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Formeln der Kunst (10)

das Kunstwollen
16.4.2004

[Dia links: Dia links: Johann Heinrich Schönfeld, Akademieklasse (ca. 1669) ] [Dia
rechts: Englische Schule, Aktzeichensaal (ca. 1760)]
"Formeln der Kunst" – Fortsetzung vom Wintersemester, weiterhin: jede Stunde ein in sich
abgeschlossenes Thema, jeweils die 'Biographie' einer Wendung bzw. Formel, die für die
Prägung und den Inhalt des Kunstbegriffs von besonderer Bedeutung war/ist
im Sommersemester: überwiegend Formeln mit kürzerer Biographie, nämlich erst im 20.
Jahrhundert konzipiert, dafür oft noch ziemlich aktuell (z. B. 'white cube', Readymade,
Erweiterter Kunstbegriff)
'Formel', d. h. eine Wendung, in der sich Erwartungen an die Kunst oder den Künstler, Konzepte
von Kunst, Funktionszuweisungen gegenüber der Kunst ausdrücken – die meisten dieser
Formeln waren nicht als solche geplant, sondern haben sich erst durch zahlreiche Diskussionen
mit Sinn aufgeladen, bis sie schließlich als prägnante Zusammenfassungen komplexerer
Zusammenhänge erschienen
=> die Geschichte des modernen Begriffs von Kunst läßt sich als Summe und Abfolge solcher
Slogans und Formeln erzählen, die programmatisch immer wieder auftauchen und das Gerüst
vieler Texte und Debatten über Kunst bilden – und zugleich die Insidersprache des
Kunstbetriebs konstituieren
zum Teil haben die Formeln erst viele Jahrhunderte später ihre Wirksamkeit entfaltet oder sind
zu solchen avanciert (z. B. 'ut pictura poiesis'), zum Teil waren sie ursprünglich nur an ganz
abgelegenem Ort zu finden (z. B. 'das unschuldige Auge'), zum Teil sind sie in gegenüber dem
eigentlichen Wortlaut entstellter Form erfolgreich geworden (z. B. 'delectare et prodesse' von 'aut
prodesse (...) aut delectare')
=> jede dieser 'Biographien' ist sehr unterschiedlich
im Wintersemester: von 'je ne sais quoi' bis zum 'unschuldigen Auge' – dies war zugleich ein
mäandernder Gang durch zweieinhalb Jahrhunderte Geschichte des Kunstbegriffs, vom 17. bis
zum späten 19. Jahrhundert – mit etlichen Ausblicken auf das 20. Jahrhundert
nachvollzogen wurde dabei u. a.:
> die Aufwertung der Kunst von etwas 'bloß' Schönem zu einer Kraft, die läutern,
revolutionieren, kompensieren, Wahrheit liefern, Zuflucht, Insel, Gegenwelt sein kann bzw. soll
– und die geheimnisvoll, unergründlich oder unerschöpflich sein soll ('je ne sais quoi', 'delectare
et prodesse') – die daher auch oft als etwas beschrieben wurde, was sich nicht simpel fassen läßt,
ja was aus einer paradoxen Einheit von Gegensätzen besteht (z. B. Anspannung und
Entspannung; apollinisch-dionysisch) – dies vor allem Thema im Klassizismus und in der
Romantik
> die Etablierung der Trennung von freier und angewandter Kunst ('line of beauty and grace' vs.
