für Hetze hält, muss sich fragen lassen, ob er die Fakten
kennt oder nicht längst aufgegeben hat. Ich kann mir nur wünschen, dass die künftige
Bundesregierung nicht in den Fehler verfällt, vor lauter Sucht nach Erfolgen, vor lauter
„best practice“ die realen Probleme unter den Teppich des sehr lobenswerten
Integrationsplans zu kehren, sondern auch mal nachsieht, welche Maßnahmen sinnvoll
sind und zum Erfolg führen, und mit welchen nur Lobbyisten alimentiert werden.

Und noch etwas hat die „Causa Sarrazin“ gezeigt: Wie schnell gewisse Kreise bereit
sind, das Grundrecht auf Meinungsfreiheit infrage zu stellen. Wenn es gelänge, einer
spitzen Zunge und einem selbstbewussten Mann wie Sarrazin den Mund zu verbieten,
fragt man sich, wer dann noch den Mut haben wird, sich überhaupt zu äußern? Sarrazin
redet Tacheles, es ist sein gutes Recht. Zumindest das sollten wir verteidigen.

Necla Kelek (51) kam mit ihrer Familie 1966 aus Istanbul nach Deutschland. In
Hamburg studierte sie Volkswirtschaft und Soziologie. 2001 promovierte sie zum
Thema „Bedeutung islamischer Religiosität für die Lebenswelt türkischstämmiger
Schülerinnen und Schüler“. Die „islamisch geprägte Parallelgesellschaft in
Deutschland“, die sie als „falsch verstandene Toleranz“ entschieden ablehnt.

Quelle: Warum türkische Gemüsehändler mit Sarrazin kein Problem haben

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