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Die blauen Blumen von Mekka –

Von Ismaels Stadt zum Heiligtum der Ismaeliten*

Robert M. Kerr

– Für Waldrik Mulder ‫– ז״ל‬

Ich wandre schon seit langem,


Hab lang gehofft, vertraut,
Doch ach, noch nirgends hab ich
Die blaue Blum geschaut.
Eichendorff

1. Einleitung

Bisher ist bei Inârah zweifelsohne viel geleistet und hiermit ein seriöser
Neuanfang der überfälligen historisch-kritischen Forschung des Koran und
der islamischen Quellenliteratur sowie ihrer historischen und theologisch-
intellektuellen Welt wiederaufgenommen worden. Auch wenn die Rezep-
tion dieser Tätigkeit in der Schulislamwissenschaft augenscheinlich bisher
wenig Resonanz aufweist, die Resultate dieser Arbeiten sind nicht unbe-
merkt geblieben,1 auch wenn es seine Zeit dauern wird, bis historisch-

* Eine überarbeitete Fassung meines während des 4. Inârah-Symposions „Frühe


Islamgeschichte und der Koran IV“ am 20. März 2014 in Otzenhausen gehal-
tenen Vortrages „Wie der Islam nach Mekka kam.“ Ich danke meinen deutsch-
kundigen Zuhörern, besonders aber Herrn Dr. E. Mulder (Den Haag), für ihre
kritischen Bemerkungen sowie Dr. N. Dass (Toronto) für das Besorgen mir
unzugänglicher Literatur. Mein aufrichtiger Dank gilt auch Prof. Dr. Ohlig, der
hier nochmals die mühevolle Aufgabe auf sich genommen hat mein Deutsch zu
verbessern. Die vorliegende Arbeit ist konzipiert als altertumswissenschaftlicher

52
Die blauen Blumen von Mekka 53

kritische Forschung Gemeingut in der Islamologie wird. Ich bemerke nur


nebenher, dass vor inzwischen mehr als einem Jahrhundert ebensolche For-
schungen Julius Wellhausens in der alttestamentlichen Wissenschaft ihn so
kontrovers machten, dass er später in seiner wissenschaftlichen Laufbahn
zur Islamwissenschaft überwechselte. Wie sind die Zeiten verändert!
Bisher ist deutlich, dass die herkömmliche auf islamischen Quellen be-
ruhende Darstellung der Anfänge dieses Gottesdienstes keine historische
Gültigkeit aufweisen (pace Rippin a. a. O. S. 470). Heilige Schriften und
deren abgeleitete Traditionsliteratur sind eben keine historischen Quellen –
noch, ob beispielsweise Bibel oder Koran, wollen sie dies sein. Glauben wird
eben nicht durch seine vermeintliche Historizität bewahrheitet – und Ge-
schichtswissenschaftler sollten gelernt haben, die Aussagekraft ihrer Quellen
wissenschaftlicher Prüfung zu unterziehen und solche Anachronismen zu
vermeiden: Herodot, der viel gerühmte „Vater der Geschichte,“ hat dies
nicht als seine Aufgabe gesetzt – er wollte unterhaltsame Geschichten und
nicht Geschichte erzählen – Ἐγὼ δὲ ὀϕείλω λέγειν τὰ λεγόμενα, πείϑεσϑαί

Forschungsbeitrag, nicht als eine polemische Schrift gegen Muslime bzw. gegen
den Islam. Vom Letzteren distanziert der Autor sich ausdrücklich. Historisch-
kritische Forschung vermag keine Aussagen über Glaubens- bzw. Offenbarungs-
wahrheiten zu machen, wohl aber etwas über die Entstehung überlieferter Texte
herauszufinden. Zudem stellte kritische, dem Islam gewidmete Forschung keinen
Beweis für die Richtigkeit des Judentums bzw. des Christentums dar, allein schon
deshalb, weil alle drei Religionen Anteil am selben Überlieferungskontinuum
haben.
1 Vgl. aber die Rezension A. Rippins „The Qurʾān in Context: Historical and
Literary Investigations into the Qurʾānic Milieu.“ [=Texts and Studies on the
Qurʾān, Bd. 6; herausgegeben von A. Neuwirth, N. Sinai und Michael Marx] in,
Journal of the American Oriental Society 13/3(2011), S. 470-473. Wer aber allen
Ernstes behauptet (s. 473): „To me, this project of defining Qur’anic studies walks
a narrow path: it needs to historically contextualize the text – most appropriately
to the late antique milieu – while avoiding suggesting either a reductive approach
that sees the Qur’an as a poor imitation of pre-existing ideas and texts, or a
massive conspiracy that pictures the Qur’an as being an Islamicization of a Chris-
tian text. By continuing to emphasize the Arabian/Hijâzi origins of the Qur’an,
there remains a lack of historical clarity over the vehicle for the transmission of
this late antique context (which is why it is so important that Mecca remain on
trade routes and that Arabic be conceived of as well developed at the time),“ will
keine zeitgemäße Wissenschaft betreiben, sondern normative regressive Amnesie
vorschreiben, ohne das Wesen historisch-kritischer Forschung begriffen zu
haben.
54 Robert Kerr

γε μὲν οὐ παντάπασι ὀϕείλω. Die Forschungsergebnisse von Inârah haben


bisher deutlich gemacht, dass man anstatt zum fernen Ḥiǧāz vielmehr gen
Syrien, also nach Syro-Palästina, schauen muss, wenn man die Wurzeln des
Islam aufspüren möchte: Der Islam tritt eben als eine historisch greifbare
Erscheinung erst in Syrien mit der Herrschaft Muʿāwiyas nach dem ersten
arabischen Bürgerkrieg in Erscheinung – möglicherweise gar bei heimkeh-
renden Deportierten aus Merw, wie manche vermuten. Nebenher sei be-
merkt: die eindeutige antichalkedonische Polemik der Umayyaden, etwa in
der Inschrift ‘Abd al-Maliks im Felsendome (vgl. Sure 4, 171-172), ergeben
nur einen Sinn im Einflussbereich der Reichskirche und nicht außerhalb,
beispielsweise im Ḥiǧāz, wo die römische Orthodoxie keine Geltung besaß.
In meinen bisherigen Beiträgen habe ich versucht, jene historisch-
kritische Thesen zu unterstützen: In meinem ersten Aufsatz wies ich auf die
Tatsache hin, dass sowohl die Entstehung und der zeitgenössische Gebrauch
der arabischen Schrift und die Sprache des Koran in Syrien zu verorten sind
– wäre er im ausgehenden sechsten bzw. im frühen siebten Jahrhundert n.
Chr. im Ḥiǧāz geschrieben worden, dann wären jeweils eine Ableitung der
altsüdarabischen Schrift benutzt und eine Mundart des nordarabischen
Dialektkontinuums gebraucht worden. In meinem zweiten Beitrag habe ich
anhand dieser Feststellungen im Sinne Christoph Luxenbergs dargelegt,
dass der theologische Wortschatz des Koran von semantischen Entwick-
lungen im Syro-Aramäischen abhängig ist. In meinem Vortrag beim vor-
letzten Inârah-Kongress vor zwei Jahren habe ich anhand archäologischer
Ausgrabungstätigkeiten in Syro-Palästina gezeigt, dass es keine aus dem
Ḥiǧāz stammende arabische Invasion in der ersten Hälfte des 7. Jhdts. n.
Chr. gegeben hat: Archäologisch gesehen war in diesem Gebiete der Zeit-
raum 630 bis ins achte Jahrhundert relativ ereignislos – anstatt Verwüs-
tungen kommen aus dieser Periode bescheidene Bauvorhaben ans Licht,
und es fehlen diagnostische Indikatoren von durch Kriege verursachter
Instabilität wie z. B. viele auffallende Münzhorte. Mit anderen Worten:
„It became apparent … the commonly accepted view … of a violent
and destructive conquest by mindless ‚Muslim hoards‘ (as they were
often portrayed was quite wrong, as many sites revealed continuity in
occupation and that, in fact, the arrival of Islam in the towns of
Syria-Palestine was archaeologically invisible;“
In der syro-palästinensischen Archäologie wird daher von der ‚unsichtbaren
Eroberung‘ gesprochen. Kleine an Abbildungen auf Mosaiken in Kirchen
durch den Ikonoklasmus verursachte Schäden sind eben kein Beweis für
Die blauen Blumen von Mekka 55

einen antiken Blitzkrieg; Die meisten Städte weisen ein Siedlungskontinuum


durch das siebte Jahrhundert auf, und größere Zerstörungen dieser Zeit sind
nicht apokryphen Gotteskriegern des Ḥiǧāz zuzuschreiben, sondern viel-
mehr Erdbeben wie z. B. in ‘Avdat2 oder Petra. Walmsley (a. a. O., S. 48)
resümiert:
„The most optimistic we can be is that the political events of the
seventh century left little if any residue on the archaeological record.
This would lead us to question whether the events described in the
Islamic historiographical sources are accurate.“
In meinem letzten Aufsatz, der in diesem Band publiziert wird, stelle ich
dar, dass Hiǧra im Semitischen nicht die Semantik von „Flucht“ aufweist –
vielmehr haben wir es mit einer vom Syrischen (mehaggrāyē)
entlehnten Bezeichnung für Araber zu tun – die Araber als Nachkommen
der Kebse Hagar – entsprechend dem griechischen Sprachgebrauch
Muʿāwiyas in seiner Inschrift aus Hammat Gader, die er u. a. datiert κατὰ
Ἀϱαβας – also „das Jahr der Araber“, also ab 622 gerechnet, das Jahr in dem
Kaiser Heraklius hinauszog, um endgültig mit dem persischen Sassani-
denreich abzurechnen, ein Ereignis das schlussendlich zur Verselbst-
ständigung der Araber Syriens führte:3 Die ‫( مھ اجرين‬muhāǧirūn) von z. B.

2 Wie z. B. noch von A. Negev behauptet (The Architecture of Oboda: Final Report
(Jerusalem, 1997), S. 9. Inzwischen ist deutlich, dass als Zerstörungsursache ein
Erdbeben am Wahrscheinlichsten ist, vgl. A. M. Korjenkov, P. Fabian und A.
Becker, „Evidence for 4th and 7th Century ad Earthquakes, Avdat Ruins,
Israel“ in The Annual Meeting of the Israel Geological Society (Elath, 1996), S. 52;
P. Fabian, „Evidence of Earthquake Destruction in the Archaeological Record:
The Case of Ancient Avdat“ in The Annual Meeting of the Israel Geological Society
(Mitzpeh Ramon, 1998), S. 21-26 (Englisch); T. Erickson-Gini, Crisis and Re-
newal: Settlement in the Central Negev in the Third and Fourth Centuries c.e.
(Dissertation; Jerusalem 2004), S. 255. Vgl. im Allgemeinen die hervorragende
und wichtige Synthese: J. Magness, The Archaeology of the Early Islamic Settle-
ment in Palestine (Winona Lake, 2003) – s. auch Anm. 112. Walmsley a. a. O. S.
48: „Indeed, the seventh century stands out as one of the most conservative in
the cultural record of Late Antique and Early Islamic Syria-Palestine … Most of
the seventh century comes across as a time of considerable monotony, in which
cultural traditions responded only slowly to a new, emerging political reality.“
3 Besonders als nach der ersten Niederlage der Sassaniden in 622, die östlichen, im
persischen Herrschaftsbereich befindlichen Araber sich verselbstständigten. Ein
Hinweis hierauf ist die Tatsache, dass in syrischen Quellen die Datierung nach
Jahren „der Herrschaft der Araber“ ihren Anfang in Ostsyrien/ Nordmesopota-
mien gehabt zu haben scheint.
56 Robert Kerr

Sure 9,100 sind sind dann keine „Auswanderer,“ sondern lediglich


„Araber;“ auch bei dem Begriff ‫( انص ار‬anṣār) im selben Vers kann es aus
sprachwissenschaftlicher Sicht nicht um vermeintliche „Helfer“ des Prophe-
ten zu Medina handeln, vielmehr um eine Bezeichnung für Nazoräer, also
semitische Judenchristen, eine nominale Ableitung einer semitischen Wur-
zel, die das semantische Feld christlicher „Worte und Sachen“ abdeckt und
wovon auch „Nazareth“ abgeleitet wird. Wenn aber der angebliche
Schlüsselmoment im Leben des islamischen Propheten wegfällt, was ist
dann historisch an seiner – zugegeben stark an eine christliche Hagio-
graphie erinnernde – Biographie historisch?4

4 Die Intertextualität der Sīra mit sowohl der klassischen wie auch der biblischen
Literatur ist nicht zu übersehen, und wie Goldziher schon vor langer Zeit an-
merkte, sind die Ḥadīṯe mit die wichtigsten Quellen der erst im neunten
Jahrhunderte von Ibn Isḥāq geschriebenen und angeblich von Ibn Hišām
übernommenen und bearbeiteten Biographie des Propheten. Durchweg in dieser
Überlieferung, wie bei der Vita Jesu im Neuen Testament (oder der Davids im
ersten Buch Samuel; um den universellen Charakter dieser Prozesse aufzuzeigen
anzugeben könnte an dieser Stelle auch der Haudenosaunee/Irokesenbund ange-
führt werden. Dessen Mitbegründer Hiawatha, dem Longfellow in seinem
berühmten Gedicht The Song of Hiawatha ein literarisches, wenn auch wenig
historisches Denkmal gesetzt hat, ein Nachfolger des Deganawidas [des „Großen
Friedensstifters“], einem Propheten und spirituellen Führer des Huronenstam-
mes, der die Vereinigung aller Irokesen prophezeite, da sie gemeinsame Vorfah-
ren und ähnliche Sprachen hätten) fehlt jeglicher Bezug auf die zeitgenössische
historische Realität. Vielmehr werden solche Mythen post factum geschrieben,
um einen historisierenden Entstehungsmythos darzubieten, um so einem neuen
Glauben einen Hauch angeblicher Realität mitzugeben. Die Wahrheit solcher
theophanen Berichte liegt nicht in der Historizität. Wer von einem Plagiat redet,
hat ein anachronistisches Verständnis der antiken Literatur. Per definitionem be-
stehen alle Entstehungserzählungen von Gottesdiensten, aber auch von u. a. poli-
tischen Ideologien und Staaten, aus Mythographie, weil am Anfang das, was im
Entstehen begriffen ist, noch nicht ersichtlich sein kann: So hatten z. B. die
Erzählungen von Arminius oder Friedrich I., der einst von Schwaben nach
Nürburg zog, die spätere Gründung des deutschen Reiches unter Wilhelm I. von
Preußen nicht vor Augen, wie dies gelegentlich in der späteren deutschen Ge-
schichtsschreibung behauptet wurde. Zudem: historisch gesehen verhindern ein
unbedeutendes Leben und ein triviales Ableben nicht ein glorreiches Nachleben:
Horst Wessels Apotheose im Nazi-Film und der „Erfolg“ des von ihm verfassten
Hassliedes („Kam’raden, die Rotfront und Reaktion erschossen, marschier’n im
Geist in unser’n Reihen mit“) nach seinem Tod können über die Banalität seines
Todes durch Blutvergiftung nach einer ansonsten gelungenen Notoperation nicht
Die blauen Blumen von Mekka 57

Diese Frage ist einerseits rhetorisch, aber zugleich weist sie hin auf ein
ungelöstes Problem der bisherigen Forschungstätigkeiten. Wenn, wie viele
historisch-kritische Islamforscher behaupten, kaum etwas an der islami-
schen Überlieferung im wissenschaftlichen Sinne „historisch“ sei und die
Ursprünge des Islam vielmehr in Syrien zu verorten sind, was ist mit den
Erzählungen über die heilige Stadt des Islam, Mekka? Wie muss man dann
die Wahl des Islam für diesen Ort, der weitab der zivilisierten Welt liegt, zu
ihrem centrum mundi erklären?

2. Mekka
Der klassische Islamforscher, sowie mancher Muslim, glaubt anhand der
islamischen Traditionsliteratur die Topographie dieser Stadt zur Zeit Mu-
hammads wie seine Westentasche zu kennen. Aber wenn der Prophet des
Islam aus sprachlich-philologischen Gründe niemals nach Medina geflüch-
tet sein kann, was ist wahr an den übrigen Überlieferungen? Dies bleibt
Forschungen, die z. B. von Inârah betrieben werden, ein Dorn im Auge.
Obwohl seit geraumer Zeit in manchen Kreisen eine vehemente Debatte
wütet, ob Mekka zur Zeit Muhammads überhaupt existierte bzw. schon die
Ausmaße besaß, die die späteren islamischen Traditionen schildern, möchte
ich hier aus zwei Gründen nicht an einer solchen Debatte teilnehmen:
Erstens, diese Stadt – wie die meisten noch bewohnten Städte des mittleren
Ostens – ist nicht ausgegraben und dies wird sich wohl in absehbarer Zeit
kaum verändern; zweitens, auch wenn Mekka seit Jahrtausenden bewohnt
worden wäre, und in der Spätantike schon zu einer wahren Metropolis an-
gewachsen wäre, sagt diese Tatsache nichts über die islamischen Erzäh-
lungen aus – eine Erkenntnis, die wir von der sogenannten „biblischen
Archäologie“ gelernt haben müssten. So z. B. lehrt uns die Archäologie
vieles über die Vergangenheit einer anderen ebenfalls unausgegrabenen
„heiligen“ Stadt, der sogenannten „Stadt Davids,“ Jerusalem. Wir wissen
aber dank historisch-kritischer Forschungen, dass die Stadt Davids und
Salomos, mit riesigem Tempel und großem Königspalast, eine literarische
Erfindung der Exilszeit bzw. der früh-nachexilischen Zeit ist – die Autoren
der biblischen Beschreibungen kannten die Stadt gar nicht, so wie sie vor
der babylonischen Zerstörung ausgesehen haben könnte. 5 Das heißt:

hinwegtäuschen.
5 Anhand der Textüberlieferung kann man auch z. B. sehen, dass auch die sakrale
Bedeutung Jerusalems eine spätere Entwicklung darstellt. Die samaritanische
58 Robert Kerr

obschon Jerusalem zweifelsohne während der frühen Eisenzeit eine Stadt


war, in der „David“ und „Salomo“ angeblich gelebt haben sollen, ist die
biblische Beschreibung der Stadt zu jener Zeit rein apokryph, und darum
bleibt die Stadt auch unauffindbar, allen bisherigen Versuche zum Trotz.
Die Stadt der Überlieferung und des Glaubens ist eben nicht die geschicht-
liche, archäologisch aufspürbare Stadt.
Ob Mekka damals schon, selbst als kleine Oasensiedlung, existierte, wis-
sen wir einfach nicht – was aber eigentlich bedeutungslos für diese Abhand-
lung ist. Jedenfalls findet sie keine Erwähnung in vorislamischen geogra-
phischen Werken – das öfters seit Gibbon (Decline and Fall, Kap. 50) mit
Mekka identifizierte Μακοϱάβα des Ptolemäus (vi, 76) ist, wie Gibson7
neulich überzeugend zeigte, eine Stadt im südlichen, „glücklichen“ Arabien
(Arabia Felix = Jemen): Ptolemäus unterschätzte die Größe der Arabia
deserta: Ihm zu Folge lag Μακοϱάβα an einem Fluß namens Βαιτίος, an
dessen Mündung zwei Städte Κέντος und Θῆβα liegen, und südlich hiervon
hat er die Gebiete Σαβα und Μυϱιϕεϱϱα – also „Myrrhe bringend“ – ver-
ortet. Dies kann also keinesfalls auf Mekka zutreffen. Man muss berück-
sichtigen, dass Ptolemäus, obschon er die Koordinaten von Plätzen bei-
spielsweise in Griechenland, die ihm gut bekannt waren, ziemlich genau
messen konnte, bei südlicheren Gegenden denselben Fehler machte wie
später Columbus, der den Erdumfang zu knapp ansetzte. Von der jeweiligen
geographischen Länge besaß er, im Gegensatz zur Breite (vgl. Plinius, Nat.
Hist. vi.34,39: „plura sunt segmenta mundi, quae nostri circulos appellavere,

Überlieferung sowie manche altgriechischen Übersetzungen machen deutlich,


dass der Ort, den YHWH im Deut. 27, 4-7 auserwählt hat, der Berg Gerizim war
(wo die Samaritaner ihren Tempel hatten). Der heutige hebräische Text stellt
höchstwahrscheinlich eine redaktionelle Änderung der Hasmonäer-Zeit dar:
YHWH gebietet Opfer an einem Ort, den er auserwählt wird, also eine späte
Änderung der Tradition, um die ebenfalls spätere kultische Bedeutung Jeru-
salems vorzudatieren. Vgl. hierzu A. Schenker, „Le Seigneur choisira-t-il le lieu
de son nom ou l’a-t-il choisi ? l’apport de la Bible grecque ancienne à la histoire
du texte samaritaine et masorétique“ in: A. Voitila and J. Jokiranta (Hrg.),
Scripture in Transition: Essays on Septuagint, Hebrew Bible, and Dead Sea Scrolls
in Honour of Raija Sollamo (Leiden, 2008), S. 339-351.
6 Ausgabe von C. F. A. Nobbe (Hg.), Claudii Ptolemæi Geographia (Leipzig, 1845),
S. 98, 105.
7 Vgl. D. Gibson, Suggested Solutions for Issues Concerning The Location of Mecca
in Ptolemy’s Geography, entnommen aus http://nabataea.net (letzter Zugriff
17.03.2014).
Die blauen Blumen von Mekka 59

Graeci parallelos“) nur ungenaue Auskünfte. Nimmt man Ptolemäus An-


gaben wortwörtlich, um so Μακοϱάβα mit Mekka zu identifizieren, dann
liegen bekannte Städte, deren Verortung stimmt, plötzlich falsch – also um
ein Problem zu lösen, werden so neue geschaffen. Gibson, der anhand be-
kannter Orte die Messungen des Ptolemäus korrigierte, zeigt m. E. über-
zeugend, dass Κέντος der heutige Ort Ğazan ist, Θῆβα entspricht al-
Luhajjah, der Fluss Βαιτίος ist der Wadi Mawr und Makoraba schließlich
heißt heute al-Mahabischah – alle in Arabia felix gelegen. Die Beschrei-
bungen dieser Orte bei Ptolemäus passt zudem viel besser zur Arabia felix,
denn über die unwirtliche Arabia deserta, die wir aus anderen antiken
Beschreibungen kennen, wird z. B. im Periplus maris erythræ (§20)
Folgendes gesagt:
„Μετὰ δὲ ταύτην εὐϑέως ἐστὶ συνναϕὴς Ἀϱαβικὴ χώϱα, κατὰ μῆκος
ἐπὶ πολὺ παϱατεíνουσα τῇ Ἐϱυϑϱᾷ ϑαλάσσῃ. ǁ Διάϕοϱα δ ̓ ἐν αὐτῇ
ἕϑνη κατοικεῖ, τινὰ μὲν ἐπὶ ποσὸν, τινὰ δὲ καὶ τελεíως τῇ γλώσσῃ
διαλλάσσοντα. Τούτων τὰ παϱὰ ϑάλασσαν ὁμοίως Ἰχϑυοϕάγων
μάνδϱαις διείληπται, τὰ δ ̓ἐπάνω κατὰ κώμας καὶ νομὰς διοικεῖται
πονηϱοῖς ἀνϑϱώποις διϕώνοις, οἷς παϱαπíπτοντες ἀπὸ τοῦ μέσου
πλοὸς οἱ μὲν διαϱπάζονται οἱ δὲ καὶ ἀπὸ ναυαγίων σωϑέντες
ἀνδϱυποδίζονται. Διὸ καὶ συνεχῶς ὑπὸ τῶν τυϱάννων καὶ βασιλέον
τῆς Ἀϱαβίας αἰχμαλωτíζονται λέγονται δὲ Κανανῖται. Καϑόλου μὲν
οὖν οὗτος ὁ τῆς Ἀϱαβικῆς ἠπεíϱου παϱάπλους ἐστὶν ἐπισϕαλής, καὶ
ἀλίμενος ἡ χώϱα καὶ δύσοϱμος καὶ ἀκάϑαϱτος, ῥαχἰαις καὶ σπíλοις
ἀπϱόσιτος καὶ κατὰ πάντα ϕοβεϱά. Διò καὶ εἰσπλέοντες τόν μέσον
πλοῦν κατέχομεν καὶ παϱὰ τὴν Ἀϱαβικὴν χώϱαν αὐτòν μᾶλλον
παϱοξύνομεν ᾄχϱι τῆς Κατακεκαυμένης νήσου, μετὰ ᾓν εὐϑέως
ἡμέϱων ἀνϑϱώπων καὶ νομαδιαíων ϑϱεμμάτων καὶ καμήλων συνεχεῖς
χῶϱαι.“8

8 „Nach diesem Orte erstreckt sich sofort ohne Unterbrechung das arabische Land,
das sich der Länge nach weithin am Erythräischen Meere ausdehnt. Verschie-
dene Völkerschaften wohnen in demselben, von denen sich die einen nur eini-
germaßen, die anderen aber gänzlich ihrer Sprache nach unterscheiden. Das da-
selbst am Meere gelegene Land ist gleichfalls [wie im gegenüberliegenden Afrika]
von Hürden der Ichthyophagen hin und wieder besetzt, die nach innen zu gele-
genen Striche aber werden, nach Dörfern und Weideplätzen [in Gaue und No-
madenlager] gesondert, von schlechten zweizüngigen [zwei Sprachen redenden]
Menschen bewohnt, von denen die von der Fahrt in der Mitte des Meerbusens
Abirrenden [Verschlagenen] teils ausgeplündert, teils auch von den Wracks Ge-
retteten zu Sklaven gemacht werden. Deshalb werden sie auch fortwährend von
60 Robert Kerr

Seit jener Zeit hat sich wenig verändert. In dieser Umgebung liegt auch
Mekka, das dann nur schwer mit den bildhaften Beschreibungen der Über-
lieferungen als „Mutter aller Städte“ (7,23) und als „Zentrum der Handels-
route“ in Übereinstimmung zu bringen ist – man denkt unwillkürlich an die
sprichwörtliche Goldstadt Plauti: „Chrysopolim Persæ cepere urbem in
Arabia.“ Patricia Crone9 merkt daher zurecht an:
„Mecca was a barren place, and barren places do not make natural
halts, and least of all when they are found at a short distance from
famously green environments. Why should caravans have made a
steep descent to the barren lands of Mecca when they could have
stopped at Ta’if?“
Und sie fragt zu recht:10

den Königen Arabiens und deren Vasallen in die Sklaverei abgeführt; sie heißen
Kananiten. Überhaupt ist die Fahrt an diesem Teile des arabischen Festlands
gefahrvoll, das Land ohne Hafen, schwierig zum Ankern, unrein [unwirtlich],
durch Springfluten und Klippen unnahbar und im Ganzen gefahrdrohend.
Daher halten wir bei der Fahrt daselbst die Mitte des Meeres ein und beschleu-
nigen noch bedeutend die Fahrt an dem arabischen Lande vorbei bis zur ver-
brannten Insel, nach der sich [auf dem Festland] sofort ohne Unterbrechung
Gegenden mit gesitteten Menschen, weidenden Herden und Kamelen fin-
den.“ Text und Übersetzung nach B. Fabricus (Hg.), Der Periplus des eryth-
räischen Meeres von einem Unbekannten. Griechisch und deutsch mit kritischen
und erklärenden Anmerkungen nebst vollständigem Wörterverzeichnisse
(Leipzig, 1883), S. 58-59. Eine sehr ähnliche Beschreibung findet sich u. a. auch
bei Diododorus Siculus, Bibliotheca Historica (vgl. Anm. 56) sowie bei Plinius
Hist. Nat. vi. 26-28; und besonders 37. Auch bei Plinius sind die angegebenen
Abstände ungenau.
9 P. Crone, Meccan Trade and the Rise of Islam (Princeton, 1987), S. 6-7.
10 A. a. O., S. 7. Zu den landwirtschaftlichen Erzeugnisse Arabiens gemeinhin zählt
Plinius u. a.: Ingwer („Zingiberi, alii vero Zimpiberi“ Nat Hist. xii.14), Zucker
(Saccaron 17), Gummiarabikum (Bdellium 19), Kardamom (Cardamomum 29),
Zimt (Cinnamomum 30), Ladanum (37) Kirschpflaume (? Myrobalanum 46),
aber sein Hauptexport und zugleich der Grund für seine Benennung „Glück-
lich“ („felix ac beata“) war Myrrhe: „principalia ergo in illa tus atque murra.“ Die
Reise dieser Produkte durch die arabische Halbinsel über fünfundsechzig Kara-
wansereien, die alle Abgaben verlangten, wird in 32 beschrieben: „At ille Arabiæ
potitus ture onustam navem misit et exhortatus est, ut large deos adoraret. Tus
collectum Sabotam camelis convehitur, porta ad id una patente. degredi via
capital reges fecere. Ibi decumas deo quem vocant Sabin mensura, non pondere,
sacerdotes capiunt, nec ante mercari licet: Inde inpensæ publicæ tolerantur; Nam
et benigne certo dierum numero deus hospites pascit. Evehi non potest nisi per
Die blauen Blumen von Mekka 61

„What commodity was available in Arabia that could be transported


such a distance, through such an inhospitable environment, and still
be sold at a profit large enough to support the growth of a city in a
peripheral site bereft of natural resources?“
Wenn Mekka tatsächlich die Stadt Muhammads gewesen sein sollte, müss-
ten diese Fragen erst beantwortet werden. Wie dem auch sei, auffallend ist
dann, dass Mekka überhaupt nicht belegt ist, bis der Name gut hundert Jah-
re nach dem angeblichen Tode Muhammads im Jahre 740 in der bewahrt
gebliebenen lateinischen Übersetzung einer früheren syrischen Chronik, die
Continuatio byzantia arabia annis dccxli erwähnt wird:11

Gebbanitas, itaque et horum regi penditur vectigal. Caput eorum Thomna abest
a Gaza, nostri litoris in Iudæa oppido, mcdxxxvii d p., quod dividitur in man-
siones camelorum lxv. Sunt et quæ sacerdotibus dantur portiones scribisque
regum certæ. Sed præter hos et custodes satellitesque et ostiarii et ministri popu-
lantur. Iam quacumque iter est aliubi pro aqua, aliubi pro pabulo aut pro man-
sionibus variisque portoriis pendunt, ut sumptus in singulas camelos dclxxxviii
ad nostrum litus colligat, iterumque imperii nostri publicanis penditur.“ Crones
Frage nach der Wirtschaftlichkeit dieses Handels, besonders während der Spät-
antike, aber bleibt offen, wie aus 39 deutlich wird: „... et tamen felix appellatur
Arabia, falsi et ingrati cognominis, quæ hoc acceptum superis ferat, cum plus ex
eo inferis debeat … periti rerum adseverant non ferre tantum annuo fetu,
quantum Nero princeps novissimo Poppaeæ suæ die concremaverit … nec
minus propitii erant mola salsa supplicantibus, immo vero, ut palam est,
placatiores. verum Arabiæ etiamnum felicius Mare est; Ex illo namque
margaritas mittit.“ Solches geht auch aus Strabon i.2 hervor, der : Τὴν δ᾽ Ἀϱαβίαν,
ἣν εὐδαίμονα πϱοσαγοϱεύουσιν οἱ νῦν, τότε δ᾽ οὐκ ἦν πλουσία, ἀλλὰ καὶ αὐτὴ
ἄποϱος καὶ ἡ πολλὴ αὐτῆς σκηνιτῶν ἀνδϱῶν: Ὀλίγη δ᾽ ἡ ἀϱωματοϕόϱος, δι᾽ ἣν
καὶ τοῦτο τοὔνομα εὕϱετο ἡ χώϱα διὰ τὸ καὶ τὸν ϕόϱτον εἶναι τὸν τοιοῦτον ἐν
τοῖς παϱ᾽ ἡμῖν σπάνιον καὶ τίμιον. Νυνὶ μὲν οὖν εὐποϱοῦσι καὶ πλουτοῦσι διὰ τὸ
καὶ τὴν ἐμποϱίαν εἶναι πυκνὴν καὶ δαψιλῆ, τότε δ᾽ οὐκ εἰκός. αὐτῶν δὲ χάϱιν
τῶν ἀϱωμάτων ἐμπόϱῳ μὲν καὶ καμηλίτῃ γένοιτ᾽ ἄν τις ἐκ τῶν τοιούτων
ϕοϱτίων εὐποϱία. Der Reichtum beschränkte sich scheinbar großenteils auf die
Erzeugergebiete im südlichen (‫ )يَ ِمن‬- glücklichem (‫ )يَمن‬- Arabien, d. h. ‫اليم ن‬.
11 Vgl. P. Crone and M. Cook, Hagarism (Cambridge, 1977), 22, 152. Auf Land-
karten erscheint diese Stadt erst im zehnten Jahrhundert. Text nach Th. Momm-
sen (Hg.), Chronica minora Bd. 2 (Berlin, 1894), S. 347. Die (a. a. O.) Continuatio
Hispania dccliv gibt hier wieder: „Huius temporibus, in era dcxx, anno imperii
eius decimo, Arabum sexagesimo sexto, Abdilmelic apicem regni adsumpto
regnat annos xx. Hic emulum patris persequens aput Maccam Abrahe, ut ipsi au-
tumant, domum inter Ur Chaldeorum et Carras Mesopotamie per ducem
62 Robert Kerr

„Habdelmele [d.i. ʿAbd al-Malik ibn Marwān] vero apice regni ad-
sumpto reg. an. xx. Primo regni sui anno omnem experientiam atque
virtutem animi exercitus sui versus Habdela [d. i. Yazid ii.], quem
pater multoties variis inpetierat bellis, ad ultimum apud Maccam
Abrahæ, ut ipsi putant, domum, quae inter Ur Chaldeorum et Carras
Mesopotamiæ urbem in heremo adiacet, mota congressione.“
Diese späte Erwähnung bleibt sehr verdächtig, auch weil die syrische Vor-
lage nicht zur Verfügung steht: Es ist schwer festzustellen, ab wann die
islamische Historiographie durch die Geschichtsschreibung aufgenommen
wurde, wie Ähnliches schon früher in der biblischen Historiographie, z. B.
bei Josephus und in der christlichen Rezeption seiner Werke, stattfand.
Wichtig aber hier ist auch die Meldung, dass die zwischen dem Ur der
Chaldäer und Harran(!) gelegene Stadt Mekka das Zuhause Abrahams
gewesen sein sollte – dazu ohne Erwähnung von Hagar und Ismael. Aus ei-
ner späteren islamischen Quelle, aṭ-Ṭabarī, deren Geschichtstauglichkeit
undeutlich ist, hören wir über Ibn az-Zubayr, dass er 683, während der
zweiten Fitna, das bestehende Heiligtum12 zu Mekka zerstört:
„Gemäß Muḥammad ibn ’Umar al-Wāqidī – Ibrāhīm ibn Mūsā –
Ikrimah ibn Ḫālid: Ibn az-Zubair zerstörte das Heiligtum, bis er es
dem Erdboden gleichgemacht hat, und er grub sein Fundament aus
… Er stellte den schwarzen Eckstein in seiner Nähe auf, gewickelt in
Seide in einer Lade [tabut].“13
Dieselbe Quelle behauptet zum darauf folgenden Jahre (684):
„Gemäß Isḥāq ibn Abī Israʾīl – ’Abd al-Azīz ibn Ḫālid ibn Rustam
as-Sananī Abū Muḥammad: Ziyād ibn Ğijal erzählte er mir, dass er
in Mekka zugegen war am Tage, als Ibn az-Zubayr überwältigt
wurde, und hörte ihn sagen: ‚Meine Mutter Asma bint Abī Bakr sagte
mir, dass der Botschafter Gottes zu ʿĀ'iša gesagt hat: „Wäre es nicht
so, dass Dein Volk bis vor kurzer Zeit im Unglauben verkehrte, wür-
de ich die Kaʿba auf den Fundamenten Abrahams wiederherstellen

missum interficit et sapientissimo more civilia bella preliando reconprimit.“


12 Die Kaʿba soll als Muhammad noch ein Junge war, also der Überlieferung zufolge
im frühen siebten Jahrhundert durch einen Brand zerstört und danach durch die
Angehörige der Qurayš wiederaufgebaut worden sein, vgl. Al-Azraqī, Kitāb Aḫ-
bār Makka, apud F. Wüstenfeld, Chroniken, Bd. I (Leipzig, 1858), S. 67, deutsche
Zusammenfassung bei Wüstenfeld, Chroniken, Bd. IV (Leipzig, 1861), § 109.
13 Abū Ğa‘far Muḥammad ibn Ğarīr aṭ-Ṭabarī Tārīḫ (Leiden, 1879-1901), Bd. XX,
537, S. 123. Vgl. auch Wüstenfeld, Chroniken iv, §§134f.
Die blauen Blumen von Mekka 63

und würde ich den Stein (Ḥiğr) zur Kaʿba überführen.“‘ Ibn az-
Zubayr erteilte den Befehl, und er wurde ausgegraben, und sie fan-
den Felsen so groß wie ein Kamel. Sie versetzten einen Stein, und ein
großes Licht erschien. Sie stellten ihn auf seinem Fundament wieder
her, und Ibn az-Zubayr machte einen Neubau mit zwei Türen – eine
als Eingang und die andere als Ausgang.“14
Hier dann, mitten im zweiten islamischen Bürgerkrieg, im Aufstand gegen
die von Damaskus aus herrschenden Umayyaden, wird berichtet, Ibn az-
Zubayr – angeblich zurückgreifend auf eine Überlieferung des Propheten –
habe die Fundamente des Heiligtums von Abraham entdeckt und in Ehre
wieder hergestellt. Etwas später, für das Jahr 80 a.H., berichtet aṭ-Ṭabarī, Ibn
az-Zuhayr habe große Zahlen von Kamelen, Eseln und Gepäck gekauft,
wohl um so seine Anhänger nach Mekka zu bringen. Allem Anschein nach
handelt es sich hier um eine Innovation Aufständischer, da – wie ich in
meinem letzten Inârah-Vortrage deutlich gemacht habe – zu jener Zeit die
Qibla früher Moscheen in allerlei Richtungen wies, nur nicht in Richtung
Mekka – erstmals wird dies bei der sogenannten Zitadel-Moschee zu
Amman gefunden, die im Jahre 82 a.H. erbaut wurde. Dass die Richtung der
Qibla verändert wurde, findet anscheinend in Sure 2: 142-147 Erwähnung,
z. B. 142:

‫ﻮل ﻋَﻠَ ْﻴ ُ ْﲂ ﺷَ ﻬِﻴﺪً ا ۗ◌ َو َﻣﺎ‬ ُ ‫ﻮن َّاﻟﺮ ُﺳ‬َ ‫َو َﻛ َﺬ ِ َكل َﺟ َﻌﻠْﻨَ ُ ْﺎﰼ ُٔا َّﻣ ًﺔ َو َﺳ ًﻄﺎ ِﻟ ّ َﺘ ُﻜﻮﻧُﻮا ُﺷﻬَﺪَ َاء ﻋَ َﲆ اﻟﻨَّ ِﺎس َوﻳَ ُﻜ‬
َ ‫َﺟ َﻌﻠْﻨَﺎ اﻟْ ِﻘ ْﺒ َ َةل اﻟ َّ ِﱵ ُﻛ‬
‫ﻨﺖ ﻋَﻠَﳱْ َﺎ ا َّﻻ ِﻟﻨَ ْﻌ َ َﲅ َﻣﻦ ﻳَﺘ َّ ِﺒ ُﻊ َّاﻟﺮ ُﺳﻮ َل ِﻣ َّﻤﻦ ﻳَﻨ َﻘ ِﻠ ُﺐ ﻋَ َ ٰﲆ َﻋ ِﻘ َﺒ ْﻴ ِﻪ ۚ◌ َوان َﰷﻧ َْﺖ‬
ِٕ ِٕ
ُ َّ ‫ﻟَ َﻜﺒ َِﲑ ًة ا َّﻻ ﻋَ َﲆ َّ ِاذل َﻳﻦ ﻫَﺪَ ى ا َّ ُهلل ۗ◌ َو َﻣﺎ َﰷ َن‬
َ َّ ‫اهلل ِﻟ ُﻴ ِﻀﻴ َﻊ اﳝَﺎﻧَ ُ ْﲂ ۚ◌ ا َّن‬
‫اهلل ِابﻟﻨَّ ِﺎس ﻟَ َﺮ ُء ٌوف َّر ِﺣ ٌﲓ‬
ِٕ ِٕ ِٕ
„Und so haben Wir euch zu einer Gemeinschaft der Mitte gemacht,
damit ihr Zeugen über die (anderen) Menschen seiet und damit der
Gesandte über euch Zeuge sei. Wir hatten die Gebetsrichtung, die du
einhieltest, nur bestimmt, um zu wissen, wer dem Gesandten folgt
und wer sich auf den Fersen umkehrt. Und es ist wahrlich schwer
außer für diejenigen, die Allah rechtgeleitet hat. Aber Allah läßt
nicht zu, daß euer Glaube verloren geht. Allah ist zu den Menschen
wahrlich gnädig, barmherzig.“ [Bubenheim und Elyas]

14 Aṭ-Ṭabarī, Bd. XX, 592, S. 176. Vgl. auch Al-Azraqī, Kitāb Aḫbār Makka, apud
Wüstenfeld, Chroniken, Bd. I, S. 143, und ʿAbd ar-Razzaq, Muṣannaf Bd. V, S.
9157. Vgl. auch Wüstenfeld, Chroniken IV, §§135-136.
64 Robert Kerr

Dies wird auch von aṭ-Ṭabarī angedeutet: Im Jahre 71 a. H. soll die Stadt
Kūfa gegen die Umayyaden rebelliert und sich Ibn az-Zubayr angeschlossen
haben. „Jene, die dieselbe Qibla gebrauchen wie wir.“15 Um diese Zeit
wurden, diesen späteren Berichten zufolge, Schilder, die auf die korrekte
Gebetsrichtung hinwiesen, in den Moscheen aufgestellt. Dass dies eine
Innovation sein dürfte, geht aber auch deutlich hervor aus der Tatsache,
dass die Qibla in Moscheen der später nach Spanien geflüchteten Umay-
yaden auch nicht in Richtung Mekkas weisen: Die Moschee der Ribat-
Festung zu Susa (Tunesien) aus dem Jahre 770 besitzt eine gen Süden
weisende Qibla, ebenso wie die berühmte 784 erbaute Mezquita von
Córdoba, während alle nach 132 a. H. erbauten Moscheen der ʿAbbāsiden
eine Gebetsrichtung nach Mekka aufweisen. Dass die Richtung der Qibla
verändert wurde, geht auch aus islamischen Überlieferungen hervor, wie z.
B. al-Buḫārī, der berichtet, Muhammad habe angeblich seinen Anhängern
aufgetragen, in Richtung von Syrien bzw. gen „Šām“ (‫ )ش ام‬zu beten also
wortwörtlich „nordwärts,“ was eigentlich hier die Stadt Damaskus andeu-
tet16 bzw. die Richtung nach Jerusalem.17

15 Ders., XXI, 107, S. 112. Archäologisch unterstützt wird dies durch die Tatsache,
dass der Bau von Moscheen im Negev, der erst am Ende des 7. und des 8. Jhdts.
in Gang kommt, und dann meistens außerhalb von Städten (vgl. Anm. 112), eine
Gebetsrichtung gen Süden aufweisen, vgl. G. Avni, „Early Mosques in the Negev
Highlands: New Archaeological Evidence on Islamic Penetration of Southern
Palestine,“ Bulletin of the American Schools of Oriental Research 294 (1994), S. 83-
100, bes. Tafel i (S. 95). Einen Hinweis auf die hier beschriebene Veränderung der
Qibla bieten anscheindend die Ruinen der frühen offenen Moschee zu Be’er Ora
(im südlichen ‘Arava-Tale, zirka 20 km nördlich von Eilat), in der der Mihrab
ursprünglich ostwärts wies und nachträglich Richtung Süden verändert wurde,
vgl. ders., „From Standing Stones to Open Mosques in the Negev Desert: The
Archaeology of Religious Transformation on the Fringes“ Near Eastern
Archaeology 70 (2007), S. 133.
16 „Während einige das Morgengebet zu Quba’ machten, kam ein Mann zu ihnen
und sagte: ‚Ein koranischer Befehl wurde Gottes Jünger offenbart, heute Abend
soll er in Richtung der Kaʿba zu Mekka (beten), ihr solltet auch eure Gesichter
ihr zuwenden. Zu jener Zeit aber beteten sie nordwärts‘ [d. i. Šām], aber danach
beteten sie in Richtung der Kaʿba [zu Mekka?],“ Ṣaḥīḥ al-Buḫārī Ḥadīṯ 6:17.
Dass mit Šām bei al-Buḫārī hier die Stadt Damaskus gemeint ist, geht deutlich
hervor aus einem anderen Hadith, worin er Šām als Machtzentrum Marwāns an-
deutet: „Als Ibn Ziyād und Marwān in Šām waren und Ibn az-Zubayr die Macht
übernahm in Mekka und die Qurra’ [also die Ḫārijiten] in Aufstand kamen in
Baṣra, ging ich zusammen mit meinem Vater zu Abū Barza al-Aslamī ... Wir
Die blauen Blumen von Mekka 65

Aus dieser, aus Platzgründen sehr knappen, Schilderung, geht deutlich her-
vor, dass die Qibla zu Mekka erst später zum Fokus islamischer Gebete ge-
macht wurde und allem Anscheine nach sich erst in ʿAbbāsidischer Zeit of-
fiziell durchsetzte. Dass die geflüchteten Umayyaden im fernen Spanien eine
andere Gebetsrichtung anhielten, deutet auch auf Mekka als eine Inno-
vation.18 Hinzu kommt die Tatsache, dass Mekka auch in späterer Zeit nicht
von allen Gläubigen akzeptiert wurde: Im zehnten Jahrhundert propagierten
Šīʿa Ismaʿīlī-Gruppen, dass die Pilgerfahrt nach Mekka sich nur auf Aber-
glauben stütze. In 899 übernahmen die Qarmāṭen in Bahrain die Macht und
versuchten, die Pilgerreise von Muslimen gen Mekka zu unterbinden: Ab
906 fielen sie Pilgerkaravanen an, in 926 verwüsteten sie Mekka, entweihten
den Zamzam-Brunnen mit den Leichen ihn besuchender Pilger und nah-
men den schwarzen Stein zu ihrer Hauptstadt al-Hasa mit. Ihr neuer in 931
mit mahdi-haften Zügen gewählter Kalif führte viele Änderungen ein, auch
dass man künftig mit dem Gesicht zum Feuer weisend beten soll – da die
ursprüngliche Qibla in Vergessenheit geraten war. In jedem Falle fielen in
dieser Zeit die Pilgerfahrten nach Mekka aus und erst 952 konnten die

setzten uns zu ihm und fingen ein Gespräch mit ihm an: ‚O Abū Barza! Siehst Du
nicht, in was für einem Dilemma Dein Volk sich jetzt befindet?‘ Der erste hörte
ihn sagen: ‚Ich suche die Belohnung Gottes, weil ich zornig und den Stamm der
Qurayš missachte. Ihr Araber, ihr wisst wohl, ihr waret im Elend, in geringer
Anzahl und zudem irregeleitet, und dass Gott euch hieraus mit dem Islam erlöste
und Muhammad euch diesen Zustand [des Wohlstandes], den ihr jetzt erlebt,
beschert hat. Es ist gerade diese Welt des irdischen Reichtums und irdischer
Genüsse, die diesen Unmut unter Euch verbreitet hat. Der, der sich zu Šām be-
findet (d.i. Marwān) kämpft wahrlich nur für weltlichen Gewinn, und eure Mit-
streiter kämpfen wahrlich nur für weltlichen Gewinn, und derjenige in Mekka [d.
i. Ibn az-Zubayr] kämpft wahrlich nur für weltlichen Gewinn;“ Ṣaḥīḥ al-Buḫārī
Ḥadīṯ 9:228.
17 „Wir beteten zusammen mit dem Propheten sechzehn oder siebzehn Monate
lang in die Richtung Jerusalems. Dann befahl Gott ihm sein Gesicht in die Rich-
tung der Qibla zu wenden: ‚Und wenn du jetzt betest, so wende dein Gesicht in
die Richtung von al-Masğid al-ḥaram‘“ (vgl. 2.149), Ṣaḥīḥ Al-Buḫārī Ḥadīṯ 6:19.
18 Nachdem 692, im Auftrage von ʿAbd al-Malīk ibn Marwān, al-Haǧğāğ ibn Yūsuf
Mekka erobert hatte, ließ er die von Ibn az-Zubayr vorgenommenen baulichen
Veränderungen an der Kaʿba wieder rückgängig machen. Später aber soll ʿAbd
al-Malīk, als ihm al-Ḥāriṯ ibn ʿAbdallāh, ein früherer Statthalter von Ibn az-
Zubayr in Baṣra, die Echtheit der Äußerung der ʿĀʾiša, auf die sich Ibn az-Zubayr
berufen hatte, bestätigte, al-Haǧğāğs Umbau bedauert haben (vgl. Wüstenfeld,
Chroniken Bd. IV §145).
66 Robert Kerr

ʿAbbāsiden für ein Vermögen den Schwarzen Stein freikaufen. Hiernach, bis
zu ihrem endgültigen Untergang im Jahre 976, waren die Qarmāṭen
großenteils mit internen Angelegenheiten beschäftigt.
Hier sehen wir wieder, daß Mekka erst eindeutig und offiziell zum heili-
gen Ort des Islam in ʿAbbāsidischer Zeit erkoren wurde, was aber nicht bei
allen Gläubigen Zustimmung fand, was wiederum ein Hinweis einer späte-
ren Neuerung ist. Interessant dabei, und später in dieser Auseinander-
setzung wichtig, ist die Tatsache, dass die Wahl Mekkas in der islamischen
Traditionsliteratur vorgetragen wurde von Gegnern der von Damaskus aus
herrschenden Umayyaden-Dynastie. Dass die Umayyaden den Ruf, schlech-
te Muslime zu sein, besaßen, ist ja bekannterweise tief in der islamischen
Überlieferungslieratur verwurzelt, eine Meinung, die aber auch aus zeit-
genössischen Quellen hervorgeht. 19 Die Marionitische Chronik z. B.
berichtet:
„Im achzehnten Jahre [661] des Konstans [II], versammelten sich
viele Araber zu Jerusalem und machten Muʿāwiya zu ihrem König,20

19 Der Übergang von der byzantinischen zur umayyadischen Herrschaft hat in den
materiellen Kulturhinterlassenschaften keine Spuren hinterlassen, die angebliche
„Eroberung“ Syrien-Palästinas vom Ḥiǧāz aus bleibt ein literarisches Ereignis
ideologisch motivierter Schriften, der Bruch kam erst in der Abbasidenzeit. Vgl.
auch Walmsley, a.a.O. S. 47; „Led by its cities, Syria-Palestine passed quietly and
almost willingly without even the slightest whisper into a new and momentous
period, the significance of which was neither recognized nor appreciated at the
time.“
20 In zeitgenössischen nichtarabischen Quellen wurde Muʿāwiya häufig unislamisch
als „König“ bezeichnet, z. B. die Continuatio byzantia arabia §26 (S. 344): „Mo-
habia Sarracenorum rex...“ – vgl. auch Anm. 22. Man könnte sich fragen, ob die
Wahl von Damaskus als Hauptsitz der Umayyaden mit beeinflusst war von der
von Nikolaus von Damaskus überlieferte Tradition (apud Eusebius, Præparatio
evangelica ix.16), dass Abraham hier einst als König geherrscht haben sollte und
noch zu seiner Zeit an diesem Ort verehrt wurde. Dies scheint auch für die
Negev-Wüste (vgl. Anm. 112) jener Zeit zu gelten, s. Y. D. Nevo and J. Koren,
„The Origins of the Muslim Descriptions of the Jahir Meccan Sanctuary,“ Journal
of Near Eastern Studies 49 (1990), S. 23ff. Was aber unter dem Begriff rex in
diesen Beschreibungen genau vorzustellen wäre, bleibt undeutlich – so bezeich-
nete schon Childerich I., der Sache nach wohl als ein spätrömischer Söldner-
führer zu betrachten, sich selber als solchen, was aber zu jener Zeit wohl nicht
ohne Weiteres mit „König“ übersetzt werden kann. Muʿāwiyas mekkanische
Abstammung scheint ebenso historisch zu sein wie die der Merowinger von dem
Quinotaurus-ähnlichen bistea Neptuni.
Die blauen Blumen von Mekka 67

und er ging hinauf und saß bei Golgatha [die Begräbniskirche], wo er


betete; danach ging er nach Gethsemane und stieg hinab zum Grabe
der heiligen Maria, wo er gebetet hat.“
Wahrlich Handlungen, die von einem orthodoxen Muslim keinesfalls zu er-
warten waren. Eine vergleichbare nichtislamische Beschreibung geht hervor
aus den Nomina regionum atque locorum de actibus apostolorum des angel-
sächsischen Benediktinermönches Beda Venerabilis:21
„Damascus nobilis urbs Fœnicis quæ et quondam in omni Syria te-
nuit principatum et nunc Sarracenorum metropolis esse perhibetur,
unde et rex eorum Mauuias famosam in ea sibi suæ que genti basi-
licam dicavit, Christianis in circuitu civibus baptistæ Iohannis eccle-
siam frequentantibus.“22
In seiner Schrift De locis sanctis (17) 23 bietet Beda eine vergleichbare
Beschreibung:
„Ubi dum Christiani sancti baptistæ Iohannis ecclesiam frequentant,
Saracenorum rex cum sua sibi gente aliam instituit atque sacravit.“
In demselben Werk (2,3) finden wir auch eine Beschreibung des Tem-
pelberges zu Jerusalem:
„In inferiore vero parte urbis, ubi templum in vicinia muri ab oriente
locatum ipsi quæ urbi transitu pervio ponte mediante fuerat con-
iunctum, nunc ibi Saraceni quadratam domum subrectis tabulis et
magnis trabibus super quasdam ruinarum reliquias vili opere con-
struentes oratione frequentant, quæ tria milia hominum capere
videtur.“24

21 Ausgabe M. Laistner, Corpus Christianum, Scriptores Latini 121 (Turnhout,


1983), S. 165-178. Beda war nie in Syro-Palästina. Die Quelle seiner Beschrei-
bungen ist hier De locis sanctis des Adomnán, des Hauptes des Ionaklosters, der
seine Auskünfte wiederum zum Teil aus dem Bericht des gallischen Bischofs und
Pilgers während der Herrschaft Muʿāwiyas (661-680), Arkulf, entnahm.
22 „Damaskus: Edle Stadt der Phönizier, die einst ganz Syrien beherrschte und jetzt,
wie gesagt wird, die Metropolis der Sarazenen ist, wo ihr König Muʿāwiya eine
berühmte Basilika für sich selbst und für sein Volk errichtete, während die in der
Umgebung der Stadt wohnenden Christen gewöhnlich die Kirche Johannes des
Täufers gebrauchen.“
23 Ausgabe J. Fraipont, Corpus Christianum, Scriptores Latini 175 (Turnhout,
1965), S. 245-280.
24 „Aber im unteren Teil der Stadt, wo sich der Tempel befand, nahe der östlichen
Mauer und mit der Stadt durch eine Brücke, die als Durchgang für sie diente,
verbunden, versammeln sich jetzt die Sarazenen zum Gebet. Dort haben sie ein
68 Robert Kerr

Während Beda in seiner ersten Beschreibung der Stadt Damaskus sagte,


Muʿāwiya habe eine „Basilika“ für sich und die Seinen gebaut,25 spricht er in
der Zweiten vom selben Bauwerk als einer „Kirche“ (ecclesia) – im Gegen-
satz zu seiner Quelle Adomnán, in der der Umayyadenmoschee als „Kirche
der Ungläubigen“ (ecclesia incredulorum) bezeichnet wird; seine Beschrei-
bung des Felsendoms ist neutraler: Er ist ein „Haus“ (domus), das zum
„Gebet“ (oratio)’ dient – hier scheint er bewusst das Bauwerk als weder
christlich (ecclesia) noch als jüdisch (synagoga) oder heidnisch (templum,
fanum) zu beschreiben.26 Aber der Gebrauch eigener Gebetshäuser, wie hier
beschrieben, einschließlich jener mit „falscher“ Qibla, kann nicht als ein
Hinweis auf einen gänzlich neuen Gottesdienst genommen werden: Der
theologischen Streitigkeiten wegen fingen christliche Strömungen, die ein-
ander verketzerten, an, eigene Bischöfe zu wählen, einander den Zugang zur
Eucharistie zu verbieten und für ihre Glaubensauffassung eigene geweihte
Kirchen zu bauen; in Nordafrika hatten zumindest ab dem vierten Jahr-
hundert Donatisten und Orthodoxe eigene Kirchen und Bischöfe, im fünf-
ten während der Vandalenherrschaft kamen solche der Arianer hinzu. Der
zeitgenössische Leser Bedas, der die Araberherrschaft kannte, aber den
Islam nicht (vgl. Anm. 132), konnte nur gedacht haben, dass Muʿāwiya und
seine Anhänger in irgendeinem Verhältnis zum Christentum standen. Dies
stimmt mit dem Augenzeugenbericht der Erbauung des Felsendoms (vgl.
Anm. 102) des syrischen Mönchs Anastasius von Sinai überein, der die von
„ʿAbd al-Malik [ibn Marwān] und seinen Sarazenen“ erbaute Struktur als
bētā d-allāhā, also als ein „Haus Gottes,“ bezeichnete und nur Kritik übte –

schlecht konstruiertes, viereckiges Haus mit senkrechten Planken und großen


Balken über bestimmte Teile der Ruinen gebaut. Man sagt, es kann drei tausend
Menschen aufnehmen.“
25 Interessant hierbei ist die Wahl des aramäischen Lehnworts ‫ – مسجد‬masǧid
„Moschee“ seitens des Islam. In der Gebersprache wird das Lexem eigentlich für
nichtchristliche und nichtjüdische Gebetsstätten gebraucht (vgl. R. M. Kerr,
„Aramaisms in the Qur’ān and their Significance,“ in Ibn Waraq [Hg.],
Christmas in the Qur’ān [New York, 2014], § 6.3). In Schivta ist eine frühe
Moschee aus dem 8. Jh belegt, die unmittelbar neben der sog. Südkirche erbaut
wurde und gleichzeitig benutzt wurde – vgl. die in Anm. 112 angegebene
Literatur.
26 Vgl. J. V. Tolan, „A Wild Man, Whose Hand Will Be Against All: Saracens and
Ishmaelites in Latin ethnographical traditions, from Jerome to Bede,“ in: W. Pohl,
C. Ganter and R. Payne (Hg.), Visions of Community in the Post-Roman World.
The West, Byzantium and the Islamic World, 300-1100 (Surrey, 2012), S. 526f.
Die blauen Blumen von Mekka 69

unter Einfluß der Apokalypse des Pseudo-Methodius –, weil das Bauwerk


nicht der neue Tempel sein konnte und der Bauherr, ʿAbd al-Malik ibn
Marwān, nicht der neue Alexander war – beide Vorzeichen der Endzeit und
der Wiederkehr Christi in seiner Vorstellung.
So viel ist inzwischen deutlich: die Umayyaden waren keine Muslime im
herkömmlichen Sinne des Wortes und konnten dies wohl genau so wenig
sein wie Christus ein Christ oder Luther ein Lutheraner waren: Dass Muʿā-
wiya sich als Ἀμήϱα Ἀλμουμενὴν/ ‫ امير المومنين‬amīr al-muʾminīn behauptete,
ist offensichtlich, uneindeutig bleibt aber die Frage, um welche Gläubigen es
sich gehandelt haben sollte. Dass, wie wir gesehen haben, die Befürworter
Mekkas als heilige Stadt mitsamt dem Heiligtum der Kaʿba erst spät und nur
in Opposition zu den Umayyaden in Erscheinung treten, ist bedeutend, be-
sonders da die sakrale Geographie der Umayyaden, wie die der römischen
Kaiser seit Konstantin, sich hauptsächlich auf Schauplätze der biblischen
Heilsgeschichte in Syro-Palästina beschränkte. Bei den Befürwortern von
Mekka als der heiligen Stadt findet sich scheinbar eine radikale Abweisung
umayyadischer theologischer Vorstellungen.