'edle Einfalt und stille Größe')
> die Veränderungen hinsichtlich der Einschätzung des Künstlers und seinen Vermögen (Frage:
was macht ihn zum Künstler?) ('apollinisch-dionysisch': der Künstler, der rauschhafte Zustände
in klare Formen fassen kann; 'das unschuldige Auge': der Künstler, der alles frei von
Sehkonventionen und damit neu sehen kann) – wird im 19. Jahrhundert dominant, als die Rolle
des Künstlers auch weniger klar war als früher
zur Erinnerung: bis ins 18. Jahrhundert hinein waren viele Künstler durch Aufträge von Kirche
oder Höfen 'gebunden', ja gerade die Höfe sahen es als eine ihrer Aufgaben an, die Künste zu
fördern, die sie dann ja auch brauchten, um ihre eigene Geschichte verherrlichend darstellen zu
lassen
=> die meisten Kunstakademie wurden in der Nähe von Höfen gegründet – und das sah man
auch

1
links: auf dem Gemälde von Schönfeld sind die Eleven im Stil der hohen französischen
Gesellschaft gekleidet
rechts: auch mehr als hundert Jahre später (gegen Ende des 18. Jahrhunderts), auf einem Bild,
das den Aktsaal der Royal (!) Academy in London zeigt, sind die Künstler höfisch gekleidet –
zum Teil sogar mit Perücken
bezeichnend für all diese Akademie-Bilder ist, daß sie eigentlich immer hermetisch
abgeschlossene Räume zeigen, die entweder ganz vom Tageslicht ausgeschlossen sind oder es
in die Höhen verbannen, so daß die Künstler nicht ins Freie blicken können
diese Hermetik spiegelt die Fixierung der Akademien auf Antike, Anatomie und Abzeichnen
wieder – ihren Dünkel gegenüber der alltäglichen Welt, gegenüber allen anderen Sujets – aber
auch: die Akademie als Kaserne, wo Drill regierte, strenges Curriculum, klare 'Lernziele'
so kam es, daß sich die Schüler im Verlauf mehrerer Jahre zwar eine enorme Zeichenroutine
aneigneten, da sie täglich stundenlang irgendetwas abzeichneten, doch drohte der gesamte
Betrieb auch ziemlich mechanisch zu werden
spätestens als die Aufträge von den Höfen nicht mehr so üppig flossen und viele Künstler lernen
mußten, ihren Lebensunterhalt 'autonom' zu verdienen, kam es auch zu einer Krise im
Selbstverständnis – und auch zu einer Krise der Akademien, denen man vorhielt, am Bedarf
vorbei auszubilden
durch die Autonomisierung des Künstlers wurden aber vor allem auch neue Erklärungen für das
schöpferische Tun erforderlich – die vielleicht gerade die gesellschaftliche Randstellung des
Künstlers zu legitimieren oder auch wieder aufzuheben vermochten
auch heute geht es um einen Begriff, der das Spezifische des Künstlers, ja den Grund
künstlerischen Tuns zu fassen versucht – und der seit nun rund hundert Jahren durch viele Kunst-
Debatten geistert
es ist dies der Begriff 'Kunstwollen' – den man sogleich 'intuitiv' zu verstehen glaubt, was wohl
auch seine Popularität erklärt
'Kunstwollen' – das suggeriert, Kunst sei eine Sache des Willens, ein Künstler also jemand, der
über einen stärkeren Willen zur Kunst verfügt als andere Menschen – d. h. jemand, der mehr
Energie, mehr Entschlußkraft besitzt als der Durchschnitt, ja der sich vielleicht durch besondere
Kompromißlosigkeit auszeichnet und bedingungslos Kunst und nur Kunst machen will, ja der
eigensinnig ist und deshalb nicht unbedingt gesellschaftskompatibel
=> dieser Begriff (so ohne weiteres Vorwissen interpretiert) erklärt den künstlerischen Prozeß zu
einem bewußten Akt, ja zu etwas, wozu man sich eigens entschließen kann und muß – was
natürlich voraussetzt, daß man auch weiß, was Kunst ist, ja wozu genau man sich da entscheiden
kann und muß
und spätestens hier beginnt der Begriff schwierig zu werden: was genau will jemand, der Kunst
will – und woher weiß er/sie, was das sein soll? – und: sollte wirklich ein Wissen vom Wesen
der Kunst die Voraussetzung dafür sein, Kunst machen zu können? – hieße das nicht vielmehr,
daß man nur das nachmacht, was bereits als Kunst etabliert ist und ihrem Begriff entspricht,
während es zur Erwartung gegenüber Kunst (zu ihrem Begriff) ja gerade auch gehört, jeweils
etwas Neues zu sein, bestehene Standards zu verändern?