3. Traditionen um Mekka
Die Identifikation Mekkas als Stadt des Propheten Muhammad beruht
ausschließlich auf Angaben der späteren islamischen Traditionsliteratur:
„Mekka“ selber wird bekannterweise im Koran nur einmal erwähnt, in Sure
48,23, ohne dass aber deutlich wird, was gemeint sein soll:

‫َﻨﲂ َو َٔاﻳْ ِﺪﻳَ ُ ْﲂ َﻋﳯْ ُﻢ ِﺑ َﺒ ْﻄ ِﻦ َﻣﻜَّ َﺔ ِﻣ ۢﻦ ﺑ َ ْﻌ ِﺪ َٔا ْن َٔا ْﻇ َﻔ َﺮُ ْﰼ ﻋَﻠَﳱْ ِ ْﻢ ۚ َو َﰷ َن‬
ْ ُ ‫َوﻫ َُﻮ ا َّ ِذلى َﻛ َّﻒ َٔاﻳْ ِﺪﳞَ ُ ْﻢ ﻋ‬
‫ﻮن ﺑ َ ِﺼ ًﲑ‬ َ ُ‫ا َّ ُهلل ِﺑ َﻤﺎ ﺗَ ْﻌ َﻤﻠ‬
„Und Er ist es, Der im Talgrund von Makka ihre Hände von euch
und eure Hände von ihnen zurückgehalten hat, nachdem Er euch
den Sieg über sie verliehen hatte. Und Allah sieht, was ihr tut, wohl.“
Zudem wird in 3,95 ein Ort „Bakka“ erwähnt, wo das erste durch Gott
bestimmte Gebäude (des Gebetes?) gewesen sein soll:

‫ا َّن َٔا َّو َل ﺑَﻴ ٍْﺖ ُو ِﺿ َﻊ ِﻟﻠﻨَّ ِﺎس ﻟ َ َّ ِذلى ِﺑ َﺒﻜَّ َﺔ ُﻣ َﺒ َﺎر ًﰷ َوﻫُﺪً ى ِﻟّﻠْ َﻌ ٰـﻠَ ِﻤ َﲔ‬
„Das erste (Gottes)haus, das für die Menschen gegründet wurde, ist
ِٕ
wahrlich dasjenige in Bakka, als ein gesegnetes (Haus) und eine
Rechtleitung für die Weltenbewohner.“
70 Robert Kerr

Bakka wird gelegentlich, eigentlich nur der phonetischen Übereinstim-


mung, vielleicht auch wegen der Erwähnung von Wasser, in Verbindung
gebracht mit dem in Psalm 84, 6 beschriebenen „Tränental“27 (Septuaginta:
κοιλάδη τοῦ κλαυϑμῶνος):
‫מוֹרה׃‬
ֽ ֶ ‫שׁ ֑יתוּהוּ גַּם־ ֝ ְבּ ָר ֗כוֹת יַע ֶ ְ֥טה‬
ִ ְ ‫ע ֹ ְב ֵ ֤רי בּ ֵ ְ֣ע ֶמק ֭ ַה ָבּכָא ַמ ְע ָי֣ן י‬
„Wenn solche durch das Jammertal gehen, machen sie es zu lauter
Brunnen, und der Frühregen bedeckt es mit Segen.“ [Schlatter]
Sowohl die Bibel wie der Koran machen hier keine näheren Angaben bezüg-
lich der Verortung dieses Platzes.28 Überhaupt ist der Koran sehr sparsam

27 So die Eberfelder-Übersetzung. Die Auslegung dieses hebräischen Wortes ist un-


deutlich, auch die vermeintliche Ableitung des hebräischen Nomens ‫( ָבּכָה‬bāḵāh)
von der Wurzel √bkh „weinen.“ Andere Übersetzungen, wie z. B. die englische
„Autorisierte Version“ legen es als Ortsnamen aus: „The valley of Baca;“ Ségond:
„La vallée de Baca.“
28 Interessanterweise wird in der samaritanischen, als Midrasch geschriebenen ara-
mäischsprachigen Chronik ’Asaṭīr (‫ ;ספר אסטיר‬vgl. die modern-hebräische Aus-
gabe Z. Ben-Ḥayyim, Tarbīṣ 14 [1943], S. 104–125, 174–190; 15 [1944] S. 71–87,
128; veraltete englische Bearbeitung M. Gaster, The Asatir, the Samaritan Book of
the Secrets of Moses [London, 1927]), die die Weltgeschichte von der Schöpfung
bis Moses, der den Samaritaner zu Folge zugleich ihr Autor ist, erzählt: (viii.1-3)
„Nach dem Tode Abrahams, herrschte Ismael siebenundzwanzig Jahre; Und alle
Kinder Neba[j]oths herrschten während Ismaels Leben ein Jahr lang; Und nach
seinem Tode, vom Fluss Ägyptens bis zum Fluss Euphrat für dreißig Jahren –
und sie bauten Mekka“ ( ‫בתר מות אברהם מלך ישמעאל כ׃וז׃ שנה וכל בניו דנבאות מלכו‬
‫)ביומי ישמעאל שנה חדה ובתר מותה ל׃ שנה מנהר מצרים עד נהר פרת ׃ ובנו מכה‬. Im
ursprünglich arabischen „Targum“ Pitrōn (‫ ;פתרון‬Für Gaster ins Hebräische
übersetzt und von ihm a. a. O. S. ‫ כג‬herausgegeben) wird wohl die ursprüngliche
Lesung, Bâkah, bewahrt: ‫ויבנו את באכה‬. Das letztgenannte Werk (vgl. Gaster a.a.O.
S. 171-173) geht auf eine sehr alte Überlieferung zurück, und bei der
Übersetzung wurde eindeutig kein Versuch unternommen, unverständliche
Passagen zu verdeutlichen bzw. Anachronismen anzupassen bzw. wegzulassen
bzw. der späteren Auslegungstradition anzugleichen (deutlich sichtbar bei seiner
Wiedergabe der Geburt Mosis und bei seiner letzten Prophetie; zudem ist es
auffallend antichristlich, was auch für ein hohes Alter dieser Überlieferung sprä-
che). Allem Anschein nach gab es also bei den Samaritanern eine alte Tradition
des Baus eines Ortes namens Bâkah durch die Kinder Nebajoth’s, die Kleinkinder
Ismaels, die dann wohl in späterer Zeit, wohl der Lautähnlichkeit und Bekannt-
heit mit der islamischen Überlieferung wegen mit „Mekka“ interpretiert wurde.
Die samaritanische Bâkah-Überlieferung ist vor allem auffallend, weil die
„Bibel“ dieser jüdischen Gruppierung nur aus dem Pentateuch besteht. Hier
wiederum stoßen wir auf das Problem der Datierung nichtislamischer Quellen
Die blauen Blumen von Mekka 71

mit der Nennung geographischer Orte, und eine etwaige Verbindung mit
Mekka geht nicht selber aus den Ayas hervor, die die Geschehnisse in
diesem Ort angeblich schildern, wie etwa Sure 2, 127:

َّ ‫اﻟْ َﻌ ِﻠ ُﲓ َوا ْذ ﻳَ ْﺮﻓَ ُﻊ ِٕا ْﺑ َﺮا ِﻫ ُﲓ اﻟْ َﻘ َﻮا ِﻋﺪَ ِﻣ َﻦ اﻟْ َﺒﻴ ِْﺖ َوا ْ َﲰﺎ ِﻋﻴ ُﻞ َرﺑَّﻨَﺎ ﺗَ َﻘﺒَّ ْﻞ ِﻣﻨَّﺎ ۖ ِٕاﻧ ََّﻚ َٔا َﻧﺖ‬
‫اﻟﺴ ِﻤﻴ ُﻊ‬
„Und (gedenkt,) als Ibrahim die ِٕ Grundmauern des Hauses errich- ِٕ
tete, zusammen mit Ismail, (da beteten sie): ‚Unser Herr, nimm (es)
von uns an. Du bist ja der Allhörende und Allwissende.‘“
Der Koran mit seinen nur spärlichen Verortungsangaben bringt uns in un-
serer Suche nach den Ursprüngen von Mekka als eine heilige Stadt nicht
weiter. Hier erfahren wir nur, was in der Hebräischen Bibel keine ausdrück-
liche Erwähnung findet: Dass Abraham zusammen mit Ismael ein Haus –
wohl eine Art Altarstätte, wie sie Abraham häufig der jahwistischen Gene-
sisüberlieferung zufolge29 – erbaute. Der außerbiblischen Baulegende wid-

(vgl. Anm. 57). Obwohl die Überlieferung viel älter sein muss, hat Ben-Ḥayyim
anhand des vermeintlich arabischen Einflusses seine jetzige Fassung um den
Anfang des 11. Jhs. n. Chr. datiert (a.a.O. S. 109-112; Gasters Datierung 250-200
v. Chr. [a.a.O. 168-163], obwohl veraltet, könnte für den Überlieferungskern
zutreffen). Später aber stellte er fest, dass nicht alles, was er einst für arabischen
Einfluss, besonders im Bereich der Syntaxis, ansah, wirklich auf diesen zurück-
zuführen war, sondern authentische aramäische Erscheinungen seien (ders., The
Literary and Oral Tradition of Hebrew and Aramaic Amongst the Samaritans
(hebräisch), Bd III/2, S. 17, Anm. 28). Anhand unseres heutigen Kenntnisstandes
ist die Gefahr von Zirkelschlüssen und Ignotum-per-Ignotas-Argumenten im-
merwährend, und die Mahnung M. Florentins ist zu beherzigen: „One of the
most important questions at the heart of the lexical discussion in this research is
the affinity between „Hybrid Samaritan Hebrew“ and the other Samaritan texts.
This is especially pertinent with regard to the Aramaic texts, Tībåt Mårqe, the
Samaritan Targum and the Book of Asatir. The precise date that these three
treatises were written is unknown, and their editors and commentators have
hypothesized the date based on assumptions and deliberation. They have deter-
mined the dates that these works were written by comparing them to what is
considered as known. In the absence of explicit evidence as to when the treatise
in question was written, this is indeed the best alternative. In general, scholars
have accepted the conclusions regarding the dates of these treatises. However,
without explicit evidence, we cannot ignore additional evidence that could
provide further clarification of this issue“ (Late Samaritan Hebrew. A Linguistic
Analysis of its Different Types [Leiden, 2005], S. 167).
29 Vgl. Gen. 12, 7, 8; 13, 4, 18; und natürlich 22, 9. Nach der Priesterschrift baute
Abraham keine Opferplätze, weil in dieser Vision dies nur dem späteren Tempel
von Jerusalem vorbehalten war.
72 Robert Kerr

men wir gleich unsere Aufmerksamkeit. Zunächst aber schauen wir nach
der Wiederentdeckung der oben erwähnten „Fundamente Abrahams“ und
der Kaʿba – mitsamt dem Zamzam (‫)زﻣﺰم‬, jenem Brunnen, den Gott hier
einst entspringen ließ, um angeblich die durch Abraham in die Wüste ver-
triebenen Hagar und Ismael (vgl. Gen. 21,19) zu tränken, der scheinbar
irgendwann in der dazwischenliegenden Zeit verloren gegangen war.30 Der
einen Überlieferung zufolge wurde die Quelle verborgen bzw. verschwand
der Sünden des Stammes Ğurhum (‫ )ﺟﺮﻫﻢ‬wegen, der damals im Besitz der
Stadt und des Zamzam-Heiligtums (‫ )وﻻﻳﺔ اﻟﺒﻴﺖ‬war – dieser Stamm siedelte
hier der Überlieferung zufolge zusammen mit den Qaṭūra (vgl. Anm. 54)
Genannten nach dem Tode der Hagar– und zur selben Zeit aus der Stadt
vertrieben wurde. Nebst dem Zamzam kennt die islamische Überlieferung
aber auch eine Tradition über eine trockene Grube in der Kaʿba selber, den
sogenannten „Brunnen der Kaʿba.“ Hier kennt der Islam eine Fülle von Er-
zählvarianten: Es gibt, wie wir gleich sehen werden, keine einheitliche Über-
lieferung. Dies gilt auch für die islamischen Berichte zur Wiederentdeckung
des Heiligtums durch den vermeintlichen Großvater des Propheten ʿAbd al-
Muṭṭalib, dem im Traum, so die Erzählungen, der Ort des Zamzams offen-
bart wurde. Undeutlich ist, ob diese Erzählungen ursprünglich mit dem
Zamzam in Verbindung standen: In manchen Darstellungsvarianten der
Geschehnisse wird tatsächlich der Name Zamzam erwähnt, was aber besser
als eine sekundäre Einfügung aufgefasst werden sollte, da in anderen Ver-
sionen ʿAbd al-Muṭṭalib befohlen wird, etwas, verschiedentlich Ṭayba bzw.
Ṭība, Barra, al-Maḍnūna, Ḫabi’at aš-Šaiḫ genannt, auszugraben.31 Es ist
nicht deutlich, was hier gemeint wird, noch wie diese mysteriösen Namen
mit Zamzam in Verbindung stehen. Dies wird deutlich in der Überlieferung
Ibn Hišāms, die von Ibn Isḥāq stammen soll, in der ʿAbd al-Muṭṭalib vier
verschiedene Träume gehabt haben soll – wobei in den ersten drei der zu
entdeckende Gegenstand jeweils als Ṭayba, Barra, und al-Maḍnūna genannt

30 In diesen Ausführungen stütze ich mich z. T. auf die Angaben von G. R. Hawting,
„The Disappearance and Rediscovery of the Zamzam and the ‚Well of the
Kaʿba‘“ in: Bulletin of the School of Oriental and African Studies 43 (1980), S. 44-
53.
31 Al-Azraqī, Kitāb Aḫbār Makka, apud F. Wüstenfeld, Die Chroniken der Stadt
Mekka, Bd. i (Leipzig, 1858), S. 282 ff.; Ibn Hišām, Sīra (Kairo, 21375/1955), Bd. i,
S. 142 ff.; Ibn Saʿd, Kitāb al-ṭabaqāt al-kabīr (Leiden, 1904-21), Bd. I/1, S. 49 ff.;
Al-Yaʿqūbī, Tārīḫ (Beirut, 1390/1970), Bd. I, S. 246 ff.; Al-Fākihī, Tārīḫ Makka,
MS Leiden, Or. 463, Fol. 338a ff.
Die blauen Blumen von Mekka 73

wird. Erst im vierten Traum wird deutlich, dass hiermit der Zamzam ge-
meint ist, und er wird ihm dann in der Form eines Rätsels offenbart: „Grabe
Zamzam aus!“ – „Was ist Zamzam?“- „Er trocknet nie aus und lässt nie
nach.“32 Aber al-Azraqī und al-Fākihī,33 die beide auch eine, ihren eigenen
Angaben zufolge, auf Ibn Isḥāq stammende Tradition wiedergeben, be-
richten nicht vom dritten Traum – also der Vierte bei Ibn Hišām ist bei
ihnen der Dritte, und so wird der Eindruck erweckt, dass die Erwähnung
des Zamzams nicht ursprünglich einen Teil der Geschichte ausmachte. Hin-
zu kommt die Tatsache, dass beinah alle Überlieferungen der Entdeckung
ʿAbd al-Muṭṭalibs während seiner Ausgrabungen, von verschiedenen Fun-
den berichten: Meistens wird von einer Rüstung, bestimmten Schwertern
(‫ )قلع ي‬und zwei goldenen Gazellen erzählt. Die Gesamtheit aller betreffen-
den Berichte vergleichend ist nicht festzustellen, ob Zweck der Erzählung
die Wiederentdeckung des Zamzam oder aber jener Objekte ist. Eine ähn-
liche Verwirrung besteht bei den Äußerungen über das Verschwinden bzw.
das Vergessen des Zamzams in längst vergangenen Zeiten: Auch hier sind
die Berichte nicht einheitlich, da in manchen die Objekte selber – wobei die
Grube al-Azraqī (279ff.) zufolge als „Schatzhaus“ (‫ )البي ت حزان ة‬zur Auf-
nahme der von Pilgern mitgebrachten Gaben gedient haben sollte –, in an-
deren der Zamzam als Hauptpunkt im Mittelpunkt steht (man wird hier
zweifelsohne an Plinius Erwähnung §i.14 erinnert von Jubas Bericht, dass
„idem in Arabia fontem exilire tanta vi, ut nullum non pondus inpactum
respuat“). Zudem wird auch manchmal erwähnt, dass die Ğurhum auch den
‫ – ال ركن حجر‬ḥağar al-rukn begraben haben34 – al-rukn ist die meist ge-
bräuchliche Bezeichnung für den „schwarzen Stein,“ das kultussignifikante
in der Südostecke der Kaʿba eingemauerte Objekt35 – obwohl, was mit

32 Ibn Hišām, Sīra, Bd. i, S. 143.


33 Al-Azraqī, Kitāb Aḫbār Makka S. 284; Al-Fākihī, Tārīḫ Makka, Fol. 338.
34 Aṭ-Ṭabarī, Tārīḫ, Bd. I, S. 1132; Ibn Hišām, Sīra, Bd. I, S. 114.
35 Heutzutage bezeichnet als ‫( االس ود الحج ر‬al-ḥaǧar al-aswad – „schwarzer Stein“).
Ein solcher schwarzer Stein, auf den Blutlibationen gegossen wurden und bei
dem Votivgeschenke zertrümmert wurden, ist auch aus dem Heiligtum des Got-
tes „Ares“ (=Dušara?) zu Petra bekannt, vgl. die Suda Θ302 (=Θεὺς Ἄϱης):
Τουτέστι ϑεὸς Ἄϱης, ἐν Πέτϱᾳ τῆς Ἀϱαβίας. σέβεται δὲ ϑεὸς Ἄϱης παϱ' αὐτοῖς:
τόνδε γὰϱ μάλιστα τιμῶσι. Τὸ δὲ ἄγαλμα λίϑος ἐστὶ μέλας, τετϱάγωνος,
ἀτύπωτος, ὕψος ποδῶν τεσσάϱων, εὖϱος δύο: Ἀνάκειται δὲ ἐπὶ βάσεως
χϱυσηλάτου. Τούτῳ ϑύουσι καὶ τὸ αἷμα τῶν ἱεϱείων πϱοχέουσι: Καὶ τοῦτό ἐστιν
αὐτοῖς ἡ σπονδή. Ὁ δὲ οἶκος ἅπας ἐστὶ πολύχϱυσος, καὶ ἀναϑήματα πολλά (vgl.
pseudo-Codinus, Patria Constantinopoleos 2.84 [Ausgabe Preger, Scriptores
74 Robert Kerr

ḥağar al-rukn angedeutet wird, nicht in allen Traditionen deutlich ist, wobei
in einigen mit Sicherheit etwas anderes gemeint ist.36 Aus dem Vergleich
aller Überlieferungen – hier konnte nur eine sehr kurze Übersicht geboten
werden – entsteht der Eindruck, dass ursprünglich die Zamzam-Geschichte
als Thema den Verlust und die Wiederauffindung von für das Heiligtum
und für den Kultus wichtigen Gegenständen hatte, und nur sekundär zu
einer Erzählung der Wiederentdeckung des Zamzams umgearbeitet wurde.
Das Motiv dieser Geschichten ist gut aus anderen, auch biblischen Quel-
len bekannt. So z. B. in 2 Makkabäer 2, 4-8, wo beschrieben wird, dass
Jeremia Objekte aus dem Tempel wegnahm, die er dann in der Höhle nie-
derlegte, von wo aus Mose das Gelobte Land sah – danach verschwand die
Höhle und ist seitdem nicht mehr auffindbar:
[4] Ἦν δὲ ἐν τῇ γϱαϕῇ ὡς τὴν σκηνὴν καὶ τὴν κιβωτὸν ἐκέλευσεν ὁ
πϱοϕήτης χϱηματισμοῦ γενηϑέντος αὐτῷ συνακολουϑεῖν· ὡς δὲ
ἐξῆλϑεν εἰς τὸ ὄϱος, οὗ ὁ Μωυσῆς ἀναβὰς ἐϑεάσατο τὴν τοῦ ϑεοῦ
κληϱονομίαν. [5] Καὶ ἐλϑὼν ὁ Ιεϱεμιας εὗϱεν οἶκον ἀντϱώδη καὶ τὴν
σκηνὴν καὶ τὴν κιβωτὸν καὶ τὸ ϑυσιαστήϱιον τοῦ ϑυμιάματος
εἰσήνεγκεν ἐκεῖ καὶ τὴν ϑύϱαν ἐνέϕϱαξεν. [6] Καὶ πϱοσελϑόντες
τινὲς τῶν συνακολουϑούντων ὥστε ἐπισημάνασϑαι τὴν ὁδὸν καὶ οὐκ
ἐδυνήϑησαν εὑϱεῖν. [7] Ὡς δὲ ὁ Ιεϱεμιας ἔγνω, μεμψάμενος αὐτοῖς
εἶπεν ὅτι καὶ ἄγνωστος ὁ τόπος ἔσται, ἕως ἂν συναγάγῃ ὁ ϑεὸς ἐπι-
συναγωγὴν τοῦ λαοῦ καὶ ἵλεως γένηται [8] καὶ τότε ὁ κύϱιος

originum Constantinopolitanarum 194.7-14]). Die Vorliebe für die Anbetung


von Steinen durch die Araber war als Topos in der alten Welt durchaus bekannt,
vgl. Arnobius maior, Adversus nationes vi.11, Clemens von Alexandrien, Pro-
trepticus iv. 46; Hieronymus in seiner Vita sancti Hilarionis 25 berichtet über
Hilarion in einer Stadt der Wüste Kadesch: „Auf die Kunde, dass der hl. Hilarion
vorbeikomme, zog man ihm haufenweise mit Frauen und Kindern entgegen;
denn er hatte viele vom Teufel besessene Sarazenen geheilt. Sie beugten ihr
Haupt und riefen syrisch „barech,“ d.h. segne uns. Mit geziemender Bescheiden-
heit empfing sie Hilarion und bat sie inständig, doch lieber Gott als Steine zu
verehren. Heftig weinend blickte er zum Himmel und versprach, falls sie an
Christus glaubten, häufig wieder zu kommen. Und wunderbar wirkte die Gnade
Gottes; man ließ ihn nicht eher ziehen, bis er den Grund zu einer neuen Chris-
tengemeinde gelegt hatte und ihr Priester an Stelle des Opferkranzes mit dem
Zeichen Christi bezeichnet war“; S. auch Anm. 112.
36 Vgl. G. R. Hawting, Aspects of Muslim Political and Religious History in the lst/7th
Century, with special reference to the development of the Muslim sanctuary (Ph.D.
thesis, University of London 1978), S. 91-96.
Die blauen Blumen von Mekka 75

ἀναδείξει ταῦτα, καὶ ὀϕϑήσεται ἡ δόξα τοῦ κυϱίου καὶ ἡ νεϕέλη, ὡς


ἐπὶ Μωυσῇ ἐδηλοῦτο, ὡς καὶ ὁ Σαλωμων ἠξίωσεν ἵνα ὁ τόπος καϑα-
γιασϑῇ μεγάλως.37
Eine Abwandlung dieser Geschichte findet sich auch in 2 Makkabäer 1,
19ff.: unmittelbar vor der Gefangenschaft verbergen Priester das Tempel-
feuer in einer trockenen Grube. Nach der Heimkehr sucht Nehemia dann
jenes Feuer, aber findet nur eine dicke wasserähnliche Flüssigkeit, die aber
statt Feuer bei einem Opfer verwendet wird:
[19] Καὶ γὰϱ ὅτε εἰς τὴν Πεϱσικὴν ἤγοντο ἡμῶν οἱ πατέϱες, οἱ τότε
εὐσεβεῖς ἱεϱεῖς λαβόντες ἀπὸ τοῦ πυϱὸς τοῦ ϑυσιαστηϱίου λαϑϱαίως
κατέκϱυψαν ἐν κοιλώματι ϕϱέατος τάξιν ἔχοντος ἄνυδϱον, ἐν ᾧ
κατησϕαλίσαντο ὥστε πᾶσιν ἄγνωστον εἶναι τὸν τόπον. [20]
Διελϑόντων δὲ ἐτῶν ἱκανῶν, ὅτε ἔδοξεν τῷ ϑεῷ, ἀποσταλεὶς Νεεμιας
ὑπὸ τοῦ βασιλέως τῆς Πεϱσίδος τοὺς ἐκγόνους τῶν ἱεϱέων τῶν ἀπο-
κϱυψάντων ἔπεμψεν ἐπὶ τὸ πῦϱ· ὡς δὲ διεσάϕησαν ἡμῖν μὴ εὑϱηκέναι
πῦϱ, ἀλλὰ ὕδωϱ παχύ, ἐκέλευσεν αὐτοὺς ἀποβάψαντας ϕέϱειν. [21]
Ὡς δὲ ἀνηνέχϑη τὰ τῶν ϑυσιῶν, ἐκέλευσεν τοὺς ἱεϱεῖς Νεεμιας
ἐπιϱϱᾶναι τῷ ὕδατι τά τε ξύλα καὶ τὰ ἐπικείμενα. [22] Ὡς δὲ ἐγένετο
τοῦτο καὶ χϱόνος διῆλϑεν ὅ τε ἥλιος ἀνέλαμψεν πϱότεϱον ἐπινεϕὴς
ὤν, ἀνήϕϑη πυϱὰ μεγάλη ὥστε ϑαυμάσαι πάντας. [23] Πϱοσευχὴν δὲ
ἐποιήσαντο οἱ ἱεϱεῖς δαπανωμένης τῆς ϑυσίας, οἵ τε ἱεϱεῖς καὶ πάντες,
καταϱχομένου Ιωναϑου, τῶν δὲ λοιπῶν ἐπιϕωνούντων ὡς Νεεμιου·
[24] ἦν δὲ ἡ πϱοσευχὴ τὸν τϱόπον ἔχουσα τοῦτον Κύϱιε κύϱιε ὁ
ϑεός, ὁ πάντων κτίστης, ὁ ϕοβεϱὸς καὶ ἰσχυϱὸς καὶ δίκαιος καὶ ἐλε-
ήμων, ὁ μόνος βασιλεὺς καὶ χϱηστός ...38

37 „In dem Buch stand weiter zu lesen, dass der Prophet einen Gottesspruch em-
pfangen habe und daraufhin das Zelt und die Lade hinter sich hertragen ließ. Er
sei hinausgegangen zu dem Berg, auf den Mose gestiegen war, um das von Gott
verheißene Erbteil zu sehen. Dort fand Jeremia eine Höhle wie ein Haus. Er trug
das Zelt, die Lade und den Rauchopferaltar hinein; dann verschloss er den Ein-
gang. Einige von seinen Begleitern gingen hin, um sich den Weg zu markieren;
aber sie konnten ihn nicht finden. Als Jeremia davon hörte, schalt er sie und
sagte: Die Stelle soll unbekannt bleiben, bis Gott sein Volk wieder sammelt und
ihm wieder gnädig ist. Dann aber bringt der Herr dies alles wieder ans Licht und
die Herrlichkeit des Herrn wird erscheinen und auch die Wolke, genauso wie sie
sich in den Tagen des Mose gezeigt hat und in der Zeit, als Salomo betete, dass
der Ort hochheilig werden möge.“
38 „Denn als unsere Väter nach Persien in die Verbannung geführt wurden, nahmen
die Priester, die fromm geblieben waren, etwas von dem Feuer des Altars mit und
76 Robert Kerr

In der späteren rabbinischen Tradition wird dieser Erzählstoff zu einer Ge-


schichte mit eschatologischem Charakter umgedeutet: Jeremia wird meis-
tens durch den „guten“ König Josia ersetzt, und häufig wird gesagt, dass am
Ende der Zeiten Elias die verschollenen Objekte wieder aufdecken werde.
Im samaritanischen Judentum sind solche Erzählungen mit ähnlichem Mo-
tiv auch bekannt. Josephus (Ant. 18. iv,1) berichtet von einem Samaritaner
zur Zeit des Pontius Pilatus, der um die Unterstützung seiner Glaubens-
genossen zu erlangen, behauptete, verborgene Gefäße auf dem Berge
Gerizim aufdecken zu können:
Οὐκ ἀπήλλακτο δὲ ϑοϱύβου καὶ τὸ Σαμαϱέων ἔϑνος: συστϱέϕει γὰϱ
αὐτοὺς ἀνὴϱ ἐν ὀλίγῳ τὸ ψεῦδος τιϑέμενος κἀϕ᾽ ἡδονῇ τῆς πληϑύος
τεχνάζων τὰ πάντα, κελεύων ἐπὶ τὸ Γαϱιζεὶν ὄϱος αὐτῷ συνελϑεῖν, ὃ
ἁγνότατον αὐτοῖς ὀϱῶν ὑπείληπται, ἰσχυϱίζετό τε παϱαγενομένοις
δείξειν τὰ ἱεϱὰ σκεύη τῇδε κατοϱωϱυγμένα Μωυσέως τῇδε αὐτῶν
ποιησαμένου κατάϑεσιν. [86] Οἱ δὲ ἐν ὅπλοις τε ἦσαν πιϑανὸν
ἡγούμενοι τὸν λόγον, καὶ καϑίσαντες ἔν τινι κώμῃ, Τιϱαϑανὰ
λέγεται, παϱελάμβανον τοὺς ἐπισυλλεγομένους ὡς μεγάλῳ πλήϑει
τὴν ἀνάβασιν εἰς τὸ ὄϱος ποιησόμενοι. [87] Φϑάνει δὲ Πιλᾶτος τὴν
ἄνοδον αὐτῶν πϱοκαταλαβόμενος ἱππέων τε πομπῇ καὶ ὁπλιτῶν, οἳ
συμβαλόντες τοῖς ἐν τῇ κώμῃ πϱοσυνηϑϱοισμένοις παϱατάξεως
γενομένης τοὺς μὲν ἔκτειναν, τοὺς δ᾽ εἰς ϕυγὴν τϱέπονται ζωγϱίᾳ τε
πολλοὺς ἦγον, ὧν τοὺς κοϱυϕαιοτάτους καὶ τοὺς ἐν τοῖς ϕυγοῦσι
δυνατωτάτους ἔκτεινε Πιλᾶτος.39
In der späteren samaritanischen Überlieferung, die z. B. der Sefer ha-Yāmīm
wiedergibt, wird die Wiederauffindung der Gegenstände mit der samarita-

verbargen es heimlich im Schacht eines leeren Brunnens. Sie versteckten es so,


dass die Stelle allen unbekannt blieb. Darüber vergingen viele Jahre. Doch als es
Gott gefiel, sandte der König von Persien den Nehemia her. Der schickte die
Nachkommen jener Priester aus, um das Feuer holen zu lassen, das ihre Väter
einst versteckt hatten. Als sie uns erklärten, kein Feuer gefunden zu haben, son-
dern nur eine dicke Flüssigkeit, befahl er ihnen, etwas davon zu schöpfen und zu
ihm zu bringen. Das Opfer wurde hergerichtet. Dann ließ Nehemia von den
Priestern das Brennholz, und was darauf lag, mit diesem zähflüssigen Wasser be-
gießen. So geschah es. Nach einiger Zeit brach die Sonne hervor, die von Wolken
verdeckt gewesen war. Da flammte ein großes Feuer auf und alle staunten.
Während das Opfer verbrannte, beteten die Priester und alle Anderen, die bei
ihnen waren; Jonatan stimmte an und die Übrigen, darunter auch Nehemia,
beteten laut mit.“
39 Zu Gerizim s. Anm. 5.
Die blauen Blumen von Mekka 77

nischen mahdi-ähnlichen Figur, mit dem Taleb, in Verbindung gebracht. In


einer früheren Fassung, in dem Werk Memar Marqa, werden aber diese
Ereignisse mit dem Tode Mosis in Verband gebracht: Die Wiederent-
deckung der Gefäße wird eines der Zeichen der Endzeit sein, aber zugleich
auch die Ankündigung des Endes des Zeitalters der göttlichen Gunst, also
das Anbrechen einer Zeit, in der Gott sein Gesicht seinem Volke zuwendet.
Die Ähnlichkeit der hier aufgeführten mekkanischen Traditionen mit
den eben erwähnten jüdischen ist eindeutig. Der Verlust von Gegenständen
wird mit dem Verlust des Heiligtums – jeweils die Kaʿba zu Mekka, der
Tempel zu Jerusalem bzw. auf dem Berge Gerizim – gleichgestellt und führt
dann zur Vertreibung des Volkes – jeweils die Ğurhum, die Juden, die Sa-
maritaner –, dessen Heiligtum die Geschichte betrifft. Nur der eschatolo-
gische Charakter der jüdischen Erzählungen fehlt in der islamischen Ab-
wandlung: Hier ist die Erzählung zu einem historischen Ereignis umgedeu-
tet worden. Man kann nicht den Eindruck vermeiden, dass eine alte ur-
sprünglich jüdische Heiligtumslegende in späterer Zeit auf Mekka und seine
Kaʿba angepasst wurde.
Die Verwirrungen in den verschiedenen Überlieferungen finden sich
auch bei den Auskünften über die schon erwähnte Grube in der Kaʿba sel-
ber, die in den Quellen verschiedentlich als ّ‫( جب‬jubb) bzw. als ‫( بار‬biʾr)
bezeichnet wird, einmal als ‫االخس ف‬. Scheinbar die einzige Tradition bezüg-
lich ihres Ursprunges sagt: Abraham hob sie als Abstellplatz bzw. „Schatz-
haus“ für die künftig mitgebrachten Gaben von Wallfahrern, die das Hei-
ligtum besuchen, aus (vgl. Anm. 90). Ob Wellhausen recht hatte, diese
Grube mit den für Libationen gebrauchten Ġabġabs, also mit steinernen
(‫انس اب‬40 ), vorislamischen heidnischen Opferplätzen, in Verbindung zu
bringen, ist unklar, sicher aber ist, dass in den späteren Überlieferungen
jene Grube und der Zamzam, ursprünglich zwei ganz verschiedene Dinge,
zu austauschbaren Begriffen wurden. Hier also können wir unterschiedliche
Traditionsstrata feststellen – eine ältere mit zwei getrennten Plätzen: Der
Brunnen der Kaʿba und der Zamzam, sowie eine spätere, die diese als
synonyme Bezeichnungen versteht. Ursächlich ist vielleicht die Benennung
der Grube als ‫( بار‬bi’r) – was im Arabischen durchgängig eine Wasserquelle
andeutet –, obwohl keine einzige Überlieferung sie mit Wasser in Verbin-
dung bringt –, die dann den Verbund mit dem Zamzam macht (vgl. aber
Gen. 16,9 und 21,9 die den Brunnen mit dem verwandten hebräischen

40 Nasāb – Etwa entsprechend dem griechischen Begriffe βαίτυλος, vom semiti-


schen abgeleitet, vgl. hebräisch ‫בֵּית ֵאל‬, (bêṯ ’ēl) z. B. Gen. 28, 19. S. auch Anm. 35.
78 Robert Kerr

Begriff ‫[ ְבּ ֵאר‬bǝ’ēr] bezeichnen; 16, 7 ‫‘[ ַעי ִן‬ayin]; man könnte auch an den
Fluß Zama, Plinius xxxi. 14, in Afrika gelegen, denken, der „ex quo canorae
voces.“ Und so ließ der schwarze Prophetengefährte Bilāl den Gebetsruf (‫أذان‬
adān) erklingen). Aber auch in Bezug auf den Zamzam sind die islamischen
Überlieferungen nicht einheitlich: Obschon manche entsprechend Gen.
21,14-21 berichten, dass der Brunnen erst der Hagar und dem Ismael nach
Abrahams Abreise erschien, gibt es auch solche, die den Zamzam als „Quel-
le Abrahams“ bezeichnen und behaupten, er habe sie selber ausgehoben. Es
gibt selbst eine Überlieferung, die den Streit Abrahams mit Abimelech über
den Brunnen zu Beer-Seba Gen. 21,25ff. – also unmittelbar nach dem Ende
der Erzählung über die Errettung von Hagar und Ismael – mit dem Zamzam
in Verbindung bringt. Im Midrasch, also in der rabbinischen Auslegung
wird der Wasserbrunnen Gen. 21,19 mit dem „Brunnen des Lebendigen,
der mich sieht“ ‫( ְבּ ֵאר ַלחַי רֹאִי‬bǝ’ēr laḥaj rō’ī) Gen. 16,14 gleichgesetzt, und
spätere jüdische Gelehrte identifizierten jenen Ort mit Mekka, so übersetzt
z. B. Saadia Gaon in seinem Tafsīr das hebräische Wort ‫( שׁוּר‬šūr) in Gen.
16,7, der Ort wo der „Engel des Herrn,“ die die Kebse Hagar bei ihrer ersten
Flucht fand, mit ‫„ حج ر ف ي الحج از‬beim Steine des Ḥiǧāz,“ und der mittelal-
terliche jüdische Kommentator Ibn Ezra (ad 16,4) sagte, selbst die in der
Bibel genannte Wasserquelle sei der Zamzam. Problematisch ist natürlich
die Tatsache, dass in islamischer Zeit zumindest die Kaʿba keine Grube bzw.
keinen Brunnen aufweist, und es ist darum wahrscheinlich ein Topos der
erwähnten Legende, der dann auf die Kaʿba übertragen wurde. Eine mög-
liche Bestätigung dieser Vermutung liegt in der Feststellung, dass die ver-
schiedenen Berichte von Muhammads „Reinigung“ des Heiligtums nach
seiner Eroberung der Stadt Mekka kaum von einem Brunnen in der Kaʿba
sprechen – obwohl ein ‫ خزان ة البي ت‬erwähnt wird, wobei nicht deutlich ist,
was hiermit gemeint wird.
Dieser kurze Abriss der Geschichte der Wiederentdeckung des Heilig-
tums zu Mekka sollte deutlich gemacht haben, dass die islamische Tradition
keine einheitliche Überlieferung bezüglich des Ursprungs und der Ge-
schichte dieses Ortes kennt. Aus der Vielfalt der jeweiligen tradierten Erzäh-
lungen entsteht der Eindruck, dass ein alter heiliger Ort Arabiens mit einer
jüdischen Schatzlegende in Verbindung gebracht wurde. Eine alte Tradition
über den „Brunnen der Kaʿba “ (bi’r al-Kaʿba) aus vorislamischer Zeit wurde
mit der Geschichte des Zamzams verbunden sowie ursprünglich über den
Brunnen Tradiertes auf den Zamzam übertragen – der Brunnen selber,
durch den Zamzam ersetzt, wurde so in ein Schatzhaus umgedeutet. Ob-
Die blauen Blumen von Mekka 79

wohl nicht alles deutlich ist, überdeutlich bleibt das Fehlen einer konkreten
historisch-glaubwürdigen Erzählung der Wiederentdeckung des Zamzam
im sechsten Jahrhundert – verschiedene Schichten untereinander wider-
sprüchlicher Legenden, die dem Fabelreich entsprungen sind und jeglicher
Historizität entbehren, werden miteinander verwoben. Wie und wann aber
wurden dieser Ort und sein Heiligtum dann mit dem biblischen Erzählzyk-
lus um Abraham, sowie auch um Hagar und Ismael in Verbindung ge-
bracht? Wie schon erwähnt, vermittelt der Koran nur spärlich genaue An-
gaben zu Ortsnamen, die aber dann sekundär in der islamischen exege-
tischen Literatur hineingelesen werden, wie z. B. in Sure 14,37:

َّ ‫ﻨﺖ ِﻣﻦ ُذ ِّرﻳ َّ ِﱵ ﺑ َِﻮا ٍد ﻏَ ْ ِﲑ ِذي َز ْرعٍ ِﻋﻨﺪَ ﺑَﻴْ ِﺘ َﻚ اﻟْ ُﻤ َﺤ َّﺮ ِم َرﺑَّﻨَﺎ ِﻟ ُﻴ ِﻘﳰُﻮا‬
‫اﻟﺼ َﻼ َة‬ ُ ‫َّرﺑَّﻨَﺎ ا ِ ّﱐ َٔا ْﺳ َﻜ‬
ِٕ
‫ون‬ ُ َّ َ ِ ِ ِ
َ ‫ﻓَﺎ ْﺟ َﻌ ْﻞ َٔاﻓْﺌﺪَ ًة ّﻣ َﻦ اﻟﻨَّ ِﺎس ﲥَ ْ ِﻮي اﻟَﳱْ ِ ْﻢ َو ْار ُز ْﻗﻬُﻢ ّﻣ َﻦ اﻟﺜ َّ َﻤ َﺮ ِات ﻟ َﻌﻠﻬ ُْﻢ ﻳ َْﺸﻜ ُﺮ‬
ِٕ
„Unser Herr, ich habe (einige) aus meiner Nachkommenschaft in
einem Tal ohne Pflanzungen bei Deinem geschützten Haus wohnen
lassen, unser Herr, damit sie das Gebet verrichten. So lasse die Her-
zen einiger Menschen sich ihnen zuneigen und versorge sie mit
Früchten, auf daß sie dankbar sein mögen.“
In der Kommentarliteratur wird die Verbindung mit Mekka eindeutig be-
hauptet, wie im Tafsīr der al-Ğalālain, der sagt, dass „das Tal ohne Bepflan-
zungen“ ‫( هو مكة‬huwa Makka, d. h. „das ist Mekka“) ist. Auch andere Verse
werden auf Mekka bezogen, wie z. B. 2, 125-127; 3, 97 und 22, 26, ohne dass
aber eine solche Verknüpfung selber aus dem Text hervorginge – nur mit
Hilfe der späteren Auslegungstradition können sie auf Mekka bezogen wer-
den. Jene Überlieferungen, wie die z. B. des Hišām b. Muhammad al-Kalbī,
aber stammen bekannterweise aus ʿAbbāsidischer Zeit, und sind mindestens
hundertfünfundzwanzig Jahre nach den geschilderten Ereignissen, und na-
türlich im gerade eben besprochenen Falle des Prophetengroßvaters, viel
später erst aufgeschrieben worden. Diese Schriften haben dann auch als zu-
grunde liegendes Programm, den Islam und die durch ihn verursachten
Veränderungen als etwas ganz Neuartiges darzustellen. Aber, wie wir be-
züglich der Wiederauffindung des Zamzams gesehen haben, besitzen die
dazugehörigen Erzählungen etwas Künstliches bzw. Konstruiertes – sie
lesen sich nicht als eine zusammenhängende, sorgfältige bewahrte Tradi-
tion, und von gar „einer“ Tradition kann überhaupt nicht die Rede sein.
Im Fall der Abrahamserzählung ist die Quellenlage nicht viel anders: In
den islamischen Überlieferungen, im weitesten Sinne des Wortes, gibt es
80 Robert Kerr

grob vom neunten bis zum fünfzehnten Jahrhundert hunderte Belege, die
ganz oder zum Teil die vermeintlichen Reisen Abrahams nach Mekka wie-
dergeben. Der amerikanische Gelehrte Firestone,41 der diese Erzählungen
eingehend sammelte und untersuchte, kam zu dem Schluss, dass alle Vari-
anten auf drei bestimmte Erzählungen, die der Tradition nach alte Überlie-
ferungen sind, zurückgeführt werden können: auf die von ʿAlī b. Abī Ṭālib
(gest. 661), des Vetters und Schwiegersohnes des Propheten und späteren
Kalifen; die des Muğāhid b. Ǧabr al-Maḫzūmī (gest. 722), und selbstver-
ständlich die des Cousins des Propheten ʿAbd-Allāh ibn ʿAbbās (gest. 687).
Ob diese Männer wirklich gelebt haben bzw. ob das, was in den Über-
lieferungen ihnen zugeschrieben wird, tatsächlich von ihnen stammt, ist
hier von keiner Bedeutung – hier zählt nur die Tatsache, dass die Überliefe-
rungen abhängig sind von solchen, die einen dieser drei als Quelle nennen.
Im Folgenden werden die Hauptlinien dieser drei Erzählungen kurz
aufgeführt.
3.1 Die ʿAlī-Version
Im Grunde wird in diesem Überlieferungskreis erzählt, wie als Folge eines
Befehls Gottes Abraham nach Mekka reist, um dort die heilige Kaʿba zu
bauen. Die siebzehn einzelnen Nacherzählungen, die von „ʿAlī“ abhängig
sind, haben gemeinsam, dass Abraham übernatürliche Hilfe bekommt, um
die Kaʿba zu verorten, und können wiederum in drei Varianten unterteilt
werden. Weil Abraham nicht weiß, wo er die Kaʿba bauen soll, schickt ihm
in der ersten Gruppe Gott die Sakīna42 – einen zweiköpfigen Wind –, die

41 R. Firestone, „Abraham’s Journey to Mecca in Islamic Exegesis: A form-critical


study of a tradition,“ Studia Islamica 76(1992), S. 5-24. Ausführliche Darlegung
in ders., Journeys in Holy Lands. The Development of the Abraham-Ishmael
legend in Islamic exegesis (Albany, 1990).
42 Vgl. Hier Targum Pseudo-Jonathan zu I Mose 16, 13: ‫ואודיאת קדם ייי דמימריה מתמלל‬
‫לה וכן אמרת אנת הוא חי וקיים דחמי ולא מתחמי ארום אמרת הא ברם הכא איתגליאת יקר‬
‫„ שכינתא דייי חזוא בתר חזוא‬Sie erstattete Dank vor dem Herrn, dessen Memra zu
ihr gesprochen hat und sie sprach folgendermaßen: ‚Du bist der Lebende und der
Bleibende, der sieht, ohne gesehen zu werden,‘ weil sie gesagt hatte: ‚Siehe, hier
ward wahrlich die Ehre der Šeḵina des Herrn Offenbarung nach Offenbarung
gezeigt.‘“ Die hier verwendete Ausgabe ist A. Díez Macho (Hg.), Biblia Polyglotta
Matritensia. Series IV: Targum Palestinense in Pentateuchum. Additur Targum
Pseudo-Jonatan ejusque hispanica versio (Madrid, 1988). Zur semantischen
Entwicklung des hebräischen Begriffes, vgl. Kerr, a. a. O. § 5.4.
Die blauen Blumen von Mekka 81

ihm den richtigen Ort anweist. In der zweiten Variante, in der Abraham von
Armenien aus (! vgl. das Zitat von Apollonius Molon §5 infra) seine Reise
anfängt, weist die Sakīna Abraham den richtigen Platz an, wie eine Spinne
ihr Netz zu weben anfängt, die mit einem Faden erst den Umriss auslegt. In
der letzten Gruppe, zugleich die Kleinste, nimmt Abraham Hagar und Isma-
el mit auf seine Reise, und eine Wolke leitet sie zum Ort, wo die Kaʿba er-
richtet werden soll. Hiernach, als der Bau fertig ist, will Abraham allein nach
Syrien zurückkehren. Hagar fragt ihn, wem er den Ismael anvertraut. Seine
Antwort lautet: „An Gott“ – eine Gegebenheit, die Hagar mit den Worten
zu akzeptieren scheint „Er wird uns nicht zugrunde gehen lassen.“ Hierauf
bekommt Ismael Durst, und es folgt eine Wiedergabe des Gesprächs (vgl.
Gen. 21,16) der Hagar mit dem Engel Gabriel (ein Anachronismus!), sowie
eine Schilderung ihres Laufens zwischen den Bergen Saffa (‫ )الص فا‬und
Marwa (‫ ;الم روة‬vgl. der Saʿy – ‫ الس عي‬des Haǧǧ). Danach kratzt Ismael mit
einem Finger den Grund, und hieraus sprudelt dann die Quelle des
Zamzams hervor.
Hier scheint eine monotheistische Umdeutung einer heidnischen Tradi-
tion vorzuliegen. Diese Variante, die die biblische Schilderung Gen. 21,14-
21 nacherzählt, welche sich allerdings in nur drei der siebzehn Wiedergaben
vorfindet, ist zugleich die einzige Parallele mit der Bibel in dieser Erzähl-
gruppe. Überhaupt erwähnen nur fünf Varianten die Hagar und den Ismael.
Der Kern der ʿAlī-Überlieferungen behandelt Abrahams Bau der Kaʿba,
nachdem er hierhin durch die Sakīna, die göttliche Präsenz, bzw. durch eine
übernatürliche Wolke geleitet wurde. Nebenher sollte erwähnt werden, dass
in diesen Geschichten die Sakīna nur eine entlehnte Namensgleichheit mit
der hebräischen Šeḵina hat – die Beschreibung passt eher auf die arabischen
Dschinn, die etwa aus Tausendundeine Nacht bestens bekannt sind. Zum
Schluss dann sehen wir bei den vermeintlich auf ʿAlī zurückgehenden
Erzählungen wiederum verschiedene Erzählschichten: Eine alte, wohl ara-
bische Legende über den Bau des Heiligtums zu Mekka, die dann nachträg-
lich mit biblischen Legenden angereichert wurde. In dieser Überlieferung
spielen Hagar und Ismael eigentlich keine Rolle, und Abraham figuriert nur
als Bauherr. Interessant in dieser Hinsicht ist 2,127, das in der Übersetzung
von Bubenheim und Elyas lautet: „Und (gedenkt,) als Ibrahim die Grund-
mauern des Hauses errichtete, zusammen mit Ismail ...,“ obwohl der ara-
bische Text wie der jetzige nicht ohne Weiteres eine solche Auslegung her-
82 Robert Kerr

gibt: ‫ – وإذ يرفع إبراھيم القواعد من البيت وإسماعيل‬wa’iḏ jarfaʿu ibrāhīm al-qawāʿid
min al-bayt wa-ismaʿīl... – „und Ismael“ wurde scheinbar als eine sekundäre
Einfügung (eine Art unabsichtlicher Casus pendens?) angehängt, also wort-
wörtlich „Und gedenkt Abraham errichtete die Fundamente des Hauses –
und Ismael...“ – offensichtlich ein unbeholfener Versuch, nach der Fest-
stellung einer islamischen Auslegung Ismael mit aller Gewalt im korani-
schen Bericht über den Bau der Kaʿba eine Rolle zuzuweisen, auch wenn
dies den Text verstümmelt.43
3.2 Die Muǧāhid-Version
Reduziert auf das Wesentliche, beginnen in dieser Überlieferung Abraham,
Hagar und Ismael ihre Reise nach Mekka von Syrien aus, als der Letzt-
genannte noch ein Säugling ist,44 geführt von Gott bzw. vom Engel Gabriel,

43 Also nach der Festlegung einer Tradition wurden Texte emendiert, um konform
mit der neuen Sicht gelesen werden zu können. Dies ist ein gut bezeugtes
Phänomen, vgl. in der Hebräischen Bibel etwa Ex. 32,10-14, eine nachdeuterono-
mistische Einfügung, die 32 mit Dtn. 9-10 harmonisiert oder etwa 32,9, die in
der Septuaginta fehlt, womit Dtn. 9,13 in Ex. 32 eingefügt wird.
44 Durchweg wird in der islamischen Überlieferung Ismael als ein kleines Kind
geschildert, etwas, das aus der Hebräischen Bibel nicht deutlich hervorgeht (so
auch z. B. bei 𝔓𝔖𝔗𝔙): Ismael war dreizehn Jahre alt, als zusammen mit seinem
neunundneunzigjährigen Vater „das Fleisch seiner Vorhaut beschnitten
ward“ (Gen. 17,24-25, vgl. 16,16), und ein Jahr danach wurde Isaak geboren, ob-
wohl Ismael in 21,14 und 15 als ein ‫( יֶלֶד‬jäläd), 18 ‫( נַעַר‬naʿar) bezeichnet wird,
muss er logischerweise zumindest ein Teenager (z. B. Kimchi a. l. 15) gewesen
sein (für einen solchen Gebrauch dieser Lexeme vgl. 2 Kön. 4,32-37); Genesis
Rabba (51,13) gibt sein Alter mit 27, das Raschi zu 25 korrigiert. Die Verwirrung
wird meistens dadurch erklärt, dass die Chronologie der Priesterschrift (Gen.
16,16; 17,25; 21,5) auf die der elohistischen Rahmenerzählung (z. B. 21, 8-21, das
Ismael scheinbar als Kleinkind darstellt) aufgelegt wurde, wie z. B. Levenson
verdeutlicht: „The simplest solution is the documentary one: the teenaged Ish-
mael is a product of P, a later source than the one reporting the episode of his
near-death, which is almost universally attributed to E. Once one discounts for
the moment the Priestly material that is Genesis 17, all one knows about Ish-
mael’s age is that it is greater by an indeterminable figure than that of Isaac, who
has just been weaned. This is true whether we are to envision the first-born son
riding on his mother’s shoulder or walking on his own“ (J. D. Levenson, The
Death and Resurrection of the Beloved Son, The Transformation of Child Sacrifices
in Judaism and Christianity [New Haven, 1993], S. 105; vgl. auch T. D. Alexander,
„The Hagar Tradition in Genesis xvi and xxi“ in: J. A. Emerton [Hg.], Studies in
the Pentateuch [Leiden, 1990], S. 131-148). Die islamische Überlieferung scheint
Die blauen Blumen von Mekka 83

und in manchen Fassungen reitet die Reisegesellschaft auf dem Hengst al-
Burāq. Bei jedem scheinbar passenden Ort fragt Abraham, ob er hier die
Kaʿba bauen solle, und jedes Mal wird die Frage verneint, bis zu ihrer
Ankunft in Mekka. Hier, am Ort der künftigen Kaʿba, lässt Abraham Frau
und Kind, die schon erwähnte Āya 14,37 rezitierend, zurück, um nach
Syrien heimzukehren. In dieser Überlieferung, wie bei der Vorigen, sehen
wir die spätere Zusammensetzung einer ursprünglich alten arabischen Le-
gende über den Bau der Kaʿba mit biblischem Erzählstoff – hier aber wird
die Reisegruppe durch den anachronistischen Gabriel, einen der spätbibli-
schen Erzengel,45 der aber eindeutig eher Züge eines Dschinn hat, geführt,
also wurde eine solche Erscheinung wohl auf den Namen einer ungefähr
vergleichbaren biblischen Figur umbenannt. Im Gegensatz zur ʿAlī-Version
aber machen Hagar und Ismael strukturell einen Teil von Abrahams Reise
aus. Die biblischen Motive sind eher vage, scheinbar haben wir es wohl hier
mit der Anpassung einer alten Legende an biblische Personen zu tun: Der
beinahe eingetretene Tod Ismaels durch Verdurstung spielt aber in dieser
Variante überhaupt keine Rolle. Das Koranzitat ist wohl eine noch spätere,
aus islamischer Zeit zu datierende Hinzufügung.

3.3 Die Ibn ʿAbbās-Version


Diese Überlieferung, die neunzehn Mal tradiert wurde, ist die vollständigste
und offenbar auch bekannteste der islamischen Tradition, wobei die Paral-
lelen mit Gen. 21,9-18 eindeutig sind (in Klammern die Anzahl der Male,
die jedes Element überliefert wurde, da nicht alle Versionen alle Elemente
aufweisen):
1) Die Eifersucht der Sarah auf Hagar nach der Geburt Ismaels
(8/19) – vgl. Gen. 21,9-10.

hier aber der Septuaginta zu folgen, die 21,14 (‫) ְו ֶאת־ ַהיֶּלֶד עַל־שִׁ כְמָהּ שָׂם ֶאל־ ָהגָר ַויּ ִתֵּ ן‬
wiedergibt, als ob Abraham Ismael Hagar auf die Schulter legte: Καὶ ἐπέϑηκεν ἐπὶ
τὸν ὦμον αὐτῆς τό παιδίον (vgl. Raschi z. Stelle: ‫)אף הילד שם על שכמה‬, was wir
auch bei Josephus finden.
45 Vgl. Kerr a. a. O. §5.8 (= hier „Von der aramäischen Lesekultur zur arabischen
Schreibkultur II. Der aramäische Wortschatz des Koran,“ in: M. Gross und K.-H.
Ohlig [Hg.], Die Entstehung einer Weltreligion II. Inârah Band 6 [Berlin 2012],
553-614).
84 Robert Kerr

2) Hagar zog ihren Rock nach unten bzw. benässte dessen Unterteil,
um so ihre Spuren vor Sarah zu verbergen (9/19) – keine bibli-
schen Parallelen.
3) Abraham gab der Hagar einen Wasserschlauch (12/19), und
brachte Hagar und Ismael, auf Geheiß eines göttlichen Befehles
bzw. geleitet durch ein göttliches Wesen, nach Mekka (19/19), wo
er sie dann unter einem großen Baum zurückließ (9/19) – vgl.
Gen. 21,14-15.
4) Hiernach zog Abraham wieder nach Syrien und kam in Kada,
einem Ort in der Nähe Mekkas an (7/19) – keine biblischen
Parallelen.
5) Hagar folgte Abraham und fragte ihn, wem er gedenke, sie und
ihren Sohn anzuvertrauen. Mit Verzögerung antwortete Abra-
ham „An Gott“ bzw. er folge nur einen Befehl Gottes, eine Ant-
wort, die Hagar offenbar zufrieden stellte. Hiernach kommt eine
späte Einfügung: Abraham rezitiert Āya 14,37 (7/19) bzw. 14:38
(2/19).
6) Als das Wasser im Schlauch aufgebraucht war, konnte Hagar den
Säugling nicht mehr stillen (11/19), der dann einen Anfall bekam
(6/19), und Hagar war nicht im Stande zuzusehen, wie ihr Sohn
ihr wegstirbt (8/19) – vgl. Gen. 21,15-16.46
7) Hagar erklomm die Berge Safa und Marwa (15/19) und lief
zwischen ihnen sieben Mal hin und her (11/19) – vgl. Gen. 21,16.
8) Eine angeblich auf Muhammad selber zurückgehende Einfügung
berichtet, dies sei der Grund des Saʿy (Lauf zwischen Safa und
Marwa während der Pilgerfahrt) (8/19) – keine biblischen
Parallelen.
9) Hagar verzweifelte zunehmend am Zustand ihres Sohnes und
meinte, eine Stimme zu vernehmen (10/19), die, wie sich heraus-

46 Das Bild der Hagar in der biblischen Erzählung ist sicherlich nicht positiv, durch
Abraham gedemütigt und verlassen, will sie scheinbar seinen erstgeborenen
Sohn vernichten: „... sie warf den Knaben unter einen Strauch weg ( ‫שׁלְֵך‬ ְ ַ‫וַתּ‬
‫ … )אֶת־ ַהיֶּלֶד תַּ חַת אַחַד ַהשִּׂיחִ ֽם‬denn sie sprach ‚Ich will nicht des Knaben Sterben
ansehen (‫ “… )אַל־ ֶא ְראֶה בְּמ ֹות ַהיָּלֶד‬-vgl. A. Pinker „The Expulsion of Hagar and
Ishmael (Gen 21:9-21)“ Women in Judaism: A Multidisciplinary Journal 6/1(2009),
S. 19-21. Man sollte beim letzten Abschnitt von V. 16 der Lesung der Septuaginta,
ἀναβοῆσαν δὲ τὸ παιδίον ἔκλαυσεν, folgen: Im nächsten Vers erhörte Gott des
Knaben Stimme und nicht die der sich selbst bemitleidenden Hagar.
Die blauen Blumen von Mekka 85

stellt, einem Engel (8/19) namens Gabriel (6/19) gehört, der dann
mit seiner Ferse (14/19) bzw. seinem Flügel (3/19) den Boden
kratzte, wonach Wasser aufsprudelte, bzw. als sie zu ihrem Sohne
zurückkehrt, findet sie Ismael, der Wasser hervorbringt, indem er
mit seiner eigenen Ferse den Grund aufkratzt (2/19) – vgl. Gen.
21,17-19.
10) Hagar dämmte den Wasserstrom unverzüglich und füllt ihren
Schlauch (19/19) – vgl. Gen. 21,19.47
11) Eine zweite, Muhammad (15/19) bzw. Ibn ʿAbbās (1/19) zuge-
schriebene Einfügung besagt, dass Gott der Mutter Ismaels gnä-
dig sein möge, weil immer noch vom Zamzam unendlich große
Wassermengen hervorflössen, wenn sie dies nicht getan hätte –
keine biblischen Parallelen.
12) Der Engel befahl Hagar, sich keine Sorgen um ihr Kind zu
machen, da irgendwann der Junge zusammen mit seinem Vater
vor Ort ein Heiligtum erbauen werde (7/19) – vgl. Gen. 21,18.
Die Ibn ʿAbbās zugeschriebenen Erzählungen folgen also im Großen und
Ganzen mit den Unterteilen 1, 3, 6, 7, 9, 10 und 12 treu der Erzählung Gen.
21,9-19, allerdings mit der Hinzufügung verschiedener zusätzlicher Elemen-
te. Wie bei der Überlieferung der Bibel finden sich hier, außer beim Wunder
des Wassers, keine Einwirkungen übersinnlicher Kräfte. Wiederum aber ist
ersichtlich, wie eine alte Legende um ein Heiligtum zu Mekka in 11 „bibli-
siert“ wurde. Bei den Elementen 5 und 8 handelt es sich um spätere islami-
sche Einfügungen. Die Bestandteile 2 und 11 sind auch von der rabbini-
schen Auslegung der Geschichte bekannt. Die in der jetzigen Form wohl in
das neunte Jahrhundert zu datierende pseudepigraphische und midrasch-
artige Schrift Pirqê de Rabbi Eliezer (67a-b) wie im babylonischen Talmud
(Baba Meziʿa, 87a) lässt Abraham, als er Hagar auf Geheiß der Sarah weg-
schickt, ihr einen Schleier (bzw. in manchen Handschriften eine Wasser-
tonne) um ihre Mitte binden, den sie hinter sich her schleppen muss, um
sichtbar zu machen, dass sie eine unfreie Frau ist.48 Die etwas frühere rabbi-

47 Die Lesung der Septuaginta, ὕδατος ζῶντος, ist hier wiederum auch zu bevor-
zugen, da es sich um „Wasser des Lebens“ handelt (vgl. Gen. 26,19).
48 ‫ וכשירצה אברהם‬.‫ כדי שיהא סוחף אחריה‬,‫לקח את הדרדורוקשר במותניה של הגר‬
‫לראות את ישמעאל בנו יראה אתהדרך שהלכו בה‬. Vgl. hier die Zufügung des
Targum Pseudo-Jonathans zu Gen. 21,14: ‫וקשר לה במותנהא לאודועי דאמתא היא‬. S.
im Allgemeinen: F. García Martínez, „Hagar in Targum Pseudo-Jonathan“ in: M.
Goodman, G. H. van Kooten und J. van Ruiten (Hg.), Abraham, the nations, and
86 Robert Kerr

nische Schrift Genesis Rabba (53:14)49 gibt ungefähr Element 11 von Ibn
ʿAbbās wieder, obwohl es in der islamischen Fassung wahrscheinlich um-
gedeutet wurde, um so die geringe Wasserzufuhr des Zamzams zu erklären.
Die Ähnlichkeit mit diesen jüdischen Schriften reicht noch viel tiefer:
Die Ibn-ʿAbbās-Variante fungiert wie ein rabbinischer haggadischer Mid-
rasch: Sie füllt die biblische Erzählung an, aber ohne ihr zu widersprechen,
allerdings mit einer überraschenden Wende, nämlich das Versprechen Got-
tes, nicht Isaak in Israel, sondern Ismael in Arabien. Jedoch steht dies nicht
in Widerspruch zu der biblischen Überlieferung, da immerhin auch in der
Bibel selbst nach der Episode in Gen. 21,21 Ismael nicht verschwindet: In
Gen. 25,9 begraben Ismael und Isaak gemeinschaftlich mit ihren Kindern
ihren verstorbenen Vater Abraham; in 25,11 heißt es, „Isaak wohnte beim
‚Brunnen des Lebendigen, der mich sieht,‘“ also der oben erwähnte ‫ְבּ ֵאר ַלחַי‬
‫ ר ֹ ִאי‬- bǝ’ēr laḥay rō’ī, offensichtlich derselbe Ort, wohin Hagar zuerst
geflüchtet war (16,14); in 28, 9 heiratet Isaaks Sohn Esau seine Cousine
Maalath, eine Tochter Ismaels. Eine ähnliche Erweiterung ist auch bei der
schon genannten rabbinischen Schrift Pirqê de Rabbi Eliezer zu finden, die
von regelmäßigen Besuchen Abrahams bei Ismael berichtet, selbst dass
Ismael wusste, dass sein Vater sich noch um ihn kümmerte ( ‫וידע ישמעאל‬
‫)שעד עכשו רחמי אביו עליו‬. In der rabbinischen Überlieferung werden selbst
nach dem Tode der Sarah (Gen. 23,2) die Beziehungen Abrahams zu seiner
„anderen“ Familie intensiver: Dass Abraham auf Geheiß der Sarah (Gen.
21,9-10) die Hagar sozusagen im Stich ließ, stört den jüdischen Ausleger,50

the Hagarites: Jewish, Christian, and Islamic perspectives on kinship with Abraham
(Leiden, 2010), S. 263-274.
49 Vgl. Pseudo-Jonathan a.l.: ‫וגלי ייי ית עינהא ואיתגלי לה בירא דמיא ואזלת ומלת ית‬
‫„ קרווה מיא ואשקיית ית טליא‬Der Herr deckte ihre Augen auf, und eine Wasser-
quelle ward ihr offenbart, und sie ging zu ihr hin und füllte einen Schlauch mit
Wasser und gab dem Knaben zu trinken.“
50 Ein Teil des Problems ist die Bedeutung des hebräischen Wortes ‫( ְמ ַצחֵק‬mǝṣaḥēq)
in 21,9, das eine crux interpretationis darstellt. Scheinbar ist hier ein Wortspiel
mit dem „Lachen“ in Sarahs Rede in Vers 6 (‫)צְח ֹק ָעשָׂה לִי אֱֹלהִים כָּל־הַשּׁ ֹ ֵמ ַע י ִ ְצחַק־לִי‬
sowie mit dem Namen Isaak (‫ – י ִ ְצחַק‬jiṣḥaq), was Targum Onqelos wiedergibt
(‫)מחייך‬, ohne aber das hieraus verständlich wird, was hiermit gemeint ist. Diese
Unsicherheit ist alt: Die Septuaginta fügt eine Erweiterung hinzu und übersetzt
παίζοντα μετὰ Ισαακ τοῦ υἱοῦ αὐτῆς, und die Vulgata gibt das Wort mit
„ludentem“ wieder, die Peschitta mit „lächerlich machen“ ( ). Bei Targum
Jonathan wird dann Ismael Abgötterei vorgeworfen (‫)וגחין לײ מגחך לפולחנא נוכראה‬.
Die letztgenannte Auslegung wird dann bei Genesis Rabba (53:11) in extenso
Die blauen Blumen von Mekka 87

auch weil gemäß Dtn. 21,15-16 seine Handlung Ismael gegenüber und die
Bevorzugung Isaaks untersagt ist – Ismael ist und bleibt ein legitimer Erbe
Abrahams51 – und dies ist auch bei Josephus zu spüren,52 was auch im

ausgestaltet: Ismael wird von manchen Rabbinern des Geschlechtsverkehrs mit


Feldarbeiterinnen, des Überfallens und der Vergewaltigung von Frauen, des
Altarbaus, des Opferns von Heuschrecken, und – verweisend auf 2 Sam. 2,14
(‫שׂחֲקוּ‬ ַ ‫ וִי‬- wîśaḥăqū!) – des Mordes beschuldigt. Paulus (Gal. 4,29) übersetzt mit
διώκω „verfolgen“ – was im nächsten Abschnitte ausführlich behandelt wird.
51 „The covenant episode in Gen. 15 states that Abram will have countless descen-
dants. This covenant is fulfilled in Gen. 16 through Hagar. Although Hagar is a
lowly Egyptian maidservant and Ishmael was originally conceived to be the heir
of Sarai, Ishmael is still a son of Abram and, therefore, part of the covenant. Thus,
the biblical writer used Hagar’s role to demonstrate that God seriously upheld the
covenant of Gen. 15 regardless of who the mother of the child was or why the
child was conceived; Abram is the father and, by virtue of the covenant, he will
be blessed with countless descendants – including those of Ishmael“ - Ph. R. Drey,
„The Role of Hagar in Genesis 16“ Andrews University Seminary Studies 40
(2002), S. 195. So auch z. B. bei J. Blenkinsopp, „Abraham as Paradigm in the
Priestly History in Genesis,“ Journal of Biblical Literature 128 [2009]: „In the
P<riestly> historian’s account of this first and decisive revelation to Abraham, it
is initially clear that the covenant is made with Abraham and all his descendants
without exception, therefore including Ishmael“ (S. 237); „Ishmael remains, ne-
vertheless, a pivotal figure intimating a broader and more inclusive idea of the
Abrahamic covenant, one entirely in keeping with the universalism of the Priestly
History“ (S. 238). Ein Problem bildet der syntaktisch merkwürdige Befehl Gottes
bei der Opferung Isaaks (Gen. 22,2; vgl. Raschi a.l.): „Nimm doch deinen Sohn,
deinen einzigen, den du lieb hast, Isaak ...“ ( ָ‫שׁר־אָ ַהבְתּ‬ ֶ ֲ‫קַח־נָאאֶ ת־ ִבּנְָך אֶ ת־י ְחִ ֽידְ ָך א‬
‫)אֶ ת־י ִ ְצחָק‬. Den Übersetzern der Septuaginta war ‫ י ְחִ ֽידְ ָך‬wohl anstößig, darum
geben sie scheinbar den Auftrag mit Λαβὲ τὸν υἱόν σου τὸν ἀγαπητόν, ὃν
ἠγάπησας, τὸν Ισαακ wieder. Vgl. auch die Rezeption des Chrysostomus in
seiner 25. Homilie über den Brief an die Hebräer.
52 Josephus gibt eine freie Auslegung, ohne ‫( מְ ַצחֵק‬mǝṣaḥēq) zu übersetzen. Für ihn
will Sarah, die vor der Geburt Isaaks Ismael als erbberechtigten Sohn behandelte,
später nicht, dass Ismael mit Isaak erzogen wird (παϱατϱέϕεσται), angeblich ih-
res Altersunterschiedes wegen, immerhin könnte Ismael dem Isaak nach dem
Ableben ihres Vaters (tödliche) Verletzungen zufügen (beim Spielen?), also es be-
stünde die Möglichkeit, dass Ismael sich nach Abrahams Tode zum Haupterben
einsetzen würde (Ant. i.215): Σάϱϱα δὲ γεννηϑέντα τὸν Ἰσμαῆλον ἐκ τῆς δούλης
αὐτῆς Ἀγάϱης τὸ μὲν πϱῶτον ἔστεϱγεν οὐδὲν ἀπολείπουσα τῆς πϱὸς ἴδιον υἱὸν
εὐνοίας, ἐτϱέϕετο γὰϱ ἐπὶ τῇ τῆς ἡγεμονίας διαδοχῇ, τεκοῦσα δ᾽ αὐτὴ τὸν
Ἴσακον οὐκ ἠξίου παϱατϱέϕεσϑαι τούτῳ τὸν Ἰσμαῆλον ὄντα πϱεσβύτεϱον καὶ
κακουϱγεῖν δυνάμενον τοῦ πατϱὸς αὐτοῖς ἀποϑανόντος. Ähnliches findet sich
88 Robert Kerr

nachfolgenden Abschnitt behandelt wird, – und gut ersichtlich wird bei der
Übersetzung Pseudo-Jonathans zu Gen. 21,14 „und er schickte sie fort“
(‫שׁ ְלּ ֶח ָה‬
ַ ְ ‫ )וַ ֽי‬mit ‫„ ופטרה בגיטא‬und er reichte ihr die Scheidung ein.“53 In Gen.
25,1 wird zusätzlich berichtet: Abraham „nahm wieder ein Weib und ihr
Name war Ketura“ (‫טוּרה‬ ֽ ָ ‫שׁמָהּהּ ְק‬
ְ ‫ – ) ַויִּקַּח אִ שָּׁה וּ‬die Targume Pseudo-
Jonathan und Neofiti identifizieren sie mit Hagar, und bei Genesis Rabba
61,4 finden wir dann die Bemerkung „Rabbi Jehuda sagt, dies sei Hagar“ ( ‫ר׳‬
‫ )יהודה אומר זו הגר‬und in 60,14 wird sogar behauptet, Isaak habe seinen
Vater ersucht, Hagar zu heiraten (die Rabbiner legen natürlich populär-
etymologisch aus, warum Hagar, die jetzt als rechtgläubig geschildert wird,
fortan Ketura heißt; Pseudo-Jonathan a. l. mit einer Anspielung des Ver-
bums ‫„ קטר‬binden“: ‫„ ושמא דקטירא ליה קטורא היא הגר מן שרריה‬und ihr
Name war Ketura, dies ist Hagar, die ihm vom Anfang an gebunden war“).54
Spuren dieser Auseinandersetzung sind zweifellos auch in der korani-
schen Erzählung feststellbar. So z. B. die häufigen Erwähnungen Isaaks und
Jakobs (z. B. 4,163; 6,84; 12,6,38; 19,49; 21,72; 29,27; 38,45) wirken im Lichte
der späteren islamischen Überlieferung etwas befremdend – warum über-

auch bei Genesis Rabba (a. a. O.), wo R. Azaria im Namen von Rabbi Levi ‫מְ ַצחֵק‬
(mǝṣaḥēq) als „Erbe“ (d. h. mit Erbanspruch) auslegt, vgl. auch Raschbam a.l.,
der meinte, dass Ismael seines Alters wegen Isaak beim (Wett)Spielen sein Erbe
abnehmen könne, und Abarbanel, der meinte das Wort weise auf die Bevor-
mundung eines Erstgeborenen hin (‫)בבית כבן יחיד בבית ירושתו משתעשה‬.
53 Diese Übersetzung des Verbums ‫שׁלַח‬ ָ (√šlḥ) „(weg)schicken“ im Sinne von
„scheiden“ hier im Targum wurde wohl durch diese Semantik des II. (Piel) Stam-
mes im späteren Bibelhebräischen eingegeben: Vgl. z. B. in der nachpriester-
schaftlich eingefügte Episode Ex. 18, 1-12, Vers 2b, in dem über Zippora erzählt
wird: ‫שׁלּוּחֶי ָה‬ ִ ‫שׁה אַחַר‬ ֶ ֹ ‫’( אֵ שֶׁ ת מ‬ēšäṯ mōšäh ’aḥar šillūḥäyah) mit Dtn. 24,1-4, z. B. 1b
‫( ְוכָתַ ב לָהּ ֵספֶר כּ ְִריתֻ ת ְונָתַ ן ְבּי ָדָ הּ וְשִׁ ְלּחָהּ ִמבֵּית ֹו‬wǝ-ḵåṯaḇ låh sēp̄är kǝrīṯūṯ wǝ-nåṯan bǝ-
yåḏåh wǝ-šillǝḥåh mibbêṯô) sowie die vergleichbare Formulierung in Jes. 50,1
(‫) ֵספֶר כּ ְִריתוּת אִ ְמּכֶם אֲ שֶׁר שִׁ ַלּחְתִּ י ָה‬.
54 Die Interpretation der Hagar als Ketura weist nicht nur hinsichtlich des ge-
brauchten Verbums interessante Parallelen mit Ex. 18 (vgl. die vorige Anm.) auf:
Die Zurückführung von Frau und Kind(ern), nach Zuwendung zur Gottheit
YHWH, entspricht der nachexilischen Programmatik von Esra 9-10 und Num.
25,6 ff. Eine Erinnerung hieran bewahrt wohl die islamische Überlieferung: Die
aus dem Jemen hergekommenen Stämme Ğurhum und Qaṭūra (‫ )قط ورة‬besiedeln
Mekka zur Lebzeit Ismaels nach dem Tode der Hagar, vgl. Wüstenfeld, Chroniken,
Bd. iv (Leipzig, 1861), §6 XXX . Die abweichende Vokalisierung der hebräischen
Wiedergabe kommt durch die masoretische Vokalreduktion zustande (vgl. Anm.
63).
Die blauen Blumen von Mekka 89

haupt den zweitgeborenen Isaak nennen, wenn er keinen Anteil haben soll-
te? – besonders wenn man sich erinnert, dass bei der Opferung (‫ )ذبيح‬in
Sure 37, 101-103 der Name des zu opfereneden Kindes nicht erwähnt wird,
und dass dies Ismael gewesen sein soll, geht aus dem Koran selber nirgends
hervor und beruht lediglich auf Teilen der späteren islamischen Überlie-
ferung – wobei wohlgemerkt 112-113 eher auf Isaak hinweisen, eine An-
sicht, die auch von Ṭabarī geteilt wird. Allem Anschein nach hat Abraham
in der koranischen Überlieferung, wie z. B. in Genesis Rabba (55,7), beide
Söhne gleich lieb.55
Aus den vorhergehenden Ausführungen sollten drei Gegebenheiten
deutlich geworden sein: Der Islam hat keine eigenständige Erinnerung an
die Geschichten von Gen. 16 und 21 bewahrt, vielmehr, was wiederum sehr
deutlich aus den Varianten von ʿAlī und Mujahid hervorgeht, dürfte eine
alte Überlieferung um die Kaʿba in Mekka mit biblischem Stoff angefüllt
worden sein – die vielen islamischen Erzählungen um die polytheistische
Vorgeschichte der Kaʿba, also die Zeit vor Muhammad (und nach Ismael),
bewahren vielleicht teilweise hieran eine Erinnerung;56 die Version des Ibn
ʿAbbās macht zudem deutlich, dass die Hinzufügungen eine eindeutige
Ähnlichkeit und Abhängigkeit zu rabbinischen exegetischen Traditionen
(Midrasch) aufweisen, die islamische Erzählung folgt also und betreibt zu-
gleich rabbinische Auslegung – besonders auffallend sind die Überein-
stimmungen mit dem in westaramäischer Sprache verfassten Targum (mit
haggadischen Zusätzen) Pseudo-Jonathan, und nicht die uns vertraute bib-
lische Überlieferung: Die arabische Variante des Ibn ʿAbbās hätte eigentlich
nur diese aramäische Bibelübersetzung als Quelle nötig gehabt.57 Diese zu-

55 Vgl. auch hierzu M. Reiss, „Ishmael, Son of Abraham“ Jewish Bible Quarterly
30/4(2002), S. 254-255.
56 Vielleicht wird bei Diodorus Siculus eine Erinnerung hieran bewahrt in der
Bibliotheca historica iii. 44, 2 im arabischen Wohngebiet der Banizomines, das
ähnlich wie schon in Anm. 8 beschrieben wird, einen von allen Arabern für hei-
lig gehaltenen Tempel besaß: Ἱεϱὸν δ᾽ ἁγιώτατον ἵδϱυται, τιμώμενον ὑπὸ
πάντων Ἀϱάβων πεϱιττότεϱον.
57 Für die vorislamische Datierung dieses Targums s. jetzt B. P. Mortensen, The
Priesthood in Targum Pseudo-Jonathan [Studies in the Aramaic Interpretation of
Scripture 4] (Leiden, 2006), 2 Bde. In diesem Werk stellt die Autorin die These
auf, dass dieser Targum eine Anleitung für Priester sei und aus dem späten vier-
ten Jahrhundert n. Chr. stamme. Das Hauptargument der Vertreter einer nach-
islamischen Datierung ist die Behauptung, die Übereinkünfte mit der islami-
schen Überlieferung durch islamische Beeinflussung beweisen sollten, eine Mut-
90 Robert Kerr

sammengesetzten Erzählungen wurden dann in einem dritten Stadium


„islamisiert,“ also mit koranischen Zitaten und mit spezifisch islamischen
Inhalten angereichert. Also von altarabischer bzw. einheitlicher islamischer
Überlieferung kann keinesfalls die Rede sein.58
Was aber bis dato ungeklärt ist und hier noch zu klären bleibt, ist die
Verortung Abrahams als Erbauer der Kaʿba in Mekka und die Behauptung,
die Araber seien über Ismael die Nachkommen Abrahams. Die erstgenannte
Frage wird im Folgenden behandelt.

4. Biblische Ortslegenden in Arabien


Der Islam behauptet, die Araber seien aus dem Spross Ismael entsprungen,
und Ibn Isḥāq behauptet sogar, die Qurayš hätten schon lange vor der ersten
Offenbarung Gottes an Muhammad geglaubt, die Abkömmlinge des erstge-
borenen Sohnes Abrahams zu sein.59 Dies ist eigentlich ganz merkwürdig
und setzt, wie wir gleich sehen werden, wiederum jüdische Exegese sowie
ihre christliche Weiterführung voraus. Von der Hebräischen Bibel aus ge-

maßung, die sich nur durch einen Zirkelschluß beweisen ließe: Als ob Jesaja 7:14
(græce) nachchristlich sein müsste, weil hier Jesu Parthenogenesis angeblich vor-
ausgesetzt sei. Wichtig ist zu bemerken, besonders bei der sicherlich in ihrer
jetzigen Fassung nachislamischen Schrift Pirqê de Rabbi Eliezer, dass rabbinisch-
jüdische Traditionsliteratur, besonders am Ende dieser Periode, Traditionen
überliefert anstatt sie zu erfinden; auch wenn die Pirqê hie und da scheinbar eine
implizite Polemik zum Islam betreibt; sie erfindet eigentlich keine neuen Tradi-
tionen, um dies zu tun, sondern deutet Überliefertes neu. Die Datierung rabbi-
nischer Texte anhand scheinbar islamischen Inhaltes ist zudem methodologisch
falsch: Warum sollte ein „polemisierender“ rabbinischer Text zudem eine islami-
sche Erneuerung implizit bestätigen? In casu Pseudo-Jonathans müsste darüber
hinaus bei einer nachislamischen Datierung gefragt werden, wer ihn zu jener
Zeit in eine westaramäische Mundart übersetzen konnte und wer ihn hätte lesen
können, also : was wäre der Sinn eines Targums in einer kaum noch verwendeten
Sprache? Wie dem auch sei, deutlich ist das Vorhandensein einer jüdischen
exegetischen Tradition von Hagar und Ismael im Ḥiǧāz , vgl. auch Anm. 28.
58 Dies wird auch u. a. durch die Orthographie der Patriarchennamen im Arabi-
schen deutlich, die als Transkriptionen syrischer Schreibungen aufgefasst werden
müssen, vgl. Kerr 2014 (=2012), § 5.8.
59 Vgl. A. Guillaume, The Life of Muhammad. A Translation of Ibn Ishaq’s Sirat
Rasul Allah (Oxford, 1950), S. 87 und Anm. 136. S. auch ausführlich bei
Muhammad Amin al-Baghdadi as-Suwaidi, ‫( سبائك الذھب في معرفة قبائل العرب‬Beirut,
1921), S. 62, 78.
Die blauen Blumen von Mekka 91

sehen ist die Tatsache auch absonderlich: In den übrigen Büchern wird der
Stammvater Ismael nirgendwo erwähnt,60 nur „Ismaeliten“ (‫שׁ ְמעֵאלִים‬ ְ ִ ‫ )י‬als
eine Art von biblischem Pseudo-Ethnonym61 ohne nähere Angaben tauchen
auf, eben wie solche Bezeichnungen in der Bibel des Häufigeren vorkom-
men, wie z. B. auch die „Hagariter.“62 Das Alte Testament, also die Hebrä-
ische Bibel, erlaubt uns nicht, eine Verbindung von Arabern mit Ismaeliten
oder gar Hagarenern herzustellen – selbst in 2 Makk. 5,8 ist nur von Ἀϱέτας
ὀ τῶν Ἀϱάβων τύϱαννος die Rede. Die ersten ausgearbeiteten Hinweise
einer Veränderung stammen von Josephus, dessen Auslegung gleich im
nächsten Abschnitt behandelt wird. Eine Bestätigung dieser Sicht aber kann
aus dem Targum Jonathan entnommen werden: Im eschatologischen 60.
Kapitel des Buches Jesaja, worin beschrieben wird, wie fremde Völker ihre
Reichtümer vor Gott in Zion bringen werden, lesen wir im 7. Vers über die
Wüstenbewohner:
‫ַל־רצוֹן ִמזְ ְבּחִי וּבֵית‬
ָ ‫שׁ ְרתוּנְֶך יַעֲלוּ ע‬
ָ ְ ‫כָּל־צ ֹאן ֵקדָ ר י ִ ָקּבְצוּ לְָך ֵאילֵי נְבָיוֹת י‬
‫ְאַרתִּ י ֲא ָפ ֵאר׃‬
ְ ‫תִּ פ‬
„Alle Schafe von Kedar werden sich zu dir versammeln, die Widder
Nebajots werden dir dienen; sie werden als angenehmes Opfer auf
meinen Altar kommen; und ich will das Haus meiner Herrlichkeit
noch herrlicher machen.“
Nebajot (‫ – נְבָיוֹת‬nǝḇāyōṯ)63 erinnert hier an den erstgeborenen Sohn Ismaels,
dessen Geburt in Gen. 25,13 erwähnt wird. Targum Jonathan aber, anhand

60 Abgesehen von der Zusammenfassung in 1 Chr. 1. Die als Ismael in 2 Kön. 25, 23,
25; 1 Chr. 8, 38; 9,44; 2 Chr. 19,11; 23,1; Esra 10,22 und Jer. 40-41 genannten
Personen stehen hier natürlich außer Betracht.
61 Ri. 8,24; II Samuelis 17,25; 1 Chr. 2, 12; 27,30; Ps. 83, 6. Was die Hebräische Bibel
hiermit meint, ist ebenso unklar wie bei anderen in diesem Buch erwähnten
Pseudo-Ethnonymen wie z. B. „Kanaaniter.“ Während „Hagariter“ und „Saraze-
nen“ offenbar ursprünglich Stammesnamen sind (vgl. die Ἀγϱαῖοι und Σαϱακη-
νοί jeweils Strabon, Geog. xvi.4,2; Plinius, Nat. hist. vi.154,161; Ptolemäus, Geog.
v.19,2) „... ‚Ishmaelites‘ never had been; it had never been used by pagan writers,
and was an appellation or characterisation whose meaning was derived from an
interpretation of Genesis“ (F. Millar, „Hagar, Ishmael, Josephus and the Origins
of Islam“ Journal of Jewish Studies 44 (1993), S. 41). Hieronymus scheint der erste
gewesen zu sein, der im Stammesnamen Hagariter die Nachkommen der Hagar
sah, s. zu Anm. 136.
62 1 Chr. 5, 10, 19, 20; 27, 31; Ps. 83, 6.
63 N.B.: die Septuaginta bewahrt eine vormasoretische Orthographie ohne Vokal-
reduktion: Ναβαιωϑ.
92 Robert Kerr

der Lautähnlichkeit, gibt im Aramäischen den Namen des Sohnes Ismaels


mit ‫( נְבָט‬nǝḇāṭ) wieder, also er „übersetzt“ Nebajoth als Nabatäer (nbṭw).64
Hier also wird Ismael de facto zum Stammvater der arabischen Nabatäer
erklärt. Ein Vorläufer dieser Sicht findet sich bei der im frühen dritten Jahr-
hundert v. Chr. in Alexandrien gemachten jüdischen Bibelübersetzung ins
Griechische, der Septuaginta: In Jesaja 42,11 übersetzt sie das Hebräische
‫שׁבֵי ֶסלַע‬ ְ ֹ ‫( י‬jǫšḇê säla‘) „Felsbewohner“ mit οἰ κατοικοῦντες Πέτϱαν der
Nabatäer Hauptstadt – die habitatores Petrae der Vulgata, also „die Bewoh-
ner (der Stadt) Petra.“ Targum Jonathan übersetzt anders, aber nichtsdesto-
trotz mit einem Bezug auf Arabien: ‫„ י ִתְבוּן מַדבַר עַר ָבאֵי‬die Bewohner der ara-
bischen Wüste.“ Hier sehen wir, wie Arabien allmählich in die Sicht der
sakralen Geographie der jüdischen Bibelauslegung gelangt. Deutlicher wird
dies bei der Übersetzung der Targume der schon erwähnten Ortsangabe
„Schur“ (‫ )שׁוּר‬in Gen. 16,7, auf dessen Weg bei einem Brunnen der Engel
des Herrn Hagar bei ihrer ersten Flucht fand: Onqelos übersetzt ‫עַל עֵינָא‬
‫ַגרא‬
ָ ‫בְאוֹרחָא דְ ח‬, während Pseudo-Jonathan mit einer etwas anderen Wortwahl
dasselbe meint: ‫על עינא דבאורח חגרא‬, beide geben mit „beim Brunnen auf
dem Wege nach Hegra“ wieder.65 Hegra, heute Madāʾin Ṣāliḥ, war bekannt-
lich nach Petra die zweite Stadt der Nabatäer und lag im nordwestlichen
Teil Saudi-Arabiens, zirka 400 km nordwestlich von Medina und ungefähr
500 km südöstlich von Petra, nahe der Oase al-Ula, an einer uralten, noch in
islamischer Zeit benutzten Pilgerstraße – hier soll Muhammad gebetet ha-
ben. Jetzt also wird die biblische Heilsgeschichte tief in der arabischen Wüs-
te, beinah am Rande des Ḥiǧāz verortet: Es gibt also eine alte jüdische Über-
lieferung, die die Geschehnisse um Hagar und Ismael in Arabien lokalisiert.
Dies kommt nicht von ungefähr: In allen mir bekannten Bibelübersetzun-
gen heißt es, Hagar sei eine Ägypterin, vgl. Gen. 16,1, wo sie als „ägyptische
Magd“ bezeichnet wird – anhand des Hebräischen ‫שׁ ְפחָה ִמצ ְִרית‬ ִ (šip̄ ḥāh
miṣrīṯ) –, in der rabbinischen Auslegung wird häufig gesagt (z. B. Genesis
Rabbah, Pirqê de-Rabbi Eliezer, Sefer ha-Yaschar), Abraham habe die Frau
vom Pharao während seines Ägyptenaufenthaltes bekommen (vgl. Gen.
12,16).66 Die Wurzel √mṣr im Semitischen wird tatsächlich durchweg ge-

64 Der ganze Vers in dieser Übersetzung lautet: ‫כרי נְבָט‬ ֵ ִ‫כָל עָן עַרבָאֵ י י ִתכַנשָן ְלגַוִיך ד‬
‫שבַח׃‬
ַ ‫י ְשַ ְמשוּנִיך י ִתַ סקוּן ל ְַר ְעוָא עַל ַמד ְבחִי ֻובֵית תוּשבַחתִ י ְא‬
65 So auch bei den anderen alttestamentlichen Belegen dieses Ortsnamens: Gen.
20,1; 25,18 (nur Onqelos, Ps.-J. ‫ ;)חלוצא‬Onq.: 1 Sam. 15, 7; 27, 8. Man erinnere
sich auch der oben angegebenen Übersetzung Saadia Gaons dieser Stelle.
66 Was aber nicht richtig sein kann, da das hebräische Wort ‫שׁ ְפחָה‬ ִ (šip̄ḥāh) „Kebs-
Die blauen Blumen von Mekka 93

braucht, um Ägypten anzudeuten, wie ‫( مصر‬miṣr) im Arabischen; aber dies


ist nicht ihre alleinige Semantik, da sie im nordarabischen Minäischen gut
bezeugt ist als ein in dieser Gegend zu verortendes Ethnonym bzw. als
Stammesname (mṣr) – wohlgemerkt kann es sich in diesen Inschriften nicht
als eine Bezeichnung für Ägypten handeln – was Jeffery in seinem Foreign
Vocabulary (s.v.; wohl Gunkel bzw. Winckler folgend) dazu bewog, miṣr als
ein Lehnwort zu betrachten – was dadurch an Wahrscheinlichkeit gewinnt,
dass Hagar beim besten Willen nicht als ein ägyptischer, wohl aber als ein
nordarabischer Name gedeutet werden kann. D. h. dann, dass Hagar ur-
sprünglich als eine Einwohnerin Nordarabiens, keinesfalls aber als ein
Ägypterin verstanden werden muss, eine Tatsache, die sehr wahrscheinlich
im Licht der oben besprochenen jüdischen Bibelauslegung, die die Hagar-
Ismael-Episode in Nordarbien lokalisiert, sowie die Übersetzungen der Tar-
gume, die biblische Handlungen auch in dieser Gegend verorten. Abraham
sandte also seine Kebse nicht einfach in die Wüste hinein, sondern gewis-
sermaßen „nach Hause.“ Eine Erinnerung an dieses Motiv findet sich selbst
in den islamischen Überlieferungen, die den Wohnort Ismaels (Gen. 21,21),
die Wüste ‫ָארן‬
ָ ‫( פּ‬pârān), mit dem Ḥiǧāz in Verbindung bringen. Yāqūt al-
Ḥamawī sagt selbst, möglicherweise auf jüdischen Quellen basierend: „‫ف اران‬
(fārān) … sei ein arabisiertes hebräisches Wort – einer der Namen Mekkas
in der Torah“67, und ibn Kaṯīr schreibe, Mekka sei im Gebiet Fārāns befind-
lich.68 Wir erinnern uns, dass die Continuatio byzantia arabia es auch als
selbstverständlich annimmt, dass Abraham einst in Mekka war: Nirgends
wird dem widersprochen, was man hätte erwarten können, wenn dies eine

weib“ hier sowie bei der ähnlichen Erzählung Gen. 29-30, etwas im Besitze der
Frau (vgl. 29, 24, 29) zu bezeichnen scheint, die dann auch über die eventuelle
Frucht ihres Leibes verfügt, siehe auch etwa 30,1-3 mit einer ähnlichen Wortwahl
zu Gen. 16. Dass Hagar ein Geschenk des Pharao an Sarai gewesen sein soll, ist
schon im sog. in aramäischer Sprache verfassten „Genesis Apocryphon“ (1 Q 20)
aus Qumran bezeugt (xx 30-32): Als der Pharaoh Zoan, der Königs Ägyptens,
erfährt, dass Sara(i) die Gattin Abra(ha)ms (und nicht seine Schwester) ist, gibt
er ihr Schätze sowie die Hagar, und dies alles stattet er dann Abram zurück ( ̊‫ואת̊י̊ב‬
‫ קודמיהא ואף להגר‬... ‫)לי̇ לש̊ר̇י ויהב לה̇ מלכא̊ כ̊]סף וד[הב ]ש[ג̇יא ולבוש שגי די ב̇ו̇ץ̇ וארג̇ו̊א̇ן‬.
67 Muʿǧam al-buldān, Ausgabe F. Wüstenfeld, Bd. III (Leipzig, 1868), S. 34. Aus den
übrigen biblischen Belegen Parans wird eine solche Verortung verständlich: Gen.
14, 6; Num. 10, 12; 12, 16; 13, 3, 26; Dtn. 1, 1; 33, 2; 1 Sam. 25, 1; 1 Kön. 11, 18;
Habakuk 3, 3 – vgl. auch Anm. 100.
68 Abū al-Fidā’ Ismā’īl ibn Kaṯīr, Tafsīr al-Qurʾān al-‘Aẓīm (Ausgabe: Beirut, 1990),
Bd. IV, S. 14.
94 Robert Kerr

späte Erfindung des werdenden Islams gewesen wäre.69 Auch im Licht der
übrigen alttestamentlichen Belege paßt √mṣr hier eher auf eine Bezeichnung
eines Ortes bzw. Stammes Arabiens, als dass es auf Ägypten hinweist.
Interessant in dieser Hinsicht ist die Erweiterung des Targum Pseudo-
Jonathan zu Gen. 21, 21 („Und er wohnte in der Wüste Paran, und seine
Mutter nahm ihm ein Weib aus Ägypten“): ‫ויתיב במדברא דפארן ונסיב איתא‬
‫ – ית ע]ד[ישא ותרכה ונסיבת ליה אימיה ית פטימא אתתא מארעא דמצרים‬also die
aus „Ägypten“ (‫√ > מצרים‬mṣr) stammenden Gattinnen, die seine Mutter für
Ismael nahm, hießen ‘Aïšā und Pāṭīmā – was in den in nachislamischer Zeit
verfaßten Pirqê de Rabbi Eliezer weiter ausgebaut wird: Aïscha wird eine
Moabiterin genannt (keine Ägypterin!), und Ismael reichte ihr, weil sie
Abraham, der auf Besuch war (s.o.), nicht mit Brot und Wasser bediente,
die Scheidung ein, was Fatima hingegen tat und so Abrahams Segen für
Ismaels Haus gewann.70 Hier muss daran erinnert werden, dass, obwohl das
letztgenannte Werk eindeutig nachislamisch ist, und hie und da eine ge-
wisse Polemik zum Islam zu betreiben scheint, sicherlich alte rabbinische
Überlieferungen bewahrt, eine Tatsache, die durch den Targum Pseudo-
Jonathan seine Bestätigung findet – ein, wie schon erwähnt, vorislamisches
Werk (vgl. Anm. 57). Ob im Licht dieser Gegebenheiten der überlieferten
Biographie Muhammads historische Gültigkeit zugeschrieben werden darf,
wird zweifelhaft (vgl. Anm. 4).
Hier muss zudem bemerkt werden, dass, obwohl die hier aufgeführten
Zeugnisse großenteils den rabbinischen Überlieferungen entnommen wor-
den sind, diese Gegebenheit sicherlich nicht so gedeutet werden kann, dass
solche Traditionen bei Christen, sicherlich den Judenchristen, also bei den
anfangs erwähnten Nazoräern und Ebioniten, unbekannt gewesen seien.