=> 'Kunstwollen' erweist sich im Nu als hoch problematischer Begriff – mit einer 'intuitiven'
Erklärung kommt man nicht sehr weit
=> es empfiehlt sich, zuerst einmal zu überprüfen, woher der Begriff 'Kunstwollen' eigentlich
kommt – und ob er ursprünglich überhaupt das bedeutet, was das Sprachgefühl vermuten läßt
zum Glück besitzt der Begriff einen klar benennbaren Ort seines ersten Auftretens
dieser Ort ist ein Buch, das im Jahr 1901 erstmals erschien und das einen Titel trägt, der nicht
gerade sonderlich spannend oder stimulierend klingt: "Die spätrömische Kunstindustrie nach den
Funden in Österreich-Ungarn, I. Teil"
'Kunstindustrie' ist ein alternatives Wort für 'Kunstgewerbe', d. h. für den Bereich, der
üblicherweise auch als angewandte Kunst bezeichnet wird (Schmuck, Geschirr, Möbel etc.)

2
=> Thema des Buchs war eine Systematisierung archäologischer Funde auf dem Reichsgebiet
von Österreich-Ungarn, die aus der Zeit stammten, da die Römer noch dort siedelten – gemeint
ist die Zeit des 4. bis 8. nachchristlichen Jahrhunderts
Autor dieses Buchs ist Alois Riegl (1858-1905), der zuerst am Österreichischen Museum für
Kunst und Industrie als Kustos für Textilien arbeitete und später Professor für Kunstgeschichte
an der Wiener Universität wurde
das Buch über die spätrömische Kunstindustrie war eine Auftrags- oder Pflichtarbeit in seiner
Funktion als Museumsmitarbeiter – zugleich Teil eines größeren Projekts über antike Funde,
wobei das Material auf mehrere Autoren verteilt wurde – auf Riegl fiel das spätantike
Kunstgewerbe
allerdings: das Gesamtprojekt kam nie an ein Ende, allein Riegls Band erschien
dieser jedoch fiel ziemlich anders aus, als Titel und Projekt vermuten lassen, ja ist bei strenger
Betrachtung beinahe eine Themaverfehlung (er selbst sprach von "Inkongruenz zwischen Titel
und Inhalt" (2))
statt sich allein einer positivistischen Aufarbeitung jener spätrömischen Kunstindustrie zu
widmen, unternimmt es Riegl vielmehr, die gesamte spätantike Kunst zu untersuchen und daran
zugleich allgemeine Überlegungen zur Entwicklung der Kunst zu knüpfen
=> insofern handelt es sich zumindest implizit um ein höchst kunsttheoretisches Buch – von
mehr als 400 Seiten gelten gerade mal etwas mehr als 100 dem eigentlichen Thema
der Begriff des Kunstwollens wird schon auf den ersten Seiten eingeführt – allerdingt zuerst
nicht besonders prononciert
zum Zusammenhang: Riegl erklärt gleich zu Beginn, eine Aufreihung von Einzelfunden
interessiere ihn nicht – ihm gehe es dafür darum, "die leitenden Gesetze der Entwicklung in der
spätrömischen Kunstindustrie" aufzuzeigen (2)
=> diese ist nur ein Beispiel für ihn, um so etwas wie allgemeingültige Gesetze des
Kunstschaffens zu analysieren
=> dahinter steht die Überzeugung, daß die Kunst ein Bereich ist, der nach Gesetzen abläuft –
ähnlich wie die Natur: wie sich eine Pflanze nach einem bestimmten genetischen Programm
entwickelt, ja wie man einzelne Phasen ihrer Entwicklung allgemein beschreiben kann, soll auch
die Geschichte Kunst einer verbindlichen Bahn folgen
mit einer solchen Auffassung stand Riegl zu seiner Zeit alles andere als allein – vielmehr war es
'common sense', die Kunst als etwas Organisches und daher auch als etwas bestimmten
Gesetzmäßigkeiten Unterworfenes anzusehen
strittig waren hingegen die Faktoren der Entwicklung, ja sozusagen die Motoren der Geschichte
der Kunst
Riegl distanziert sich in seinem Buch explizit von einer Theorie, die zur Mitte des 19.