69 Die gilt auch für den Briefwechsels des Kaisers Leo mit dem Kaliphen ʿUmar,
auch wenn er apokryph ist, der sich nur über die arabische Heiligung der Kaʿba ,
aber nicht über Abrahams Beziehung zum Ort zu wundern scheint, vgl. J.-M.
Gaudeul, „The Correspondence between Leo and ’Umar: ’Umar’s Letter Re-
discovered?“ Islamochristiana 10(1984), S. 127-128.
70 Eine Erinnerung an die hier geschilderte Episode findet sich auch in der isla-
mischen Überlieferung an die erste Frau Ismaels ’Umāra, eine Tochter des Sād b.
Usāma des Ğurhum Stammes, die Abraham, als er zu Besuch kommt, in Ismaels
Abwesenheit unfreundlich aufnimmt; bei seiner Wiederkehr zeigt Ismael ihr auf
Befehl Abrahams die Schwelle seines Hauses, schickt sie zu ihrer Familie zurück
und heiratet eine Ri’la bzw. Za’la, eine Tochter des Ğurhum-Stammeshauptes
Muḏāḏ b. ’Amr. Bei seiner Abreise segnet Abraham Ismaels Haus - vgl. Wüsten-
feld, Chroniken, Bd. IV (Leipzig, 1861), §6.
Die blauen Blumen von Mekka 95

Wichtig hier ist die literarische Evolution der Figur Abrahams:71 In der
Hebräischen Bibel ist Abraham eine fehlerhafte Person mit menschlichen
Schwächen, die als einziger Monotheist in einer polytheistischen Welt sich
durchzusetzen versucht; als sein Leben gefährdet ist, ist er sogar bereit, das
Leben der Sarah aufs Spiel zu setzen (vgl. Gen. 12, 12-13; 20, 1-11).72 Im

71 Hier sollte mit aller Deutlichkeit erwähnt werden, dass der Roman um Abraham
(nach)exilischen Datums ist. Seit den bahnbrechenden Arbeiten Th. L. Thomp-
sons und J. Van Seters in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ist
deutlich, dass hierin keine authentischen Erinnerungen an eine historische Figur
des zweiten Jahrtausends v. Chr. zu finden sind. Nebenher bemerkt ist die Vor-
lage für Abraham und seine Reise der neubabylonische König Nabonid, der seine
Hauptstadt verließ, Abschied nahm von seiner Mutter – einer Priesterin des
Mondgottes Sîn in Ur (der Chaldäer) – und seiner Schwester – Priesterin dessel-
ben in Harran –; er reiste danach in die arabische Wüste, um seine neue Haupt-
stadt in der Oase Taima zu gründen, wo er dann auch dreizehn Jahre lang
verblieb. Die Verortung Abrahams in der arabischen Wüste ist also kein Zufall,
auch wenn in der biblischen Überlieferung das Ziel seiner Reise immer das Land
„Kanaan“ war.
72 Überhaupt ist der erste alttestamentlicher Text, der etwas über Abraham aussagt,
der also mehr als eine bloße Nennung seines Namens bietet, Ezechiel 33, 23-26,
worin die eingeborenen Judäer, die den Ansturm der Babylonier überlebt hatten,
als seine wahren Nachkommen Anspruch auf dieses Land erheben. Aber erst in
der spätexilischen Periode hat dann Deuterojesaja diese gemeinsame Abkunft als
Schlüssel der jüdischen Identität in der Diaspora umgedeutet. Aus der neueren
Forschung geht also deutlich hervor, dass die Patriarchen den älteren Pentateuch-
strata größtenteils unbekannt waren und mindestens seit R. Kesslers Dissertation
(Die Querverweise im Pentateuch: Überlieferungsgeschichtliche Untersuchung der
expliziten Querverbindungen innerhalb des vorpriesterschriftlichen Pentateuchs
[Heidelberg, 1972], S. 180-327, bes. S. 314-327) ist deutlich geworden, dass die
Verweise auf Genesis in den vorpriesterschriftlichen Teilen der übrigen Bücher
der Tora sehr beschränkt sind – besonders auffallend ist die Abwesenheit eines
deutlichen Hinweises auf Genesis im Deuteronomium, das aber den Auszug aus
Ägypten als bestimmendes Ereignis Israels kennt – es handelt sich um sekundäre
harmonisierende Einfügungen. D. h. die Genesiserzählungen waren ursprünglich
unabhängig von denen um Mose bzw. den Auszug aus Ägypten entstanden und
diesen Autoren nicht bekannt. So wurde z. B. das Versprechen der Gottheit an
Mose in Ex. 32, 13 seit langem als ein sekundärer Zusatz bei der Erzählung über
das goldene Kalb erkannt. Andere späte nichtpriesterschriftliche Hinzufügungen
wie Num. 14,16 (‫שׁר־נִשְׁ בַּע ָלהֶם‬
ֶ ‫ָאָרץ ֲא‬
ֶ ‫ ) ִמ ִבּלְתִּ י י ְכֹלֶת י ְהוָה ְל ָהבִיא אֶ ת־ ָהעָם ַהזּ ֶה ֶאל־ה‬sowie
Dtn. 26,5 setzen höchstens ein allgemeines Wissen eines Versprechens YHWHs
an patriarchalische Vorväter voraus. Vgl. hierzu N. Lohfink, Die Väter Israels in
Deuteronomium, Göttingen, 1991, S. 34 und E. Blum, „Die literarische Ver-
96 Robert Kerr

Neuen Testament aber fängt Abraham an, die Konturen eines archetypi-
schen Gerechten zu bekommen (vgl. Römerbrief 4, 18-24). Im Koran da-
gegen wird Abraham mitsamt allen Propheten als fehlerfrei betrachtet –
Abrahams Verstand beweist die wahre Ein-heit Gottes (6, 74-79) und er
zweifelt nie an Gottes Willen oder an seine Güte (vgl. z. B. 37, 83-113). Das
koranische Bild Abrahams setzt also das Christliche voraus bzw. stellt eine
Weiterentwickelung dessen dar.
Ein wichtiger Beleg, der zeigt, dass auch den (frühen) Christen solche
Überlieferungen geläufig waren, stammt von Paulus, der natürlich aus
seinem früheren Leben als Saul mit jüdischen Traditionen bestens vertraut
war (der jüdisch-griechische Doppelname war bei Juden in der Spätantike
durchaus üblich). Hier in der wohl frühesten erhaltenen christlichen Schrift,
im Paulusbrief an die Galater,73 ist 4,21-26 für das behandelte Thema von
entscheidender Bedeutung, besonders der undeutliche und vielbesprochene
erste Teil von Vers 25:
Τὸ δὲ Ἁγὰϱ Σινᾶ ὄϱος ἐστὶν ἐν τῇ Ἀϱαβίᾳ, συστοιχεῖ δὲ τῇ νῦν
Ἰεϱουσαλήμ, δουλεύει γὰϱ μετὰ τῶν τέκνων αὐτῆς74

bindung von Erzvätern und Exodus. Ein Gespräch mit neueren Endredaktions-
hypothesen,“ in: J. C. Gertz, K. Schmid und M. Witte (Hg.), Abschied vom
Jahwisten: Die Komposition des Hexateuch in der jüngsten Diskussion, Berlin, 2002,
153-154. Erst in der Priesterschrift wird versucht, aus diesen verschiedenen
Überlieferungen eine Einheitserzählung zu gestalten: So finden sich z. B. in den
priesterschriftlichen Erzählungen über Mose viele Querverweise zu P-Material in
Genesis.
73 Die Einleitung dieses Briefes (1,1-10) scheint vorauszusetzen, dass die Christen-
gemeinde in Galatien schon früher durch Paulus belehrt wurde, jedoch in der
Zwischenzeit unter den Einfluß von Juden-Christen gekommen waren (d. h. in
seinen Worten der „Jerusalemer Lehre,“ vgl. 1,17; 4,25 συστοιχεῖ δὲ τῇ νῦν
Ἰεϱουσαλήμ) und sie ihn deshalb der Lüge bezichtigten. Paulus will deutlich
machen, er habe nicht gelogen (1,20 ὅτι οὐ ψεύδομαι) und betreibt daher eine
gezielte Polemik gegen die toratreue Irrlehre.
74 So Nestle-Aland (abd folgend), vgl. B. M. Metzger, A Textual Commentary on the
Greek New Testament (London-New York, 1971), S. 596. Vgl. auch die Kom-
mentare a. l. (z. B. Cambridge Bible zur Stelle; J. B. Lightfoot, Saint Paul’s Epistle
to the Galatians [London, 81884], S. 180 f., 192 f.; H. D. Betz, Galatians: A
Commentary on Paul’s Letter to the Churches in Galatia [Hermeneia; Philadelphia,
1979], S. 244 f.; J. D. G. Dunn, A Commentary on the Epistle to the Galatians
[Black’s New Testament Commentaries; London, 1993], S. 250-252). Hier werden
auch die Probleme behandelt, die manche dazu verleitet haben τὸ δὲ γὰϱ Σινᾶ
ὄϱος ἐστὶν ἐν τῇ Ἀϱαβίᾳ „denn der Berg Sinai ist in Arabien“ mit ℵCFG, Ori-
Die blauen Blumen von Mekka 97

Wobei die Übersetzung Luthers „denn Hagar heißt in Arabien der Berg
Sinai und kommt überein mit Jerusalem, das zu dieser Zeit ist und dienstbar
ist mit seinen Kindern“ grammatikalisch zu bemängeln ist, und daher die
Geses vorzuziehen ist:75 „Denn Hagar ist der Sinai Berg in Arabien ...“ Gese
identifiziert den ursprünglichen Berg Sinai, den Berg der Theophanie also,
anhand einer kritischen Lektüre der biblischen Texte76 und außerbiblischen
Quellen, auch unter Hinweis auf gängige jüdische Ortslegenden (a. a. O. S.
61) als den Berg Hala l-Badr im Gebirge Harrat ar-Rha in nördlichen Ḥiǧāz,
in der Nähe der schon erwähnten Stadt Hegra. Die heutige Identifizierung
des Sinai mit dem Ğabal Musa in der gleichnamigen Halbinsel ist relativ
jung und wohl christlichen Ursprungs:77 In der Mitte des vierten Jhs.
erbaute der syrische Mönch Julian Saba eine Kapelle auf dem Berggipfel,78
das berühmte Katharinenkloster an seinem Fuße wurde dann erst ein Jahr-
hundert später, 530 n. Chr., gegründet.
Die Verbindung des YHWH-Kultes mit der arabischen Wüste ist nicht
von ungefähr und berührt zugleich die komplexe Problematik der Ur-
sprünge seiner Verehrung, auch in der biblischen Überlieferungsgeschichte.
Die Frage ist, ob dieser Kult aus dem Süden nach Israel kam; die Antwort
wiederum hängt vom Alter der diesbezüglichen biblischen Überlieferungen
ab: Die Motive einer exogamen Verschwägerung der Gründerfigur Mose,

genes et al. umzuinterpretieren in *ΤΟΓΑΡΣΙΝΑ. Die Erklärung ist die, dass in


Vers 24 ἥτις ἐστὶν Ἁγάϱ zu *ΤΟΑΓΑΡΣΙΝΑ geworden sei, was dann mit der Ver-
bindungspartikel versehen zu unserer Lesung ΤΟDEAΓΑΡΣΙΝΑ wurde, die dann
wiederum durch einen Abschreiber verbessert worden sei zu ΤΟΓΑΡAGARΣΙΝΑ
(so ψ mitsamt der Mehrheit). Mit Nestle-Aland ist die lectio difficilior zu bevor-
zugen, auch weil die vorgestellte Entwicklung nur schwer vorstellbar ist, und
hierdurch der Bezug auf (den Nachkommen der) Hagar in den nachfolgenden
Versen verloren ginge, zugleich ist auch wohl implizit eine Anspielung mit ‫حجر‬
„Stein“ im Arabischen zu erkennen. Die Übersetzungen der Targume (s.o.) von
Gen. 16, 7 machen zudem deutlich, dass der Bezug auf die Stadt Hegra den
Lesern des Paulusbriefes verständlich gewesen wäre.
75 H. Gese, Vom Sinai zum Zion, S. 52.
76 Vgl. hierzu besonders Dtn. 33,2 und Habakuk 3,3 – wobei im Licht der Inschrif-
tenfunde Kuntillet Arğuds anzufragen wäre ob „Teman“ (‫ )תֵּ ימָן‬nicht den Jemen,
sondern eher eine Gegend des Ḥiǧāz bzw. Nordarabiens andeutet.
77 Jung ist seine Identifizierung als der Berg der biblischen Theophanie. Wie z. B. A.
Alt anhand von Weiheinschriften feststellt, war der Ğabal Musa für die Nabatäer
der Wohnort verschiedener Gottheiten (ders. in Kleine Schriften zur Geschichte
des Volkes Israel Band I (München, 1953), S. 1-78.
78 In einer Lobrede Ephräms des Syrers verewigt.
98 Robert Kerr

noch dazu mit dem Priester der für unversöhnlich gehaltenen Midianiter,
wäre kaum in exilisch-nachexilischer Zeit zu erklären.79 Für eine Vermitt-
lung des YHWH-Glaubens durch im Süden beheimatete Midianiter bzw.
Keniter sprechen unter anderem die Abwesenheit dieses Gottes, auch be-
züglich des Onomastikons, in syro-palästinensischen Texten der (Spät-)
Bronzezeit (etwa in den Amarna-Briefen, den Texten aus Ebla, Emar und
bes. Ugarit)80 nebst den Midianitertexten der Hebräischen Bibel (etwa Ex.
32, vgl. Anm. 72) auch jene, die von der Theophanie eines aus den Berg-
regionen des Südens zum Kampf herkommenden YHWH handeln, wie das
aus dem Debora-Lied (Seir/Edom/Sinai), Habakuk 3,3.7 (Teman/Gebirge
Paran/Kuschan/Midian) und Dtn. 33,2 (Sinai/Seir/Gebirge Paran) hervor-
geht. In dieser Hinsicht stellte M. Leuenberger fest, dass „die ältesten Belege
für YHWH einen südpalästinensischen Ursprung im Bereich Edoms und
der Araba indizieren.“81 Obwohl ein hohes Alter dieser Überlieferung, be-
sonders hinsichtlich des Gebrauchs von jungen nachpriesterschriftlichen

79 Vgl. E. Blum, Studien zur Komposition des Pentateuch (Berlin, 1990), S. 142f.
mit weiterführender Literatur. Zu Ex. 18 hier vgl. auch V. Haarmann, YHWH-
Verehrer der Völker. Die Hinwendung von Nichtisraeliten zum Gott Israels in alt-
testamentlichen Überlieferungen (Zürich, 2008), S 59-94. In der nachpriester-
schaftlichen Fortschreibung vom P-Text Num. 25,1-5, sieht man in 6ff. eine im-
plizite Beurteilung der Verschwägerung des Mose mit Midian, was der genuinen
P-Überlieferung selber fremd ist (vgl. E. A. Knauf, Midian. Untersuchungen zur
Geschichte Palästinas und Nordarabiens am Ende des 2. Jahrtausends v. Chr.
[Wiesbaden, 1988], S. 164).
80 Für eine südliche Lokalisierung sprächen aber die ägyptischen Listen der
„Schasu-Länder“: die Ältere, nur zum Teil erhaltene, stammt aus einem in Soleb
befindlichen Tempel Amenophis III. (Ende des 15. Jhs. v. Chr.) und die Jüngere
aus einem Tempel Ramses ii. (vgl. M. Weippert [Hg.], Historisches Textbuch zum
Alten Testament [Göttingen, 2010], S. 183f.; O. Keel, Die Geschichte Jerusalems
und die Entstehung des Monotheismus Teil 1 [Göttingen, 2007], S. 200), die unter
der Rubrik des „Schasu-Landes Seir“ auch ein „Schasu-Land Jahwe“ (t3 š3sw
jhw(3)) nennen, ohne aber dass dessen Ortung genauer zu bestimmen wäre.
Beim letzten liegt wohl der Gottesname zugrunde, und hier kann sowohl ein
Toponym wie auch eine Gottheit gemeint sein (vgl. Knauf, Midian, S. 46f.).
81 M. Leuenberger, Gott in Bewegung. Religions- und theologiegeschichtliche Beiträge
zur Gottesvorstellung im alten Israel (Tübingen, 2011), S. 17; vgl. auch ders.,
„YHWHs Herkunft aus dem Süden. Archäologische Befunde – biblische Überlie-
ferungen – historische Korrelationen,“ in: Zeitschrift für die alttestamentliche
Wissenschaft 122 (2010), S. 1-19 mit weiteren Literaturangaben.
Die blauen Blumen von Mekka 99

Texten wie Ex. 18, in der jüngsten Forschung in Frage gestellt wird,82 muss
man daran erinnern, dass die fraglichen Texte keine religionshistorischen
Dokumente sind.83 Jedenfalls kann aber die Identifizierung des Sinai mit
einem bestimmten Berg, also die oben angesprochene Gleichsetzung Geses,
nicht während der israelitischen Königszeit geschehen sein, da solches die
narrative Verknüpfung der Auszugsüberlieferung mit der des Gottesberges
voraussetzt.84 Dies aber sagt nichts aus über die ursprüngliche Heimat des
YHWH.
Eine archäologische Bestätigung etwa der theophanen Geographie des
Debora-Liedes, also für einen aus dem Süden, folglich aus Arabien, herkom-
menden kampfbereiten YHWH, finden wir bei den Inschriften aus der
zwischen Kadesch Barnea und Elath gelegenen Karawanserei Kuntillet ‘Ar-
ğūd85 aus dem achten Jahrhundert v. Chr. Auf zwei der hier gefundenen
Vorratskrügen finden sich die Segens- bzw. Grußwünsche mit Nennung
von „YHWH von Samaria“ (‫ ;יהוה שמרן‬KAgr [9]:8/Pithos A)86 einmal,

82 So z. B. M. Köckert, „Wandlungen Gottes im antiken Israel“ Biblisch-Theologische


Zeitschrift 22 (2005), S 3-36. In seiner Analyse von Psalm 18 meint er zudem,
dass die Theophanie-Tradition etwa in dem hymnischen Rahmen des Debora-
Liedes erst nach dem Verlust von Land und Tempel auf den Sinai übertragen
wurde, also mache sie ursprünglich einen Teil der Jerusalemer Tempeltheologie
aus; ders. „Die Theophanie des Wettergottes Jahwe in Psalm 18“ in Th. Richter, D.
Prechel und J. Klinger (Hg.), Kulturgeschichten. Altorientalische Studien … V.
Haas (Saarbrücken, 2001), S. 209-226. Zum Versuch H. Pfeiffers (Jahwes Kom-
men vom Süden. Ri. 5; Hab. 3; Dtn. 33 und Ps. 68 in ihrem literatur- und theo-
logiegeschichtlichem Umfeld [Göttingen, 2005]) Dtn. 33, Habakuk 3 sowie
Psalm 68 als nachexilische Umdeutungen von Richter 5 mit Thema „die Ver-
nichtung aller inneren und äußeren Gottesfeinde sowie die Errettung der Ge-
rechten“; s. dagegen jetzt. E. Blum, „Der historische Mose und die Frühgeschichte
Israels“ Hebrew Bible and Ancient Israel 1 (2012), S. 54-56.
83 Vgl. Zu dieser Frage K. Koch, „Jahwäs Übersiedlung vom Wüstenberg nach
Kanaan. Zur Herkunft von Israels Gottesverständnis,“ in : ders., Der Gott Israels
und die Götter des Orients. Religionsgeschichtliche Studien Teil 2 (Göttingen, 2007),
S. 171-209.
84 Vgl. Knauf, a. a. O. S. 50ff. Aus dieser Zeit muss dann auch das Epitheton in
Judices 5,5 ‫( זֶה סִינַי‬zäh sīnay) stammen.
85 Vgl. jetzt Z. Meschel, Kuntillet ʿAjrud (Ḥorvat Teman). An Iron Age II Religious
Site on the Judah-Sinai Border (Jerusalem, 2012).
86 Der ganze Abschnitt lautet ‫[ברכת אתכם‬...]‫[ וליועשה ו‬...]‫[ך ]א[מר להיל‬...]‫[ה‬...]‫אמר א‬
‫ ליהוה שמרן זלאשרתה‬Übersetzung: „Es spricht ’... ...: Sprich zu Jehalle..., und zu
Jo‘asa und ...: Ich segne euch bei/vor YHWH von Samaria und seiner
100 Robert Kerr

zweimal „YHWH von Teman“ (‫ ;יהוה תמן‬KAgr [9]:9/Pithos B) 87 bzw.


„YHWH des Teman/Südens“ (‫ ;יהוה התמן‬KAgr [9]:10),88 wobei sich die Erste
auf die Sicht der Herkunft bezieht und die Letzteren auf die des Reisezieles89
– wenngleich mit „Teman“ hier kein bestimmter Ort, sondern die südliche
Gegend, das „Südland“ (< hebr. „rechts,“ vgl. ‫ يم ن‬y-m-n), also die der ara-
bischen Wüste gemeinhin angedeutet wird – eine Tatsache, die die Veror-
tung der am Anfang dieses Abschnitts angeführten ägyptischen Belege (vgl.
Anm. 80) in dieser Gegend auch wahrscheinlich macht. Übrigens erinnern
diese Texte an die im Buche Amos (5,5; 8,14) erwähnten Wallfahrten90 aus
dem Norden (Bethel, Dan) nach Süden (Berseva, Gilgal). Somit gewinnt die
Herkunft YHWHs aus der arabischen Wüste und seine Vermittlung an die
Israeliten durch dort ansässige Stämme („Midianiter“) an Wahrschein-
lichkeit.91

Ašera.“ Hier und im Folgenden bleibt undeutlich, was mit „Ašera“ angedeutet
wird – der Verfasser teilt die Ansicht, dass es sich hier um die Gemahlin YHWHs
handeln muss.
87 ‫אמר אמריו אמר לאדני חשלם את ברכתך ליהוה תמן ולאשרתה יברך וישמרך ויהי עם‬
‫[כ‬...]‫[כ‬...]‫ אד]נ[י‬Übersetzung: „Es spricht Amarjaw: ‚Sprich zu meinem Herrn:
Geht es dir gut? Ich segne dich bei/vor YHWH von Teman und seiner Aschera.
Er möge segnen und dich behüten und mit meinem Herrn sein ...‘“ Die
Schreibung tmn, also ohne Diphthong, deutet auch auf die nördliche Herkunft
dieser Texte.
88 ‫[ונתן לה יהו כל בבה‬...]‫[כל אשר ישאל מאש חנן‬...]‫[ וליהוה התמן ולאשרתה‬...]‫א‬
Übersetzung: „... bei/vor YHWH von dem Teman und seiner Aschera ... was
immer er von jemandem erbitten wird, er gewährt es ... und YHWH gibt ihm
nach seiner Absicht.“
89 Vgl. J. A. Emerton, „New Light on Israelite Religion: The Implications of the
Inscriptions from Kuntillet ‚Arjud‘“ Zeitschrift für die alttestamentliche Wissen-
schaft 94 (1982), S. 2-20, bes. S. 10: „... the idea of Yahweh’s connexion with
Teman would be relevant to a blessing on someone who hoped for divine
protection on the journey.“
90 Vgl. auch den Aufenthalt Elias in der Wüste I Regum 19, 3, 8. Diese Stellen sieht
L. E. Axelsson (The Lord Rose up from Seir. Studies in the history and traditions of
the Negev and Southern Judah [Lund, 1987], S. 62f., 181) als „literary evi-
dence“ für Wallfahrten in der Königszeit vom Norden nach Süden. S. auch Anm.
93.
91 Wahrscheinlich ist, dass die Erzählung des Auszugs aus dem Ägypterlande, ge-
führt durch den Gott YHWH, den identitätsstiftenden Mythos des Nordreiches
darstellt – vgl. Blum, „Der historische Mose,“ S. 42-49. D.h. „dieser YHWH-Kult
durch eine „Exodus-Gruppe,“ die das Gelingen ihres „Auszuges“ diesem Gott
zuschrieb, an das sich in Kanaan konstituierende Israel vermittelt wurde“ (ders.,
Die blauen Blumen von Mekka 101

Die Funde von Kuntillet ‘Arğūd machen im Licht der Mose-Über-


lieferung deutlich sichtbar, dass es im Nordreich eine Pflege der Heimat
seines Reichsgottes im Süden gab – etwas, das wiederum die zweifelsohne
nördliche Jakoberzählung (Gen. 25,27-33) mit den Zwillingsbrüdern Jakob/
Israel und Esau/Edom nicht nur geographisch verständlich macht: Der
Letztere, wie schon erwähnt, heiratet Töchter Ismaels (28,9) – das Nord-
reich heißt bekanntlich in Amos 7,9 „Isaak“ bzw. 7,16 „das Haus Isaaks“
(‫שׂחָק‬ְ ִ ‫)בֵּית י‬. Dementsprechend ist der Bezug des YHWH-Kultes, der dann
später zum Monotheismus weiterentwickelt wurde – die judäische Tradi-
tionsausbildung kann hier dann nicht berücksichtigt werden92 – zu Arabien
und damit auch zu Abraham, zu dieser Gegend deutlich.
In jedem Falle, Gese hat sicherlich recht, wenn er schreibt: „Paulus muß
gewußt haben, daß der Sinai in der Nähe von [der Stadt] Hegra zu suchen
ist. Hegra liegt näher am Hadr l-Bedr als jede andere nabatäische Stadt“
(a.a.O. S. 61). Wir erinnern uns auch, daß Ibn Ezra und Sadia Gaon auch
eine ähnliche Tradition gekannt und akzeptiert haben mussten. Ein weiteres
für das Nachleben dieser Tradition bei Paulus sprechendes Argument kann
aus der ganzen Passage in Galater 4 entnommen worden (Verse 21-31),93

a.a.O. S. 60).
92 „In der judäischen Traditionsüberlieferung erklärt sich aus dem „traditio-
nell“ konkurrierenden Gegenüber von Sinai und Zion das Zugleich von Rezep-
tion und Abgrenzung im Blick auf die Gottesbergtradition nach dem Ende des
Nordreiches. Einen – letztlich gescheiterten – Versuch der „Distanzierung“ bildet
die Ersetzung des alten Sinai-Namens durch „Horeb“ in der im weitesten Sinne
dtn/dtr Überlieferung“ (E. Blum, „Der historische Mose“ S. 59f.). Der Verlust der
arabischen Tradition kam dann dadurch zustande, wie Gese a.a.O. 56 beschrieb,
„als heiliger Ort durfte außerdem nichts neben dem Zion bestehen, so daß im
Judentum die Frage nach der Lage des Sinai einen rein historischen Charakter
hatte.“
93 Ἀϱαβία ist im Neuen Testament nur zweimal belegt, nebst der Passage hier auch
in der ungewöhnlich langen autobiographischen Erzählung Pauli über die Ge-
schehnisse um und nach seiner Bekehrung Gal. 1,11-2,21 – in der er deutlich
machen will, dass er die Evangeliumsbotschaft nicht aus menschlichem Quell,
sondern als Offenbarung Jesu Christi selber empfangen habe (vgl. 1,11-12) – das
verdeutlicht er in Vers 17 … οὐδὲ ἀνῆλϑον εἰς Ἱεϱοσόλυμα πϱὸς τοὺς πϱὸ ἐμοῦ
ἀποστόλους, ἀλλὰ ἀπῆλϑον εἰς Ἀϱαβίαν, καὶ πάλιν ὑπέστϱεψα εἰς Δαμασκόν.
Undeutlich bleiben seine Beweggründe für dieses εὐϑέως sowie sein Ziel und
sein Dauer, es wird beispielsweise nirgendwo in der Apostelgeschichte erwähnt
(9-15; 2 Kor. 11,32-33 beschreibt nur die Flucht des Paulus aus Damaskus), und
daher in der Kommentarliteratur verschiedentlich beurteilt (vgl. M. Hengel,
102 Robert Kerr

worin er seiner im Vorübergehen gemachte Aussage in 3,6 (Ἀβϱαὰμ


ἐπίστευσεν τῷ ϑεῷ, καὶ ἐλογίσϑη αὐτῷ εἰς δικαιοσύνην), dass Abraham vor
seiner Beschneidung glaubte (vgl. Römer 4, 9-13; 11): „… καὶ σημεῖον
ἔλαβεν πεϱιτομῆς, σϕϱαγῖδα τῆς δικαιοσύνης τῆς πίστεως τῆς ἐν τῇ
ἀκϱοβυστίᾳ …) und dies war wiederum 430 Jahre vor der Gesetzgebung
Mosis auf dem Berge Sinai (Gal. 3,17: Διαϑήκην πϱοκεκυϱωμένην ὑπὸ τοῦ
ϑεοῦ ὁ μετὰ τετϱακόσια καὶ τϱιάκοντα ἔτη γεγονὼς νόμος οὐκ ἀκυϱοῖ, εἰς
τὸ καταϱγῆσαι τὴν ἐπαγγελίαν):
21 Saget mir, die ihr unter dem Gesetz sein wollt: höret ihr das
Gesetz nicht?
22 Es steht doch geschrieben, daß Abraham zwei Söhne hatte, einen
von der Sklavin, den andern von der Freien.
23 Der von der Sklavin war nach dem Fleisch geboren, der von der
Freien aber kraft der Verheißung.
24 Das hat einen bildlichen Sinn: Es sind zwei Bündnisse; das eine
von dem Berge Sinai, das zur Knechtschaft gebiert, das ist Hagar.
25 Denn Hagar ist der Sinai Berg in Arabien und entspricht dem
jetzige Jerusalem, weil dieses samt seinen Kindern in Knecht-
schaft ist.
26 Das obere Jerusalem aber ist frei, und dieses ist unsere Mutter.

„Paul in Arabia,“ in: Bulletin for Biblical Research 12 (2002), S. 47-66 mit Lit.; ob
Paulus hier möglicherweise missionarisch tätig war, wie Hengel [S. 58-66] ver-
mutet, bleibt eine Mutmaßung). Wie aber N. T. Wright („Paul, Arabia, and
Elijah,“ in: Journal of Biblical Literature 115, S. 683-692) überzeugend argu-
mentiert, steht S/Paulus hier für Elias: Saulus hatte in seinem Eifer für den Gott
Israels anfangs den Elias von 1 Kön. 18 nachgeahmt: Wie jener die Propheten
Baals tötete, so verfolgte Saulus die Christen (Gal. 1, 13-14, auch z. B. Philemon 3,
5-6); Paulus dagegen ahmt den Elias von 1 Kön. 19 nach – vgl. Römer 11, 1-5, bes.
Vers 3, ein Zitat von 1 Kön. 19, 10 (wiederholt in 14). Also Pauli Rückzug in
dasselbe Gebiet (19, 3, 8) zeigt (vgl. Anm. 90 oben), dass Paulus sehr wohl diese
Tradition des Gottesberges im Süden kannte, auch weil er in der hier bespro-
chenen Passage aus Galater 4 konsequent damit abrechnet, ein Abschnitt der
auch in 1, 17 kontextualisiert ist. Bei beiden kam die Wende auf dem Gottesberg
Sinai~Horeb (vgl. die vorige Anm.), wonach bei der Rückkehr aus der Wüste
nach Damaskus (1 Kön. 19,15~Gal. 1, 17), Elias den Hasael zum König über
Syrien, und Jehu, den Sohn Nimsis, zum König über Israel gesalbt hatte, so
wurde Paulus zum Herold eines Gesalbten, der auch für einen König gehalten
wird.
Die blauen Blumen von Mekka 103

27 Denn es steht geschrieben: ‚Freue dich, Unfruchtbare, die du


nicht gebierst; brich in Jubel aus und schreie, die du nicht in
Wehen liegst, denn die Vereinsamte hat mehr Kinder als die,
welche den Mann hat.‘
28 Wir aber, Brüder, sind nach der Weise des Isaak Kinder der
Verheißung.
29 Doch gleichwie damals der nach dem Fleisch Geborene den nach
dem Geist Geborenen verfolgte, so auch jetzt.
30 Was sagt aber die Schrift: ‚Stoße aus die Sklavin und ihren Sohn!
Denn der Sohn der Sklavin soll nicht erben mit dem Sohn der
Freien.‘
31 So sind wir also, meine Brüder, nicht Kinder der Sklavin, sondern
der Freien.“ [nach Schlatter]
bzw. in der Paraphrase Miltons:
For death, like that which the Redeemer died.
All nations they shall teach; for, from that day,
Not only to the sons of Abraham’s loins
Salvation shall be preached, but to the sons
Of Abraham’s faith wherever through the world;
So in his seed all nations shall be blest.
Paulus unterscheidet also, anhand der zwei Söhne Abrahams (Vers 22: Γὰϱ
ὅτι Ἀβϱαὰμ δύο υἱοὺς ἔσχεν, ἕνα ἐκ τῆς παιδίσκης καὶ ἕνα ἐκ τῆς ἐλευϑέϱας)
in den Versen 24-26 zwischen zwei Bündnissen (αὗται γάϱ εἰσιν δύο
διαϑῆκαι): Das des Gesetzes, „Hagar, der Sinai Berg in Arabien“ (τὸ δὲ Ἁγὰϱ
Σινᾶ ὄϱος ἐστὶν ἐν τῇ Ἀϱαβίᾳ), also das der auf dem Berge Sinai, in Arabien
gelegen, gegebenen Tora, wofür das Jerusalem seiner Zeit stand (was zu-
gleich erklärt, warum er erst nach drei Jahren in diese Stadt ging) und das
der Verheißung, des versprochenen Sohnes Isaaks, symbolisiert durch das
„obere“ Jerusalem (26: Ἡ δὲ ἄνω Ἰεϱουσαλὴμ ἐλευϑέϱα ἐστίν, ἥτις ἐστὶν
μήτηϱ ἡμῶν) und nicht durch einen bestimmbaren Ort. Dies scheint eine
Fortsetzung des in der Hebräischen Bibel befindlichen Gegensatzes zwi-
schen dem YHWH-Epitheton des Nordreiches in V Mose 33,16 ‫שכני סנה‬
„auf dem Sinai wohnend“94 mit dem ‫„ יהוה ְצבָא ֹות הַשֹּׁכֵן ְבּהַר צִיּ ֹון‬YHWH der

94 Die Vokalisierung des masoretischen Textes ‫( ְסנֶה‬sǝnäh) ist hier fehlerhaft und
bedeutet nicht „Busch“, vgl. L. Seeligmann, „A Psalm from Pre-Regal
Times“ Vetus Testamentum 14 (1964), S. 75-92. ‫ סנה‬ist eine Nebenform *Sinā/
*Sīnā zu Sīnaj vergleichbar mit ‫שרי‬/‫( שרה‬Sarah vs. Sarai – Gen. 17,15, vgl. Anm.
133) und „snh ist dann der späteren Einfügung des y in sny entgangen, aber dafür
104 Robert Kerr

Ṣǝḇåjōṯ, der auf dem Berge Zion wohnt“ in Jesaja 8, 18, also eine „implizite
Konkurrenz zwischen Sinai und Zion“95 der jeweiligen YHWH-Kulte, die
für die Königszeit keine historische Aporie bedeutet. Hier arbeitet Paulus
diesen alten Gegensatz aus und deutet ihn fortschreibend um, um so deut-
lich zu machen, dass seiner Ansicht nach Christen keine Nachkommen
Ismaels, also einer Sklavin – auch des Gesetzes – sind, etwas, das für Paulus
mit der alten Tradition des Gottesberges im Süden gleich ist, sondern die
Nachkommen des versprochenen Sohnes (v 31: Διό, ἀδελϕοί, οὐκ ἐσμὲν
παιδίσκης τέκνα ἀλλὰ τῆς ἐλευϑέϱας, also κατὰ Ἰσαὰκ ἐπαγγελίας τέκνα
ἐστέ). Die Worte der Sarah von Gen. 21,10 (LXX) in Vers 30 frei zitierend,
macht Paulus den Galatern deutlich, wer sich an das Gesetz klammere, ge-
höre zu Ismael und sei damit von Christus verstoßen, ein Thema, das im
nachfolgenden Kapitel dann vertieft wird (z. B. 2-4: Ὅτι ἐὰν πεϱιτέμνησϑε
Χϱιστὸς ὑμᾶς οὐδὲν ὠϕελήσει. Μαϱτύϱομαι δὲ πάλιν παντὶ ἀνϑϱώπῳ πεϱι-
τεμνομένῳ ὅτι ὀϕειλέτης ἐστὶν ὅλον τὸν νόμον ποιῆσαι. Κατηϱγήϑητε ἀπὸ
Χϱιστοῦ οἵτινες ἐν νόμῳ δικαιοῦσϑε, τῆς χάϱιτος ἐξεπέσατε usw.96). Hier
also stellt Paulus den Unterschied zwischen dem Halten des Gesetzes und
dem Glauben (an Christus) – also den Kern seiner Theologie dar in Bezug
auf Soteriologie, die diagnostische Funktion des Gesetzes und die Rechtfer-
tigung nur durch den Glauben – als eine Frage der legitimen Abstammung
von Abraham (vgl. auch Römer 4,13: Οὐ γὰϱ διὰ νόμου ἡ ἐπαγγελία τῷ Ἀβ-
ϱαὰμ ἢ τῷ σπέϱματι αὐτοῦ, τὸ κληϱονόμον αὐτὸν εἶναι κόσμου, ἀλλὰ διὰ
δικαιοσύνης πίστεως) – die Frage nach der wahren Nachkommenschaft Ab-
rahams war schon in den Evangelien, sowohl bei den Predigten des Täufers
über die Reue (vgl. Matthäus 3,9=Lukas 3,8) wie auch bei der Verkündigung

nach Ex. 3 vokalisiert worden“ (Knauf, Midian S. 50 Anm. 248).


95 Der Gegensatz wird deutlich, wenn man die vehemente judäische Kritik, ange-
fangen mit Amos und Hosea, an den nördlichen Kultstätten und besonders an
der des zentralen Reichsheiligtums in Bethel berücksichtigt. Deutlich ist, dass
dem judäischen YHWH Eigenschaften „kanaanäischer“ Gottheiten, etwa des El
und des syrischen Wettergottes, zugeschrieben werden.
96 Vgl. auch z. B. Römer 10, bes. Verse 2-4: Μαϱτυϱῶ γὰϱ αὐτοῖς ὅτι ζῆλον ϑεοῦ
ἔχουσιν· ἀλλ’ οὐ κατ’ ἐπίγνωσιν, ἀγνοοῦντες γὰϱ τὴν τοῦ ϑεοῦ δικαιοσύνην, καὶ
τὴν ἰδίαν ζητοῦντες στῆσαι, τῇ δικαιοσύνῃ τοῦ ϑεοῦ οὐχ ὑπετάγησαν·τέλος γὰϱ
νόμου Χϱιστὸς εἰς δικαιοσύνην παντὶ τῷ πιστεύοντι. Für den möglich Einfluss
des Targum Pseudo-Jonathan bei Paulus in Gal. 4, 29-30 vgl. den wichtigen Auf-
satz von R. Le Déaut, „Traditions targumiques dans le Corpus Paulinien? (Hebr
11,4 et 12,24; Gal. 4,29-30; 2 Cor. 3,16)“ Biblica 42 (1961), S. 37-43.
Die blauen Blumen von Mekka 105

Jesu (z. B. Matthäus 8, 1-12; Lukas 13, 16, 28; 16,19-30; 19,9; s. auch Anm.
20) heiß umstritten.
Inzwischen sollte jedenfalls deutlich sein, dass Arabien, also das Gebiet
der Nabatäer bis zum Ḥiǧāz keinesfalls terra incognita war. Von hier aus
dem Gebiet Paran, wo einst Abraham Hagar und Ismael zurückgelassen ha-
ben soll, stammen die ältesten Überlieferungen der Theophanie am Gottes-
berg. Nebst den von Gese angedeuteten jüdischen Ortslegenden zeigen die
theologischen Ausführungen Pauli die diesen Überlieferungen und dieser
Gegend zukommende Bedeutung. Arabien machte um die Zeitenwende
sicherlich einen Teil des dem Abra(ha)m gelobten Landes aus, wie aus ei-
nem der Qumran-Texte, aus dem sog. „Genesis Aprocryphon“ (1Q20) deut-
lich hervorgeht. In Kolumne XXI (frei nach Gen. 13,14-18), nach seiner
Trennung von Lot, der dann ein Haus für sich in Sodom kaufte, erschien
dem auf dem Berge Bethel wohnenden Abraham Gott in einem Traum (8ff.)
und sagte:
„Geh hinauf zu Ramat-Hazor, das nördlich von Bethel, dem Orte wo
Du jetzt wohnst, gelegen ist. Hebe Deine Augen auf und schaue nach
Osten, nach Westen, nach Süden und nach Norden, und schaue auf
das ganze Land, das ich Dir und Deinen Nachkommen für alle Zeit
gebe.“
Dies tat Abraham am folgenden Tag, und von Ramat Hazor aus sah er das
ganze gelobte Land:
„Von Ägyptens Fluß bis zum Libanon und Senir, und vom großen
Meere bis nach Hauran, und das ganze Land Gebal bis nach Kadesch
und die Gesamtheit der großen Wüste, die östlich von Hauran und
Senir ist, bis zum Euphrat.“97
Hiernach bereist Abraham, auf Befehl Gottes, die Grenzen dieses ganzen
Gebietes (17-19):
„Ich reiste den Euphrat ostwärts bis zum erythräischen Meere, und
bereiste das erythräische Meer entlang bis zur Meereszunge des
Roten Meeres, der vom erythräischen Meere hinausragt. Ich ging
dann um den Süden bis ich den Fluß Gihon erreichte, und dann kam
kam ich unversehrt daheim an,“98

97 ‫ואתחזי לי אלהא בחזוא די ליליא ואמר לי סלק לך לר̇מת חצור די על שמאל בית אל אל אתר די‬
‫אנתא יתב ושקול עיניך וחזי למדנחא ולמערבא ולדרומא ו̇לצפונא וחזי כול ארעא דא מן נהר מצרין‬
‫עד לבנן ושניר ומן ימא רבא עד חורן וכול ארע גבל̇ עד קדש וכול מדברא רבא די מדנח חורן ושניר‬
‫עד פורת‬.
98 ‫סחרת ליד פורת עד די דבקת לימא שמוקא למדנחא והוית אתה לי ליד ימא שמוקא עד די דבקת‬
106 Robert Kerr

also einschließlich Arabiens, ungefähr mit den Grenzen des davidischen


Reiches gemäß Eupolemos (apud Eusebius, Praeparatio evangelica ix. 30)
übereinstimmend. Auffallend ist, dass im Genesis Apocryphon El-Paran
(‫ )איל פרן > ?الف اران‬scheinbar das südlichste bekannte Gebiet ist: In der
nachfolgenden Nacherzählung von Gen. 14 unterdrückt Kedor-Laomer, der
König von Elam mit seinen Mitstreitern Amraphel, den König von Baby-
lon(!), Arioch, den König von Kappadokien(!) und Tiral, den König von
Gojim, den Aufstand des Beras, König von Sodom:
„Sie gingen den Weg der Wüste hinauf, vom Euphrat her plündernd
und zerstörend ... bis sie El-Paran, in der Wüste gelegen, erreichten.
Sie kehrten dann um und zerstörten ...“99
Scheinbar war Paran in dieser Zeit das ultima Thule der arabischen Wüste.

Exkurs: Res ipsa loquitur


Wie der Ort des Horaz, war Paran am Ende der bekannten Welt, jedoch
ohne dass dessen genaue Verortung immer mit ein und demselben bzw.
einem bestimmten Platz in Verbindung zu bringen wäre; Eindeutigkeit bei
geographischen Angaben in heiligen Schriften, wie oben schon bemerkt,
lässt sich nicht immer herstellen, und wurde von deren Autoren auch selten
angestrebt.100 Nichtsdestotrotz muss inzwischen deutlich sein, dass „Ara-
bien“ grosso modo einen Teil der Heilsgeographie ausmachte, und sich die
sakrale Bedeutung Abrahams in den Jahrhunderten nach der Zeitwende, der
hier relevante Zeitabschnitt, großer Beliebtheit erfreute.
Ab dem Zeitalter Konstantins aber kommt das Christentum allmählich
auch in materieller Hinsicht zum Vorschein: Davor versammelten sich
Christen wohl noch in Synagogen bzw. in Häusern, in den sogenannten
domus ecclesiæ. Mit dem Ende der Christenverfolgungen fing der Bau von

‫ללשן ים סוף די נפק מן ימא שמוקא וסחרת לדרומא עד די דבקת גחון נהרא ותבת ואתית לי לביתי‬
‫בשלם‬.
99 ‫בעשת ̇רא דקרנין‬ ̇ ‫וה ̇ווא ̇מחין ובזין מן פורת נהרא ומחו לרפאיא די‬
̇ ‫וסלקו ארחא די מדברא‬
‫ש ̇וה הקריות לחוריא די בטורי גבל עד דב̇ ̇ק ̇ו לאיל פרן די‬ ̇ [‫ולזומזמיא די בעמן ולאימיא ]די ב‬
-‫ות ̇ב ̇ו ̊ו ̊מ ̊ח ̊ו ל‬
̇ ‫מדבר ̇א‬
̇
100 Nur in 1 Kön. 18, 11 ließe Paran sich möglicherweise mit der im südlichen
Sinai befindlichen Oase Fairān (‫ )الف يران‬identifizieren (s. P. Grossmann, Die
antike Stadt Pharan. Ein archäologischer Führer [Kairo, 1998]), wobei sowohl
das Alter wie der Ursprung dieser arabischen Bezeichnung unbekannt ist. Vgl.
hierzu die von Ptolemäus (Geog. v. 17), wohl im nördlichen Arabien bzw. Sinai
verorteten ϕαϱανῖται und Anm. 67.
Die blauen Blumen von Mekka 107

Kirchen, die zunehmend imposanter wurden, an: Konstantin versah Rom


mit zahllosen Kirchen, besonders an solchen Orten, die mit der Verehrung
von Märtyrern verbundenen waren – am bekanntesten ist natürlich der
Petersdom.101 Er und seine Mutter Helena bauten zudem auch Kirchen im
Heiligen Land, darunter die Anastasis in Jerusalem, am vermeintlichen Ort
des Grabes Christi, die Geburtskirche in Bethlehem usw. Die kaiserliche
Patronage von Kirchenbauten war eine neue Erscheinung, womit zugleich
die langgestreckte, dreischiffige zur Apsis führende Basilika,102 eine Fortent-
wickelung früherer säkularen Bauweisen,103 zum Typos wurde. Manchmal
wurden schon bestehende Gebäude, darunter heidnische Tempel, durch den
Kaiser enteignet und zum Kirchenbau bestimmt – wie z. B. der Dom in
Gaza, der den großen heidnischen Tempel, das Marneion, ersetzte.104 In
zunehmendem Maße, obwohl die ältesten dokumentierbaren Beispiele erst
vom Ende des 4./Anfang des 5. Jhs. stammen, wurden die Kirchen aufwän-
dig verziert, besonders mit Mosaiken, die biblische Personen und Ereignisse
durch Mittel des schon bestehenden säkularen Repertoires abbildeten: so
z.B. die hl. Maria als eine Kaiserin bekleidet in S. Maria Maggiore zu Rom

101 Zum Märtyrerkult und zu christlichen Begräbnisriten s. R. MacMullen, The


Second Church. Popular Christianity ad 200-400 (Atlanta, 2009) mit einer
Auflistung von vor 400 erbauten Kirchen.
102 Die andere Hauptbauart waren achteckige Martyrium-ähnliche Bauten, die be-
sonders als Baptisterien populär waren, so z. B. die des frühen 5. Jhs. zu
Ravenna. Diese aber konnten auch selbstständige Kirchen sein, wie z. B. die
nicht bewahrt gebliebene „Goldene Kirche“ Konstantins in Antiochien (Euse-
bius, Vita Constantini iii.50), wozu natürlich auch der Felsendom in Jerusalem
zu rechnen ist. Der Baustil des Marteriums geht auch auf eine vorchristliche
Bauart, die des Herœums zurück, wie z. B. das Mausoleum Diocletiani zu Split
(vgl. R. Adam, Ruins of the Palace of the Emperor Diocletian at Spalatro in
Dalmatia [London, 1764]) oder die Domus Augustana in Rom aus dem Jahre 92
(vgl. A. Boëthius und J. B. Ward-Perkins, Etruscan and Roman Architecture
[Hammondsworth, 1970], S. 252).
103 Vgl. z. B. die säkulare Basilika aus dem zweiten Jahrhundert n. Chr. zu Schaqqa
(Robertson, Greek and Roman Architecture, S. 238; H. C. Butler, Early Churches
in Syria [Princeton, 1929], S. 16-17).
104 Vgl. Die Ekphraseis bei Marcus Diaconus, Vita Porpyph. 78 (Ausgabe C. Mango,
The Art of the Byzantine Empire 312-1453. Sources and Documents [Toronto,
1986], S. 24-25) oder die auf einem vormaligen nabatäischen Tempel für
Aphrodite und Zeus erbauten Kirche zu ʿAvdat in der Negev-Wüste, s. A. Negev,
„The Temple of Oboda: Excavations at Oboda in July 1989.“ Israel Exploration
Journal 41(1991), S. 62-80. Vgl. auch Butler, Early Churches in Syria, S. 10-17.
108 Robert Kerr

(unter der Patronage von Papst Sixtus iii, 432-440 erbaut) und das etwas
ältere Mosaik der S. Pudenzia, die Christus und seine Jünger im Stil des
Kaisers mit dem römischen Senat abbildet. Bis zum sechsten Jahrhundert
hat sich aber eine viel weniger klassifizierende Kirchenarchitektur ent-
wickelt mit vielen Abwandlungen der erwähnten Hauptbauweisen.
Zudem war der Kirchenbau in späterer Zeit im Nahen Osten, besonders
ab dem sechsten Jahrhundert, nicht nur der Kaiserfamilie vorbehalten, und
viele noch so unscheinbare Städte besaßen mehrere basilikalische Kirchen;
manche, wie Gerasa im Transjordanischen, weisen auffallend viele Bauten
im Verhältnis zur damaligen Einwohnerzahl auf. Die Errichtung bzw. die
Restauration einer Kirche wurde zur Prestigesache: Die wohlhabenden loka-
len Eliten, die früher den Bau bzw. die Erneuerung von Bädern, Stoas und
anderen öffentlichen Bauten finanzierten, richteten sich jetzt auf Kirchen
und ihre Einrichtung. Die vielen Kirchen konnten an biblische Gescheh-
nisse, die am Orte stattgefunden haben sollen, bzw. an einen örtlichen Heili-
gen erinnern und konnten dann auch viele Gläubige für diesbezügliche
Feste bzw. Liturgien anziehen. So z. B. in manchen Teilen Syriens des sieb-
ten Jahrhundertes, wo selbst Dorfkirchen aufwändig verarbeitetes Silber-
werk für liturgischen Gebrauch besaßen, wie beispielsweise der bekannte
„Schatz“ aus Kaper Koraon.105 Obwohl die meisten nahöstlichen Kirchen
einfache Bauwerke blieben, entstanden hie und dort größere an Wallfahrts-
orten, wie das Heiligtum des Sergius bei Rusafa am Euphrat, wo im sechsten
Jahrhundert eine Kathedrale ein früheres Bauwerk ersetzte, oder zu Qelaat
Semaan, wo eine große aus vier kreuzförmig angeordneten Basiliken be-
stehende Kirche, mit angebautem Kloster sowie mit verschiedenen Beige-
bäuden um die Säule des Simeon Stylites entstand.106 Auch in Palmyra, eine
Stadt, die vermeintlich seit der Überwindung der Zenobia im späten dritten
Jahrhundert im Untergang begriffen war, sind acht Kirchen gefunden wor-
den, darunter eine große Basilika des sechsten Jahrhundertes. Diese Bau-
bzw. Erneuerungsaktivitäten von Christen wurden während des umayyadi-

105 S. z. B. M. Mundell Mango, Silver from Early Byzantium. The Kaper Koraon and
Related Treasures (Baltimore, 1986).
106 Die von Justinian und von den Ghassaniden begünstigte Basilika des hl. Kreu-
zes behielt während der Umayyadenherrschaft ihre Bedeutung. Hier wurde der
Kalif ibn Hišām (724-743), der auch manchmal dort wohnte, begraben. Die
frühe Moschee am Ort wurde neben dieser Kirche gebaut und mit ihr durch
eine Gasse verbunden.
Die blauen Blumen von Mekka 109

schen Zeitalters fortgesetzt,107 so dass – scheinbar paradoxerweise – in der


Archäologie von „umayyadischen“ Kirchen gesprochen wird,108 ein Zeital-
ter, in der die Mosaikkunst ihren antiken Höhepunkt erreichte.109
Obwohl eine Kirchengeschichte der arabischen Wüste, der klassischen
Arabia deserta immer noch nicht geschrieben werden kann, teils der
mangelhaften Quellenlage und teils der bislang ausbleibenden systemati-
schen Ausgrabungstätigkeit im heutigen Staat Saudi-Arabien wegen, sind
doch ansatzweise die vagen Umrisse des Christentums und seines Vor-
dringens in diese Gegend während der Spätantike zu erkennen, anhand sei-
ner Förderungen in angrenzenden Gebieten. Bis zum sechsten Jahrhundert
war ein Großteil der städtischen Gemeinschaften z. B. der Gebiete der Ara-
bia Petræa mitsamt der Negev-Wüste auf irgendeine Weise zum Christen-
tum übergetreten, und dies gilt auch teilweise für die Arabia felix im Süden.
Zweifelsohne ist mit einer Fortsetzung der aus dem Norden stammenden
Entwicklungen zu rechnen, besonders im Negev, der einen Teil desselben
Kulturkontinuums ausmachte. Archäologisch ersichtlich ist inzwischen der
Übergang in den Städten von nabatäischen und römisch-hellenistischen
religiösen Bräuchen zu christlichen im vierten und fünften Jahrhundert.
Hier, wie anderswo in Jordanien und Palästina, wird diese Veränderung
vielerorts durch den Bau zahlreicher Kirchen sowie durch eine Vielzahl z. B.
christlicher Grabinschriften bezeugt. Zum Teil gibt es zudem schriftliche
Berichte über christliche Missionare und Mönche, wie z. B. die über den hl.
Hilarion, die den neuen Glauben hier verbreiteten, und der Fund der sog.

107 Vgl. R. Schick, The Christian Communities of Palestine from Byzantine to Islamic
Rule. A Historical and Archaeological Study (Princeton, 1995), S. 171-172.
108 Vgl. z. B. die basikalische Kirche zu Khirbet asch-Schubaika im westlichen Ga-
liläa. Die ursprüngliche Basilika scheint aus dem sechsten Jahrhunderte zu
stammen, einer Zeit, in der viele Kirchen gebaut wurden, und danach wurde sie
fünfmal erneuert bzw. restauriert. Eine Inschrift aus Phase 2 datiert diese auf
785 n. Chr. (6293 post creationem mundi): Inschrift 2 Ἰψιϕόϑη κτίσεος ἔτους
ʹϚϹϚΓ (vgl. D. Syon, „A Church from the Early Islamic period at Khirbet el-
Shubeika“ in G. C. Bottini, L. Di Segni und L. D. Chrupcała [Hg.], One Land –
Many Cultures. Archaeological Studies in Honour of Stanislao Loffreda (Jerusa-
lem, 2003), S. 75-82 und V. Tzaferis, „The Greek Inscriptions from the Church
at Khirbet el-Shubeika“ a.a.O. S. 83-86). Zur Evolution der Basilika vgl. auch S.
Margalit, „The Binated Churches and the Hybrid Binated Church Complexes in
Palestine“ Liber Annus 45 (1995), S. 357-400.
109 So z. B. die Mosaik der Marienkirche zu Madeba aus 767 (vgl. M. Piccirillo et al,
Byzantinische Mosaiken aus Jordanien [Wien, 1986], S. 140).
110 Robert Kerr

Nessana-Papyri, die die die Rolle des Christentums hier in dieser Zeit ver-
deutlichen.110 Erkennnbar wird zudem der Unterschied zwischen den zum
Christentum bekehrten Bewohnern der Städte des Negev und der umliegen-
den nomadischen Stammesbevölkerung, den sog. „Sarazenen,“ die außer-
halb der Städte am Rande der Wüste wohnten. Diese Gruppen, wovon auch
durch die Nachrichten durch die Wüste reisender Wallfahrer gelegentlich
berichten,111 sind auch archäologisch bezeugt durch die vielen aufgefunde-
nen antiken Lagerplätze z. B. im westlichen und südlichen Hochland des
Negev. Diese „Barbaren“ hielten an ihren eigenen Kulten fest, bezeugt durch
die zahlreichen Betylfunde bei ihren Lagerplätzen – es gibt keine Anzeichen
für ihre massenhafte Bekehrung zum christlichen Glauben – und der Unter-
schied zwischen diesen zwei Bevölkerungsgruppen wird in den zeitgenös-
sischen Berichten deutlich hervorgehoben.112 In den Städten des Negev

110 Vgl. C. J. Kraemer, Excavations at Nessana. Vol. iii: Non-Literary Papyri


(Princeton, 1958), S. 9-18. Zu Hilarion s. Anm. 35.
111 S. z. B. Kraemer a.a.O. S. 14f., 25f., 251-258; G. Avni, Nomads, Farmers and
Town-Dwellers: Pastoralist-Sedentist Interaction in the Negev Highlands, Sixth-
Eighth Centuries CE (Jerusalem, 1996), S. 78-83.
112 S. hierzu z. B. D. E. Graf, „Saracens and the Defence of the Arabian Frontier“ in
Bulletin of the American Schools of Oriental Research 229 (1978), S. 14f. und P.
Mayerson, „Saracens and Romans: Micro-Macro Relationships“ in Bulletin of
the American Schools of Oriental Research 274 (1989), S. 71-77. Zusammenge-
fasst bei G. Avni („From Standing Stones to Open Mosques: The Archaeology
of Religious Transformation on the Fringes“ Near Eastern Archaeology 70
[2007], S. 130): „It is interesting that we were not able to find any archaeological
evidence for the introduction of Christianity to the agricultural and nomadic
sites, and it seems that the transition to Christianity was confined only to the
Negev towns.“ In diesem Aufsatz wird zudem die Veränderung von heiligen
Plätzen mit aufgerichteten Steinen (vgl. Anm. 35) zu offenen Moscheen, z. T.
mit einem solchen aufgerichteten Steine als mihrab, also die Bekehrung vom
Heidentum zum Islam, beschrieben, vgl. auch ders., „Early Mosques in the
Negev Highlands: New Archaeological Evidence on Islamic Penetration of
Southern Palestine“ Bulletin of the American Schools of Oriental Research 294
(1994), S. 83-100, Zitat S. 95: „Archaeological data show that the mosques in
the Negev Highlands made a gradual appearance during the seventh and eighth
centuries C.E., superseding the stele tradition that has left its mark in the rural
and nomadic parts of the Negev for hundreds of years. At a certain stage, both
ritual networks may have existed side by side ... This affinity between the stele
cult and the early mosques, together with the chronological evidence regarding
the establishment of the mosques, turns the scales in favour of the view that the
spread of Islam into southern Palestine during the seventh and eighth centuries
Die blauen Blumen von Mekka 111

blieben die Kirchen gemeinhin für anderthalb Jahrhunderte nach der


vermeintlichen Ankunft des Islam in Gebrauch – Spuren einer angeblichen
arabischen „Invasion“ sind keinesfalls vorhanden – und bei Städten wie
Nessana oder Schivta ist ihre Benutzung gar bis ins neunte bzw. zehnte
Jahrhundert archäologisch feststellbar.

Abb. 1: Die Kirchen im Negev (Quellen zu Abb. s. Anhang)


Die Stadt in der Negev-Wüste Schivta (hebr. ‫ ;שבטה‬arab. ‫ش بطا‬, auch Sbeita,
Esbeita, Subeita, Isbayta), ungefähr 50 km südlich von Beer Scheva, im
fünften Jahrhundert auf einer alten nabatäischen Siedlung gegründet und
im neunten aufgegeben, mit seinen drei Kirchen,
„the source of influence and authority not only in matters of religion
and worship, but also apparently in the public, administrative, and
economic life of the town,“
und zudem scheint es, dass dieses bescheidene ohne Planung zustande
gekommene Städtchen

C.E. was not a swift wave emanating from central Arabia and sweeping through
the Negev like a storm, but rather a gradual process that took shape slowly over
several decades.“ S. auch Anm. 119.
112 Robert Kerr

„nothing unique in comparison to other, similarly situated towns of


the same period in Roman and Byzantine Palestine and the neigh-
boring regions“113
zu bieten hatte.114 Ohne hier diese Stadt eingehender besprechen zu können,
ist festzustellen, dass diese Kirchen, sowohl bautechnisch wie architekto-
nisch gesehen, den Mittelpunkt der Siedlung darstellen:
„The churches of Shivta are prominent on the landscape of Shivta
not only because of their size and shape, but also and especially be-
cause of their wealth of embellishment. The residences of Shivta, on
the other hand, are practically not decorated at all. In contrast, the
churches are notable for the abundance of their external architectural
ornamentation, which is even more abundant internally. The quality
of the church buildings far surpasses that of the dwellings. The door-
posts, lintels, and columns of the churches had bas-relief decoration
colored in strong hues. Within the churches, the floors and even the
walls were covered with marble tile. Some of the church finishings
(altar, screens, and parts of the ambo) also were made of marble. The
columns themselves, which carried the network of beams and sup-
ported the roof (we do not find columns in the dwellings, since there
was no need for them), were a pleasant architectural complex that
drew the eye. The church roofs, made of wooden beams, were also

113 A. Segal, „Shivta-A Byzantine Town in the Negev Desert“ in Journal of the
Society of Architectural Historians 44( 1985), S. 317-328, Zitat S. 317. Zu den
Kirchen s. R. Rosenthal-Heginbottom, Die Kirchen von Sobota und die Dreiap-
sidenkirchen des Nahen Ostens (Wiesbaden, 1982).
114 „Church construction in the Negev towns intensified during the Byzantine
period. Several churches were constructed in each of the Negev towns, either
within the residential quarter, like the central and southern churches of Shivta
and the central church at Rehovot (Y. Tsafrir und K. Holum, „Rehovot in the
Negev. Preliminary Report 1986“ Israel Exploration Journal 38 [1988], S. 117-
127), or separate units at the edge of the town, integrating a church within a
monastic compound, like the northern churches of Shivta (Rosenthal-Hegin-
bottom, Die Kirchen von Sobota) and Rehovot (Tsafrir et al., „Excavations at
Rehovot in the Negev, Vol. i: The Northern Church.“ Qedem 25 [Jerusalem:
1988]) and the southern church at Nessana (H. D. Colt [Hg.], Excavations at
Nessana. Vol. II, [London-Jerusalem, 1962], S. 43-45).” – Avni, „From Standing
Stones to Open Mosques,“ S. 126.
Die blauen Blumen von Mekka 113

prominent in the monochromatic Shivta landscape because they


were so unusual.“115
Die Kirchenbauten zu Schivta stellen also keine Ausnahmeerscheinuing für
diese Gegend dar, sondern sind eher ein Beispiel eines typischen Phäno-
mens dieser Region in dieser Zeit. Wenn man aber die Grundrisse der Kir-
chen dieser Stadt sowie anderer in dieser Gegend mit dem der Kaʿba ver-
gleicht, kann nur eine vage Ähnlichkeit auffallen.

Abb. 2: Grundriss der Kaʿba

Abb. 3: Grundriss der Basilika von Cosnmas und Damian in Pharan

115 Segal, „Shivta-A Byzantine Town,“ S. 336f. Vgl. auch A. Negev, „The Churches
of the Central Negev“ Revue Biblique 81 (1974), S. 400-422, Abb.. xvi-xxii; R.
Rosenthal, „Bauform und Kult in den Negev Kirchen“ Das Heilige Land 108
(1976), S. 7-30. Ders., Die Kirchen von Sobota, S. 129-143; J. W. Crowfoot, Early
Churches in Palestine (London, 1941), S.102-156; W. Kendall, „Architectural
Report,“ in H. D. Colt (Hg.), Excavations at Nessana, S. 25-31.
114 Robert Kerr

Abb.4. Basilika IV des 6. Jhs. Zu Palmyra


Das heutige Bauwerk ist keinesfalls das Ursprüngliche. Wie oben bespro-
chen, wurde es schon in frühislamischer Zeit mehrfach umgebaut und wohl
auch umgedeutet. Wie dem auch sei, fällt das sog. Ḥatīm (‫ ;حطي م‬Bedeutung
unklar, vgl. Lane, Lexicon i, S. 595) an der nordöstlichen Seite auf, eine halb-
kreisförmige 90 cm hohe und 1,50 m breite weiße Marmormauer, die als
Teil der Kaʿba gilt und manchen Berichten zufolge einst Teil eines früheren
Kaʿba-Baues ausmachte. Dieses jetzt selbstständige Mauerwerk mit dem
übrigen Bau zusammengenommen erinnert in Analogiebetrachtung an die
Apsis einer Basilika. Diese Vermutung gewinnt an Wahrscheinlichkeit
durch den Zwischenraum, der meistens als Ḥiğr (Ismā‘īl) (hier: „verboten“?,
keinesfalls aber „Stein“; vgl. Lane, S. 517) bezeichnet wird, und auch als
heiliger Grund gilt, der während des Ṭawāf, der rituellen Umrundung, nicht
betreten werden darf, der Sterbeplatz der Hagar,116 wo auch die Gräber der
Hagar und Ismaels sich befinden sollen. Ein solches Begräbnis ist auffallend
unislamisch (und zugleich auch kein jüdischer Brauch) – Moscheebestat-
tungen, geschweige denn eine im allerheiligsten Baytu l-Ḥarām, sind
eigentlich im Islam ḥarām. Der Ort dieser Beisetzung Ismaels und seiner
Mutter passt aber gut zum christlichen Brauch jener Zeit, eine für heilig
gehaltene Person unter dem in der Apsis befindlichen Altar zu bestatten (ob
hier, wie in späterer Zeit gebräuchlich, eine unterirdische Confessio zur
Aufnahme von Reliquiaria gebaut wurde, bleibt natürlich unklar), bzw.
Kirchen über deren vermeintlichen Gräbern zu erbauen – in Analogie bei-
spielsweise zu den Gräbern (‫ ) الح رم اإلب راھيمي‬von Abraham, Sara, Isaak,
Rebekka, Jakob und Lea zu Hebron (‫)الخليل‬. Die betreffende später von den

116 Vgl. Wüstenfeld, Chroniken, Bd. IV (Leipzig, 1861), §5.


Die blauen Blumen von Mekka 115

Sassaniden zerstörte Kirche wurde von Justinian I. im sechsten Jahrhundert


erbaut. Jedenfalls weist der bis heute bewahrt gebliebene Grundriss des
ganzen heiligen Bezirks der Kaʿba mitsamt dem Ḥatīm einschließlich der
auf alten Kultüberlieferungen beruhenden Bestattung der übrigen Mitglie-
der der Familie Abrahams deutlich darauf hin, dass hier sicherlich einst eine
monoapsidische Basilika gestanden haben muss (von möglichen lateralen
Pastophoria scheint es keine Spuren mehr zu geben): Auch die Ausmaße des
Areals, zirka 11x20 m, erinnert an eine mittelgroße Basilika, wie sie im
Negev und Transjordanischen häufig gefunden wurden (vgl. z. B. die sog.
Nordkirche zu Schivta ungefähr 12 x 10 m; Zentralkirche plus-minus 18 x
14 m; Kh. esch-Schubeika [vgl. Anm. 108] zirka 10 x15 m), wobei wohl er-
wartungsgemäß einst ein Vorbau, ein Narthex (bzw. Atrium) mit Kan-
tharus,117 zum Eingang an der der Apsis bzw. dem der Ḥatīms gegenüber-
liegenden südwestlichen Seite stand. Auch die Verwendung von Marmor,
wohl mit den drei in der Kaʿba befindlichen Säulen, wahrscheinlich
Spolia118 eines früheren Gebäudes, deutet auf einen vormaligen Kirchenbau.
Im Lichte der oben kurz erläuterten nahöstlichen Kirchenbautätigkeit
der Spätantike sowie des Wallfahrtstourismus jener Zeit ist die Anwesenheit
einer christlichen Basilika hier nicht überraschend, besonders in Anbetracht
der alten Pilgerfahrtrouten in diese Gegend (vgl. Anm. 90 und 93), die dem
Paulus auch bekannt waren. Auffallender wäre, wenn es hier keine Kirche
gegeben hätte. Diese Feststellung wird auch unterstützt durch die im dritten
Abschnitt besprochenen Ortslegenden um Mekka: Ein alter arabischer heili-
ger Ort, der wohl anhand jüdischer Überlieferungen im Christentum bib-
lisch als Aufenthaltsort Abrahams, danach als der der Hagar und des Ismael,
umgedeutet wurde. Wenn man vergleichsweise die Ruinen zeitgleicher Basi-
liken betrachtet, wie u. a. die dem hl. Nilus gewidmete Kirche in Mampsis/
Mamschith (‫)ממשית‬, in Schivta oder in Avdat, dann werden die Umrisse des
früheren Bauwerkes der Kaʿba deutlich:

117 Bzw. Phiala, früher ein Brunnen zwecks der rituellen Reinigung von
Kirchengängern, ein wohl aus dem Judentum stammender Brauch. Als dann im
Westen das Atrium verkleinert wurde, verschwand der Kantharus, jetzt erinnert
der Weihwasserbecken noch hieran. Im Islam ist dies natürlich auch in ‫الوضوء‬
(al-wuḍūʼ) bewahrt geblieben.
118 Vgl. im Allgemeinen: G. Peers, „‚Crosses’ Work Underfoot: Christian Spolia in
the Late Antique Mosque at Shivta in the Negev Desert (Israel)“ ECA 8(2011), S.
101-119.
116 Robert Kerr

Abb. 5: Blick auf die Apsis der St. Nilus Kirche in Mamschith

Abb. 6. Blick auf die Südkirche in Abb. 7. Blick auf die Südkirche in
Schivta Avdat

Abb. 8: Basilika IV aus dem 6. Jh., Palmyra


Die blauen Blumen von Mekka 117

Nur wenn wissenschaftliche Forschungen zugelassen werden, kann deutlich


werden, ob und was aus der islamischen Überlieferung selber hervorzu-
gehen scheint. Ob Ibn al-Zubayr in seinem monotheistischen Glaubenseifer
in Mekka eine dem Ismael und/oder der Hagar geweihte Basilika abtragen
ließ und die dadurch zutage getretenen Überreste eines früheren, wohl vor-
christlichen Heiligtums (vgl. Anm. 14 und 104) als die Fundamente Abra-
hams deutete, die ihm dann als Unterbau für sein Bauwerk dienten, weiß
man nicht. Dieses Bauwerk wurde jedenfalls ab der ʿAbbāsidischen Zeit zum
Zentralheiligtum des im Entstehen begriffenen Islam. Die hier gebotene,
versuchsweise Schilderung trägt einerseits der bruchstückhaften islamischen
Überlieferung Rechnung – die Muhammadepisoden der mekkanischen
Geschichte sind, wie erwähnt, hagiographisch und nicht historisch – sowie
andererseits der erst späten Erwähnung dieser Stadt und ihrer Verknüpfung
mit Abraham in außerislamischen, also jüdischen und christlichen Quellen.
So können die Umrisse eines Sitz im Leben dieser Stadt im „vollen Licht der
Geschichte,“ ein Versäumnis der unkritischen Islamwissenschaft, allmählich
hervortreten. Klare Antworten können aber nur von der lang überfälligen
archäologischen Feldforschung sowohl der Stadt wie auch dieses Gebietes
erbracht werden – dass die herkömmliche Islamforschung, im Gegensatz
beispielsweise zur Bibelwissenschaft, sich nicht für die archäologische Er-
forschung des Ḥiǧāz einsetzt, bleibt eine Blamage: Nur wenn sich das
ändert. kann es genauere Informationen geben.119 Wie aber ein abgelegenes
der Hagar und dem Ismael gewidmetes Heiligtum zum Hauptverehrungsort
des Islam wurde, wird mit der Beantwortung der letzten hier ausstehenden
Frage, nämlich „Wie es dazu kam, dass sich die Araber mit Ismael assozi-
ierten?“ deutlich.

119 Die Abhängigkeit vieler Islamwissenschafter von den muslimischen Überliefe-


rungen zwingt zu archäologisch unhaltbaren Annahmen (vgl. etwa Anm. 2 und
19). So z. B. bleiben bislang die angeblichen Moscheen Nordarabiens, die zu
Lebzeiten Muhammads erbaut worden sein sollen, unauffindbar – vgl. K. A. C.
Creswell, Early Muslim Architecture (Oxford, 21969), S. 6-15; O. Grabar, The
Formation of Islamic Art (New Haven, 21987), S. 99-131. Die archäologische
Fundlage der Negev-Wüste zeigt aber, dass Moscheen „were not erected before
the end of the seventh century or the beginning of the eighth century C.E.; and
there is no justification for attributing them to the Early Umayyad
period“ (Avni, „Early Mosques,“ S. 94). Solange die Islamwissenschaftler aber
sich nicht für eine seriöse und systematische archäologische Erforschung des
Ḥiǧāz einsetzt, kann nichts Eindeutiges gesagt werden, auch nicht über den
historischen Wert der islamischen Überlieferung.
118 Robert Kerr

5. Die Araber als Ismaeliten


In einem vorigen Abschnitt wurde festgestellt, dass die Hebräische Bibel
selber keine Verbindung zwischen Arabern und Ismaeliten nahelegt (s.
Anm. 61). Einen ersten Ansatz hierfür liefert die Septuaginta, zugegeben
etwas vage, in der Übersetzung von Jesaja 42,11 mit οἰ κατοικοῦντες
Πέτϱαν. Die späteren Targume aber machen diese Verbindung deutlich –
und wie auch festgestellt wurde, hätte der Targum Pseudo-Jonathan zudem
beiläufig als Vorlage diesbezüglicher islamischer Überlieferungen gedient
haben können – jedenfalls sind die Parallelen durchaus auffallend, was wie-
derum eine solche Vermutung nahelegt. Diesbezüglich überaus merkwürdig
ist, dass von den Arabern keine eigene Überlieferung ihrer Ursprünge
bekannt ist, und selbst die Griechen und die Römer sahen keinen Grund, sie
in ihre auf Mythen berührende Historiographie einzubauen, wie sie dies z.
B. bei den mazedonischen Königen taten, die nach ihrer Überlieferung
durch Einwanderer aus dem Argos von Herakles abstammen. Noch ver-
wunderlicher ist die Tatsache, dass in allen Fällen, in denen dies geschehen
ist, die verwendete mythologische Metaerzählung die der Bibel war. So bie-
tet z. B. der heidnische griechische Schriftsteller des 1. Jhs. v. Chr. Apollo-
nius Molon (apud Eusebius, Praep. Ev. ix.19,1-3) einen biblisch ange-
hauchten Bericht über die Abstammung der Araber:
„ Ὁ δὲ τὴν συσκευὴν τὴν κατὰ Ἰουδαίων γϱάψας Μόλων μετὰ τὸν
κατακλυσμόν ϕησιν ἀπὸ τῆς Ἀϱμενίας ἀπελϑεῖν τὸν πεϱιλειϕϑέντα
ἄνϑϱωπον μετὰ τῶν υἱῶν, ἐκ τῶν ἰδίων ἐξελαυνόμενον ὑπὸ τῶν
ἐγχωϱίων· διανύσαντα δὲ τὴν μεταξὺ χώϱανἐλϑεῖν εἰς τὴν ὀϱεινὴν
τῆς Συϱίας οὖσαν ἔϱημον. Μετὰ δὲ τϱεῖς γενεὰς Ἁβϱαὰμ γενέσϑαι,
ὃν δὴ μεϑεϱμηνεύεσϑαι πατϱὸς ϕίλον, ὃν δὴ σοϕὸν γενόμενον τὴν
ἐϱημίαν μεταδιώκειν· λαβόντα δὲ δύο γυναῖκας, τὴν μὲν ἐντοπίαν,
συγγενῆ, τὴν δὲ Αἰγυπτίαν, ϑεϱάπαιναν, ἐκ μὲν τῆς Αἰγυπτίας
γεννῆσαι δώδεκα υἱούς, οὓς δὴ εἰς Ἀϱαβίαν ἀπαλλαγέντας διελέσϑαι
τὴν χώϱαν καὶ πϱώτους βασιλεῦσαι τῶν ἐγχωϱίων· ὅϑεν ἕως καϑ'
ἡμᾶς δώδεκα εἶναι βασιλεῖς Ἀϱάβων ὁμωνύμους ἐκείνοις.“
Eine ähnlich überraschende biblisch beeinflusste Beschreibung der Nach-
kommen Abrahams mit der Ketura (vgl. Anm. 54) finden wir bei einem an-
deren zeitgenössischen heidnischen Schriftsteller, Alexander Polyhistor
(apud Josephus, Ant., i.15), der als Quell den „Propheten“ Kleodemos, auch
Malchos genannt, angibt:
„Κλεόδημος δέ ϕησιν ὁ πϱοϕήτης ὁ καὶ Μάλχος ἱστοϱῶν τὰ πεϱὶ
Ἰουδαίων, καϑὼς καὶ Μωυσῆς ἱστόϱησεν ὁ νομοϑέτης αὐτῶν, ὅτι ἐκ
Die blauen Blumen von Mekka 119

τῆς Κατούϱας Ἁβϱάμῳ ἐγένοντο παῖδες ἱκανοί. Λέγει δὲ αὐτῶν καὶ


τὰ ὀνόματα ὀνομάζων τϱεῖς Ἰαϕέϱαν Σούϱην Ἰαϕϱάν. Ἀπὸ Σούϱου
μὲν τὴν Ἀσσυϱίαν κεκλῆσϑαι, ἀπὸ δὲ τῶν δύο Ἰαϕϱᾶ τε καὶ Ἰαϕέϱου,
πόλιν τε Ἐϕϱᾶν καὶ τὴν χώϱαν Ἀϕϱικὰ ὀνομασϑῆναι. Τούτους γὰϱ
Ἡϱακλεῖ συστϱατεῦσαι ἐπὶ Λιβύην καὶ Ἀνταῖον: Γήμαντά τε τὴν
Ἀϕϱάνου ϑυγατέϱα Ἡϱακλέα γεννῆσαι υἱὸν ἐξ αὐτῆς Δίδωϱον:
Τούτου δὲ γενέσϑαι Σόϕωνα, ἀϕ᾽ οὗ τοὺς βαϱβάϱους Σόϕακας
λέγεσϑαι.“
Josephus führt diese Gedanken weiter und gibt ausschließlich anhand des
arabischen Brauchs der Beschneidung mit dreizehn Jahren das Alter Ismaels
an „als das Fleisch seiner Vorhaut beschnitten ward“ (Gen. 17,25; s. o. Anm.
44) – analog hätte Isaak, der Stammvater der Israeliten, dem jüdischen
Brauch folgend dann erst acht Tage alt gewesen sein dürfen – und er sieht in
ihnen die Nachkommen Ismaels, in seiner Wiedergabe von Gen. 21,1-5 in
Ant. i.214:
„ Ὃν εὐϑὺς μετ᾽ ὀγδόην ἡμέϱαν πεϱιτέμνουσι, κἀξ ἐκείνου μετὰ
τοσαύτας ἔϑος ἔχουσιν οἱ Ἰουδαῖοι ποιεῖσϑαι τὰς πεϱιτομάς, Ἄϱαβες
δὲ μετὰ ἔτος τϱισκαιδέκατον: Ἰσμαῆλος γὰϱ ὁ κτίστης αὐτῶν τοῦ ἔϑ-
νους Ἁβϱάμῳ γενόμενος ἐκ τῆς παλλακῆς ἐν τούτῳ πεϱιτέμνεται τῷ
χϱόνῳ.“
Die Abstammung der Araber von Ismael beruht also nicht auf irgendeiner
altarabischen Überlieferung, sondern ist eine Erfindung des Josephus, eine
Gegebenheit, die er dann weiter ausführt. Bei der späteren Übersetzung des
Targums von Jesaja 60, 7, wie wir schon gesehen haben, wird der Erst-
geborene Ismaels, Nebajoth, gleichgestellt mit den Nabatäern, was aber
dann Joesphus in seiner Behandlung (Ant. i.220) von Gen. 25,12-15 ethno-
graphisch gebraucht, um so deren Herkunft zu erklären:
„Οὗτοι πᾶσαν τὴν ἀπ᾽ Εὐϕϱάτου καϑήκουσαν πϱὸς τὴν Ἐϱυϑϱὰν
ϑάλασσαν κατοικοῦσι Ναβατηνὴν τὴν χώϱαν ὀνομάσαντες. Εἰσὶ δὲ
οὗτοι, οἳ τὸ τῶν Ἀϱάβων ἔϑνος καὶ τὰς ϕυλὰς ἀπ᾽ αὐτῶν καλοῦσι διά
τε τὴν ἀϱετὴν αὐτῶν καὶ τὸ Ἁβϱάμου ἀξίωμα.“
Solche Formulierungen finden sich durch die ganzen Altertümer des Jose-
phus, so z. B. auch bei seiner Wiedergabe, ohne biblische Vorlage, einer Er-
scheinung Gottes in Traum an Moses Vater Amram, dem er sagt: καὶ
Abraham καταλιπεῖν μὲν Ἰσμαήλῳ καὶ τοῖς ἐξ αὐτοῦ τὴν Ἀϱάβων χώϱαν,
also habe Abraham das Land der Araber an Ismael und seine Nachkommen
120 Robert Kerr

vererbt (Ant. II. 213)120 – und erst hiermit wurden die Bewohner „Arabiens“
zu Nachkommen Ismaels – sowie bei seiner Nacherzählung des Verkaufs
Josephs durch seine Brüder (Gen. 37,25-28; 39,1), ihm zufolge an Ἄϱαβες
(Ant. II. 32) – die hier gegebenen Vorbilder müssen ausreichen, um einen
Eindruck zu vermitteln. Josephus, der sich hier in der griechischen ethno-
graphischen Tradition, wovon er sich eigentlich absetzen will, bewegt, hält
also die Araber nur für Ismaeliten, weil sie ebenfalls ihre Knaben mit drei-
zehn Jahren beschneiden, eben das Alter Ismaels bei seiner Beschneidung in
der biblischen Überlieferung. Dies ist an sich nicht überraschend, da die
Beschneidung eigentlich durchweg ein Rite de Passage der Pubertät ist, um
das Erreichen des Erwachsenenalters zu symbolisieren, nur das Judentum
stellt hier die Ausnahme dar.121 Undeutlich bleiben aber die Beweggründe
des Josephus für diese Abweichung. Hieraus ist deutlich, dass die vermeint-
liche Abstammung der Araber von Ismael nicht auf irgendwelche apokry-
phen altarabischen Überlieferungen zurückgehen kann, sie ist vielmehr ein
Ergebnis der jüdischen Hermeneutik, und in seiner ausdrücklichen

120 Auch in dieser Hinsicht interessant ist Josephus Hinzufügung zu Gen. 25, 6,
dass Abraham Kolonistenexpeditionen dieser Nachkommen, um Arabien zu
bewohnen, bedacht habe (Ant. I. 239): Τούτοις ἅπασι τοῖς παισὶ καὶ τοῖς
υἱωνοῖς Ἅβϱαμος ἀποικιῶν στόλους μηχανᾶται, καὶ τήν τε Τϱωγλοδῦτιν
καταλαμβάνουσι καὶ τῆς εὐδαίμονος Ἀϱαβίας ὅσον ἐπὶ τὴν Ἐϱυϑϱὰν καϑήκει
ϑάλασσαν (vgl. auch II. 213). Die Aufnahme dieser von Josephus stammenden
Tradition ist zu sehen bei Philostorgios (HE III.4), der in einem Bericht von
einer christlichen Mission des Kaisers Constans II (337-361) unter den Sabäern,
in den dortigen Ὁμηϱῖται, also Bewohnern der Arabia felix, Nachkommen
Abrahams und der Keturah (Anm. 54), sah. Targum Pseudo-Jonathan zu Gen.
16,12 scheint auf die Ismaelabstammung der Araber anzuspielen, er werde
„gegen alle seine Brüder wohnen (Luther)“ (‫‘*< תערבבי‬rb ~ ʿarab; vgl. in
galiläischem Aramäisch ‫„ למערבביא‬Zerstörer“ – Vajikra Rabba 369, 6): ‫ואיהוא‬
‫יהוי מדמי לערוד בבני נשא ידויי יתפרעון מבעלי דבבוי וידי דבעלי> דבבוי< יתושטון לאבאשא‬
‫ביה ועל אנפי כל אחוי יתערבב וישרי‬.
121 Man könnte hier auch den Barnabasbrief heranziehen, der 9,6 erwähnt, dass u.a.
τᾶς Σῦϱος καὶ Ἄϱαψ beschnitten ist, was ihnen aber keinen Zugang zum Bünd-
nis mitbrachte. Epiphanius (Panarion XXX. 33) erwähnt bei seiner Erwiderung
der ebionitischen Ketzerei auch die weite Verbreitung dieses Brauches, u. a.
auch bei den Ismaeliten, die aber nichts mehr als eine inhaltslose Sitte darstellt:
Ἀλλὰ καὶ οἱ Σαϱακηνοὶ οἱ καὶ Ἰσμαηλῖται πεϱιτομὴν ἔχουσι καὶ Σαμαϱεῖται [καὶ
Ἰουδαῖοι] καὶ Ἰδουμαῖοι καὶ Ὁμηϱῖται.
Die blauen Blumen von Mekka 121

Manifestation ist sie eine Erfindung des Josephus, der griechische Ethno-
graphie auf die biblische Erzählung anwendete.122
Eine weitere Umdeutung bei Josephus’ Wiedergabe der biblischen Epi-
sode um Ismael betrifft die Frage seiner Legitimität. Hier scheint Josephus
in einer gewissen Auslegungstradition beheimatet zu sein, da auch das wohl
ursprünglich während der hellenistischen Zeit in hebräischer Sprache ver-
fasste Buch der Jubiläen, das deutlich macht, dass das Bündnis nur für
diejenigen, die am achten Tage beschnitten wurden, Geltung habe;123 somit
könne Ismael kein Teil des Bundes sein. Josephus, scheinbar unter dem
Einfluss damals geltender römischer Rechtspraxis, kommt mit einem an-
deren Verfahren zum selben Schluss:124 Josephus macht in seiner Nacher-
zählung biblischer Geschichten einen Unterschied zwischen legitimen
(γνήσιος), von einer Ehefrau oder einer Bediensteten (ϑεϱαπαινίς) gebo-
renen Kinder etwa bei den Nachkommen Jakobs (Ant. I. 344~Gen. 35,22-
26),125 bei den Kinder Nachors (I. 153), Davids (I. 70) und Gideons (V. 233),
etwas, das im biblischen Recht nicht vorgesehen ist (vgl. Anm. 51). Sowohl
im griechisch-hellenistischem wie auch im römischen Recht galten aber
Kinder einer Beifrau als illegitim und konnten keinen Anspruch auf des
Vaters Erbe erheben; Kinder-, also Erblosigkeit wurde hier mit Scheidung
bzw. Adoption gelöst.126 In seinem Bericht über Ismael sagt Josephus nicht

122 Vgl. F. Millar, „Hagar, Ishmael, Josephus“), S. 23-45.


123 Vgl. Jubiläen 14-15, bes. 15,30: „Quoniam Ismael et filios eius et fratres eius et
Esau non adplicabit ad se Deus et non elegit ex ipsis quoniam et ipsi ex filiis
sunt Abraham sicut cognovit eos sed in Istrahel elegit ut sint ei in po-
pulum.“ Jedoch vgl. 20,11-13, ein Abschnitt, der dem Ismael und Abrahams
Söhnen mit der Keturah eine gewisse Legitimität zu geben scheint.
124 Vgl. B. van der Lans, „Hagar, Ishmael, and Abraham’s Household in Josephus’
Antiquitates Judaicae“ in: M. Goodman, G. H. van Kooten und J. van Ruiten
(Hg.), Abraham, the Nations, and the Hagarites: Jewish, Christian, and Islamic
perspectives on kinship with Abraham (Leiden, 2010), S. 189-192. Josephus stört
anscheinend nur der Brauch des Konkubinats zur Aufhebung von Abrahams
Kinderlosigkeit und nicht die nach biblischem Recht unhaltbare Vertreibung
von Hagar und Ismael, die den Rabbinern ein Ärgernis war, s. Anm. 50.
125 Hier gibt Josephus „Kebsweib“ (‫ )פִּי ֶלגֶשׁ‬mit ϑεϱαπαινίς wieder, ein Wort, mit
dem er auch die Hagar beschreibt (1.187) – die Septuaginta gebraucht hier
παλλακή „Konkubine“, was Josephus auch für die Hagar (I. 214) anwendet. Ihr
unfreier Status macht er zudem I. 215 deutlich: Δούλη.
126 Vgl. R. Friedl, Art. „Konkubinat“ RAC 21, S. 418, 425; P. Trams, Art.
„Kinderlosigkeit“ RAC 20, S. 950-951. Wie sehr der römische Brauch der
Adoption vom nahöstlichem Usus abwich, geht z. B. aus einer neupunischen
122 Robert Kerr

expressis verbis, Ismael sei illegitim, weil dann die ganze Erzählung hätte
ausgelassen werden müssen (was beispielsweise die Suda sub s. v. Ἀβϱαάμ
[A69] tut], Van der Lans (a. a. O.) aber zeigt, wo er kann, dass Josephus die
namentliche Erwähnung Ismaels als Abrahams Sohn meidet, so z. B. in Gen.
16,15 wo Ismael ausdrücklich als Abrahams Sohn beschrieben wird („Und
Hagar gebar Abram einen Sohn; und Abram nannte seinen Sohn, den ihm
Hagar gebar, Ismael“) begnügt sich Ant. I. 191 mit: Ἁβϱάμῳ μὲν οὖν ἕκτον
ἤδη καὶ ὀγδοηκοστὸν ἔτος γεγονότι ὁπϱοειϱημένος ἐγεννήϑη, „der schon
erwähnte“ (πϱοειϱημένος), und er unterlässt gänzlich die Erwähnung der
von Abraham geäußerten Sorge Gen. 21,11 („Dieses Wort missfiel Abraham
sehr um seines Sohnes willen“). Zudem (s. Anm. 51) beschreibt Josephus
Isaak bei seiner Opferung (1.222) als μονογενής, also als ein Einzelkind.
Alles zusammen genommen wird deutlich, dass Josephus alles daran gele-
gen ist, die Legitimität Ismaels sowie die Verbundsgültigkeit seiner Be-
schneidung erst in der Pubertät abzustreiten, scheinbar nicht, weil er ir-
gendeine tiefverwurzelte Abneigung gegen die seiner Vorstellung nach ara-
bischen Abkömmlinge Ismaels gehabt hätte, sondern weil er die biblische
Überlieferung z. T. durch eine römisch-hellenistische Brille las.127
Die Ausweisung der Araber als Nachkommen Ismaels und die Frage
nach der Gültigkeit ihrer Beschneidung bzw. Zulassung zum Bündnis
Abrahams gemäß Josephus oder Paulus (s. o.) scheint vorerst keine

Inschrift Nordafrikas aus der Römerzeit deutlich hervor (KAI 124=IRT 338).
Die lateinische Formulierung testamento adoptatus musste beschreibend
übersetzt werden: b‘lytn qmd’ ’š ‘l’ bbnm ’t m‘qr bn g‘y bktbt dbr’ hbt š g‘y bn ḥn’
„Baljathon Commodus, der aufging in den Söhnen mit Macer, dem Sohn des
Gaius, mittels eines Dokumentes betreffend die Angelegenheiten des Hauses
des Gaius, des Sohnes Anos“ = Balitho Annonis Marci f. Commodus testamen-
to adoptatus (vgl. K. Jongeling, Handbook of Neo-Punic Inscriptions [Tübingen,
2008], S. 26-27 Labdah N18). Im Koran wird die Adoption wohl nicht zufällig
ِ َّ َ‫ُﻮﱒ ِﻻ ٓ َابﲛِ ِ ْﻢ ﻫ َُﻮ َٔا ْﻗ َﺴﻂُ ِﻋﻨﺪ‬
33,4-5 verboten: ‫اهلل‬ ْ ُ ‫( ا ْدﻋ‬trotz der Prophetenadoption des ‫زي د‬
‫)ب ن حارث ة‬.
127 Vgl. P. Spilsbury, The Image of the Jew in Flavius Josephus’ Paraphrase of the
Bible (Tübingen, 1998), 34. Van der Lans, a.a.O. S. 198 sieht in der von Abra-
ham angesteuerten Kolonisation Arabiens durch Ismael zusammen mit seinem
Nachkommen und mit denen Abrahams von Keturah (vgl. Anm. 120) ein Vor-
bild von Emanzipation. Josephus erfand die Episode dann, um so Isaak als allei-
nigen Erben Abrahams schildern zu können, ohne seinen römischen Lesern
den Eindruck zu vermitteln, Abraham habe seine übrigen Kinder, besonders
die seiner zweiten Frau Ketura (Anm. 54), die vom römischen Rechte her ge-
sehen legitime Nachkommen hervorbrachte, benachteiligt.
Die blauen Blumen von Mekka 123

feststellbaren Folgen gehabt zu haben. Auch nicht, als nach 106 u. a. das
vormalige nabatäische Reich zur Provincia Arabia wurde: Ein ausgedehntes
Gebiet, der Negev, der Sinai, der nördliche Ḥiǧāz, das bewohnbare Gebiet
zwischen Aqaba und dem südlichen Hauran sowie die nicht zum nabatä-
ischen Herrschaftsgebiete gehörenden griechischen Städte Philadelphia und
Gerasa, kam unter römische Herrschaft – Arabia adquisita (der Münzen;
Dio LXVIII.14 κατὰ δὲ τὸν αὐτὸν τοῦτον χϱόνον καὶ Πάλμας
<Frontonianus> τῆς Συϱίας ἄϱχων τὴν Ἀϱαβίαν τὴν πϱὸς τῇ Πέτϱᾳ
ἐχειϱώσατο καὶ Ῥωμαίων ὑπήκοον ἐποιήσατο übertrieb wohl) – d.h. das
Gebiet, aus dem der Islam ein halbes Jahrtausend später muslimischer
Sagenliteratur zufolge entspringen sollte, und schon seit Langem, wie oben
beschrieben, einen Teil der biblischen Heilsgeschichte ausmachte, kam jetzt
unter direkten römischen Einfluss: „Hanc provinciæ inposito nomine rec-
toreque adtributo obtemperare legibus nostris Traianus conpulit imperator
incolarum“ (Ammianus Marcellinus XIV. 8,13). Vom Judentum in dieser
Zeit gibt es hier nur vereinzelte Zeugnisse, und erst ab dem dritten Jahr-
hundert finden sich erste Hinweise, dass das Christentum sich in der da-
zwischen liegenden Zeit hier ausgebreitet hat: Eusebius berichtet von einem
Beryll ἐπίσκοπος δʼοὗτος ἧν τῶν κατὰ Βόστϱαν Ἀϱάβων.128 Allem Anschein
nach hat der Gebrauch des Ethnonyms „Araber“ hier keine theologischen
Folgen und, wie anderswo im Morgenland, war die Kirchensprache
griechisch.129
Um diese Zeit jedoch ist in der christlichen Rezeption – die in griechi-
scher Sprache überlieferten Werke des Josephus hatten kaum einen merk-
lichen direkten Einfluss auf das in dieser Zeit auch im Werden begriffene
rabbinische Judentum – die Aufnahme der oben angesprochenen ethnogra-
phischen Befunde des Josephus erfolgt, z. B.: unterscheidet Origenes
(Contra Celsum v.48,3) zwischen der jüdischen Beschneidung und der der

128 Hist. Eccl. VI. 20,2, vgl. VI. 33, A. von Harnack, Die Mission und Ausbreitung
des Christentums (Leipzig, 41924), S. 699f. und Millar, „Hagar, Ishmael, Jose-
phus,“ S. 39f. Ausführliche Diskussion bei G. Kretschmar, „Origenes und die
Araber“ Zeitschrift für Theologie und Kirche 50 (1953), S. 258f. Bostra ( ‫بصرى‬
‫ )الشام‬war die Hauptstadt der römischen Provincia Arabia und hieß dann Nea
Traiane Bostra.
129 Dies geht auch deutlich aus den Inschriften der zahlreichen Kirchenmosaiken
hervor: Griechisch blieb in Palästina und Transjordanien die Kirchensprache
bis ins 8. bzw. 9. Jh. (s. Anm. 108).
124 Robert Kerr

„ismaelitischen Araber,“ obwohl Ismael auch ein Sohn Abrahams war und
zugleich mit ihm beschnitten wurde:
Κἂν σεμνύνωνται τοίνυν Ἰουδαῖοι τῇ πεϱιτομῇ, χωϱίσουσιν αὐτὴν οὐ
μόνον τῆς Κόλχων καὶ Αἰγυπτίων πεϱιτομῆς ἀλλὰ καὶ τῆς
Ἰσμαηλιτῶν Ἀϱάβων, καίτοι γε ἀπὸ τοῦ πϱοπάτοϱος αὐτῶν Ἀβϱαὰμ
τοῦ Ἰσμαὴλ γεγενημένου καὶ σὺν ἐκείνῳ πεϱιτεμνομένου.130
Mit einer etwas anderen Betonung erwähnt Eusebius (Præp. Ev. vi.11,69):
Τῶν δὲ ἐν Ἶσμαηλίταις τοῖς κατὰ τὴν Ἀϱαβίαν τοιόνδε ὡς πάντας πεϱι-
τέμνεσϑαι τϱισκαιδεκατεῖς. Τοῦτο γὰϱ ἱστόϱηται πεϱὶ αὐτῶν – seine Ab-
hängigkeit von Josephus ebenso wie die des Philostorgius (Anm. 120) und
des Epiphanius (Anm. 121), ob direkt oder indirekt, bleibt unklar. Noch
aber werden keine Schlüsse mit diesen bloßen Feststellungen verbunden, ih-
re theologische Aufnahme wird erst im nachfolgenden vierten Jahrhundert
feststellbar, als einerseits die christliche Mission in abgelegenere Wüstenge-
biete außerhalb des (eigentlichen) römischen Herrschaftsbereiches vordrang
und als anderseits die Auseinandersetzungen bei den Bemühungen um eine
christliche Orthodoxie der sich herausbildenden Reichskirche zunahmen.
In dieser Zeit, in der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts, als die
römische Zivilisation sich auch in den südlichen Wüstengebieten allmählich
auszubreiten anfing und in Kontakt bzw. in Konflikt mit den dort ansässi-
gen Nomadenvölkern (vgl. Anm. 8 und 56) kam, sollte dann auch der
Umschlag kommen. Dies wird deutlich sichtbar bei den Schriften des
Kirchenvaters Hieronymus, z. B. in seiner Auslegung von Gen. 16,11-12:131

130 „Wenn also die Juden „sich mit ihrer Beschneidung brüsten,“ so werden sie
diese nicht nur von der Beschneidung „der Kolcher und Ägypter,“ sondern
auch von derjenigen der ismaelitischen Araber unterscheiden, obwohl doch Is-
mael der Sohn ihres Stammvaters Abraham gewesen ist und mit diesem die
Beschneidung empfangen hat“ (Übersetzung nach Bibliothek der Kirchenväter,
http://www.unifr.ch/bkv/).
131 Ausgabe P. de Lagarde, Corpus Christianum, Scriptores Latini Bd. 72 (Tourn-
hout, 1959), S. 20-21. Auffallenderweise bietet Hieronymus hier eine andere
Übersetzung als die der Vulgata: „Hic erit ferus homo manus eius contra omnes
et manus omnium contra eum et e regione universorum fratrum suorum figet
tabernacula. Also hier anstatt eines Homo rusticus wird er als ein ‚wilder‘ Mann
beschrieben, der ‚Zelte in Gebieten aller seiner Brüder aufschlägt.‘“ Der
Einfluss von Josephus bei den Kirchenvätern ist bedeutend, sichtbar z. B. auch
bei Hieronymus’ Rezeption dessen Behauptung (s. o.), dass Ismaeliten-Araber
den Joseph nach Ägypten verkauft hätten, vgl. Ep. 79 „Pro Silvana:“ „...Sie
fühlen sich überaus glücklich, dass sie Joseph kaufen und verkaufen können;
Die blauen Blumen von Mekka 125

„Et vocavit nomen eius Ismahel, quia exaudivit Deus humilitatem


meam. Ismahel interpretatur ‚exauditio dei.‘ Hic erit rusticus homo:
manus eius super omnes, et manus omnium super eum; et contra
faciem omnium fratrum suorum habitabit. Pro ‚rustico‘ scriptum ha-
bet in hebræo fara, quod interpretatur ‚onager.‘ Significat autem
semen eius habitaturum in hermeo, id est sarracenos vagos incer-
tisque sedibus, qui universas gentes, quibus desertum ex latere
iungitur, incursant, et inpuguntur ab omnibus.“
Hieronymus legt dann die Prophetie des „Engels“ aus: „Sein Staat ist der
aller, die in der Wüste wohnen werden,“ also jener Sarazenen, die ziellos
umherwandern ohne festen Wohnsitz und „häufig die an der Wüste gren-
zenden Länder anfallen und von allen angefallen werden.“132 Hieronymus
sah dann in den Nomadeneinfällen seiner Zeit – ob seine Beschreibungen
realitätsgetreu sind, ist eine andere Frage – die Bewahrheitung des Engel-
wortes von Gen. 16,12, eine Auslegung, die auch letztendlich von Josephus’
Ausweisung der Araber als Nachkommen Ismaels abhängig ist. In seinem

denn ihre Ware versinnbildlicht das ‚Heil der Welt‘“ – n. b. in der Vulgata gibt
Hieronymus den vom Pharao an Joseph gegebenen Namen (Gen. 41,45)
„Zaphenat-Paneach“ (‫ ;צָ ֽ ְפנַת ַפּ ְענֵח‬Ψονϑομϕανηχ) wieder mit „et vocavit eum
lingua Aegyptiaca Salvatorem mundi.“
132 Beda venerabilis rezipiert Hieronymus mit einem Zusatz zu den Ausführungen
des Paulus in Galater 4 (s.o.): „… Notandum autem quia hic primus antequam
nasceretur secundus Isaac a Domino nomen accepit, certi utique gratia mysterii,
quia et veteris testamenti, quod significatur in Ismahel, et novi, quod in Isaac,
hæredes ante secula fuerunt in divinia electione præcogniti” (Ausgabe C. W.
Jones, „In principium Genesis usque ad nativitatem Isaac IV. 16,11-12,“ Corpus
Christianum, Scriptores Latini Bd. 118a (Tournhout, 1967), S. 200-201. Beda,
der ungefähr drei Jahrhunderte nach Hieronymus tätig war, sieht im Zustand
seiner Zeit den Vollzug von Hieronymus’ Auslegung von Gen. 16, 12: „Signifi-
cat autem...“ (s.o.), „Sed hæc antiquitus. Nunc autem in tantum manus eius
contra omnes, et manus sunt omnium contra eum, ut Africam totam in longi-
tudine sua dictione premant, sed et Asiæ maximam partem, et Europæ non-
nullam omnibus exosi et contrarii teneant. Quod autem dicit, figet tabernacula,
morem gentis antiquum ostendit, quæ in tabernaculis semper, non in domibus,
habitare solebant.“ Beda, von seinen Quellen informiert (Anm. 21), ist also mit
der Araberherrschaft, die er biblisch anhand von Hieronymus (der wiederum
hier Josephus rezipiert) kennt, und weiß auch, dass sie inzwischen schon lange
ihre Zelte mit Häusern eingetauscht haben. Von einem neuen Gottesdienst aber
weißt er, wie schon erwähnt, nichts.
126 Robert Kerr

Ezechielkommentar bietet Hieronymus zudem eine scheinbar von ihm


erfundene biblische Etymologie von „Sarazenen:“
„Madianæos, Ismaælitas et Agarenos – qui nunc Saraceni appellan-
tur, assumentes sibi falso nomen Saræ quo scilicet de ingenua et
domina videantur esse generati.“133
Also die vermeintlichen Bastardennachkommen Ismaels, Sohn einer Un-
freien, eigneten sich einen Schein von Legitimität an dadurch, dass sie sich
nach einer freien Frau, nach Sarah, der Mutter des „legitimen“ Nach-
kommens Isaaks, nannten: Also ist gemäß Hieronymus „Sar(r)azene“ von
„Sar(r)a“ abzuleiten, etwas, das er in seinem Jesaja-Kommentar anhand
seiner Wirklichkeit lebhaft schildert:134
„Liber Geneseos docet ex Ismaele Cedar et Agarenos, qui perverso
nomine saraceni vocantur, esse genitos. Hi per totam habitant
solitudinem, de quibus puto et poetam dicere: ‚Lateque vagantes
Barcæi;‘135 Et supradictum volumen: ‚Contra faciem omnium fra-
trum suorum habitabit;‘ Eo quod latissima eremus ab India ad Mau-
ritaniam usque tendatur et Atlanticum oceanum, quod puto Hie-
remiæ titulum sonare: ‚Ad Cedar et ad regna Asor, quæ percussit
Nabuchodnosor rex Babylonis; Statimque sequitur: hæc dicit domi-
nus, surgite et ascendite ad Cedar, et vastate filios Orientis; Taberna-