Jahrhunderts prominent von dem Architekten und Kunsttheoretiker Gottfried Semper (1803-79)
vertreten worden war
dieser hatte das Kunstwerk als Produkt aus Gebrauchszweck, Rohstoff und Technik bestimmt,
also eine bewußt sehr nüchterne, antiromantische Vorstellung propagiert
=> die mit einem Werk verbundenen Zwecke, die Wahl des Materials und dessen technische
Beherrschung sind hier die determinierenden Faktoren
=> zu einer Entwicklung der Kunst kommt es, wenn sich die Zwecksetzungen ändern, neue
Materialien ins Spiel kommen oder erweiterte technische Möglichkeiten neue
Bearbeitungsweisen erlauben
=> insgesamt wird die Kunstgeschichte ähnlich wie die Technikgeschichte als klare
Fortschrittsgeschichte gesehen
diese Auffassung teilte auch Riegl, der sogar behauptete, so etwas wie Verfall gebe es in der
Geschichte gar nicht (11) – der aber Semper dennoch widersprach:
"Im Gegensatze zu dieser mechanistischen Auffassung [Gottfried Sempers] habe ich (...) eine
teleologische vertreten, indem ich im Kunstwerke das Resultat eines bestimmten und

3
zweckbewußten Kunstwollens erblickte, das sich im Kampfe mit Gebrauchszweck, Rohstoff und
Technik durchsetzt. Diesen drei letzteren Faktoren kommt somit nicht mehr jene positiv-
schöpferische Rolle zu, die ihnen die sogenannte Sempersche Theorie zugedacht hatte, sondern
vielmehr eine hemmende, negative: sie bilden gleichsam die Reibungskoeffizienten innerhalb
des Gesamtprodukts."1
> anstatt die Kunst aus äußeren Faktoren zu erklären, unterstellt Riegl ein "zweckbewußtes
Kunstwollen", d. h. die ausdrückliche Intention des Schaffenden, Kunst zu machen – bei einer
Theorie à la Semper ist Kunst hingegen eher Folge eines professionellen und zweckmäßig-
sachgerechten Umgangs mit dem jeweiligen Werkstoff – das Können steht hier vor und über
dem Wollen – die Akademien waren der Ort, an dem dieses Können vermittelt werden sollte
(Anatomie, Antikenkunde, Zeichnen, später auch Werktechniken)
> dieses "zweckbewußte Kunstwollen" wird von Riegl aber interessanterweise "im Kampfe"
mit jenen äußeren Faktoren gesehen, d. h. das Material, das Know-How, aber natürlich auch
die externen Zwecksetzungen sind Widerstände, ja Instanzen, die das Kunsthafte eher
hämmen oder einschränken
dahinter steht offenbar die Vorstellung, daß die Kunst im Geist bzw. Bewußtsein des
Künstlers bereits vollständig entwickelt präsent ist, in der realen Umsetzung aber auf
Hindernisse stoßen kann – wenn z. B. die Eigenschaften des Werkstoffs bestimmte Fakturen
nicht zulassen (etwa Ton nicht beliebig dünn geformt werden kann, ohne zu brechen) oder
wenn eine Zweckvorgabe eine bestimmte Gestaltung nicht erlaubt (etwa der Auftrag, ein
Altarbild zu malen, Freizügigkeit verbietet)
=> was real als Kunst vorliegt, ist oft nur ein Kompromiß, ein Abglanz gegenüber dem
'eigentlich' Gewollten
bei großer Kunst hingegen hat sich das Kunstwollen 'durchgesetzt', alle Widerstände
überwunden und sich die äußeren Faktoren gar dienstbar gemacht
doch als Eindruck von Riegls Theorie bzw. Charakteristik bleibt: Kunst ist eine heroische
Leistung, eine Willensanstrengung, etwas, das gegen äußere Widerstände abgetrotzt werden
muß
=> der Künstler erscheint als heldenhafte Gestalt, natürlich auch als männlich codiertes
Ausnahmewesen, nietzscheanisch 'gestylt'
bekanntlich sprach Nietzsche vom "Willen zur Macht", der unter anderem auch ein Wille zur