133 Ausgabe F. Glorie, „Commentarii in Ezechielem VIII. 25,1-7‘ Corpus Christia-


num, Scriptores Latini Bd. 75 (Tournhout, 1964), S. 335. Vgl auch Hieronymus,
Ep. 129,4: „Ut taceam ... Arabas et Agarenos, quos nunc Saracenos vocant“ und
Epiphanius, Panarion iv.6-7. Diese Etymologie verursacht scheinbar die
Orthographie Sarracenos bzw. Σαϱϱακηνοὶ: Sarai (‫)שָׂרי‬ ַ der hebräischen Bibel
wird in der Septuaginta mit Σαϱα wiedergegeben, ihre Umbennung zu Sara
(‫;שָׂרה‬
ָ Vgl. Anm. 94) in Gen. 17,15 erscheint als Σαϱϱα (auch bei Josephus,
Anm. 52): Σαϱα ἡ γυνή σου, οὐ κληϑήσεται τὸ ὄνομα αὐτῆς Σαϱα, ἀλλὰ Σαϱϱα
ἔσται τὸ ὄνομα αὐτῆς; Vgl. Suda Ἀβϱαάμ (A69): Ἄβϱαμ γὰϱ πϱώην ὠνομάζετο:
ὁμοίως καὶ τὴν Σάϱαν Σάϱϱαν, πϱοσϑεὶς καὶ ἕτεϱον ϱ. Anscheinend konnte im
vormasoretischem Hebräischen ‫ ר‬geminiert werden.
134 Ausgabe M. Adriaen, „Commentarii in Isaiam V. 21,13-17‘ Corpus Christianum,
Scriptores Latini Bd. 73 (Tournhout, 1964), S. 208-209. Wohl unter diesem Ein-
fluss gibt Beda, Interpretatio nominum Hebræorum (Patrologia latina Bd. 93,
Kol. 1102) eine Etymologie, nomen est omen, von „Agareni“ vom Hebräischen
‫( גֵּר‬gēr) „Feind.“
135 Vergil, Aeneas, IV, 42-43: „Hinc deserta siti regio, lateque furentes Barcæi.“ In
zweien seiner Briefe (Epp. 126 und 129) vergleicht Hieronymus die Sarazenen
mit den sagenhaft wüsten Afrikanern, die an den Grenzen von Didos Karthago
wohnten, vgl. Tolan, „A Wild Man“ S. 519f. Anm. 16.
Die blauen Blumen von Mekka 127

cula eorum et greges eorum capient, pelles eorum et omnia vasa et


camelos tollent sibi. Et iterum: Inivit enim contra vos Nabucho-
donosor rex Babylonis consilium, cogitavit adversus vos cogitationes.
Surgite et ascendite ad gentem quietam et confidenter habitantem,
ait dominus; Non ostia, non vectes eis: Soli habitant. Et erunt cameli
eorum in direptionem, et multitudo iumentorum in prædam. Et
dispergam eos in omnem ventum qui sunt attonsi in comam; Et ex
omni confinio eorum adducam ineritum super eos, ait dominus.
Eritque Asor habitaculum draconum deserta in sempiernum; Non
manebit ibi vir, nec incolet eam filius hominis.‘ [Jer. 49,28-33]
Totum prope testimonium de Hieremia posui, ut quæ sit Cedar,
indubitanter intellegas. Et considera quomodo Ismaelitarum, hoc est,
Saracenorum proprie gentem descripserit, quia habitant in tentoriis;
Qui quas nox compulerit sedes tenent, quibus armenta sunt et pecora
camelorumque greges; Qui non habent ostia nec vectes, non enim
versantur in urbibus, sed in solitudine habitant. Et hi ergo a
Babyloniis deleti sunt, eo quod Asor civitatem, quæ metropolis gentis
illius in eremo fuit, usque ad solum subverterint; Et tamen cum
camelorum et ovium greges capti sint, pellesque eorum eatque
tentoria sorti divisa. Non omnis gentis illius significatur interitus, eo
quod dromedariis camelis centum et amplius milia uno per vastam
solitudinem fugere soleant. Auferetur, inquit, omnis gloria Cedar, et
imminuto sagittariorum numero, quia maxime pollent arte pugnan-
di; ceteri qui fugerint remanebunt.“
Hieronymus behauptet, dass Kedar136 und die Hagarener, die Nachkommen
Ismaels seien, sich perverserweise „Sarazenen“ nennen. Sie wohnen jetzt in
Abgeschlossenheit in der Wüste, die von Indien bis zu den atlantischen
Ufern Mauretaniens reicht, nachdem Gott sie und ihre Stadt Hazor durch
die Hand Nebukadnezars als Strafe zerstören ließ, ihm zufolge die Erfüllung
der zitierten Prophetie des Jeremias. „Seine Hand wider jedermann und
jedermanns Hand wider ihn“ sieht er zudem bewahrheitet in den Gescheh-

136 Kedar, der zweitgeborene Ismaels (Gen. 25,13) wird bei Hieronymus zum
Stammvater der Sarazenen-Ismaeliten-Araber, im Gegensatz zu Nebajoth bei
Josephus. Diese Auffassung ist auch in die islamischen Überlieferungen überge-
gangen: ‫ قيدار بن اسماعيل‬soll der Urahn Muhammads sein, obwohl die isla-
mischen Quellen keine einheitlichen Angaben bezüglich der Art und Weise
vermitteln. Von Hieronymus scheint auch die Ausweisung der Hagarener-Ab-
kunft von Hagar zu stammen, vgl. Anm. 61 und 158.
128 Robert Kerr

nissen seiner Zeit, sie wandern seit ihrer Vertreibung aus Hazor in den
Wüsten kämpfend und raubend auf und ab: Cuius præsagii veritatem et
exosa omnibus hodie Sarracenorum qui ab eo orti sunt natio probat.137 Eine
lebendige Schilderung des wüsten Benehmens dieser Sarazenen gibt Hiero-
nymus in seiner romanhaften Hagiographie, die literarischen Übereinkünfte
etwa mit der Sira sind evident, Vita Malchi 4, die beschreibt, wie die
Reisegesellschaft des heimkehrenden Mönchs von einer Bande Ismaeliten,
die Frauen und Kinder, Greise und Jungen nicht schonte, angefallen,
weggerafft und versklavt wurden:138
„De Berœa Edessam pergentibus vicina est publico itineri solitudo,
per quam Saraceni incertis semper sedibus huc atque illuc vagantur.
Quæ suspicio frequentiam in illis locis viatorum congregat, ut
imminens periculum auxilio mutuo declinatur. Erant in comitatu
meo viri, feminæ, senes, iuvens, parvuli, numero circiter septuaginta.
Et ecce: Subito equorum camelorumque sessores Ismælitæ irruerunt
crinitis vittatisque captibus ac seminudo corpore, pallia et latas
caligas trahentes. Pendebant ex umero pharetræ, et laxos arcus
vibrantes hastilia longa portabant. Non enim ad pugnandum, sed ad
prædandum venerant. Rapimur, dissipamur in diversa distrahimur.
Ego interim longo postliminio hereditarius possessor et sero mei
consilii pænitens cum altera muliercula in unius heri servitutem
sortitus venio. Ducimur, immo portamur sublimes in camelis et per
vastam eremum semper ruinam timentes hæremus potius quam
sedemus. Cibus semicrudæ carnes, et lac camelorum potus erat.“
Halbgares Fleisch und Kamelmilch, selbst für einen Mönch grauenhaft, über
weitere Entbehrungen berichtet er in V. M. 8. Ähnliches findet sich schon
bei Eusebius (Hist. eccl. VI. 42) über die Christenverfolgungen:
„Einen einzigen Fall will ich als Beispiel anführen. Chäremon, ein
hochbetagter Greis, war Bischof der Stadt Nilus. Dieser war mit
seiner Frau in das Arabische Gebirge geflohen und nicht mehr
zurückgekehrt. Und trotz vielen Suchens vermochten sie die Brüder
weder lebendig noch tot zu Gesicht zu bekommen. Viele wurden in
demselben Arabischen Gebirge von den wilden Sarazenen zu Sklaven
gemacht. Einige derselben konnten mit Mühe gegen hohe Geld-

137 Bede, „In cantica canticorum I. 1,4“ Ausgabe D. Hurst, Corpus Christianum,
Scriptores Latini Bd. 119b (Tournhout, 1983), S. 195. Vgl Tolan a. a. O., S. 521.
138 Vgl. Anm. 132 für eine anhand der kirchenväterlichen Auslegung biblische
Vorlage der Ismaeliten-Araber als Sklavenhändler Unschuldiger.
Die blauen Blumen von Mekka 129

summen losgekauft werden, bei anderen aber war es bis heute noch
nicht möglich.“
Hieronymus c.s. sprechen hier eindeutig nur von den nomadischen
Bewohnern der Wüste, also von den nicht Sesshaften, jenen „Barbaren,“ die
nicht wie brave Bürger des römischen Reichs einen festen Wohnsitz – sei es
in Dörfern, Städten bzw. anderen Orten des zivilisierten Lebens – inne
hatten. Obwohl manche, wie scheinbar die Equites Saraceni thamudeni,139
wohl von den Römern als berittene Hilfstruppen angeheuert wurden, ent-
zogen die meisten sich der direkten römischen Herrschaft, um so, wie schon
lange im Nahen Osten üblich, bei Bedarf oder Gelegenheit Karawanen und
Ortschaften zum Beutemachen anzufallen. Von jenen, die
„habitant in tentoriis; Qui quas nox compulerit sedes tenent, quibus
armenta sunt et pecora camelorumque greges; Qui non habent ostia
nec vectes, non enim versantur in urbibus, sed in solitudine
habitant“
ist die Rede; wie schon bemerkt (vgl. Anm. 112) gibt es im Negev starke
Anzeichen dafür, dass die dort ansässigen Nomaden sich nicht zum Chris-
tentum bekehrten und bei ihrem seit altersher ausgeübten Gottesdienst blie-
ben.140 Das Christentum hat hier, wie auch anderswo, in dieser Zeit noch

139 S. Not. Dign., Or. 25, 4 (Ausgabe Seeck).


140 Hiervon finden sich zahlreiche Hinweise in den zeitgenössischen Berichten:
Nebst Steinkult (vgl. Anm. 35 und 40) wird häufig von der Anbetung des Mor-
gensternes Venus-Aphrodite berichtet. Vgl. Hieronymus, Commentarii in Amos
II. 5,25-27 (Ausgabe M. Adriaen, Corpus Christianum, Scriptores Latini Bd. 76
[Turnhout, 1969], S. 296) „... Sidus dei vestri, quod Hebraice dicitur chocab, id
est luciferi quem sarraceni hucusque venerantur.“, ders., Vita sancti Hilarionis
16 „Luciferum, cuius cultui Saracenorum natio dedita est.“ Theodoret von
Cyrus, Historia religiosa zu Symeon: „Ismaeliten kommen in Haufen, zu Hun-
derten, zu Zweihunderten, ja zu Tausenden, schwören laut dem heimischen
Betrug ab, zermalmen vor dem großen Lichte die von ihnen verehrten Götzen-
bilder, entsagen den Ausschweifungen der Aphrodite, deren Dienst sie von
alters her gehuldigt, und lassen sich in die göttlichen Mysterien ein-
weihen“ (Übersetzung nach Bibliothek der Kirchenväter, http://www.unifr.ch/-
bkv/). Vgl. auch Gordianus, Vita S. Placidi, num. 61, der berichtet, dass der
Sarazenenfiirst Abdallah den Kult von Luzifer auszubreiten suchte, um das
Christentum auszurotten. Diese Tradition fand während des Mittelalters eine
Fortsetzung, Muhammad wurde des Öfteren mit den „Sünden der Venus – in
errore diei veneris“ in Verbindung gebracht (wohl als Anspielung auf sexuelle
Zügellosigkeit zu verstehen), vgl. N. Daniel, Islam and the West: The Making of
an Image (Oxford, 1993), S. 168, 215, 238, 341.
130 Robert Kerr

größtenteils vor allem in den städtischen Siedlungen Wurzeln geschlagen.


Wie damals alle, die sich zum Judentum bekannten, dem „Volke der Juden“
zugerechnet wurden, stellte man sich analog auch, nach den damaligen
Vorstellungen zumindest, auch die Gemeinde der Christen als „ein Volk“
bzw. „eine Nation“ (vgl. z. B. oben Gal. 4, 26, 28, 31) mit einer gemeinsamen
(geistlichen) Abstammung vor, wie Justin der Märtyrer (gest. 165) in seinem
„Dialog mit dem Juden Trypho (Dialogus cum Tryphone)“ (3-4) deutlich
ausführt:
„Nachdem jener Gerechte [d.i. Jesus] getötet war, ist in uns ein neues
Volk erblüht, zu neuen prächtigen Ähren sind wir herangewachsen,
wie es die Propheten gesagt hatten: ‚Viele Nationen werden zum
Herrn an jenem Tage als sein Volk fliehen und werden mitten im
ganzen Lande ihr Zelt aufschlagen.‘ [Zach. 2,11] Doch nicht nur sein
Volk sind wir, wir sind sein heiliges Volk, wie wir bereits gezeigt
haben. „Man wird es ein heiliges Volk nennen, erlöst vom Herrn“
[Jes. 62,12]. 4. Wir sind also kein verachtenswertes Volk, noch ein
Barbarenvolk, noch eine Nation wie die Karer oder Phryger. Nein
gerade uns hat Gott erwählt. Er wurde denen offenbar, die nicht nach
ihm fragten: ‚Siehe, ich bin Gott – spricht er – dem Volke, das mei-
nen Namen nicht angerufen hat!‘ [Jes. 65,1] Denn wir sind jenes
Volk, das Gott dereinst dem Abraham versprochen hatte. Da er ihm
verkündete, er werde ihn zum Vater vieler Völker machen [Gen.
12,1], meinte er nicht die Araber oder Ägypter oder Idumäer,
obwohl ja auch Ismael Vater eines großen Volkes war, ebenso Esau.
Auch sind ja die Ammoniten jetzt ein sehr starkes Volk. Noah aber,
der doch der Vater Abrahams war, war der Vater von jedem Men-
schenstamm überhaupt, möge die Ahnenreihe sonst so oder so hei-
ßen. 5. Worin nun besteht der Vorzug, den Christus da dem Abra-
ham gibt? Darin, daß er ihn ebenso (wie uns) berufen hat, denn er
rief ihm zu, er solle ausziehen aus dem Lande, in dem er wohnte [vgl.
Gen. 12,1]. Mit diesem Rufe hat er uns alle berufen, und nun sind wir
ausgezogen aus dem Staate, in dem wir mit den Landesbewohnern
die schlimmen Lebensgewohnheiten geteilt hatten. Mit Abraham
werden wir auch das heilige Land erben und werden das Erbe für alle
Ewigkeit in Besitz nehmen; denn Kinder Abrahams sind wir, da wir
gleich ihm glaubten [vgl. Galater 3,7] 6. Gleichwie nämlich Abraham
dem Worte Gottes ‚glaubte und es ihm zur Gerechtigkeit angerech-
net‘ [Gen. 15,6; vgl. Röm. 4,3; Gal. 3,6] wurde, ebenso glauben auch
Die blauen Blumen von Mekka 131

wir dem Worte Gottes, das uns von neuem durch die Apostel Christi
verkündet wurde und durch die Propheten gepredigt worden war,
und haben todesmutig auf alles, was die Welt bietet, verzichtet. Das
Volk also, welches Gott dem Abraham verheißt, glaubt gleich Abra-
ham, fürchtet Gott, ist gerecht und erfreut den Vater. [vgl. Sprichw.
10,1] Da euch jedoch der Glaube [vgl. V Mose 32,16-23] fehlt, so seid
nicht ihr jenes Volk.“ [Übersetzung nach Bibliothek der Kirchenväter,
http://www.unifr.ch/bkv/]
D.h. obschon die meisten damaligen Christen des Nahen Ostens zweifellos
auf irgendeine Weise als „Araber“ bestimmt werden können – ob sprach-
lich, ethnisch, kulturell, geographisch oder sonst wie, sei hier dahin gestellt
– spielte dies im Kontext des seinerzeitigen Christentums keine Rolle: Nur
der aufrechte Glaube, und zunehmend der rechte Glaube der konstantini-
schen Konzilskirche zählte. Wer aber glaubte, hatte eine von Abraham
stammende Abkunft (eine vom Judentum entlehnte Vorstellung für Bekehr-
te), und nur die zählte, eine Vorstellung, die theoretisch zumindest im Islam
bewahrt geblieben ist (‫ دار اإلسالم‬,‫)أمة‬. Mit Ethnonymen wurden also noch
nicht zum Christentum übergetretenen Völker angedeutet. Mit Sarazene
bzw. Araber bzw. Ismaelit bzw. Hagarener wurden hier demgemäß nur die-
se heidnischen, meistens nomadisch lebenden Stämmen der Wüste ange-
sprochen – und nicht „Araber“ gemeinhin, also Christen arabischer Ab-
stammung, die großenteils in Ortschaften lebten. 141 Die vermeintliche

141 „Sarazene“ konnte auch Heiden arabischer Abstammung andeuten, die durch-
aus gebildete Menschen sein konnten, wie sie beispielsweise mehrfach in der
Suda erwähnt werden. Der Begriff wurde jedoch nur auf Christen angewendet,
um ihre Abkunft vor ihrer Bekehrung anzudeuten. Die wüsten Nomaden konn-
ten sich auch bei Gelegenheit, zur Überraschung der Leser, wohl die literarische
Absicht, freundlich benehmen, wie z. B. in Ambrosius, Vita Antonii §§49-50.
Aber auch die Gewaltbereitschaft der Sarazenen konnte wann nötig durch
Christen geschätzt werden: Manchen Überlieferungen zufolge wurde Julian
Apostata von einem Sarazenen ermordet: „Die einen sagen, das habe irgendein
unsichtbares Wesen getan, andere, es sei einer von den sogenannten ismae-
litischen Nomaden gewesen … sicher ist, daß er hierbei als Diener des gött-
lichen Willens gehandelt hat“ (Theodoret von Cyrus, Hist. Eccl. III. 361f.; vgl.
Gregor von Nazianz, 5. Rede, §13). Feststellbar ist auch die Weiterentwicklung
des Begriffes natio, eig. „das Geborenwerden“, im Sinne von gens, populus bes.
(> angeborene Eigenschaft[en]) für Fremdvölker u. a. bei Cicero („Omnes
nationes servitutem ferre possunt: nostra civitas non potest“), Cæsar, Tacitus
usw., aber auch schon Plautus (Menæchmi II. i.34 „nam ita est haec hominum
132 Robert Kerr

Bastardenabstammung der Araber von Ismael, wie sie z. B. von Hieronymus


detailreich aufgeführt wurde, sollte als eine auf biblischen Wahrheiten
beruhende Erklärung ihres wüsten Benehmens, dass sie von Gott verflucht
seien, dienen. Nebenher sei bemerkt, dass u. a. die hier gegebenen Passagen
des Hieronymus Stoff für die spätere Polemik, von Mittelalter bis heute,
Arabern und dem Islam gegenüber, liefern. Diese datierten und später miss-
verstandenen Vorstellungen des Hieronymus, die aus der Zeit vor dem Is-
lam datieren, wurden leider immer wieder aufgegriffen und gehören noch
immer zum Repertoire rassistischer und xenophober Bewegungen im Wes-
ten: Wo er z.B. Luzifer (vgl. Anm. 140) noch etymologisch im Sinne von
„Licht bringend“ als Andeutung für Venus gebrauchte, wurde dies später
dann auf den Teufel bezogen, und manch christlicher Fundamentalist
behauptet immer noch, mit Allah sei der Leibhaftige gemeint.

6. Vom Ismaelitentum zum Islam


Die ständige Bedrohung der „Zivilisation“ entlang der mehr oder weniger
seit Hadrian festgelegten römischen Reichsgrenzen war zur unumgehbaren
Realität der Spätantike geworden. Um diese Drohung von außen zu bewäl-
tigen, standen militärische und theologische Mittel zur Verfügung: Erobe-
rung oder Bekehrung. Der verschieden Völkerwanderungen wegen (Berber,
Germanen, Slawen, Türken, Armenier usw.) hatte das Erstgenannte wenig
Erfolg, das Zweite aber, der Übertritt zum Christentum, freiwillig oder unter
Zwang, mit dazugehöriger Aneignung eines „zivilisierten“ Lebenswandels
und Aufnahme in die als Einheit vorgestellte christliche Familie des römi-
schen Reiches stellte ab der Mitte des vierten Jahrhunderts eine erfolgver-
sprechendere Alternative dar. Das Streben nach einer christlichen Einheit
innerhalb des Reiches durch vom Kaiser berufene Konzilien führte einer-
seits bekannterweise zur allmählichen Herausbildung einer Orthodoxie und
anderseits als Nebenprodukt zur Formulierung von Ketzereien. Die ver-
schiedenen Vorstellungen christlichen Glaubens beruhten z. T. auf dem je-
weiligen Substrat, wie und auf welche Weise die Bekehrung stattfand bzw.
auf örtlichen Traditionen. Anstatt der angestrebten Einheit entstanden ein-
ander z. T. vehement bekämpfende Gruppierungen: Das einzig mögliche
Resultat des Besitzes der absoluten Offenbarungswahrheit. Zunehmend aber

natio“), vgl. Säulenhalle Ad nationes des Augustus. Im christlichen Latein kam


die Beibedeutung „Heiden“ (vgl. auch gens und ἔϑνος) hinzu, z. B. „per deos
nationum“ (Tertullian, De idol. 22).
Die blauen Blumen von Mekka 133

kam im Laufe der Zeit die im Christentum aufgegangene alte Identität zum
Ausdruck in „nationalen“ bzw. regionalen „Ketzereien:“ Der Arianismus
der Vandalen, der Donatismus der Berber, der Nestorianismus der Ostvöl-
ker und das Judenchristentum der semitischen und arabischen Bewohner
des Nahen Ostens usw. usw. – es ist auch kein Zufall, dass die religiösen
Grenzen Westeuropas nach der Gegenreformation großenteils mit der des
alten Limes übereinstimmen.
Während des vierten Jahrhunderts gab es Missionstätigkeit bei den in
Syro-Palästina wohnenden nomadischen Arabern, auch wenn sie nicht, der
schwierigen Umstände wegen, ohne Gefahr durchzuführen war, aber wie
Sozomenon lebhaft schildert, konnten durch vorbildliche Mönche nicht
geringe Erfolge erzielt werden:142
„Syria vero, iam ea quæ Cœle dicitur, quam quæ supra illam posita
est, excepta urbe Antiochia, serius quidem ad Christi religionem
conversa fuit, sed tamen ecclesiasticis philosophis non caruit. Qui
quidem eo fortiores et fuerunt et visi sunt, quo magis invisi erant
incolis earum regionum, eorumque crebris insidiis appetebantur;
iisdemque virili animo resistebant, [269] non vim vi repellendo, nec
semetipsos ulciscendo, sed contumelias et verbera sibi a gentilibus
illata alacri animo perferentes. ... Illi enim Syros fere omnes, et ex
Persis ac Saracenis quamplurimos, ad religionem suam traduxerunt,
et a superstitioso dæmonum cultu abstraxerunt. Cumque monasticæ
philosophiæ studiis vacare cœpissent, multos sibi similes
reddiderunt.“
Diese Art von Bekehrung, durch asketische Mönche, die das Vertrauen die-
ser Menschen gewinnen konnten, scheint typisch gewesen zu sein. Vielen
Berichten zufolge trat häufig ein ganzer Stamm zugleich in Nachfolge ihres
Führers nach einem von Mönchen verübten Wunder über, der dann zu
ihrem Bischof ernannt wurde. Das erste eindeutige Zeugnis ist jedoch die
Bekehrung eines, in der Wiedergabe des Sozomen, sarazenisch geheißenen
Stammes,143 anscheinend ein im Sinai zu verortender Stamm. Die Königin

142 Ausgabe H. Valesius, „Hermiæ Sozomoni Ecclesiastica historia“ in J.-P. Migne


(Hg.) Patrologiæ cursus completus. Patrologiæ Græcæ Bd. 67(Paris, 1864), Cap.
34, S. 1396-1398 mit griechischem Paralleltext.
143 Theodoret von Cyrus Hist. Eccl. IV. 20 in seiner Schilderung dieses Ereignisses
nennt den Stamm ismaelitisch: „In jener Zeit plünderten die Stämme der Is-
maeliten die benachbarten Gebiete des römischen Reiches. Ihre Fürstin war
Mavia, welche nicht auf ihr Geschlecht sah, sondern eine männliche Gesinnung
134 Robert Kerr

hieß Mavia, nach dem Ableben ihres Gatten um 378 n. Chr. rebellierte der
Stamm, der scheinbar in einem Bündnisverhältnis mit Rom stand, und fiel
dann in nahegelegene Provinzen ein. Bei den Friedensverhandlungen wurde
von Rom die Bedingung gesetzt, dass sie sich zum Christentum bekehren
müssten; die Gegenbedingung war, dass ein örtlicher Eremit namens Mose
als ihr autokephaler Bischof ernannt werden solle. Seines aufschlussreichen
Inhalts wegen wird hier der ganze Bericht wiedergegeben, sowie der Text
zur Bekehrung des Häuptlings Zocomus mitsamt seinem ganzen Volk, nach
der Aufhebung seiner Kinderlosigkeit durch die Intervention eines nament-
lich nicht genannten Mönchs, des Sozomen, der etwas mehr als ein Jahr-
hundert vor der angeblichen Geburt Muhammads schreibt:144
„Sub idem tempus mortuo Saracenorum rege, soluta sunt corum
fœdera cum Romanis, eiusque uxor Mavia quæ principatum gentis
illius administrabat, urbes provinciæ Phœnices ac Palæstinæ vastavit,

an den Tag legte. Nach vielen Kämpfen schloß sie Frieden, nahm sodann das
Licht der Gotteserkenntnis an und bat, daß für ihr Volk ein Bischof aufgestellt
werde in der Person eines gewissen Moses, der auf dem Grenzgebiete zwischen
Ägypten und Palästina sich aufhielt. Valens nahm diese Bitte wohlwollend auf
und befahl, den heiligen Mann nach Alexandrien zu geleiten, auf daß er dort
die hohepriesterliche Weihe empfange. Diese Stadt war nämlich die nächst-
gelegene. Als dieser aber daselbst ankam und merkte, daß Lucius ihm die Hand
auflegen wollte, sprach er: ‚Das sei ferne von mir, daß ich von deiner Hand
mich weihen lasse; denn auf deine Anrufung hin wird die Gnade des Heiligen
Geistes nicht herabkommen.‘ Da entgegnete ihm Lucius: ‚Woher vermutest du
denn das, was du da sagst?‘ Jener aber erwiderte: ‚Das vermute ich nicht, das
weiß ich bestimmt. Denn du kämpfst gegen die apostolischen Lehren und
trägst entgegengesetzte Meinungen vor, und mit den gotteslästerlichen Reden
gehen Hand in Hand die ungerechten Werke. Denn wo wäre ein Gottloser, der
nicht durch dich veranlaßt worden wäre, die kirchlichen Versammlungen zu
höhnen? Wo ein lobenswürdiger Mann, der nicht durch dich in die Verban-
nung geschickt worden wäre? Wo eine barbarische Roheit, die nicht von deinen
täglichen Freveltaten in Schatten gestellt würde?‘ Solches sprach er mit kühnem
Freimut, jener aber hörte es mit mordgieriger Wut. Allein obschon ihn Mord-
lust beherrschte, fürchtete er doch, den eben beendigten Krieg von neuem zu
entflammen. So befahl er denn, ihn zu anderen Bischöfen zu führen, zu denen,
die er verlangte. Mit solch bewunderungswürdigem Glaubensmut empfing also
dieser die hohepriesterliche Weihe. Darauf zog er zu denen hin, die nach ihm
verlangt hatten, und führte sie durch apostolische Unterweisung und Wunder-
werke zur Wahrheit.“ (Übersetzung nach Bibliothek der Kirchenväter,
http://www.unifr.ch/bkv/). Vgl. auch Rufinus, H.E. XI. 6, Socrates, H.E. VI. 38.
144 A. a. O., Cap. 38, S. 1407-1413 mit griechischem Paralleltext.
Die blauen Blumen von Mekka 135

ad Ægyptios usque progressa qui regionem Arabiam dictam inco-


lunt, sitam ad lævum latus Nili adverso flumine naviganti. Neque
vero id belium leve videri poterat, utpote quod a muliere gereretur.
Adeo enim asperum ac difficile Romanis hoc certamen fuisse ferunt,
ut dux militum Phœnices, magistrum pedestris et equestris militiæ
quæ erat in Oriente, ad opem sibi ferendam vocaverit. Et magister
quidem militum risit vocantem, et prœlio enim interesse vetuit. Ipse
vero acie instructa congressus cum Mavia quæ copias suas ex adverso
ductabat, in fugam versus, ægre servatus est a duce militum Palæsti-
næ ac Phœnices. Hic enim cum magistrum in discrimine versari cer-
neret, stultum esse existimavit, extra prœlium, sicut ille iusserat,
manere: statimque accurrens, barbaris sese obieci, ac magistro qui-
dem tuto fugiendi opportunitatem præbuit. Ipse vero sensim pedem
referens, inter fugiendum tela iaciebat, hostesque incumbentes sagit-
tis repellebat. Hæc ita gesta multi ex earum regionum incolis etiam-
num commemorant : et apud Saracenos vulgo cantibus celebrantur.
Porro cum bellum ingravesceret, legatos de pace ad Maviam necessa-
rio mittendos esse decreverunt. At illa legatis eius rei causa missis
fœdus cum Romanis percussuram se prorsus, ut aiunt, negavit, nisi
gentis suæ ordinaretur episcopus Moses quidam, qui tum temporis
in vicina solitudine philosophabatur: vir tum ob vitæ sanctitatem,
tum ob divina signa atque miracula illustris. Itaque duces militum
qui hæc imperatori nuntiaverant, accepta ab eo potestate, Mosem
illico comprehendunt, et ad Lucium perducunt. Moses [276] vero
præsentibus magistratibus et plebe quæ confluxerat, sic Lucium allo-
cutus est: ‘Sustine; neque enim dignus sum qui episcopi nomen ac
dignitatem geram. Quod si mihi quamvis indigno munus hoc in-
iungit Deus, testor creatorem cœli ac terræ, te nunquam manus has-
ce cæde ac sanguine sanctorum virorum maculatas, mihi impositu-
rum.“ Cui respondens Lucius: ‚Si meam fidem, inquit, ignoras, in-
iuste agis, qui me antequam overis averseris. Quod si a quibusdam
calumniatoribus accepisti, audi nunc ex me ipso, et iudex esto eorum
quæ dicuntur.‘ Tum Moses: ‚At enim, inquit, satis manifesta mihi
videtur fides tua: Episcopi enim, presbyteri ac diaconi, qui in exsilio
et in metallis misere vexantur, testes sunt qualis illa sit. Hæc igitur
esse censes tuæ de Deo opinionis indicia, quæ prorsus aliena sunt a
Christo, et ab is qui recte sentiunt de divinate.‘ His dictis, cum
jusjurandum adiecisset, numquam se sacerdotium suscepturum esse,
136 Robert Kerr

si Lucius manum ipsi imponere vellet, magistratus Romani, reiecto


Lucio, Mosem ad episcopos in exsilio degentes deduxerunt. A quibus
ordinatus episcopus, perrexit ad Saracenos. Cumque eos amicos ac
benevolos reddidisset Romanis, mansit apud illos sacerdotali fungens
munere, et multos ad Christi fidem traduxit, cum perpaucos ibi fide-
les repperisset. Quippe hæc gens ab Ismaële Abrahami filio originem
ducens, vocabulum quoque accepit: eosque antiqui ab auctore gene-
ris Ismaëlitas nominarunt. Verum ut probrum adulterinæ originis
declinarent, et ignobilitatem Agar matris Ismaëlis quæ serva erat,
abolerent, ipsi se Saracenos nominarunt, quasi ex Sara coniuge Abra-
hami orti essent. Tali igitur genere prognati, omnes quidem Hebræ-
orum more circumciduntur, et a suillis carnibus abstinent, multus-
que alios Hebræorum ritus observant. Quod vero non iisdem quibus
illi institutis usquequaque utuntur, id vel longinquitati temporis
tribuendum est, vel quia finitimis gentibus permisti sunt. Nam Mo-
ses quidem, qui multis postea sæculis vixit, solis illis qui ex Ægypto
egressi sunt, leges tulit. Et eorum vicini, cum, sicut verisimile est,
admodum essent superstitiosi, patriam Ismaëlis disciplinam apud ip-
sos corruperunt; qua sola veteres Hebræi olim utebantur ; quippe qui
ante leges a Mose conditas, consuetudine non scripta regerentur.
Eosdem certe quos finitimi, coluerunt deos. Eosque simili modo
venerantes, iisdemque [277] appellantes vocabulis, hac religionis
similitudine quam cum vicinis communem habent, causam cur
patria instituta apud ipsos mutata sint, satis declararunt. Porro, ut
fieri solet, diuturni temporibus successio priora quidem oblivioni
tradidit; alia vero ab illis coli fecit. Posthæc quidam eorum, cum
Judæis congressi, didicerunt unde originem ducerent. Et ad cognatos
suos reversi, Hebræorum leges ac ritus sibi asciverunt. Atque ex o
tempore multi apud illos Judaico more etiamnum vivunt. Christia-
nam quoque religionem amplexi sunt, non multo ante huius impera-
toris tempora cuius res gestas describimus. Traducti sunt autem ad
fidem Christi, colloquiis sacerdotum et monachorum, qui per finiti-
mas ipsis solitudines philosophiæ operam dabant, vitæque sancti-
monia et miraculis refulgebant. Fertur etiam integram eorum tribum
eo tempore ad Christi religionem transiisse, cum Zocomus eorum
phylarchus baptismum huiusmodi ob causam suscepisset. Hic orbus
cum esset, ad monachum quemdam, fama illius adductos, accessit, ut
cum eo colloqueretur : suamque ipsius calamitatem deplorare cœpit.
Die blauen Blumen von Mekka 137

Quippe apud Saracenos et apud reliquos omnes, ut opinor, barbarus


magni fit liberorum procreatio. Monachus vero illum homo animo
esse iussit, et oratione facta, hominem dimisit, pollicitus filium ipsi
nesciturum esse, si in Christum vellet credere. Postea vero cum Deus
promissum re ipsa exhibuisset, et filius Zocomo natus esset, tum ipse
sacramentum baptismi accepit, et subditos suos ad fidem suscipien-
dum adduxit. Atque ex eo tempore tribum illam felicem ac numero-
sam fuisse perhibent, Persisque ac reliquis Saracenis formidabilem.
Quo igitur modo Saraceni ad Christi religionem primum conversi
sunt, et de primo illius gentis episcopo, hæc sunt quæ accepimus.“
Der Bericht über den Zocomus gibt den oben angedeuteten Bekehrungs-
vorgang gut wieder: der Stammeshäuptling war kinderlos, für ihn eine Kala-
mität, da die Erzeugung von Kindern (procreatio liberorum) heute immer
noch, nicht nur bei den Arabern, sehr wichtig war. Der Mönch war aber gu-
ten Mutes, betete für ihn und schickte ihn weg mit dem Auftrag: Wenn er
an Christus glauben würde, sollte ihm ein Sohn geboren werden (pollicitus
filium ipsi nesciturum esse, si in Christum vellet credere), was dann natürlich
geschah.145
Die erste Erzählung um die Bekehrung der Mavia und ihres Stammes ist
aber viel bedeutsamer, nicht so sehr wegen der geschilderten Ereignisse,
sondern wegen ihres theologischen Inhalts. Erstens werden die militäri-
schen Probleme, die die Römer mit diesen kriegerischen Stämmen hatten,
sehr deutlich, und zudem findet sich eine Schilderung ihrer (vorislami-
schen) arabischen Poesie, die ihre martialischen Heldentaten rühmte: Hæc
ita gesta multi ex earum regionum incolis etiamnum commemorant : et apud
Saracenos vulgo cantibus celebrantur. Danach jedoch wird der Gegensatz
zwischen den Glaubensvorstellung der Reichskirche und denen des heiligen
Mannes der Wüste, der Wunder wirkte (vir tum ob vitæ sanctitatem, tum

145 Ein vergleichbarer Bericht findet sich z. B. auch bei Theodoret von Cyrus a. a.
O.: „Die Königin der Ismaeliten, die unfruchtbar war und nach Kindern ver-
langte, sandte einige der angesehensten Männer zu ihm mit der Bitte, daß sie
Mutter werden möchte. Nachdem ihr Wunsch erfüllt war und sie erreicht hatte,
was sie verlangte, nahm sie den neugebornen König und brachte ihn zu dem
göttlichen Greise. Da aber die Frauen keinen Zutritt zu ihm hatten, schickte sie
das Kind zu ihm hinein und bat um seinen Segen. ‚Dein ist diese Garbe,‘ ließ
sie sagen. ‚Ich habe unter Tränen den Samen des Gebetes dargeboten. Du hast
den Samen zur Garbe gemacht, indem du den Regen der göttlichen Gnade
durch Fürbitte darauf herabgezogen‘“ (Übersetzung nach Bibliothek der
Kirchenväter, http://www.unifr.ch/bkv/).
138 Robert Kerr

ob divina signa atque miracula illustris), augenfällig: Moses wurde „unter


Zwang“ dem römischen Statthalter Lucius vorgeführt (Mosem illico
comprehendunt). Obwohl dies vielleicht seinem eremitischen Lebenswandel
zuzuschreiben wäre, wird bald deutlich, dass Moses die Reichskirche nicht
anerkannte; sie stehe seiner Meinung nach in Opposition zum wahren
Glauben Christi und zu allen „rechten“ Auffassungen der Gottheit („Hæc
igitur esse censes tuæ de Deo opinionis indicia, quæ prorsus aliena sunt a
Christo, et ab is qui recte sentiunt de divinate“). Der Glauben also jener
Einsiedler, die die Sarazenen zum Christentum führten, wich allem An-
schein nach bedeutend von dem der römischen Orthodoxie ab.
Danach erzählt Sozomen etwas über die Abkunft der Ismaeliten. Sie
stammen von Abraham über Ismael ab, und früher wurden sie „Ismaeliten“
genannt (Quippe hæc gens ab Ismaële Abrahami filio originem ducens,
vocabulum quoque accepit : eosque antiqui ab auctore generis Ismaëlitas
nominarunt). Da aber Ismaels Mutter eine Sklavin war, versuchten sie, die
Schmach einer aus Ehebruch entstandenen Abstammung dadurch zu ver-
bergen, dass sie sich nach der legitimen Frau Abrahams, Sarah, Sarazenen
nennen (Verum ut probrum adulterinæ originis declinarent, et ignobilitatem
Agar matris Ismaëlis quæ serva erat, abolerent, ipsi se Saracenos nominarunt,
quasi ex Sara coniuge Abrahami orti essent) – die Rezeption der Gedanken-
führung des Josephus durch Hieronymus als Bastardenabstammung Isma-
els.146 Sozomen sieht hieran aber die Erklärung für ihre Einhaltung jüdischer
Bräuche wie z. B. die Beschneidung und das Nichtessen von Schweinefleisch
(…omnes quidem Hebræorum more circumciduntur, et a suillis carnibus ab-
stinent, multusque alios Hebræorum ritus observant), und falls sie in irgend-
einer Hinsicht abfällig geworden wären, sei dies nur mit dem Zeitabstand
(seit der Trennung der Kinder Abrahams) und mit dem Umgange mit frem-
den Völkern zu erklären. Zudem behauptet er, ganz auffallend, das Gesetz
Mosis, der viele Jahrhunderte nach Abraham lebte, gelte nur für die, die er
aus dem Ägypterlande hinausführte (Nam Moses quidem, qui multis postea
sæculis vixit, solis illis qui ex Ægypto egressi sunt, leges tulit). In späterer Zeit,
scheinbar nicht gar so lang vor seinem Bericht, kamen diese Ismaeliten-
Sarazenen in Kontakt mit Juden und lernten so ihren Ursprung besser
kennen (Posthæc quidam eorum, cum Judæis congressi, didicerunt unde

146 Vgl. auch Theodoret von Cyrus, Hist. Rel.: „...Durch diese Wundertaten wurde
der gottselige Mann berühmt und zog viele Barbaren der Nachbarschaft heran.
Es bewohnen jene Wüste, die sich Ismaels als ihres Stammvaters rüh-
men“ (Übersetzung nach Bibliothek der Kirchenväter, http://www.unifr.ch/bkv/).
Die blauen Blumen von Mekka 139

originem ducerent); Wahrscheinlich reichten die Enthaltung vom


Schweinefleisch147 und der Brauch der Beschneidung aus, um ihnen, wie
Josephus dies tat (s.o.), durch Ismael eine Abkunft von Abraham
zuzuweisen – auch denkbar aber könnte hier die von Josephus berichtete
Zwangsbekehrung der Idumäer unter Hyrcanus sein.148 Obwohl viele dieser
Menschen seitdem nach jüdischen Bräuchen lebten, bekehrten sich andere
später frei zum Christentum (Christianam quoque religionem amplexi sunt,
non multo ante huius imperatoris tempora cuius res gestas describimus)
durch den Umgang mit den in der Wüste wohnenden, Wunder wirkenden
Mönchen und Priestern (Traducti sunt autem ad fidem Christi, colloquiis
sacerdotum et monachorum, qui per finitimas ipsis solitudines philosophiæ
operam dabant, vitæque sanctimonia et miraculis refulgebant), die schon
besprochen wurden. Sozomen gibt zu:
„the reality of two separate paths to the recovery of the inheritance of
Abraham which were being taken by ‚Ishmaelites‘ in his time: via
Judaism and via Christianity.“149
Der angenommene Glaube dieser Araber also war nicht der der konstantini-
schen Konzilkirche, sondern der der örtlichen asketisch lebenden Eremiten,
und so gab es auch keinen Anlass, ihre nomadische Lebensweise aufzu-
geben.
Die Abweichung des von diesen Wüstenheiligen vertretenen Glaubens
von der herkömmlichen Orthodoxie, zu dem die Araber bekehrt wurden,
womit sie das ihnen zustehende Erbe Abrahams antreten bzw. zurücker-
langen konnten, geht hervor aus einer Passage in der Philotheos historia des
Theodorets von Cyrus:150

147 Das Nichtessen von Schweinefleisch wie auch der Brauch der Beschneidung
(s.o.) sind nicht exklusiv dem Judentum vorbehalten, es handelt sich vielmehr
um ein weitverbreitetes Tabu des östlichen Mittelmeergebietes (vgl. der grie-
chische Ritus der Thesmophoria, vgl. auch Kukian de Dea Syria 54), s. z. B. Ori-
genes, Contra Celsum v.34: „Die einen enthalten sich der Schafe, da sie diese als
heilig betrachten und verehren, andere der Ziegen, andere der Krokodile, an-
dere der Kühe; von den Schweinen aber halten sie sich mit Abscheu fern.“
148 Ant. VIII. 257-258. Strabo meinte, dass die Idumäer einst zu den Nabatäern
zählten, dieser Gruppierung aber verwiesen wurden und sich danach an jüdi-
sche Bräuche anschlossen (Geog. xvi, 2, 34).
149 Millar, a. a. O., S. 43.
150 Theodoret von Cyrus, Philotheos Historia IV. 26; Übersetzung nach Bibliothek
der Kirchenväter, http://www.unifr.ch/bkv/.
140 Robert Kerr

„Um andere zu übergehen, die nicht übergangen zu werden ver-


dienten, sondern der Verherrlichung und mannigfachen Lobprei-
sung würdig sind – aber die Erzählung soll das Maß nicht allzusehr
überschreiten –, so lebte an jenem gottseligen Orte ein Mann
namens ʿAbbās, zwar von ismaelitischer Abkunft, aber aus dem
Hause Abrahams nicht wie sein Vorfahre verjagt, sondern teilhabend
an dem väterlichen Erbe mit Isaak oder besser das Himmelreich an
sich reißend. Den Anfang des aszetischen Lebens schon machte er
bei einem der besten Lehrmeister, die damals die Wüste bewohnten;
sein Name war Marosas. Später gab dieser die Leitung anderer auf
und kam mit ʿAbbās zur Herde hierher, und nachdem er da längere
Zeit gelebt, herrlich gekämpft hatte und berühmt geworden war,
schied er aus dem Leben. Er hatte bereits achtunddreißig Jahre hier
zugebracht, aber wie wenn er erst anfinge zu arbeiten, so verlangt er
nach Arbeit. Denn bis heute bekleidet er seine Füße nie mit
Sandalen, sucht in der Kälte den Schatten auf und setzt sich bei der
Hitze der Sonne aus und nimmt wie einen Zephyr ihren Brand auf
sich. ...“ usw. usw.
Hier bekam ʿAbbās, ein vermeintlicher Nachkomme Ismaels, teil an dem
echten Erbe Abrahams im paulinischen Sinne, d.i. durch Isaak, um so das
Himmelreich an sich reißen zu können, durch die Annahme einer extremen
Ausprägung des christlichen Asketismus, der dann ausführlich beschrieben
wurde. Theodoret berichtet zudem (XXVI. 13) „Sie nehmen Gesetze an von
diesem heiligen Munde, verabschieden die heimischen Gebräuche, entsagen
dem Genusse des Fleisches von Wildeseln und Kamelen“; in einer Erzäh-
lung über den Symeon Stylites wird gar die Enthaltung von jeglichem Flei-
schessen gelobt.151

151 A. a. O. „Es wurde von ihm noch ein anderes Wunder gewirkt, das nicht ge-
ringer ist als dieses erste. Aus der Zahl der Ismaeliten, die den Glauben an den
heilbringenden Namen des Herrn Christus angenommen hatten, machte ein
angesehener Mann Gott ein Gelübde, wobei er den Symeon zum Zeugen seines
Versprechens erwählte. Er gelobte, fernab bis ans Lebensende jeglicher Fleisch-
nahrung sich zu enthalten. Nach einiger Zeit aber wurde er wortbrüchig, indem
er ein Huhn schlachtete und es zu verspeisen wagte. Da ihn Gott unter Beschä-
mung bekehren und zugleich seinen Diener, der Zeuge des verletzten Verspre-
chens gewesen, ehren wollte, wurde das Fleisch des Huhnes in Stein verwandelt,
so daß er es bei aller Gier nicht mehr verzehren konnte. Denn wer vermöchte
Fleisch zu essen, das zu Nahrungszwecken zubereitet und dann in Stein sich
gewandelt? Entsetzt über diesen ungewöhnlichen Anblick, eilte der Barbar so
Die blauen Blumen von Mekka 141

Obwohl die Quellen etwas sparsam mit konkreten Auskünften sind, sollte
deutlich sein, dass die christliche Glaubensausprägung der nomadisch
lebenden Araber an den Grenzen des römischen Reiches von Rom bzw.
Konstantinopel aus gesehen heterodox war. Ihre im Lauf des vierten Jahr-

schnell er konnte zu dem Heiligen, eröffnete ihm die geheime Sünde und be-
kannte sein Vergehen vor aller Welt, von Gott Verzeihung erflehend für den
Fehltritt. Und den Heiligen rief er als Fürsprecher an, daß er ihn durch all-
vermögendes Gebet von den Fesseln der Sünde befreie. Viele waren Augen-
zeugen des Wunders und konnten das Bruststück aus Knochen und Stein be-
tasten.“ Zur Fleischenthaltung bei den Ebioniten s. Anm. 155. Das Nichtessen
von Fleisch, bei asketischer Lebensführung, scheint mit einer Fortsetzung der
jüdischen Speisegesetze und des Schächtens in Verbindung zu stehen. Das
Concilium Gangrense (nach 340; heute Çankırı), das zusammenkam, um die
asketisch-häretische Bewegung der sogenannten Eustathianer (um Eustathius
von Sebaste) zu anathematisieren und dessen Beschlüsse beim Konzil von
Chalkedon bestätigt wurden, untersagte das Ablehnen von blutlosem Fleisch,
außer wenn es Götzen geopfert bzw. durch Erwürgen zum Tode erbracht
worden war (und erschien dem Augustinus als etwas ganz Fremdartiges, vgl.
Anm. 185): Si quis carnem manducantem ex fide cum religione præter
sanguinem et idolo immolatum et suffocatum crediderit condemnandum
tamquam spem non habentem, quod eas manducat, anathema sit. So ist wohl
das Verbot des Athanasius von Baldad, Opfer der zu verzehren, zu
verstehen (Ausgabe A. Vööbus, Syrische Kanonessammlungen Band I [Löwen,
1970], S. 200-202. (Nebenher sei bemerkt, dass hier auch die meisten Formen
des Zölibats verboten wurden!) Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass diese
Araber Muslime waren (pace R. G. Hoyland, Seeing Islam as Others Saw it. A
survey and evaluation of Christian, Jewish and Zoroastrian writings on early
Islam [Princeton, 1997], S. 149 – hierin ḥalāl geschlachtetes Fleisch zu sehen
lässt sich in keinerlei Weise begründen). Das Verbot von Esel- und Kamel-
fleisch entstammt natürlich Dtn. 14,3 ff.; es ist darum unwahrscheinlich, dass
‫ بُ ْدن‬im Koran 22,36 ursprünglich Kamele bedeutete, wohl eher ein Stein- bzw.
Springbock (eigentlich „fettes“); der islamisch ‫ بِي َْحة َذ‬ist eine Fortsetzung des
jüdischen ‫שחיטה‬-Brauches, der Begriff selber kommt vom Aramäischen, vgl. im
Talmud (BT Pes 42b[21]) ‫ דבחא‬als Andeutung für das Pessachfest (auch Markus
14,12 𝔓: ‫܃ ܐ‬ ܿ ̈ ‫ܘܕ‬ ܿ ܿ ̈ ܿ
ܼ ܼ ܼ‫܃ ܕܼ ܕ‬ ܼ‫ܕ‬ ܼ ܼ‫ܘ‬
ܿ ‫ܿܕ ܼܬܐ ܼ ܼ ܠ‬ ܼ ܼ ‫ܿܕ ܙܠ‬ ‫ܐ̱ܿ܂‬ ܼ‫ܨ‬
ܿ ‫ܐ‬ ‫ܘܗ ̈ܝ܂‬
̱ ܼ ‫ܿܬ‬
„Eucharistiefeier“ (‫ قُرْ بَان‬in 3,183; 5,27 als terminus technicus ist vom syrischen
‫ ܘܪ‬entlehnt und letztendlich vom Hebräischen ‫קָרבָּן‬ ְ abgeleitet). Wenn
Plinius’ Angaben korrekt sind: „At in Arabia suillum genus non vivit“ (Nat Hist.
viii.78), dann ergäbe das Verbot auf Schweinefleisch im Ḥiǧāz zudem keinen
Sinn.
142 Robert Kerr

hunderts angefangene Bekehrung zum Christentum, die (s.o. Anm. 112) im


siebten noch nicht abgeschlossen war, stellte in vielerlei Hinsicht, aber
besonders in theologischer, etwas ganz anderes dar. Ihre Konversion hielt
die Einhaltung jüdischer Gesetze bzw. ihre als jüdischen Ursprungs aus-
gelegten Bräuche, teilweise bei. Wir haben es also mit Judenchristen zu tun,
Gruppen wie etwa die anfangs erwähnten Nazoräer und Ebioniten, die ich
an anderer Stelle ausführlich besprochen habe.152 Deutlich ist, dass das
Christentum in dieser Gestalt einen starken jüdischen Einfluss (einschließ-
lich der Beschneidung),153 mit einem Glauben an Christus verband.154 Die
Ebioniten, Epiphanius zufolge eine Absplitterung der Nazoräer, sollen Ve-
getarier gewesen sein, die Göttlichkeit Christi abgelehnt haben und darum
wie später die Antitheopaschiten den Weinkonsum ihrer Ablehnung der
Eucharistie wegen untersagt haben.155 Es ging letztendlich um die alte Frage,
ob Gott oder ein Mensch gekreuzigt wurde. Nichtsdestotrotz haben wir hier

152 A. a. O. §7.2.9.
153 Z. B. Epiphanius, Panarion xxviii.5: Ὄντες μὲν κατὰ τὸ γένος Ἰουδαῖοι καὶ τῷ
νόμῳ πϱοσανέχοντες καὶ πεϱιτομὴν κεκτημένοι. Bei den Judenchristen
herrschte die Ansicht: Ἐὰν μὴ πεϱιτμηϑῆτε τῷ ἔϑει τῷ Μωϋσέως, οὐ δύνασϑε
σωϑῆναι (Apostelgeschichte 15,1 vgl. auch Vers 5).
154 Ders., a. a. O. xxviii.6: Τὰ πάντα δέ εἰσιν Ἰουδαῖοι καὶ οὐδὲν ἕτεϱον. χϱῶνται δὲ
οὗτοι οὐ μόνον νέᾳ διαϑήκῃ, ἀλλὰ καὶ παλαιᾷ διαϑήκῃ, καϑάπεϱ καὶ οἱ Ἰουδαῖοι.
Οὐ γὰϱ ἀπηγόϱευται παϱ' αὐτοῖς νομοϑεσία καὶ πϱοϕῆται καὶ γϱαϕεῖα τὰ
καλούμενα παϱὰ Ἰουδαίοις βιβλία, ὥσπεϱ παϱὰ τοῖς πϱοειϱημένοις· οὐδέ τι
ἕτεϱον οὗτοι ϕϱονοῦσιν, ἀλλὰ κατὰ τὸ κήϱυγμα τοῦ νόμου καὶ ὡς οἱ Ἰουδαῖοι
πάντα καλῶς ὁμολογοῦσι χωϱὶς τοῦ εἰς Χϱιστὸν δῆϑεν πεπιστευκέναι. Παϱ'
αὐτοῖς γὰϱ καὶ νεκϱῶν ἀνάστασις ὁμολογεῖται καὶ ἐκ ϑεοῦ τὰ πάντα
γεγενῆσϑαι, ἕνα δὲ ϑεὸν καταγγέλλουσι καὶ τὸν τούτου παῖδα Ἰησοῦν Χϱιστόν.
Vgl. etwa auch Augustinus, De Hæresibus ix: Nazoræi, cum Dei Filium
confiteantur esse Christum, omnia tamen veteris legis observant, quæ
Christiani per apostolicam traditionem non observare carnaliter, sed spiritaliter
intellegere didicerunt.
155 Vgl. z. B. Epiphanius, Pan. XXX.16, Clement, Strom. I, Irenäus, Adversus
Hæreses 96. v. 1.3: Vani autem ei Ebionæi, unitionem Dei et hominis per fidem
non recipientes in suam animam, sed in veteri generationis perseverantes fer-
mento ; neque intelligere volentes, quoniam Spiritus sanctus advenit in Mariam,
et virtus Altissimi obumbravit eam; qua propter et quod generatum est, sanc-
tum est, et filius Altissimi Dei Patris omnium, qui operatus est incarnationem
eius, et novam ostendit generationem; uti quemadmodum per priorem genera-
tionem mortem hæreditavimus, sic per generationem hanc hæreditaremus
vitam; vgl. Anm. 151.
Die blauen Blumen von Mekka 143

wohl die Quelle des islamischen Alkoholverbotes, aber sie glaubten zugleich
an die Jungfrauengeburt Christi (vgl. Kerr a. a. O.) und lehnten die Lehre
des Paulus ab.156
Das Einhalten ihrer „jüdischen“ Bräuche stand natürlich in direktem Wi-
derspruch zur paulinischen Theologie der Hauptkirche. Paulus beteuerte:
“Ich versichere noch einmal jedem, der sich beschneiden lässt: Er ist
verpflichtet, das ganze Gesetz zu halten. Wenn ihr also durch das
Gesetz gerecht werden wollt, dann habt ihr mit Christus nichts mehr
zu tun; ihr seid aus der Gnade herausgefallen“ (Gal. 5, 3-4).157
Da sie außerdem auch, und jetzt nicht mehr nur „in bildlichem Sinne,“ die
Nachkommen Ismaels waren, also unfreier Abkunft nach paulinischer An-
sicht, ist die Frage, ob sie überhaupt zu „Kindern der Verheißung“ werden
konnten. Die theologische Erklärung der Sarazeneneinfälle bei Hieronymus
wurde den Ismaeliten nach ihrer Konversion zum unlösbaren Verhängnis.
Hierin ist wohl die spätere Entstehung des Islams schon vorgegeben.
Bei diesen Gruppen hielt sich auch der Psilanthropismus, nach dem
Jesus „nur ein Mensch“ war, was vom ersten ökumenischen Konzil von
Nizäa im Jahre 325 verworfen wurde (vgl. das Nizenische Glaubensbe-
kenntnis). Dass im Islam eine alte vornizenische Christologie erhalten ge-
blieben ist, ist keine neue Entdeckung. Es ist dann auch kein Zufall, dass die
„Orientalische Orthodoxie“ (die Armenische Kirche, ebenso wie die Syri-
sche, Koptische und Äthiopische Kirche) nach wie vor die Beschlüsse des
Konzils von Chalkedon (451) ablehnen, auf dem die Zwei-Naturen-Christo-
logie offiziell angenommen wurde,: ‫ توحيد‬tawḥīd – „Einzigartigkeit“ anstatt

156 Z. B. Eusebius , Hist. eccl. iii.27.4: οὗτοι δὲ τοῦ μὲν ἀποστόλου πάμπαν τὰς
ἐπιστολὰς ἀϱνητέας ἡγοῦντο εἶναι δεῖν, ἀποστάτην ἀποκαλοῦντες αὐτὸν τοῦ
νόμου …; Irenäus, Adv. Hær. iii.15: Ebionæos perstringit, qui Pauli
auctoritatem elevabant.
157 Vgl. auch die vehemente Bestreitung bei Origenes (Contra Celsum V. 48,3):
Ἀλλὰ ταῦτα μὲν πεϱιεϱγότεϱά πως εἶναι δοκοῦντα καὶ οὐ κατὰ τὴν τῶν
πολλῶν ἀκοὴν παϱακεκινδυνευμένως ἐπὶ τοσοῦτον λελέχϑω, οἷς ἔτι ἓν ὡς
Χϱιστιανῷ πϱέπον πϱοσϑεὶς ἐπὶ τὰ ἑξῆς μεταβήσομαι. Ἐδύνατο γὰϱ οὗτος
οἶμαι ὁ ἄγγελος κατὰ τῶν μὴ πεϱιτεμνομένων ἀπὸ τοῦ λαοῦ καὶ ἁπαξαπλῶς
πάντων τῶν σεβόντων μόνον τὸν δημιουϱγόν, καὶ ἐπὶ τοσοῦτόν γε ἐδύνατο,
ὅσον οὐκ ἀνειλήϕει σῶμα ὁ Ἰησοῦς. Ὅτε δ' ἀνείληϕε, καὶ πεϱιετέμνετο τὸ
ἐκείνου σῶμα, καϑῃϱέϑη πᾶσα ἡ κατὰ τῶν ἐν τῇ ϑεοσεβείᾳ ταύτῃ <μὴ>
πεϱιτεμνομένων δύναμις αὐτοῦ· ἀϕάτῳ γὰϱ ϑειότητι καϑεῖλεν ἐκεῖνον ὁ Ἰησοῦς.
Διὸ τοῖς μαϑηταῖς αὐτοῦ ἀπείϱηται πεϱιτέμνεσϑαι καὶ λέγεται αὐτοῖς· «Ὅτι ἐὰν
πεϱιτέμνησϑε, Χϱιστὸς οὐδὲν ὑμᾶς ὠϕελήσει.»
144 Robert Kerr

‫ ث الوث‬ṯālūṯ – „Dreiheit, Dreifaltigkeit.“ Vor diesem Hintergrund ist es nicht


überraschend, dass in der Heimat des Christentums die meisten Gläubigen,
ob Christen oder Muslime, die hellenistische Kirchenausprägung ver-
weigern:
‫„ ال اله إال ﷲ وحده ال شريك له‬es gibt keine Gottheit außer Allāh allein und er
hat keinen Teilhaber.“
In dieser theologischen Lehrvielfalt des Christentums, besser spräche
man von „Christentümern,“ liegen dann die Wurzeln des Islam. Obwohl
seine Entstehung komplexer ist, als hier nur andeutungsweise dargestellt, so
z. B. konnten hier Entwicklungen innerhalb des Sassanidenreiches nicht
besprochen werden – Mesopotamien war auch ein Teil des Arabiens der
Antike, und hier sind die ersten Araber in der Keilschriftüberlieferung
bezeugt.158 Jedenfalls sind im christlichen Glauben der vorislamischen Ara-
ber alle theologischen Standpunkte des später zum Islam führenden Koran
vertreten. Die auf dem vermeintlichen Besitz der absoluten Offenbarungs-
wahrheit, besonders der der Reichskirche, beruhende letztendliche Unfähig-
keit zu theologischen Kompromissen führte dann zur unwiderruflichen
Gründung eines neuen Glaubens, aus dem darauffolgend eine eigene Iden-
tität und eigene Traditionen hervorgingen. Aber so gebar auch einst, was
später zum Judentum werden sollte, christliche Vorstellungen. Absoluter
Wahrheitsbesitz kann nur Ketzereien hervorbringen.

7. Spätantike Kontextualisierung
Die schlussendliche Unmöglichkeit der Erlangung eines einheitlichen
christlichen Glaubens, um so das angestrebte Ideal einer Einheit des Römer-
reichs zu verwirklichen, heißt nicht, dass solches nicht angestrebt wurde.
Die Bestrebungen des sechsten Jahrhundertes führten zum zweiten (5. Öku-
menischen) Konzil von Konstantinopel im Jahr 553, das keine Resolution
hervorbrachte, nur eine neue Absplitterung, die der sog. Neochalkedonier;
Justinian II. und seine Kaiserin Sophia konnten in Callinicium auch keinen
Erfolg erzielen. Die Verwirrung wurde nur größer, als verschiedene Grup-
pen anfingen, einander den Zugang zur Kommunion zu verweigern und

158 S. jetzt die Beiträgen von P.-A. Beaulieu, G. Frame und R. Zadok in A.
Berlejung und M. P. Streck (Hg.), Arameans, Chaldeans, and Arabs in Babylonia
and Palestine in the First Millennium B.C. (Wiesbaden, 2013). Vgl. etwa auch
die Suda s.v. Κηδάϱ (K1483): Δεύτεϱος τοῦ Ἰσμαὴλ υἱός. Οἱ δὲ τούτου
ἀπόγονοι μέχϱι τήμεϱον οὐ πόϱϱω τῆς Βαβυλῶνος ἐσκήνηνται.
Die blauen Blumen von Mekka 145

eigene Bischöfe in eigenen Kirchen ernannten. Als letzter unternahm Hera-


klius im 7. Jahrhundert verschiedene Versuche, die angestrebte christliche
Glaubenseinheit zu bewerkstelligen. Im Jahr 622 auf der Synode von Garin
stellte er Sergius’ Formulierung vom Monoenergetismus vor: Also: Anstatt
u.a. wegen der Natur(en) Christi mit den Monophysiten uneinig zu werden,
sollte man sich auf die eine theandrische Energeia einigen, ob Christus nun
Mensch oder Gott oder beides oder etwas zwischendrin war, sollte jetzt
bedeutungslos sein, da seine Handlungen stets der göttlichen Kraft entstam-
men sollten. Nach ersten Erfolgen wurde auch diese Lehre von den Chalke-
doniern verworfen: U.a. sah Sophronius von Jerusalem nach seiner Ernen-
nung zum Patriarch 634 hierin eine Bedrohung für die chalkedonische
Orthodoxie, weil diese Formulierung die dyothelitistische Lehre unterstütze.
638 stellten Sergius und Heraklius dann eine neue Variante in ihrer sog.
Ἔκϑεσις vor: Christus habe nur einen Willen, die monotheletische Lehre.
Die aber wurde von den nachfolgenden Päpsten Severinus und Johannes IV.
verworfen. Ein Schisma zwischen der West- und der Ostkirche drohte, als
Heraklius im Sterbebett lag. Mit seinem Tode erlosch auch die theologische
Einigungsbereitschaft: Sein Enkel, Constans II., publizierte 648 den Týpos,
fortan sollte von dem einen Willen Christi nicht mehr gesprochen werden,
der status quo ante von Chalkedon war das letzte Wort. In 680-681 wurde
auf dem 3. Konzil von Konstantinopel (6. Ökumenisches Konzil) der Mono-
theletismus endgültig zu Gunsten der dyotheletischen Lehre verdammt.
Eine Einheit sollte nicht mehr möglich werden.
So ist es dann gar nicht überraschend, dass als einzige konkrete Erin-
nerung an die lange Römerherrschaft im Mittleren Osten in islamischer
Überlieferung an Kaiser Heraklius in verschiedenen Ḥadīṯen positiv erin-
nert wird: Er soll Muslim geworden sein bzw. eine solche Konversion vor-
genommen haben, nur der Widerstand seines Hofes habe dies verhindert
(Ṣaḥīḥ al-Buḫārī, Ḥadīṯ I.1.6, 2.48, III. 48.846, IV. 52.191 usw.). Für sich
selbst genommen war dies nur ein Kuriosum, aber im geschichtlichem Zu-
sammenhang verständlich: Seine Bestrebungen um eine minimalistische
theologische Formulierung, um so alle in eine Kirche aufnehmen zu kön-
nen, gerieten hier nicht in Vergessenheit. Im Gegensatz zum Widerstand
der Reichskirche wurden diese von den Monophysiten und Juden-Christen
Syro-Palästinas geschätzt. Später, als der Islam und danach der Ḥadīṯ ent-
standen waren, galt dieser Kaiser als Muslim, wie später Kirchenreformer
des Mittelalters durch die Reformatoren einverleibt wurden.
146 Robert Kerr

Das Scheitern einer von allen hinnehmbaren Definition der christlichen


Gottheit ging zusammen mit einem Verlust politischen und militärischen
Einflusses Konstantinopels in Syro-Palästina. Das fragile Gleichgewicht war
schon am Ende des sechsten Jahrhunderts gestört, als die letzten
Ghassanidenführer 582 und 583, weil sie ihrem monophysitischen Glauben
nicht abschwören wollten, ins sizilianische Exil geschickt wurden, anstatt
vom Kaiser zu Königen gekrönt zu werden. Ein halbes Jahrhundert später,
mit der Zerstörung der Sassanidenherrschaft, ist das Reich erschöpft, und
Heraklius organisiert sein Reich um: Er gibt die republikanische Fiktion
endgültig auf und heißt fortan König (πιστός ἐν Χϱιστῷ βασιλεύς) statt
Kaiser, auch gibt er den Schein der Latinitas auf, griechisch war jetzt Amts-
sprache, und er beschränkte das eigentliche Herrschaftsgebiet größtenteils
auf Kleinasien. Die meisten seiner noch im Nahen Osten befindlichen
Streitkräfte zog er ab, sie waren an der Nordostgrenze Anatoliens statio-
niert, um Barbareneinfälle – Khazaren, Slawen, Türken usw. – abzuwehren:
In archäologischer Hinsicht spricht alles für einen ordentlichen Abzug des
Römerheers und nichts für die entscheidende militärische Niederlage der
späteren islamischen Tradition. Also entstand ein Machtvakuum. Diese
Leere hatte einen Bürgerkrieg als Folge, besser bekannt als die erste Fitna.
Am Ende wurde, wie anfangs notiert, Muʿāwiya zum „König“ gekrönt, eine
translatio imperii, der Anfang der Umayyadenherrschaft,159 die wohl wie
andere, ähnlich zentrifugierende Bestrebungen zumindest pro forma die
Oberhoheit Konstantinopels anerkannte.
Wie am Anfang dieses Beitrages erwähnt wurde, gibt es in zeitgenös-
sischen Quellen noch keine Spur eines neuen Gottesdienstes, eines werden-
den Islam. Was aber deutlich sichtbar geworden sein sollte, ist die hetero-
doxe, von der Reichskirche vehement bestrittene Ausprägung des Chris-
tentums bei den sogenannten „Ismaeliten,“ die sich in der Abwesenheit
kirchlicher, politischer und militärischer Macht aus Konstantinopel jetzt
freier entfalten konnte. Von diesen Gläubigen war Muʿāwiya wohl der
Ἀμήϱα Ἀλμουμενὴν/‫ – م يرا الم ومنين‬amīr al-muʾminīn. Die der paulini-

159 Z.T. etwa vergleichbar „O grito do Ipiranga“ Peters I. (wonach später Portugal
sich faktisch von brasilianischer Oberherrschaft befreite) oder mit den Folgen
der Abdicaciones de Bayona für die Besitztümer des spanischen Königs, die kei-
ne Kolonien Spaniens waren, so kam die „retroversión de la soberanía“ als
Folge der vacatio regis: In der Abwesenheit eines legitimen Herrschers über-
nahmen die cabildos abiertos die Macht, eine Entwickelung, die schlussendlich
zur Unabhängigkeit führte.
Die blauen Blumen von Mekka 147

schen Christologie verschriebenen Anhänger der Kirche Chalkedons muss-


ten fortan ohne kaiserliche Unterstützung auskommen: Jetzt wurde die
einstige Ketzerei zur lokalen Orthodoxie Syro-Palästinas, die Auffassung der
Reichskirche war hier zur Häresie geworden – wie etwa schon zuvor wäh-
rend der Vandalenherrschaft in Nordafrika – und wurde dementsprechend
verfolgt, was deutlich aus den schriftlichen Hinterlassenschaften hervorgeht.
Die Glaubensausprägung der hiesigen umayyadischen Eliten, die Ghas-
sanidennachfolger, wich anfangs zumindest im Äußerlichen nur wenig von
der ihrer konstantinopel’schen Widersacher ab, sie standen immerhin in
derselben Tradition, wie z. B. die sog. „Wüstenschlösser“ zeigen – archäo-
logisch ist in der Zeit nur der Ikonoklasmus feststellbar, ein Produkt des
Substrates: Abbildungen bzw. Darstellungen von Göttern waren bei West-
semiten schon lange, zumindest seit Anfang der Eisenzeit, verpönt, diese
Scheu aber galt nur religiösen Einrichtungen. Da aber, wie schon angedeu-
tet, der Machtwechsel relativ friedlich verlief – von einer Invasion aus dem
Ḥiǧāz kann nicht die Rede sein –, hielten die schon im Gang befindlichen
Entwicklungen, etwa die Deurbanisierung, an. Auch die der Bekehrung
(zum Glauben der Umayyaden) der unsesshaften „Sarazenen“ der angren-
zenden Wüstengebiete (vgl. Anm. 112) setzte sich fort. Dass sich auf die-
selben Quellen stützende religiöse Bewegungen nicht nur in Absonderung,
sondern auch um den Kontrast hervorzuheben, in Kontaktsituationen im
Laufe der Zeit einander völlig verfremden, ist nichts Neues.
Eine Glaubenseinheit in ihren Herrschaftsgebieten konnten die Umay-
yadenkalifen auch nicht erzielen, auch ihre städtische Lebensweise stach von
der der Nomaden mit ihrem asketisch angehauchten Glauben ab, besonders
bei jenen, die erst nach dem Auftreten der Umayyaden bekehrt wurden.
Diese Gegner der Umayyaden, u.a. ibn Zubayr, vertraten einen radikalen
Monotheismus: U.a. mit einer Abweisung der Göttlichkeit Christi griffen sie
auf alte, und wie ausführlich gezeigt wurde, tief verwurzelte und allgemein
akzeptierte außerbiblische Traditionen vom ersten Monotheisten Abraham
– der vor dem Jesus160 der Christen und auch vor dem Mose161 der Juden

160 D. h. der vergöttlichte paulinische Jesus der Auferstehung, besonders in seiner


nach-chalkedonischen Ausgestaltung, was aus den z.T. koranischen Inschriften
des Felsendoms deutlich hervorgeht.
161 Die Evolution der Mose-Gestalt ist schwer zu bestimmen, besonders in Bezug
auf authentisch alte Überlieferungen (vgl. Anm. 91 und 72). Die altgriechischen
und die samaritanischen (proto-samaritanische in Qumran) Traditionen deu-
ten darauf hin, dass das Bild des Mose in dieser Zeit noch nicht festgelegt war,
148 Robert Kerr

gelebt hatte – zurück. Von ihrer Abkunft von Ismael, von dem legitimen
Erstgeborenen Abrahams – die hellenistischen vom römischen Recht aus
geschehene Umdeutung zum Bastarden des Josephus und dessen Weiter-
führung bei den Kirchenvätern war ihnen fremd – überzeugt, meinten sie,
die ihnen zustehende Bündniserbschaft wiedererlangt zu haben.
Dies erklärt dann die spätere Wahl Mekkas als heilige Stadt: wo alten
Überlieferungen zufolge Ismael und seine Mutter Hagar wohnten und be-
graben wurden. Der Ḥiǧāz, auch der Herkunftsort YHWHs, war, wie ge-
zeigt wurde, keine theologische terra incognita. Die bestehende Basilika
wurde selbstverständlich abgetragen und ein schlichteres Bauwerk errichtet,
entsprechend den in zeitgenössischen „offenen“ bzw. „kongregationellen“
Moscheen sichtbaren Vorstellungen, auf altem, dem Abraham zugeschrie-
benen Fundament, wohl denen eines alten arabischen Heiligtums, als Sym-
bol des Antretens dieser Erbschaft. Damit sollte dann endgültig mit den
Geisteskindern Isaaks abgerechnet worden sein. Die komplette Verselbst-
ständigung, die unter ʿAbd al-Malīk erste Konturen annahm, erfolgte dann
in der Abbāsidenzeit mit einer gewissen Distanznahme zur hellenistisch-
römischen Kultur, symbolisiert durch den Umzug des Machtzentrums zur
Araberheimat in Mesopotamien, nach Bagdad, das auf den Ruinen der alt-
orientalischen Reichsstadt Akkad, erbaut wurde.
Hiermit wurde ein wichtiges Kapitel eines langen Vorgangs der Heraus-
bildung eines arabischen Bewusstseins, das Jahrhunderte zuvor begann, ab-
geschlossen. Bis aber dieses deutliche Konturen, eine bestimmbare Gestalt
annahm, sollten wiederum Jahrhunderte vergehen. Die Entstehung des Got-
tesdienstes aber stellt zugleich nur einen Teil dieser Entfaltung dar, und wer
die historische Islamentstehung begreifen will, muss sich um eine sinnvolle

was auch die Bedeutung seiner Figur in der rabbinischen Tradition um die
‚mündliche Tora‘ (‫ )תורה שבעל פה‬deutlich macht, sowie die radikalen Umdeu-
tungen seiner Figur etwa in den Qumran-Texten 4QRP und 11QTemple. Deut-
lich jedenfalls ist, dass Mose wegen seiner Bedeutung für das Judentum der
Spätantike, die vielleicht durch die Bestrebung, ihn als jüdische Entsprechung
bzw. als jüdischen Gegensatz zum Homer der Griechen herauszustellen, nicht
als vermeintlicher Gründer des Proto-Islam dienen konnte. Anstoßend war
vielleicht zudem die Vergöttlichung Mosis in Ex. 7,4: „Der Herr sprach zu Mose:
Siehe zu, ich habe dich dem Pharao zum Gott gesetzt (‫)נְתַ תִּיָך אֱֹלהִים ְלפ ְַרע ֹה‬, und
dein Bruder Aaron soll dein Prophet (‫ )נְבִיאֶ ָֽך‬sein” – vgl. Sirach 45,1; 4 Q 374
Frag. II. 2,6; Philo, De Vita Mosis I. 158; Josephus, Ant. III. 320. S. hierzu im
Allgemeinen, J. Kugel, Traditions of the Bible (Cambridge MA, 1998), S. 544-546,
560-561.
Die blauen Blumen von Mekka 149

Kontextualisierung bemühen. Diese aber kann nur durch ein Verständnis


der reichen Entwicklungsgeschichte erfolgen. Gottesdienste bleiben identi-
tätsstiftendes Menschenwerk, „heilige“ Texte bleiben in ihrer Entstehungs-
zeit verhaftete Literatur, πεϱὶ μὲν ϑεῶν οὐκ ἔχω εἰδέναι, οὔϑ' ὡς εἰσὶν οὔϑ' ὡς
οὐκ εἰσὶν, und beide stellen nur einen Teil der Entwicklung dar: Sie können
nur im Rahmen ihrer geschichtlichen Zusammenhänge, ihrem „Sitz im
Leben,“ verstanden werden. Hier spielen die zentrifugal und zentripetal wir-
kenden Kräfte während der Krise des spätrömischen Reiches eine bedeut-
same Rolle: Arabien und die Araber machten über ein Jahrtausend von der
hellenistischen und der römischen Kultur Gebrauch, und wer hierfür und
für die relevante Quellenliteratur kein Begriffsvermögen aufbringen kann,
kann folglich keine wissenschaftliche Forschung betreiben. Wer sich aber
nur auf die späteren islamischen Überlieferungen beschränkt bzw. unkri-
tisch „a general acceptance of the framework of Muslim accounts of the
origins of Islam in terms of history and geography“ (Rippin, a. a. O. S. 470)
an den Anfang seiner Forschung stellt, kann bestenfalls nur Apologetik
ignotum per ignotas betreiben und wird so nie den Begriff der Fortschrei-
bung, das Wesen der antiken Literaturüberlieferung, verstehen. Methodolo-
gisch gesehen müssen ohne Vorbehalt lang anhaltende Prozesse erkannt
und verstanden werden, andernfalls entsteht lediglich eine Paraphrase der
Überlieferung, eine Persiflage von Wissenschaft: Die Vorgehensweise muss
exozentrisch von der Spätantike und nicht endozentrisch vom Koran bzw.
dem islamischen Sagengut ausgehen. Texte dürfen nicht, weil sie angeblich
(sicherlich irgendwann im Licht der Überlieferung tendenziös übersetzt)162
die Legenden bestätigen, selektiv ausgewählt bzw. Texte im Licht der zu be-
legenden Überlieferung interpretiert werden. Rosinenpicken, wie dies die
sog. Albright’sche Schule der Bibelwissenschaft tat, ist wissenschaftlich un-

162 Dies stellt ein großes Problem auch in vielen modernen Werken dar, wie z. B. R.
G. Hoyland, Seeing Islam as Others Saw it. A survey and evaluation of Christian,
Jewish and Zoroastrian writings on early Islam (Princeton, 1997). Sarazenen
sind nicht ohne Weiteres Muslime, und das Wort mḥmṭ ( ) in syrischen
Quellen darf nicht vorbehaltlos als der arabische ‫ محمد‬der späteren islamischen
Überlieferungen verstanden werden. Inschriften sagen nur, was sie selber sagen,
und nicht was bei ihnen aus Überlieferungen hineingelesen wird, wie etwa bei
‘A. I. Ghabban und R. Hoyland, „The Inscription of Zuhayr, the Oldest Islamic
Inscription (24 ah⁄ad 644–645), the rise of the Arabic script and the nature of
the early Islamic state“ Arabian Archaeology and Epigraphy 19 (2008) 19, S.
209–236. Eigenschaftswörter wie „islamisch“ können nur dann Anwendung
finden, wenn dies deutlich aus dem fraglichen Text hervorginge.
150 Robert Kerr

ehrlich: Archäologie und Altertumswissenschaft haben nur als unabhängige


Disziplinen ihren Wert. Wer sie als ancillæ fidei missbraucht, findet immer
nur das, was gefunden werden soll.

8. Zur Entstehung der Araber und des Islam


Die Entfaltung der „arabischen“ Identität kann nur im größeren Zusam-
menhang des eben angedeuteten Spannungsfeldes des spätrömischen Rei-
ches und der Wechselbeziehungen zwischen Zentrum und Peripherie ver-
sucht werden. Im Erfolg liegt zugleich der Untergang: Rom wurde von sei-
nem Reich verschlungen, wie später Preußen in Deutschland aufging, Flä-
chenbreite führt zu Verflachung, wie Schleinitz Bismarck einst warnte: „Wir
dürfen niemals weitergehen, als unser Vorrat an preußischen Offizieren
reicht.“ Bei zunehmender Ausbreitung war Rom nicht mehr im Stande die
neu Hinzugekommenen gänzlich zu assimilieren, besonders nach 212, als
dieses Streben eigentlich aufgegeben wurde, entsprechend Serapios Rede bei
Felix Dahn:
„Solange ihr stark genug wart, unsere Kräfte für euch zu verbrau-
chen, ohne den Staat auf uns zu bauen, solange ihr uns verrömern
konntet, war es ein ganz schlaues Geschäft; tausend Germanen, die
ihr an der Grenze aufnahmt, in euren Dienst waren tausend Feinde
weniger und tausend Schirmer mehr. Aber seid ihr dazu noch stark
genug?“
Die Strukturschwäche des Reichs, seine zunehmende Unregierbarkeit, auch
nach der sogenannten Reichsteilung von 395, führte dazu, dass sich reichs-
weit lokale, von Rom erschaffene und sich an Rom spiegelnde Eliten immer
mehr behaupten konnten. Die zur Umayyadenherrschaft führenden Ent-
wickelungen in Syro-Palästina des siebten Jahrhunderts dürfen nicht als
hermetische Geschehnisse betrachtet werden, sondern machen einen Teil
eines anhaltenden reichsweiten Prozesses aus. Die Entkräftung alter Macht-
strukturen verursachen die Entstehung neuer Loyalitäten.
Dieser Wandel bringt ein Legitimationsbedürfnis mit sich. Dieses ent-
steht öfters durch die Erzeugung einer „kollektiven“ Erinnerung durch die
Ausdeutung von „Ent-Sinnung“ als Sinndeutung: Wenn eine z. B. als Volk,
Staat oder Glaubensgemeinschaft vorgestellte Gemeinde eine radikale
Umwandlung durchläuft, wodurch das überlieferte Selbstverständnis nicht
mehr angemessen zu verorten ist, wird sie mittels einer neuen synthetischen
Geschichtsschreibung neu bestimmt. Entsinnt wird so ein neues kollektives
Die blauen Blumen von Mekka 151

Gedächtnis als eine Festlegung einer der erlebten Wirklichkeit gerechten


Identität. So wird eine „erfundene Tradition“163 erstellt – die Vermittlung
einer Erfindung an die Nachwelt als vermeintliche kollektive Erinnerung:
Die Überlieferung von in die Vergangenheit zurückprojizierten Traditionen
als Geschichte ist erforderlich, so dass sich dadurch eine Gruppe im Stande
sieht, sich absondernd als eine soziale Einheit zu definieren. Eine solche
historische Fiktion führt zu einer glaubwürdigen neuen/„alten“ sozialen
Identität auf konsensualer Basis und einer Fortführung von hierarchischen
Machtstrukturen in einer neuen Gestalt, wodurch sich den neuen Bedin-
gungen angepasste Einstellungen bzw. Einrichtungen gesellschaftlich legiti-
mieren und festigen können. Mit Hegel gilt:
„Ist das Reich der Vorstellung revolutioniert, so hält die Wirklichkeit
nicht stand.“
Der Vorgang der Formulierung von Tradition164 führt immer zu einem kon-
struierten, künstlichen Gebilde, da Erinnerung einem Einzelnen und keiner
Kultur vorbehalten ist, sie ähnelt daher einer Indoktrination, auch weil sie
bei ihrer Entstehung einer bestimmten Ideologie unterworfen ist; anders
wäre oder würde Tradition zu Folklore oder Legende.

163 Eine „invented tradition“ im Sinne Hobsbawms: „‚Invented tradition‘ is taken to


mean a set of practices, normally governed by overtly or tacitly accepted rules
and of a ritual or symbolic nature, which seek to inculcate certain values and
norms of behaviour by repetition, which automatically implies continuity with
the past. In fact, where possible, they normally attempt to establish continuity
with a suitable historic past. [...] However, insofar as there is such reference to a
historic past, the peculiarity of ‚invented‘ traditions is that the continuity with it
is largely factitious. In short, they are responses to novel situations which take
the form of reference to old situations, or which establish their own past by
quasi-obligatory repetition“ (E. Hobsbawm und T. Ranger [Hg.], The Invention
of Tradition [Cambridge, 1992], S. 1.). Eine ausführliche Behandlung mit Bei-
spielen des 19. Jahrhunderts sind zu finden in ders., Das imperiale Zeitalter.
1875–1914 (Frankfurt, 1989); Hobsbawm sieht in der Entstehung des euro-
päischen Nationalismus des späten 19. Jhs. z.T. einen Versuch der herrschenden
Eliten, den wachsenden Einfluß der international ausgerichteten Arbeiterbewe-
gung einzudämmen. Eine sehr lesenswerte Darstellung einer solchen Tradi-
tionserfindung bietet H. R. Trever-Roper, The Invention of Scotland: Myth and
History (New Haven- London, 2008) sowie avant la lettre der zeitlose Aufsatz
Sartres, „Americans and their Myths. Everything has been said about the
United Sates” in The Nation vom 18. Oktober 1947.
164 Vgl. die soziologische Studie über Tradition und Identität: E. Shils, Tradition
(Chicago, 1981), bes. S. 50-62.
152 Robert Kerr

Unterschieden wird hier der Gegensatz zwischen Geschehenem und des-


sen späterer Rezeption, zwischen einem Ereignis und seinen durch die
Nachwelt zugeschriebenen anachronistischen Bedeutungen: So werden
dann die Schlachten von Salamis und Potiers ahistorisch als vermeintliche
Rettung des „Abendlandes“ gesehen werden, und so gedenkt Deutschland
mittlerweile auch des alliierten Siegs als Befreiung von nationalsozialisti-
scher Herrschaft, der 1945 nicht so erfahren und beabsichtigt war. Anhand
dieses letzten Beispiels ist der Unterschied zwischen persönlicher Beibehal-
tung von Ereignis(sen) und der affektiven Erfahrung, die mit der Übertra-
gung des persönlich Erinnerten zum kollektiven Gedächtnis wird, beson-
ders deutlich zu sehen:165 hier wird die Vergangenheit von der schwammi-
gen Scheide von Wissen und Glauben her wahrgenommen.
„Erfundene“ Traditionen – im Sinne von Hobsbawn sind sie allgegen-
wärtig, besonders beliebt sind sie gegenwärtig im Marketing und in der
Werbung – sind jedem zumindest implizit vertraut, besonders wenn es um
die anderen geht: Hier liefert die „Eurokrise“ die Umdeutung der System-
untauglichkeit der sogenannten „freien“ Marktwirtschaft als Schuldenkrise
der angeblich „faulen“ Südländer. Der historisch nicht gerechtfertigte Be-
griff „Wiedervereinigung“ bzw. „Herstellung der Einheit Deutschlands“ für
den Anschluß bzw. Beitritt der ehemaligen DDR in die Bundesrepublik ist
ein markantes Beispiel der jüngsten Zeitgeschichte: Für die jetzigen Grenzen
sowohl der Bundesrepublik wie der mit pseudo-historischen Namen ausge-
statteten Bundesländer gab es keine geschichtliche Grundlage. Hier lebt
Hermann im Geiste der Romantik fort: „Zu ihm, der Römertücke und
Römerjoch zerbrach; doch ihm auch gilt der Jubel, der, jenem Retter gleich,
gen welsche Macht und Ränke erbaut das deutsche Reich.“ Aber Deutsch-
land steht hier nicht allein, die Herausbildung von als Einheiten vorge-
stellten Nationen Europas sowie das Streben seiner „ethnischen“ Minder-
heiten nach Selbstständigkeit beruhen großenteils auf solche „erfundenen
Traditionen,“ die durchweg ihren ausgearbeiteten Ursprung im neunzehn-
ten Jahrhundert haben, als im Zuge der industriellen und französischen
Revolutionen eine alte Gesellschaftsordnung endgültig verschwand. Die
Geschehnisse in ehemaligem Jugoslawien sowie die aus den Trümmern der
UdSSR entstandenen, einer eigenen Nationalität bedürftigen Länder sind
momentan markante europäische Beispiele. Dasselbe Ereignis oder die-

165 Siehe J. Fentress und C. Wickham, Social Memory (Oxford, 1992), S. 4.


Die blauen Blumen von Mekka 153

selben Symbole können so von verschiedenen Gruppen je anders gedeutet


bzw. verstanden werden.
Zunehmend wird die Bedeutung von kollektiver Erinnerung als eine
erfundene Kommemoration der Vergangenheit erkannt, die den Zweck hat,
eine soziale Gemeinschaft zu begründen. Die Identität eines Volkes kann
ohne kollektive Erinnerung, ob historisch oder erfunden, nicht bestehen.
„Collective memory is shaped by a member of the group under the
influence of a particular ideology, or at the service of political power,
or in support of group identity. It is not somehow the spontaneous
product of a community, nor a group of persons who, in their sub-
lime anonymity, pass on traditions that coalesce into an expression
of their identity. Collective memory is not passive, but is the result of
active and deliberate construction for the purpose of exercising
power and winning loyalty and obedience to a particular authority,
and in this way creating patriots, religious adherents to a system of
beliefs, a unity out of a great diversity of individuals and smaller
groups. It is the persuasive shaping of a cultural and social identity.
Indeed, the whole purpose of a pre-modern historian was to create
the delusion that his history is indeed a memory of the people and
therefore corresponds to the identity of the people as a whole. If that
corporate unit, the state or people or religious community, under-
goes a radical change then a new history will need to be written, and
therefore a new collective memory invented, to reflect that change in
identity.“166
Die Aufgabe von Geschichte als eine kollektive Entsinnung hat einen zwei-
fachen direkten Bezug zur Machtausübung: Es kann einerseits ein propa-
gandistischer Versuch sein, das Bestandsrecht etwa einer Staatsordnung
oder einer Institution mittels alter Überlieferung als geglaubte Erinnerung
der Vergangenheit zu rechtfertigen; anderseits kann Erinnerung gebraucht
werden, um Widerstand gegen als korrupt verstandene Machtstrukturen
und die Rückkehr in eine vermeintliche ursprüngliche bzw. unverdorbene
Vergangenheit heraufzubeschwören. Im Altertum wurden historiographi-
sche Texte im Auftrage der Machthaber verfasst, um ihre Macht zu legiti-

166 J. van Seters, „Cultural Memory and the Invention of Biblical Israel“ in P.
Carstens, T. Bjørnung Hasselbalch und N. P. Lemche (Hg.), Cultural Memory in
Biblical Exegesis (Piscataway, 2012), S. 88. Zur Umwandlung der biblischen
Schriften zur „Heiligen Schrift“ siehe jetzt M. L. Saltow, How the Bible Became
Holy (New Haven, 2014).
154 Robert Kerr

mieren und verewigen sowie um möglichen Widerstand gegen diese Staats-


gewalt zu entkräften. Hierfür, im Geist der Fortschreibung, können über-
lieferte Erzählungen dann später umgeschrieben werden, um so neue
Machthaber geschichtlich zu legitimieren.
„Arabien“ war für das griechisch-römische Altertum ein sehr ausgedehntes
Gebiet (vgl. Plinius, Nat Hist. VI. 37): „Arabia, gentium nulli postferenda
amplitudine ...“ – vgl. Anm. 8); hierzu gehörten die Gebiete vom Tigris bis
zum Jemen, die Sinai-Halbinsel und die östliche Wüste Ägyptens, mit vielen
verschiedenen gentes und oppida. Dieses Gebiet wurde ursprünglich genau-
so wenig als eine homogene sprachliche oder kulturelle Entität (a.a.O. „mul-
tæ gentes“, „populi“) vorgestellt wie etwa Africa, Britannia oder Germania –
die abgebildeten stereotypischen Personifikationen dieser Gebiete am
Hadrianeum und auf den Sesterzen Hadriani (mit Inschriften wie Adventui
Aug. bzw. Restitvtori Arabiae vel Hispaniae vel Galliae vel Achaeae vel
Britannia [bis heute!], orbis terrarum usw. oder die Traiani nach 106 mit
Arabia adquis[ita]; BMC.1635n, BMC.1797) widersprechen dem nicht,
sondern verweisen auf die Quelle späterer Entwicklungen:

Abb. 7. Münzen des Kaisers Hadrian mit personifizierter „Arabia“


Von der Mehrzahl der jeweiligen Einwohner dieser Gebiete haben wir keine
schriftlichen Hinterlassenschaften, also über ihre Sprachen, ihren Glauben
und selbst Eigenbezeichnungen wissen wir häufig nichts. In wieweit sie um-
liegende Völker als Verwandte ansahen bzw. ob sie sich ihre Gegend als eine
Einheit vorstellten, entzieht sich unserer Kenntnis. Zudem ist das (gegen-
seitige) Verhältnis zwischen Toponymen und Ethnonymen nicht immer
deutlich.167 Bei der Lektüre griechischer und lateinischer Texte über diese
Menschengruppen aber muss die angewendete Ethnographie, die Art und
Weise besonders der Griechen, ihre Begegnungen mit Fremden (ἔϑνος)

167 Ein bekanntes Beispiel des Altertums ist die sog. Mescha-Stela (KAI 181), 1-2:
‫ הדיבני‬.‫ מאב‬.‫ מלכ‬. ..‫ כמש‬.‫ בנ‬.‫ משע‬.‫„ אנכ‬Ich bin Mescha, Sohn des Kemosch […],
König von Moab, der Dibonite“ (‫)ذيبان‬.
Die blauen Blumen von Mekka 155

aufzuzeichnen und in ihr Weltbild zu integrieren, berücksichtigt werden.168


Diese ethnographische, einem spezifischen Muster folgende Beschreibungs-
weise – häufig wird der Stifter eines Volkes beschrieben sowie sein Erlass
von Gesetzen und Einrichtungen, und dann wird ein Urteil über das Volk
und sein Brauchtum aus griechischer Sicht gegeben – können keinesfalls als
ein universelles Bedürfnis bzw. als allgemein gültige Kategorien angesehen
werden. Die altorientalische Keilschriftüberlieferung sowie die bewahrt ge-
bliebene Literatur Altägyptens zeigen deutlich, dass diese Art von Ethno-
graphie stricto sensu etwas Hellenistisches war, das eigenen Zwecken und
nicht einer neutralen Neugier diente.
Dies wird deutlich, wenn es möglich ist, die griechisch-römische Über-
lieferung über fremde Völker mit den eigenen schriftlichen Hinterlassen-
schaften dieser Menschen zu vergleichen, wie im Falle der „Phönizier.“
Nichts aus den eigenen, zugegeben nur bruchstückhaft bewahrten schrift-
lichen Hinterlassenschaften deutet darauf, dass das als Phönizier von Grie-
chen und Römern (Punier) vorgestellte Volk sich auch so sah: Die Inschrif-
ten verraten nur die Angehörigkeit zu Gemeinschaften, die sich als Stadt-
(staat) ansahen. Die Provincia (Syria) Phoenice der Römer hatte keine „phö-
nizische“ Vorlage. Was heute mit den Begriffen Phönizier, Phönizien, Phö-
nizisch angedeutet wird, ist letztendlich ein Produkt griechisch-römischer
Überlieferung, wie Kanaan ein Produkt biblischer Überlieferung (vgl. Anm.
61) ist, und geht nicht auf die der betreffenden Menschen selbst zurück.
Bedacht werden muß, dass
„religious affiliations, mythical origins and ethnic identities are
human constructs, and we simply falsify history by fathering on
peoples in the past identities which they did not construct, or had
not yet constructed for themselves.“169
Eine Aussonderung dieser hier beschrieben Eigentümlichkeit stellt bekann-
termaßen die Hebräische Bibel dar, die „kollektive Erinnerung“ des dann im
hellenistischen Sinn als Volk vorgestellten Judentums: Kennzeichnend ist
der erst im römischen Zeitalter vollzogene Bedeutungswechsel von Ἰουδαῖος
von einem Einwohner des Gebietes Judäa zum Angehörigen der jüdischen
Religion (Ἰουδαϊσμός). Ausschlaggebend hierfür war das Vorhandensein ei-
gener schriftlicher Überlieferungen als einer identitätsbildenden kollektiven
Erinnerung, das was heute „Hebräische Bibel“ genannt wird. Dieses Werk

168 Vgl. hierzu den klassischen Aufsatz von E. Bickerman, „Origines Gen-
tium,“ Classical Philology 47 (1952), S. 65-81.
169 F. Millar, The Roman Near East 31bc-ad 337, (Cambridge MA, 1993), S. XIX.
156 Robert Kerr

stellt keine Einheit dar und ist ein Produkt wiederholter Fortschreibung mit
Sequels und Prequels, um so die Grundlage der kollektiven Identität eines als
Einheit vorgestellten Volkes „Israel“ und seines Gottes YHWH in jeweils
neuen Bedingungen historisch zu rechtfertigen.
Hier wird der Unterschied zwischen Geschichte und Historiographie deut-
lich. Wenn man mit Noth das Deuteronomistische Geschichtswerk (Josua-
II, Könige) als eine rückwirkende Fortschreibung (Prequel) des Deuterono-
miums, einen Vertrag zwischen YHWH und seinem Volke Israel nach dem
Vorbild neuassyrischer Vasallenverträge170 versteht, dann wird hier zweifels-
ohne die Erschaffung einer kollektiven Identität mittels einer gemeinsamen
Vergangenheit deutlich:171 Ein Volk, ein vom Deuteronomium übernomme-
ner Begriff, das von seinem Gott aus Ägypten geleitet wurde, erobert unter
Führung Josuas das ihm „gelobte Land.“ „Israel“ wird hier als selbständige
Größe gegenüber den einheimischen Völkern der Amoriter, Hethiter, Ka-
naaniter172 vorgestellt. Die Künstlichkeit dieser Vorstellung wird dann im
Land mit der Einteilung in Stämme und die vorgestellte Führung des Landes
durch „Richter“ deutlich,173 die dann der Überlieferung zufolge Kriege im
Namen von ganz Israel und seiner Gottheit führen. Das Deuteronomistische
Geschichtswerk (DtrG) stellt die Geschichte Israels als die von einem in
zwei Staaten lebenden Volk, mit einer gemeinsamen Gottheit, einem ge-

170 Besonders die auffallenden strukturellen Ähnlichkeiten mancher Abschnitte


wie u. a. Dtn. 13, 2-10; 28, 15-68 und Passagen aus den Vasallenverträgen Asar-
haddons, die mit medischen Fürsten geschlossen wurden, zeigen, dass eine Ur-
fassung des Buchs in der Zeit König Joschijas von Juda abgefasst worden sein
muss (vgl. II Kön. 22, 8, pia fraus!); denn es handle sich um eine förmliche
Aufkündigung der Treue zum assyrischen König nach dem Tode Assurbanipals
durch den Eid auf YHWH. Ausführliche Diskussion bei E. Otto, Gottes Recht
als Menschenrecht. Rechts- und literaturhistorische Studien zum Deuteronomium
(Wiesbaden 2002).
171 Vgl. van Seters a. a. O. S. 82ff.
172 In den neuassyrischen Inschriften des achten und neunten Jahrhunderts galten
alle Einwohner Syro-Palästinas als „Amoriter“ und „Hethiter.“ Zu Kanaan s.
Anm. 61.
173 Für ein gutes Verständnis des biblischen Richtertumes müsste die Entwicklung
der Institution des Sufes (1 bis 4 Personen) im phönizisch-punischem Raume
berücksichtigt werden (z. B. Livius, Ab urbe con. XXVIII. 27.3 „sufetes eorum,
qui summus Poenis est magistratu“; XXX. 7.5 „sufetes, quod velut consulare
imperium apud eos“). Da diese aber für Tyros und Karthago erst ab dem fünf-
ten Jahrhundert zu belegen sind, spräche dies gegen eine altertümliche Herr-
schaftseinrichtung.
Die blauen Blumen von Mekka 157

meinsamen Ursprung und einer gemeinschaftlichen Identität vor: Hierfür


wird ein rein fiktives vereinigtes Königreich erfunden mitsamt David174 als
dem Auserwählten Gottes, dem Idealherrscher beider Reiche und Jerusalem
als dem einzigen erlaubten Verehrungsort YHWHs. Die folgende Erweite-
rung des Jahwisten, die alle Kennzeichen einer Abfassung während der
babylonischen Gefangenschaft aufweist, ist eine erweiterte rückwirkende
Fortschreibung mittels eponymer Vorväter (vgl. Anm. 72), um des Volkes
Ursprung im gelobten Lande und dessen Ankunft und Verbleib in Ägypten
zu erklären (mittels Einfügung der ursprünglich selbstständigen israeliti-
schen Josephsgeschichte). Die Vorväter sind nicht mehr die Teilnehmer des
Exodus des Deuteronomiums, es müssen aber zwei Überlieferungen harmo-
nisiert werden. Die erst jetzt namentlich genannten Patriarchen Abraham,
Isaak und Jakob und das ihnen gemachte Versprechen haben Vorrang über
das beschränktere Thema Mose. Die Gefangenschaft erklärt auch die uni-
verselle Sicht der jahwistischen Urgeschichte: Entmythologisierter Schöp-
fungsbericht, Sintfluterzählung und Turmbau zu Babel finden alle ihren Ur-
sprung in der historiographischen Umwelt des neubabylonischen Reiches;
und Abraham stammt aus Ur in Chaldäa, was kein Zufall ist (vgl. Anm. 71).
Während DtrG die Herausbildung einer nationalen Identität seines Volkes
namens „Israel“ bezweckte, die während des Exils verfasste Erweiterung des
Jahwisten die Erschaffung einer ethnischen Identität beabsichtigte, nach
dem Untergang des Südreichs und mittels einer gemeinsam vorgestellten
Abstammung, also gemeinsamer Vorfahren, so hat YHWH ein uneinge-
schränktes Versprechen zur nationalen Größe gemacht: Ohne Staat und
Land, in der Diaspora an Babels Strömen, drohte dem Israel des DtrG der
Untergang, das mosaitische Bündnis war faktisch irrelevant geworden. Die
vorgeschichtliche Fortschreibung des Jahwisten bezweckte die Vermittlung
einer neuen ethnischen Identität, die den Umständen gerecht wird mittels
einer vorgeblichen Verwandtschaft sowie Hoffnung auf eine Zukunft durch
die Schaffung eines Versprechens, das diesen erfundenen Vorvätern ge-
macht wurde.
Die folgende Erweiterung und der Zuschnitt des biblischen Stoffs an
neue Gegebenheiten ist die der Priesterschrift, die keine selbstständige Er-

174 S. J. van Seters, The Biblical Saga of King David (Winona Lake, 2009), worin die
Anachronismen dieser biblischen Erzählung ausführlich besprochen werden.
Der epigraphische belegte Ausdruck ‫ בית דוד‬sagt weder etwas über David als
eine historische Person, noch über das ihm zugeschriebene Reich als eine
historische Wirklichkeit aus.
158 Robert Kerr

zählung wiedergibt, sondern vielmehr eine Anpassung des bestehenden


DtrG-J (=Jahwist) Erzählstoffs einfügt, der zum priesterlichen Weltbild des
neuen Tempels und Kultus sowie der Priesterschaft im achämenidischen
Zeitalter passt, das dann in der hellenistischen Zeit verwirklicht wurde. Die
Denkweise von P (Priesterschrift) gibt die priesterliche Theokratie im Sinne
von Josephus wieder, und erinnert eigentlich nicht an Vergangenes, son-
dern erläutert eine aufwändige, immerwährende Universalordnung unter
der Regentschaft des einen Gottes, den die Juden YHWH nennen: Wie Gott
den Kosmos lenkt, leiten die Priester den Kultus und das Volk, und so
überrascht es nicht, dass viele P-Zufügungen Tempelliturgie, Reinheit,
Opfer, Bestimmungen für Jerusalemer Festtage usw. betreffen. So wird die
Urgeschichte in seiner Prequel (Gen. 1, 1-2, 3b) zu einem Dogma,175 die
Weltgeschichte wird in eine stramme Chronologie eingebettet und unter
dem Einfluss babylonischer Vorlagen wie Königslisten periodisiert: Von der
Schöpfung bis zur Sintflut, von Noah bis Abraham, von den Patriarchen bis
Mose, und jede Periode ist durch ihre eigenen Gesetze, ein neues Bündnis
und eine neue Offenbarung Gottes bestimmt. Beschneidung und das Halten
des Sabbats gelten jetzt als identitätsbestimmende Imperative: Das ewige
Bündnis (‫)בּ ְִרית עוֹלָם‬, das Versprechen vom Landbesitz und Staat an Abra-
ham macht jetzt einen Teil der kosmischen Universalordnung aus, und die
Zugehörigkeit zum multikulturellen Hellenismus mit großer Diaspora wird
mittels des ins Zeitalter Abrahams gesetzten Ritus der Beschneidung männ-
licher Angehöriger (vgl. Anm. 44) festgemacht – auch zum P-Erzählstoff
gehört die kollektive Erinnerung der Patriarchenbestattung zu Hebron im
Herzen von Judäa, womit sie alle mit dieser Gegend in Verbindung gebracht
wurden. Der Sabbath erinnert bei P sowohl an die sechs Tage der Schöpfung
wie auch des Sinaibündnisses, und so wirkt er nicht so sehr als eine Erin-
nerung an den Ägyptenaufenthalt, sondern an die von YHWH eingestellte
kosmische Universalordnung, in dessen Zentrum die Israeliten als Bünd-
nishüter stehen. Anstatt die ethnische Bestimmung durch gemeinsame Ab-
stammung, wie im Jahwist, wird jetzt eine religiöse Abgrenzung durch

175 Der priesterliche Schöpfungsbericht, wie die meisten solchen altorientalischen


Erzählungen, bezweckt nicht, vom Schöpfungsanfang zu berichten, sondern ist
vor den des Jahwisten gestellt um deutlich zu machen, dass die göttliche Uni-
versalordnung im priesterlichen Sinne einschließlich Sabbathhaltung schon am
von Anbeginn der Zeit festgelegt wurde, vgl. R. M. Kerr, „Once upon a Time …
Gn 1:1 Reconsidered. Some remarks on an incipit problem“ KUSATU 15 (2013),
S. 33-47.
Die blauen Blumen von Mekka 159

Einhaltung priesterlicher Auflagen angeordnet. Die Herausbildung der


biblischen Überlieferung kann dann nur aus teleologischer Sicht als Bibel
verstanden werden.
Hieraus wird deutlich, dass die biblische Literatur nicht die Beschreibung
historischer Ereignisse bezweckt, sondern Sinndeutung als offenbarte und
allegorische Erinnerung verkündet – es ist kein Zufall, dass Herodot (I. 105)
nur berichtet … καὶ ἐπείτε ἐγένοντο ἐν τῇ Παλαιστίνῃ Συϱίῃ. Eine solche
Überlieferung kann Ideæ innatæ einschließen, ohne aber dass sie diese sel-
ber sein kann; Tradition gehört sozusagen zu den Ideæ facticiæ, und ist den
Menschen nicht angeboren, aber aus Menschengeist geboren, sie befindet
sich nicht in den Menschen, sondern die Menschen sind in ihr: Sie können
sie u. a. annehmen, sich dagegen wehren, sie umdeuten, ablehnen, unter-
werfen, ihr entfliehen. Tradition stellt eine mythische Einheit, die von Ein-
zelnen anders erlebt wird, vor, und ist so der andauernden Fortschreibung
ausgesetzt. Orpheus singt wieder Evergreens, wer das Lied nicht hört, tötet
sein Wesen der Offenbarung, und wer sich selber nicht vertraut, blickt
zurück und verliert so alles, was einem lieb ist:
„À chaque époque sa poésie; à chaque époque, les circonstances de
l’histoire élisent une nation, une race, une classe pour reprendre le
flambeau, en créant des situations qui ne peuvent s’exprimer ou se
dépasser que par la Poésie.“
Wie der Schnee vom letzten Jahr bleibt der Traum vom goldenen Zeitalter,
der vorgestellte Ursprung erweist sich als Vanitas aus.
Die Aufnahme der biblischen Überlieferung(en) verlief(en) keinesfalls
einheitlich. So akzeptierten die Samaritaner nur die Tora als kanonisch, und
wie Jospehus uns berichtet, kannte das „antike Judentum“ eine Fülle von
Varianten;176 bei der Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahre 70 lag
die Bibel keinesfalls als abgeschlossenes Werk vor, weder was die Bücher
noch deren Inhalte betrifft, wie deutlich aus den Qumrantexten hervorgeht.
Zudem war die biblische Überlieferung schon lange nicht mehr einstimmig
bzw. einheitlich, wie sowohl die Septuaginta als auch etwa die Schriften
Philos von Alexandrien deutlich machen: So ist das Buch Jeremia in der
griechischen Überlieferung um ein Siebtel kürzer und anders aufgebaut,177

176 Vgl. BJ II. 119ff.: Τϱία γὰϱ παϱὰ Ἰουδαίοις εἴδη ϕιλοσοϕεῖται, καὶ τοῦ μὲν
αἱϱετισταὶ Φαϱισαῖοι, τοῦ δὲ Σαδδουκαῖοι, τϱίτον δέ, ὃ δὴ καὶ δοκεῖ σεμνότητα
ἀσκεῖν, Ἐσσηνοὶ καλοῦνται … Für eine ausführliche Darstellung s. G.
Stemberger, Pharisäer, Sadduzäer, Essener (Stuttgart, 1991).
177 Im „dreigliedrigen eschatologischen Schema“: Unheilssprüche gegen Israel –
160 Robert Kerr

übersetzt also eine andere hebräische Texttradition, die auch in Qumran


(vgl. 4QJerb und d) belegt ist. Dies gilt auch u.a. für die Bücher Josua, Rich-
ter, das 1. Königsbuch, Daniel, Job, Sprüche und Esther, aber im besonderen
Maße für die Bücher Samuelis, von denen in der LXX ganze Textabschnitte
im Vergleich zum Original fehlen – teilweise entsteht der Eindruck, dass
übersetzt wurde, was damals vorlag (vgl. 4QSama), bzw. eine Version aus
einer Vielzahl hebräischer Vorlagen erstellt wurde, da die hebräischen Texte
noch fortgeschrieben wurden. 178 Allem Anschein nach fand die Fort-
schreibung der Hebräischen Bibel in hebräischer Sprache ein Ende mit der
Zerstörung des Tempels im Jahre 70 n.Chr., wobei eine Textgestalt für das
dann im Werden begriffene rabbinische Judentum maßgeblich wurde. Aber
noch Jahrhunderte später hatte Hieronymus Zugriff auf verschiedene Text-
überlieferungen. Der heutige allgemein akzeptierte Standardtext der Hebräi-
schen Bibel, der sog. Codex Leningradensis, verdankt seine Autorität nur der
Tatsache, dass sie die älteste (1008 n.Chr.!) bekannte vollständige Hand-
schrift der hebräischen Bibel in dieser Sprache ist.179 Josephus’ Verteidigung
(Contra Apionem i.8) der Integrität des jüdischen Schrifttums aus dem Jahre
96 (!) diente seinen apologetischen Zwecken und entspricht keinesfalls der
damaligen Textwirklichkeit – selbst seine Vorlage(n) und deren Sprache(n)
sind uns gänzlich unbekannt:

Unheilssprüche gegen die Völker – Heilsansagen für Israel, während in der


hebräischen Fassung die Völkersprüche nach den Heilsansagen für Israel
kommen, die zudem in die Erzählungen über Jeremia eingebettet sind.
178 Zu den Unterschieden zwischen 𝔊 und 𝔐 bei I Samuel 1 vgl. A. Aejmelaeus,
„Corruption or Correction?: Textual Development in the MT of 1 Samuel 1“ in
P. A. Torijano Morales und A. Piquer Otero (Hg.), Textual Criticism and Dead
Sea Scrolls Studies in Honour of Julio Trebolle Barrera: Florilegium Complutense
(Leiden, 2012), S. 1-17. Die Autorin argumentiert überzeugend, dass die Figur
der Hanna im hebräischen Text abgeschwächt wurde, um so den späteren
rabbinischen Vorstellungen zu entsprechen. Zudem wurde bei der Septuaginta-
übersetzung der vorliegende hebräische Text durch die Brille der griechischen
Philosophie ausgelegt, vgl. Kerr, „Once upon a time.“
179 Bezweifelt wird nicht das Alter der masoretischen Tradition: Proto-masoreti-
sche Texte verschiedener Bibelbücher sind schon aus Qumran belegt, und
Hieronymus und die Peschitta bezeugen sie auch. Die spätere autoritative
Bevorzugung dieser Textform anderen Gegenüber beruht jedoch auf einer
theologische Präferenz und nicht auf einer inhaltliche Grundlage – dies war
nicht der Codex Severi.
Die blauen Blumen von Mekka 161

„Οὐ μυϱιάδες βιβλίων εἰσὶ παϱ᾽ ἡμῖν ἀσυμϕώνων καὶ μαχομένων,


δύο δὲ μόνα πϱὸς τοῖς εἴκοσι βιβλία τοῦ παντὸς ἔχοντα χϱόνου τὴν
ἀναγϱαϕήν, τὰ δικαίως πεπιστευμένα. [39] Καὶ τούτων πέντε μέν
ἐστι Μωυσέως, ἃ τούς τε νόμους πεϱιέχει καὶ τὴν ἀπ᾽
ἀνϑϱωπογονίας παϱάδοσιν μέχϱι τῆς αὐτοῦ τελευτῆς: Οὗτος ὁ
χϱόνος ἀπολείπει τϱισχιλίων ὀλίγῳ ἐτῶν. [40] Ἀπὸ δὲ τῆς Μωυσέως
τελευτῆς μέχϱι τῆς Ἀϱταξέϱξου τοῦ μετὰ Ξέϱξην Πεϱσῶν βασιλέως
οἱ μετὰ Μωυσῆν πϱοϕῆται τὰ κατ᾽ αὐτοὺς πϱαχϑέντα συνέγϱαψαν
ἐν τϱισὶ καὶ δέκα βιβλίοις: Αἱ δὲ λοιπαὶ τέσσαϱες ὕμνους εἰς τὸν ϑεὸν
καὶ τοῖς ἀνϑϱώποις ὑποϑήκας τοῦ βίου πεϱιέχουσιν. [41] Ἀπὸ δὲ
Ἀϱταξέϱξου μέχϱι τοῦ καϑ᾽ ἡμᾶς χϱόνου γέγϱαπται μὲν ἕκαστα,
πίστεως δ᾽ οὐχ ὁμοίας ἠξίωται τοῖς πϱὸ αὐτῶν διὰ τὸ μὴ γενέσϑαι
τὴν τῶν πϱοϕητῶν ἀκϱιβῆ διαδοχήν. [42] Δῆλον δ᾽ ἐστὶν ἔϱγῳ, πῶς
ἡμεῖς πϱόσιμεν τοῖς ἰδίοις γϱάμμασι: Τοσούτου γὰϱ αἰῶνος ἤδη
παϱῳχηκότος οὔτε πϱοσϑεῖναί τις οὐδὲν οὔτε ἀϕελεῖν αὐτῶν οὔτε
μεταϑεῖναι τετόλμηκεν, πᾶσι δὲ σύμϕυτόν ἐστιν εὐϑὺς ἐκ πϱώτης
γενέσεως Ἰουδαίοις τὸ νομίζειν αὐτὰ ϑεοῦ δόγματα καὶ τούτοις
ἐμμένειν καὶ ὑπὲϱ αὐτῶν, εἰ δέοι, ϑνήσκειν ἡδέως. [43] Ἤδη οὖν
πολλοὶ πολλάκις ἑώϱανται τῶν αἰχμαλώτων στϱέβλας καὶ παντοίων
ϑανάτων τϱόπους ἐν ϑεάτϱοις ὑπομένοντες ἐπὶ τῷ μηδὲν ῥῆμα
πϱοέσϑαι παϱὰ τοὺς νόμους καὶ τὰς μετὰ τούτων ἀναγϱαϕάς. [44] Ὃ
τίς ἂν ὑπομείνειεν Ἑλλήνων ὑπὲϱ αὐτοῦ; Ἀλλ᾽ οὐδ᾽ ὑπὲϱ τοῦ καὶ
πάντα τὰ παϱ᾽ αὐτοῖς ἀϕανισϑῆναι συγγϱάμματα [45] τὴν τυχοῦσαν
ὑποστήσεται βλάβην: Λόγους γὰϱ αὐτὰ νομίζουσιν εἶναι κατὰ τὴν
τῶν γϱαψάντων βούλησιν ἐσχεδιασμένους, καὶ τοῦτο δικαίως καὶ
πεϱὶ τῶν παλαιοτέϱων ϕϱονοῦσιν, ἐπειδὴ καὶ τῶν νῦν ἐνίους ὁϱῶσι
τολμῶντας πεϱὶ τούτων συγγϱάϕειν, οἷς μήτ᾽ αὐτοὶ παϱεγένοντο
μήτε πυϑέσϑαι παϱὰ τῶν εἰδότων ἐϕιλοτιμήϑησαν. [46] Ἀμέλει καὶ
πεϱὶ τοῦ γενομένου νῦν ἡμῖν πολέμου τινὲς ἱστοϱίας ἐπιγϱάψαντες
ἐξενηνόχασιν οὔτ᾽ εἰς τοὺς τόπους παϱαβαλόντες οὔτε πλησίον
τούτων πϱαττομένων πϱοσελϑόντες, ἀλλ᾽ ἐκ παϱακουσμάτων ὀλίγα
συνϑέντες τῷ τῆς ἱστοϱίας ὀνόματι λίαν ἀναιδῶς ἐνεπαϱοίνησαν.“
Die Nachwirkung dieser Verkündigung wurde zu einem existentiellen Pro-
gramm und stellt zugleich die Grundlage für die spätere Schriftverehrung
u.a. im Judentum, Christentum und Islam dar.
Die forschrittliche Dynamik jedoch, die, wie schon bemerkt, bereits
lange Zeit im Gange war, fand im Jahre 70 kein Ende. Manche Traditionen
kamen zwar zu einem jähen Ende, andere entstanden erst und wohl die
162 Robert Kerr

meisten unterbauten nach gutem römisch-hellenistischen Brauch ihre


jeweiligen Apokatastasis-Lehren mit eigenen, häufig pesudepigraphischen
Schriften. Anstatt teleologische und daher anachronistische Begriffe wie
Christentum und Judentum zu verwenden, sollte man etwa ein
thermodynamisches System im hellenistischen-biblischen Syrien-Palästina,
das sich dann weit über die Grenzen des römischen Reiches ausbreitete, und
ohne Autokatalyse bis heute wirkt, vorstellen. So ähnelt die auf biblische
Überlieferung begründete Religionsentfaltung die Sprachevolution: Ein
ständiges Auf-, Gegen- und Ineinander mit Übernahmen von Begriffen, Be-
einflussung von Ideen, Nachahmungen von Bildungen – sie verlieren ein-
ander zeitweilig aus den Augen, um einander dann als Fremden wieder zu
begegnen usw., und erst später erfahren sie manchmal die Festlegung als
„kanonisierte“ Schriftsprachen, alle ihre eigene Sonderentwicklung ventilie-
ren, und so gleicht Sprachkontakt einer Polemik im Religionsdiskurs. In
dieser schöpferischen Vielfalt entsteht Neues, wie etwa die romanischen
Sprachen aus „Latein,“ so monotheistische Offenbarungsgottesdienste aus
der biblischen Überlieferung – und in beiden Fällen ist auch mit dem
Einfluss verschiedener Substrate zu rechnen.
Der Mannigfaltigkeit der von Josephus berichteten judäischen Haupt-
glaubensvorstellungen (vgl. Anm. 176) sind auch Christusgläubige (Proto-
Christen) zuzurechnen. Durch die Aufstände in der römischen Provincia
Iudæa, besonders die von 70 und 132-135 n.Chr. (die der SHA „Hadrianus“
zufolge durch ein römisches Beschneidungsverbot verursacht wurde: „mo-
verunt ea tempestate et ludæi bellum, quod vetabantur mutilare genitalia” –
ob wahr oder nicht, zeigt dies die Bedeutung des Ritus bei Juden[-
Christen]), und in deren Folge fand das herkömmliche religiöse Leben hier
sein Ende.180 Die judäische Religion hatte eigentlich hiermit ausgedient: Die

180 Vgl. Cassius Dio, Historiæ Romanæ LXIX. 12-14, zu den Folgen 14.1-3: „Καὶ
ϕϱούϱια μὲν αὐτῶν πεντήκοντα τά γε ἀξιολογώτατα, κῶμαι δὲ ἐνακόσιαι καὶ
ὀγδοήκοντα καὶ πέντε ὀνομαστόταται κατεσκάϕησαν, ἄνδϱες δὲ ὀκτὼ καὶ πεν-
τήκοντα μυϱιάδες ἐσϕάγησαν ἔν τε ταῖς καταδϱομαῖς καὶ ταῖς μάχαις ῾τῶν τε
γὰϱ λιμῷ καὶ νόσῳ καὶ πυϱὶ ϕϑαϱέντων τὸ πλῆϑος ἀνεξεϱεύνητον ἦν᾽, ὥστε
πᾶσαν ὀλίγου δεῖν τὴν Ἰουδαίαν ἐϱημωϑῆναι, καϑάπεϱ που καὶ πϱὸ τοῦ
πολέμου αὐτοῖς πϱοεδείχϑη: Τὸ γὰϱ μνημεῖον τοῦ Σολομῶντος, ὃ ἐν τοῖς
σεβασμίοις οὗτοι ἄγουσιν, ἀπὸ ταὐτομάτου διελύϑη τε καὶ συνέπεσε, καὶ λύκοι
ὕαιναί τε πολλαὶ ἐς τὰς πόλεις αὐτῶν ἐσέπιπτον ὠϱυόμεναι. πολλοὶ μέντοι ἐν
τῷ πολέμῳ τούτῳ καὶ τῶν Ῥωμαίων ἀπώλοντο.“ Im Allgemeinen s. P. Schäfer,
The Bar Kokhba War Reconsidered: New Perspectives On The Second Jewish
Revolt Against Rome (Tübingen, 2003).
Die blauen Blumen von Mekka 163

Überlebenden dieser Katastrophe passten sich den neuen Umständen ver-


schiedentlich an, auch anhand ihres Verhaltens während des Aufstands und
ihrer Bewertung desselben – war Bar Kochba oder Jesus der Messias? Aus
diesen Erfahrungen in der Dialektik von Kontinuität und Bruch entstanden
neue Strömungen, die die biblische Überlieferung anders bewerteten, wo-
runter die Vorläufer des rabbinischen Judentums, des Christentums und der
Samaritaner eine Rolle spielten. Die Judäer, aus ihrer Heimat vertrieben,
wurden allmählich zu Juden, und fortan sollten die synagogalen Traditio-
nen, also jene, die nicht vom Tempel abhängig waren, bestimmend wer-
den.181 Da aber ohne Tempel der biblische Text nicht mehr bearbeitet wer-
den konnte, entstand eine neue Fortschreibung, die der „mündlichen Tora“
(vgl. Anm. 161), deren erste schriftliche Redaktion die Mischna (za. 180-
220), die Basis der späteren Talmude, darstellt. Aber die konkrete Heraus-
bildung des rabbinischen Judentums fängt wohl erst im vierten Jahrhundert
an, nach der sogenannten Mailänder Vereinbarung, als das dann vom Reich
unterstützte Christentum, auch in seinem eigenen Streben, sich selbständig
(z. B. die Quartodecimani) und einheitlich (Konzilen) zu definieren, eine
systematische Polemik dem Judentum gegenüber begann.182 Diese Unter-
drückung, vornehmlich durch die hellenisierte Reichskirche, die dann auch

181 Synagogen, sowohl in Judäa wie auch in der Diaspora, sind schon vor 70 archä-
ologisch nachzuweisen – die zentrale Bedeutung des Tempels galt nicht glei-
chermaßen für alle jüdische Gruppierungen vor der Vertreibung, die Kult-
reform Josias (vgl. Anm. 170) konnte den Volksglauben nicht aufheben. Dies ist
schon in der Hebräischen Bibel festzustellen: J beschreibt den ‫ ִמשְׁ כַּן‬als eine
Proto-Synagoge, während bei P der Begriff als ein Proto-Tempel verstanden
wird. So z. B. in Num. 8,9 wird der ‫ אֹהֶל מ ֹועֵד‬in 𝔊 mit συναγωγή wiedergegeben.
Aber auch das Judentum des Tempels von vor der Zerstörung stellte eine Qua-
lität dar, die im späteren rabbinischen Judentum verpönt gewesen wäre: Ein
Vorbild ist die reichlich verzierte Menora des Titusbogens. Aber auch in der
Spätantike konnten Synagogen noch mit Mosaiken reichlich verziert werden –
nebst Abbildungen von Menschen gibt es auch die zurecht berühmten Tier-
kreiszeichen in Sepphoris, Hammat Tiberias, Beit Alfa und Tzippori.
182 Vgl. D. Boyarin, „Rethinking Jewish-Christianity: An Argument for Dismant-
ling a Dubious Category“ Jewish Quarterly Review 99 (2009): 7-36. Kunstge-
schichtlich kann man die Abbildungen der Akedah wie etwa an der Nordmauer
der Beit-Alfa-Synagoge (vgl. Anm. 181) als jüdische Polemik gegen die in dieser
Zeit aufkommenden Gewohnheit, in der christlichen Kirchenkunst die Kreuzi-
gung abzubilden, ansehen. Aber die Opferung Isaaks wurde dann auch Teil des
Repertoires zeitgenössischer christlicher Kunst, die vielleicht als eine Präfigu-
ration des Kreuzestodes Christi auszulegen wäre.
164 Robert Kerr

den Gebrauch der griechischen Sprache einschließen sollte, führte


letztendlich dazu, dass in der Spätantike die geistige Dynamik des Juden-
tums außerhalb der Reichsgrenzen, vornehmlich im sassanidischen
Babylon, wo der Exilarch (‫ )ריש גלותא‬wohnte, stattfand, ohne aber dass er
gleichmäßigen Einfluss auf alle Manifestationen des Judentums auszuüben
vermochte, ein Zustand, der bis ins 20. Jahrhundert andauern sollte.183
Für die Entstehung des Islam hatte das rabbinische Judentum keine
direkte Bedeutung – im siebten Jahrhundert war es in Syrien-Palästina
deutlich geschwächt. Das gilt nicht für das Fortleben judäisch-jüdischer
Glaubensvorstellungen in manchen christlichen Ausprägungen. Auch für
das, was Christentum werden sollte, steht am Anfang eine bunte theo-
logische Vielfalt, und der immanenten Parusieerwartung wegen ermangelte
es wohl zuerst größtenteils an ausgebildeten Lehrern und Hierarchien. Das
Ausbleiben der Wiederkunft Christi, das zuerst als eine Verlängerung der
Vorbereitungszeit verstanden wurde, machte solche dann später nötig. Von
der sogenannten Urgemeinde in Jerusalem (vgl. Anm. 93) wissen wir nur
wenig, eigentlich nur die christlich-biblische Fortschreibung des Neuen Tes-
taments – wobei hier die Beschreibung der Apostelgeschichte eine Idealisie-
rung bietet –, allem Anschein nach gehörten ihr jedoch anfänglich nur vom
Zwölferkreis geleitete Judenchristen an.184 Aber schon früh scheint es einen
Zwiespalt τῶν Ἑλληνιστῶν πϱὸς τοὺς Ἑβϱαίους (Apostelgeschichte 6,1)

183 Der babylonische Talmud galt nicht umsonst als die „tragbare Heimat“ der
Juden. Für die spätere Herausbildung der jüdischen Identität vgl. Sh. Sand, Die
Erfindung des jüdischen Volkes. Israels Gründungsmythos auf dem Prüfstand
(Berlin, 2010). Der Zionismus, der eigentlich vom Judentum losgelöst ist,
gehört zu den künstlichen von der Romantik her stammenden nationalisti-
schen Bewegungen Europas des 19. Jahrhunderts. Aber auch aus dem rabbini-
schen Judentum gingen Schismen hervor, wie die der Karaiten (Karäer) im 8./9.
Jahrhundert, die sich in Bagdad gegen die göttliche Inspiration der mündlichen
Tora wehrten. Hierfür war einerseits der entstehende Islam des Abbasidenzeit-
alters von Bedeutung, sowie vielleicht ein früher Fund von Qumranrollen (vgl.
A. A. Di Leila, „Qumran and the Geniza Fragments of Sirach,“ Catholic Bible
Quarterly 24 [1962] 245-267) – der Codex Leningradensis (Anm. 179) ent-
stammt der Karaiten-Synagoge zu Kairo.
184 S. auch Eusebius, Hist. Eccl. IV. 5. 3-4. Judenchristen sahen im Christusglauben
das wahre Judentum: „In effect, they seemed to regard Christianity as an affir-
mation of every aspect of contemporary Judaism, with the addition of one extra
belief – that Jesus was the Messiah. Unless males were circumcised, they could
not be saved (Acts 15:1)“ (A. E. McGrath, Christianity: An Introduction
[London, 2006], S. 174).
Die blauen Blumen von Mekka 165

gegeben zu haben, und diese „Hellenisten“ besaßen scheinbar nach 6,5


einen eigenen, entsprechend den landsmannschaftlichen Synagogenverbän-
den organisierten, Kreis in der Urgemeinde (6,5). Wie die Verfolgung des
Stephanus zeigt (6,11,13ff.), entstand Konflikt; obgleich absichtlich von
Lukas kleingeredet, stritten diese Gruppen über die Verbindlichkeit des
Kultgesetzes für Christen, also der Stellung Jesu zur Tora, der dann zur
Vertreibung dieser Gruppen aus Jerusalem führte. Hiermit verbreitete sich
diese Strömung außerhalb von Judäa und Galiläa, zuerst der Apostel-
geschichte (11,19) zufolge bis nach Phönizien, Zypern und Antiochien. Der
letzte Ort wurde dann zu einem wichtigen Zentrum (Apostelgeschichte
11,19-26), wo die Hellenisten πϱὸς τοὺς Ἑλληνιστάς, εὐαγγελιζόμενοι τὸν
κύϱιον Ἰησοῦν dominierten – gemeint sind wohl die sog. „Gottesfürchtigen“
(ϕοβούμενοι τὸν ϑεόν), d. h. die nichtjüdischen Sympathisanten des jüdi-
schen Monotheismus (vgl. Apostelgeschichte 13,16,26). Hiermit trat wohl
zum ersten Mal eine in Christus glaubende Gemeinde selbstständig vom
Judentum auf: Χϱηματίσαι τε πϱώτως ἐν Ἀντιοχείᾳ τοὺς μαϑητὰς Χϱιστια-
νούς (11,26). Zu den „Propheten und Lehrern,“ die die antiochenische Ge-
meinde anführten, gehörte auch Paulus, die, wie schon behandelt (vgl. Anm.
73, 93, 96f.), die Freiheit vom Gesetz predigten und Heidenchristen nicht
beschnitten, eine Lehrauffassung, die vehement von Judenchristen bestrit-
ten wurde (Apg. 15,1; vgl. Gal. 2,4f.). Mit der Mission, die Paulus zunächst
gemeinsam mit Barnabas von Antiochia aus betrieb, wurden dann rein hei-
denchristliche Gemeinden gestiftet, und somit wurden Fragen der Tora-
Verbindlichkeit für Christen von entscheidender Bedeutung.
Zur Lösung des Problems, ob der Glaube an Christus ohne Beschnei-
dung ausreichend sei (vgl. Anm. 153), um gerettet zu werden, begaben sich
Paulus und Barnabas nach Jerusalem, wo um 48/49 n. Chr. dann das sog.
„Apostelkonzil“ stattfand. Die Berichte hierüber, Apostelgeschichte 15 und
Galater 2, von verschiedenen Standpunkten aus geschrieben, widersprechen
einander, und dort Vereinbartes konnte den Zustand nicht entschärfen.
Letztendlich blieb ein wirksamer Kompromiss aus, und Paulus sagte sich
los, um sein gesetzesfreies Evangelium in Großstädte und Provinzzentren
des östlichen Reiches bis zu seinem Tode in 60 zu verkünden. Nach der
Steinigung des Jakobus des Gerechten im Jahr 62 verlor die judenchristlich
geprägte Jerusalemer Urgemeinde ihre Führungsrolle im Christentum. Am
jüdischen Aufstand von 66 sollen die Jerusalemer Christen die Teilname
verweigert haben und bei der nachfolgenden Revolte Simon Bar Kochbas in
132 flohen sie Eusebius zufolge gar in das ostjordanische Pella.
166 Robert Kerr

Fortan sollte die Kirche heidenchristlich bestimmt werden –, Orpheus, jetzt


der poeta theologus, wurde zur Präfiguration Christi und sollte als Vorbild
des guten Hirten dienen – der Streit um die verbindliche Stellung der Tora
sollte keine bedeutsame Rolle mehr spielen,185 und die übriggebliebenen
jüdisch-christlichen Gemeinden in Syrien und im Ostjordanland galten
einigen der maßgebenden Kirchenväter wie Justin dem Märtyrer (Dialog
47), Irenäus von Lyon (Adversus hæreses i.26,2) und Marcion im 2. Jahr-
hundert bereits als ketzerisch. Für die Hauptströmungen des Christentums
in dieser Zeit rückt die semitische Grundlage zunehmend in Vergessenheit,
sehr auffällig aber ist die Aufnahme insbesondere paränetischer Traditionen
des hellenistischen Judentums in zeitgenössischen Schriften auf breiter
Front.
Zu dem hellenistisch-jüdischen Vermächtnis des Christentums, das ei-
gentlich nicht zum Erbteil des rabbinischen Judentums zählte, waren nebst
den Werken Philos von Alexandrien die des zum Römer gewordenen Juden
Flavius Josephus. Die Schriften des Letztgenannten waren von zentraler
Bedeutung für das historische Selbstverständnis der griechisch geprägten
Reichskirche: Der „Vater der Kirchengeschichte“ Eusebius von Caesarea
stützte sich fast ausschließlich auf seine Angaben, besonders für außer-
neutestamentliche Auskünfte über das Zeitalter Jesu Christi und des Urchri-
stentums diente er sozusagen als „Kronzeuge.“ Die Aufnahme und Rezep-
tion von Josephus ist auch noch, wie hier ausführlich besprochen, deutlich
spürbar in den weiteren Kirchengeschichten von Theodoret, Sokrates

185 Vgl. Augustinus, Contra Faustum xxii.7: „Quapropter, ut vos ex Vetere Testa-
mento solas admittitis prophetias, et illa quæ superius diximus, civilia atque ad
disciplinam vitæ communis pertinentia præcepta; supersedistis vero peritomen,
et sacrificia, et sabbatum et observationem eius, et azyma.“ In 13 macht er
deutlich, wieweit das Christentum seiner Zeit von seinen jüdischen Wurzeln
entfernt war (vgl. hierzu Anm. 151): „Transacto vero illo tempore, quo illi duo
parietes, unus ex circumcisione, alter ex præputio venientes, quamvis in
angulari lapide concordarent, tamen suis quibusdam proprietatibus distinctius
eminebant, ac ubi Ecclesia Gentium talis effecta est, ut in ea nullus Isrælita
carnalis appareat; quis iam hoc Christianus observat, ut turdos vel minutiores
aviculas non attingat, nisi quarum sanguis effusus est, aut leporem non edat, si
manu a cervice percussus, nullo cruento vulnere occisus est? Et qui forte pauci
adhuc tangere ista formidant, a cæteris irridentur: ita omnium animos in hac re
tenuit illa sententia veritatis: Non quod intrat in os vestrum, vos coinquinat, sed
quod exit [Matthäus 15,11]; nullam cibi naturam, quam societas admittit
humana, sed quae iniquitas committit peccata, condemnans.“
Die blauen Blumen von Mekka 167

Scholastikos und in ihrer Rezeption bei Sozomenos 186 sowie auch bei
Hieronymus. Deutlich muss geworden sein, dass das Araberbild und die
Deutung des Ismael dieser Autoren ihren Ursprung bei Josephus hat.

9. Schluß
Wer die Islamentstehung bzw. die Verwandlung zum Islam in seinem spät-
antiken Kontext verstehen will, muss notwendigerweise die erforderliche
historische Demut aufbringen, um diese verschlungenen Pfade historisch-
kritisch zu durchforsten: Natura non facit saltus! Es gibt keinen Anlass und
keine historische Grundlage zu behaupten, dass die Einwohner Arabiens
eine sprachliche und kulturelle Einheit gewesen seien oder sich so gesehen
hätten.187 Wie bei der autochtonen Bevölkerung der Neuen Welt war dies
ein Ergebnis der Begegnung mit den Fremden, noch deutlich sichtbar in der
anachronistischen kanadischen Eigenbezeichnung „Premières Nations.“ Die
allgemeine griechisch-römische Bezeichnung „Arabien,“ hauptsächlich eine
Gebietsandeutung, stellte inhaltlich auch keine Einheit vor (vgl. z. B. Anm.
8). Anderseits findet sich auch in der biblischen Überlieferung der Hebrä-
ischen Bibel kein Zusammenhang zwischen Ismaeliten und Hagariten mit
etwaigen „Arabern“ (vgl. z. B. Anm. 61). Erst in der späteren Tradition der
jüdischen Bibelübersetzungen (z. B. 𝔊, 𝔗) ist ein erster Ansatz hierfür greif-

186 Vgl. H. Leppin, Von Constantin dem Großen zu Theodosius II. Das christliche
Kaisertum bei den Kirchenhistorikern Socrates, Sozomenus und Theodoret
(Göttingen, 1996).
187 So die Beschreibung von T. E. Lawrence in seinem Meisterwerke Sieben Säulen
der Weisheit: „A first difficulty of the Arab movement was to say who the Arabs
were. Being a manufactured people, their name had been changing in sense
slowly year by year. Once it meant an Arabian. There was a country called
Arabia; but this was nothing to the point. There was a language called Arabic;
and in it lay the test. It was the current tongue of Syria and Palestine, of
Mesopotamia, and of the great peninsula called Arabia on the map. Before the
Moslem conquest, these areas were inhabited by diverse peoples, speaking
languages of the Arabic family. We called them Semitic, but (as with most
scientific terms) incorrectly. However, Arabic Assyrian, Babylonian, Phoenician,
Hebrew, Aramaic and Syriac were related tongues; and indications of common
influences in the past, or even of a common origin, were strengthened by our
knowledge that the appearance and customs of the present Arabic-speaking
peoples of Asia, while as varied as a field-full of poppies, had an equal and
essential likeness. We might with perfect propriety call them cousins – and
cousins certainly, if sadly, aware of their own relationship.“
168 Robert Kerr

bar, wie etwa im Targum Pseudo-Jonathans Wiedergabe von Nebajoth als


Nabatäer (Stammvater; vgl. zu Anm. 63). Auch in der alttestamentlichen
Überlieferung spielen Fragen der Legitimität Ismaels und die Gültigkeit
seiner Bundesannahme noch vor der Geburt Isaaks keine Rolle – der bibli-
sche Ismael verlässt die Bühne in Genesis in einvernehmlichem Zusammen-
leben mit seinem Halbbruder. Erst in der apokryphen Literatur können
erste Zweifel der Gültigkeit von Ismaels Beschneidung vernommen werden
(vgl. Anm. 123), die dann zwecks einer Untermauerung einer bestimmten
theologischen Sicht durch Paulus ausgearbeitet werden: Wer sich judaisie-
rend noch an das Gesetz halte, gehöre dem Verbunde des unfreien Nach-
kommens an, die Geisteskinder Isaaks, von einer freien Mutter geboren,
müssten gesetzesfrei in Christus leben. Hier aber gibt es noch keine direkte
Verbindung zwischen Ismael(bündnis) und Arabern – die ausdrückliche
Bezogenheit Ismaels als Stammvater der Araber geht auf Josephus zurück –
auffallend bleibt, dass auch in säkularer Geschichtsschreibung nur biblisch
beeinflusste Abstammungserzählungen der Araber vorkommen –, der sich
der griechischen Ethnographie sowie griechisch-römischer Rechtsgewohn-
heiten bediente und judäische Geschichte und jüdischen Glauben an seine
hellenistischen Leser vermitteln will: Er verbindet grundlos das Alter Isma-
els bei seiner Beschneidung (vgl. Anm. 44) mit dem pubertären Rite de
Passage der Bewohner „Arabiens“ (vgl. Anm. 121) und erklärt Ismael
implizit, Kebsweibabkunft wegen, zum Bastard – im (griechisch-) rö-
mischen Recht, im Gegensatz zu biblischer Rechtspraxis (im Islam ist die
Adoption verboten, vgl. Anm. 126) besaßen Kinder außerehelicher Zeugung
den Stand ihrer Mutter und hatten keinerlei Privilegien väterlicherseits.
Und somit wurden die Araber aufgrund ihrer angeblich gemeinsamen
Abstammung von Ismael zu einem Ethnos.
Das erfundene Volk der arabischen Ismaeliten und das paulinische
Bündnis der Hagar flossen theologisch zusammen in den Werken der Kir-
chenväter wie Origenes und Eusebius, allerdings zunächst noch als bloße
Feststellung. Erst mit der späteren Erweiterung der römischen Einflussphäre
und den Streitigkeiten um die entstehende Orthodoxie der vom Reich geför-
derten Konzilkirche wurden diesen Annahmen inhaltliche Bedeutung zuge-
messen. Im vierten/fünften Jahrhundert, einer Zeit der zunehmenden Bar-
bareneinfälle (auch reichsweit), versteht besonders Hieronymus die auf Pau-
lus und Josephus zurückgehende theologisch-ethnographische Synthese als
Erklärung für die Überfälle der wüsten Nomaden: Die „Araber“ können
ihrer „verfluchten Illegitimität“ wegen nicht anders. Mit Arabern sind hier
Die blauen Blumen von Mekka 169

meist nomadisch lebende, zum Christentum nicht bekehrte Stämme Syrien-


Palästinas gemeint – Christen wie Juden besaßen in der damaligen Vor-
stellung eine eigene vom Glauben her bestimmte Ethnizität. Der
Missionsauftrag bei diesen Stämmen, ein Anliegen der Kirche und des
Reichs, war seitens der Orthodoxie wegen ihrer stadtzivilatorischen Vorein-
genommenheit relativ erfolglos; Bekehrungen wurden den Berichten zu-
folge häufig von asketisch lebenden Wüstenmönchen bewirkt (vgl. Anm.
112), und dann tritt auch der ganze Stamm, seinem Anführer folgend, zum
Christentum über – ein Vorgang, der im siebten Jahrhundert noch nicht
abgeschlossen war (vgl. z. B. Anm. 145) –, für eine Invasion gewaltbereiter
Gotteskrieger aus dem Ḥiǧāz in dieser Zeit fehlt jede Spur (vgl. Anm. 2).
Das Christentum dieser Mönche war nicht die tora-lose Theologie des
Paulus, sondern eine altertümliche Version, die mehr in der jüdischen Tra-
dition verwurzelt war. Auch hier wirkte die Synthese der ethnotheo-
logischen Gedankenführung Paulus-Josephus-Hieronymus fort: Bei ihrer
Bekehrung wären diese als Ismaeliten verstandene „Araber“ im Stande, das
verlorene, ihnen aber zustehende Bündniserbe Abrahams wieder antreten
zu können. Dies war natürlich gänzlich inkompatibel mit der nachchalzedo-
nischen Theologie der Reichskirche.
Hieraus lässt sich die frühislamische Dogmatik einschließlich ihrer vor-
nizenischen Christologie größtenteils erklären: Die vorausgesetzte Abstam-
mung der Araber von Ismael, die bündnissymbolische Bedeutung der
pubertären Beschneidung, das Einhalten von Speisegesetzen (vgl. Anm.
151), das Enthalten von alkoholhaltigen Getränken (vgl. zu Anm. 155), die
rituelle Reinigung (vgl. Anm. 117) sowie eine generelle Ablehnung der
Lehre des Paulus (Anm. 156) und kirchliche Hierarchien sowie die (jüdi-
sche) die Betonung der Ein-heit Gottes. Die spezifischen inhaltlichen Über-
einkünfte mit den überlieferten Glaubenssätzen der Ebioniten und Nazoräer
(‫ )أنص ار‬stellen keinen Zufall dar. Zweifelsohne entschärft das Fehlen
eigener schriftlicher Nachrichten den Einfluss solcher Gruppen und verzerrt
die Bedeutung dieser Strömungen im spätantiken Mittleren Osten. Wenn
man jedoch die Schriften der Orthodoxie und der Kirchenväter betrachtet,
wird deutlich, dass eine einheitliche Kirche ein existentielles Wunschdenken
war – die vielen polemischen Schriften, Häresiologien und Konzilien ver-
deutlichen nur die theologische Glaubensvielfalt: Das Christentum quasi als
Archetypus gab es ebensowenig wie Judentum oder den Islam, und am An-
fang schweben alle solche Denkungsarten in einem Zustand wie Schrö-
170 Robert Kerr

dingers sprichwörtliche Katze, die Schwelle des Umbruches lässt sich nicht
festlegen.
Der Islam kann im Grunde aus einer Fortsetzung solcher jüdisch-christ-
lichen Strömungen verstanden werden, und seine spätere Verselbständi-
gung liegt in der Natur der Sache. Ohne Kenntnis der hier beschriebenen
Vorgeschichte ist eine Entstehungsbegründung für den neuen Gottesdienst
nicht denkbar – und diese ist zugleich bedeutungslos außerhalb der Reichs-
grenzen, etwa in der abgelegenen Arabia deserta, wo der reichsinterne dog-
matische Lehrenstreit keinen Widerhall fand. Dass Muʿāwiya, vestigia pressit
maiorum, die momentane Strukturschwäche Konstantinopels ausnützte, um
sich teilweise politisch und religiös in einem postkolonialen Nachfolgereich
nach der ersten Fitna zu verselbstständigen, ist nur verständlich188 – logi-
scherweise zu vergleichen sind diese Ereignisse mit ähnlichen bei Vandalen,
Westgoten, Merowingern und etwas später bei den Karolingern: Solche
Revolutionen passieren, wenn die alten Herrscher nicht mehr können und
ihre Untertanen nicht mehr wollen. So war dann der Weg frei für den von
den lokalen Eliten praktizierten und vom Reich und seiner Kirche lang
bekämpften Glauben, zur Staatsräson zu werden: Die klassische Dreiheit
voluntas, necessitas und utilitas als Legitimationsgrößen waren vorhanden –
die Lage war jetzt eine andere als wenige Jahrzehnte zuvor, als auch die
letzten Ghassaniden-Könige verketzert ins Exil geschickt wurden. Von den
Anhängern dieses autokephalen ‫ توحيد‬tawḥīd-Glaubens (tawḥīd = „Einheit
Gottes“) verstand er sich als Ἀμήϱα Ἀλμουμενὴν/‫ الم ومنين ام ير‬amīr al-
muʾminīn, er (und seine Nachfolger) behauptete sich als der wahre ‫ﷲ‬
‫ خليف ة‬ḫalīfat Allāh /Vicarius Dei.
Es sollte niemand überraschen, dass hieraus neue Traditionen hervor-
gegangen sind, die dann teleologisch gesehen – „l’existence précède l’es-
sence“ – bei ʿAbd al-Malik ibn Marwān deutlich feststellbar sind, aber wie-
derum erst während der Abbāsidenzeit deutliche Konturen bekamen – „se
rencontre, surgit dans le monde, et qu’il se définit après.“ Wie sich schon
zuvor der Schwerpunkt des Christentums von Jerusalem nach Rom ver-

188 Die Fortsetzung der römischen Administration wird u.a. deutlich durch die
Weiterführung der Indiktionsjahren. Auch der ‫ جن د فلس طين‬in ‫ب الد الش ام‬
kann hier nur von Παλαιστίνη bzw. Palästina abgeleitet und nicht etwa vom
ܵ
Semitischen, z. B. ‫ ְפּלִשְׁ תִּ ים‬oder ܵ ܸ – Arabisch gebraucht /ṭ/ und nicht /t/
wie zu erwarten wäre (‫تين‬ ‫)*فلس‬, was auf eine Entlehnung aus dem
Griechischen bzw. Lateinischen hindeutet (vgl. R. M. Kerr, Latino-Punic
Epigraphy [Tübingen, 2010], S. 123).
Die blauen Blumen von Mekka 171

schob, wurde Mekka zur Achse des Islam um die Mitte des achten Jahr-
hunderts (wie Salt Lake City, mitten in einer anderen Wüste, das sakrale
Zentrum eines weiteren monotheistischen Ablegers werden sollte). Hierfür
spricht einerseits die islamische Überlieferung selber, die Mekka erst spät als
heilige Stadt erwähnt. Andererseits fällt die zusammengesetzte intertextuelle
und uneinheitliche Art der islamischen Berichte über die sekundären bibli-
schen Personen Abraham, Hagar und Ismael zu Mekka auf: Von einer Tra-
dition kann keine Rede sein, lediglich eine allgemein inhaltliche und be-
hauptete Zurückführung von Erzählkernen auf drei frühe Traditionsver-
mittler. Die auf ʿAlī zurückgeführten Legenden betreffen hauptsächlich den
Bau eines Heiligtums in Mekka, der Abraham wohl sekundär zugeschrieben
wurde, biblische Inhalte sowie Hagar und Ismael spielen eigentlich keine
Rolle. Die Muǧāhid zugeschriebenen Erzählungen bieten auch größtenteils
Baulegenden eines Heiligtums zu Mekka, wobei Hagar und Ismael Beirollen
zugedichtet werden; auch hier sind die biblischen Anklänge sehr oberfläch-
lich und der beinahe erfolgte Tod Ismaels durch Verdursten beispielsweise
bleibt unerwähnt. Nur jene der Tradition nach auf Ibn ʿAbbās zurückführ-
baren Märchen beinhalten Kernteile der biblischen Erzählung, deren Über-
einstimmungen mit der exegetischen Tradition des Targums Pseudo-Jona-
thans sehr auffallend sind. Auch bezüglich des Wesens und der Natur des
Zamzam-Brunnens und seiner „Wiederentdeckung“ durch ʿAbd al-Muṭṭalib
sind die überlieferten Angaben widersprüchlich – die Ähnlichkeiten mit
eschatologischen biblischen Schatzlegenden bleiben auffällig. Literaturhisto-
risch gesehen sind drei ursprünglich unabhängige Überlieferungsstrata
sichtbar: Die einer alten arabischen Heiligtumslegende, die dann verschie-
dentlich mit biblischem Erzählstoff angereichert und umgedeutet wurde, so-
wie die eines nachfolgenden Stadiums, in dem die Geschichte dann ober-
flächlich islamisch ausgestaltet wurde. Der Ḥiǧāz war kein unbekanntes
Territorium für die biblische Heilsgeographie, aus dieser Gegend ent-
stammte der Judengott YHWH,189 und es gibt deutliche Hinweise, dass in
der jüdischen Tradition Hagar und Ismael hier verortet wurden, und Chris-
ten später Mekka zum Kultort ausbauten. Das Ausbleiben archäologischer

189 Ein wichtiger Hinweis, dass der Islam sich aus christlichen Überlieferungen
und nicht direkt aus Jüdischen fortentwickelte, ist der Gebrauch von ‫( رب‬rabb)
„Herr“ als einem Epitheton Gottes entsprechend griechisch Κύϱιος und syrisch
– mārā. Wie bei den meisten christlichen Schriften, bewahrt der Koran
keine Erinnerung an den jüdischen Gebrauch dieses Wortes, um den Eigen-
namen seines Gottes anzudeuten, vgl. Kerr, „Aramaisms“ §7.2.2.
172 Robert Kerr

Forschungen in dieser Region verhindert bisher eindeutige Schlüsse, deut-


lich ist jedoch die Anwesenheit von Hagar und Ismael in Mekka in der
jüdischen exegetischen Tradition, und dass dies in christlichen Texten auch
akzeptiert wird. Im Islam findet sich ein bewusster Rückgriff auf alte
Überlieferungen um den „ersten“ Monotheisten Abraham und das Bündnis,
das er und sein damals einziger Sohn Ismael mit Gott schlossen. Die Araber,
die Nachkommen Ismaels, sahen sich als die wahren Erben dieses Bundes,
und nicht die in ihren Augen Abfälligen, die ihre Herkunft von Isaak, sei es
im Fleische wie die (rabbinischen) Juden oder im Geiste wie die (chalke-
donischen) Christen ableit(et)en. So wurde die traditionelle Wirkungsstätte
Ismaels logischerweise zum heiligsten Orte des Islam, von der „Ismaelsstadt“
zur „Stadt der Ismaeliten.“
Wer im Islam oder im Koran etwas Neuartiges und bisher Unbelegtes
sieht, ist blind: Judentum, Christentum und Islam sind keine monolithi-
schen Größen. Wie bei Sprachen gibt es in der Religion keine deutlichen
Abgrenzungen. Hier gilt der janusköpfige Gegensatz in der Sprachwissen-
schaft von präskriptiver und deskriptiver Grammatik. Normative Gram-
matik ermöglicht die Herausbildung einer sprachlichen Identität: Nieder-
ländisch und Deutsch sind Nationalsprachen im Sinne der Ersten, aber aus
der Sicht der Zweiten, die Dialekte berücksichtigen, verlaufen Sprachgren-
zen (etwa Friesisch oder Niedersächsisch/Plattdeutsch) nicht entlang politi-
scher Grenzen. Die Wahl, freiwillig oder unter Zwang, und die Herausbil-
dung einer bestimmten Sprache und/oder einer Schrift kann wie Ge-
schichtsschreibung oder Religion zur Bildung einer Identität verwendet
werden: ‫( אַ שפּראַך איז אַ דיאַלעקט מיט אַן אַרמיי און פֿלאָט‬a shprakh iz a dialekt
mit an armey un flot).190 Hochsprachen sind dann Kunstgebilde wie reli-
giöse Orthodoxien. Die Vorstellung einzigartiger Ursprünge ist wissen-
schaftlich nicht mehr haltbar, vielmehr aber die Fortbildung und Verähn-
lichung verschiedener Traditionen, die dann zur Identitätsbildung bestimmt
werden können: Vgl. in der Sprachwissenschaft die Begriffe Sprachbund,
Sprachkontakt und das Kontinuum Pidgin->Creole->Standardsprache.
Ποταμοῖσι τοῖσιν αὐτοῖσιν ἐμϐαίνουσιν, ἕτεϱα καὶ ἕτεϱα ὕδατα ἐπιϱϱεῖ –
welche romanische Sprache kann alleinigen Anspruch erheben, die „wahre“
Erbin des Lateins zu sein? Zudem geht keine der romanischen Sprachen auf
die lateinische Hochsprache zurück, cheval oder caballo sind nicht auf

190 M. Weinreich, ‫דער יי ִוואָ און די פּראָבלעמען פֿון אונדזער צײַט‬, YIVO-Bletter ( ‫יי ִווא‬
‫ ]בלעטער‬25 (1945], S. 3.
Die blauen Blumen von Mekka 173

equus 191 zurückzuführen. Religionen sind genauso wenig wie Sprachen


hermetische Gebilde. Und wie bei Sprachen, gilt auch für Religionen, dass
die Gebiete, die die größte Vielfalt aufweisen, den Ursprung verbergen: Wer
eine Dialektkarte Europas mit einer der Neuen Welt vergleicht, stellt rasch
fest, dass weder Französisch, noch Spanisch, noch Portugiesisch, noch Eng-
lisch oder Deutsch in Amerika entstanden sein können,192 obwohl dort weit
mehr Sprecher des Englischen, Spanischen und Portugiesischen leben als in
Europa. Die jeweilige Bandbreite an Varianten der jeweiligen Sprachen ist
aber in Europa erheblich größer – man denke nur an Dialekte wie Cockney,
Geordie, Lallands (Englisch), Übergangsformen wie Galizisch (zwischen
Spanisch und Portugiesisch), oder Dialektkontinua wie Spanisch – Valen-
cianisch – Katalanisch – Okzitanisch – Französisch. Der Vielfalt an Einzel-
formen in Europa steht eine viel größere Gleichförmigkeit in der Neuen
Welt gegenüber. So kann weder der Islam noch Arabisch aus den öden Lee-
ren des Ḥiǧāz entstammen, wo sich die Dialekte kaum unterscheiden: Die
Dialektvielfalt Syro-Palästinas (einschließlich des Nordwest-Irak) weisen
diese Gegend viel eher als Ursprungsort des Arabischen aus. 193 Die

191 Sondern auf das vulgärlateinische „caballus.“ Die einzige Spur, die das latei-
nische equus in den romanischen Sprachen hinterlassen hat, ist das spanische
Wort für die Stute: yegua < equa.
192 So ist die einheimische Sprachenvielfalt von Vancouver Insel einer der wenigen
Hinweise der Erstbesiedlung Amerikas nach Ende der Eiszeit vor 11.500 bis
10.000 Jahren über die Bering-Landbrücke. Erinnert werden muss, dass diese
Theorie erstmals von Menasse Ben Israel als Teil eines theologischen
Argumentes vorgebracht wurde.
193 Was jetzt arabisch heißt, ist älter als der Islam, jedoch kann sie keinesfalls als
eine archaische semitische Sprache bezeichnet werden. Ihre Herausbildung
zum Verwaltungsinstrument unter den Umayyaden ist deutlich, ihr Gebrauch
als Mittel religiöser Äußerung ist Teil einer Entwicklung der Spätantike be-
sonders an den Grenzgebieten des römischen Reiches wie, nach eigenen
Schrifterfindungen, etwa die Entstehung einer religiösen Literatur in koptischer
Sprache, die gotische Bibelübersetzung Wulfilas, Iakob Zurtawelis წამებაჲ
წმიდისა შუშანიკისი დედოფლისა, die armenischen Schriften Eznik von
Kolbs oder die altkirchenslawischen Konstantins/Kyrillos und Methodios. Ob
es vorislamische Bibelübersetzungen, noch von S. H. Griffith (The Bible in
Arabic: The Scriptures of the ‚People of the Book‘ in the Language of Islam. Jews,
Christians and Muslims from the Ancient to the Modern World [Princeton, 2013])
kategorisch abgewiesen, gegeben hat, bleibt unklar. Dass der Islam dann eine
eigene „Heilige Schrift“ entwickelte, ist nicht weiter verwunderlich, da eine
solche Fortschreibung zu dieser monotheistischen Überlieferung gehört. Ver-
174 Robert Kerr

Dialektvielfalt der zum Islam führenden theologischen Auseinandersetzun-


gen der Spätantike sind auch hier zu verorten – hierfür sprechen sowohl die
Archäologie, als auch die Schrift und der koranische Wortschatz. So kann
die Entstehung des Islam als ein Prozess verstanden werden, der dem der
Kreolisierung in der Sprachwissenschaft entspricht. Und ihren eigenen
Wegen folgend dauert die fortschreibende Orphik bei den behaupteten
Kindern Abrahams bis heute an – τοῦ λόγου δ'ἐόντος ξυνοῦ ζώουσιν οἱ
πολλοὶ ὡς ἰδίαν ἔχοντες ϕϱόνησιν – wer aber meint, wie etwa Rippin (vgl.
Anm. 1), hier handele es sich um Verschwörungstheorien oder schlechtes
Plagiat „sucht blaue Blumen,“ nicht tief im deutschen Wald wie die
deutschen Romantiker, sondern im Herzen der arabischen Wüste.
„Was ist die Religion, als ein unendliches Einverständnis, eine ewige
Vereinigung liebender Herzen? Wo zwey versammelt sind, ist er ja
unter ihnen“,
wusste ja schon Heinrich von Ofterdingen.

gleichbar ist dem z.B. das Buch Mormon oder das bis heute praktizierte
Gaihwiyo („Gute Wort“) des Θkanyatararíyau (‚Handsome Lake;‘ *1735-†1815)
vom Seneca-Stamme der Haudenosaunee. Hier wurde eine Brücke zwischen
dem traditionellen irokesischen Glauben und dem Christentum geschlagen.

Anhang: Herkunft der Abbildungen


Die Photographien von Kirchen aus dem Negev stammen von der Homepage des
„Israel Ministry of Foreign Affairs,“ (Kapitel: Byzantine Churches in the Negev):
http://www.mfa.gov.il/mfa/israelexperience/history/pages/byzantine%20churches%2
0in%20the%20negev.aspx
Die Grundrisse von der Website des „Deutschen Archäologischen Institutes:“
http://www.dainst.org/de/project/palmyra?ft=all.

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