Kunst war
sein oft als Hauptwerk bezeichnetes Buch "Der Wille zur Macht" erschien jedoch erst
posthum, als Zusammenstellung von Fragmenten – die erste Ausgabe im selben Jahr wie
Riegls "Spätrömische Kunstindustrie", nämlich 1901
pathetisch ist hier etwa davon die Rede, daß die Künstler "Krafttiere" seien, stark und
überschüssig (§ 800)
ferner heißt es:
"Die Größe eines Künstlers bemißt sich nicht nach den 'schönen Gefühlen', die er erregt: das
mögen die Weiblein glauben. Sondern nach dem Grade, in dem er sich dem großen Stile
nähert, in dem er fähig ist des großen Stils. Dieser Stil hat mit der großen Leidenschaft
gemein, daß er es verschmäht zu gefallen; daß er es vergißt zu überreden; daß er befiehlt; daß
er will..."2
> der Künstler wird hier als willensstarker Tyrann gezeichnet, der durchaus gewaltsam allem
seinen Stil aufdrückt, ja der es versteht, alles nach seinen Vorstellungen zu gestalten, der alle
Widerstände überwindet und Rücksichtnahmen hintanstellt
Riegl konnte Äußerungen wie diese nicht kennen, als er seinen Begriff des 'Kunstwollens'
prägte, aber es zeigt sich darin zumindest derselbe Zeitgeist

1
Alois Riegl: Die spätrömische Kunstindustrie nach den Funden in Österreich-Ungarn, I. Teil (1901), Berlin 2000,
S. 9.
2
Friedrich Nietzsche: Der Wille zur Macht, § 842.

4
vor allem aber erklärt sich der Erfolg von Riegls Begriff aus dem Zeitgeist der
Jahrhundertwende, der Nietzsche zunehmend zum Idol erhob [Dia links] [Dia rechts]
ein Exlibris aus dem Jahr 1907 zeigt einen entsprechend heroisierten Nietzsche – mit
kräftigen Muskeln, auf einem exponierten Felsen sitzend, einsam, erhaben über die Welt, den
Kopf im Himmel, über allen Gipfeln, dort, wo die Luft schon dünn, die Lebensbedingungen
höchst unwirtlich sind, vor allem auch mit trotzig-willensstarkem Gesichtsausdruck
=> hier sieht man das Krafttier, das vor allem will
Nietzsche und Riegl ist auch gemein, daß sie den Willen nicht nur als Eigenschaft eines
Individuums ansehen, sondern daß sie ihn zu einem Grundprinzip erheben, ja daß sie damit
den Gang der Geschichte, die Veränderung und Entwicklung der Welt, überhaupt deren
äußere Gestalt erklären
=> das Kunstwollen ist für Riegl eine gleichsam überzeitlich wirksame Instanz, vergleichbar
dem Geschlechtstrieb oder dem Überlebenswillen – etwas, das tief im Menschen an sich
verankert ist und dessen Differenz zum Tier markiert – etwas, das höchstens in seiner
Intensität von Mensch zu Mensch und vielleicht auch von Kultur zu Kultur differiert
wie er das Kunstwollen in die grundsätzliche Verfaßtheit des Menschen eingeordnet sieht,
wird an einer anderen Passage seines Buchs deutlich:
"Alles Wollen des Menschen ist auf die befriedigende Gestaltung seines Verhältnisses zu der
Welt (...) gerichtet. Das bildende Kunstwollen regelt das Verhältnis des Menschen zur
sinnlich wahrnehmbaren Erscheinung der Dinge: es gelangt darin die Art und Weise zum
Ausdruck, wie der Mensch jeweilig die Dinge gestaltet oder gefärbt sehen will (...). Der
Mensch ist aber nicht allein ein mit Sinnen aufnehmendes (passives), sondern auch ein
begehrendes (aktives) Wesen, das daher die Welt so ausdeuten will, wie sie sich seinem (nach
Volk, Ort und Zeit wechselnden) Begehren am offensten und willfährigsten erweist. Der
Charakter dieses Wollens ist beschlossen in demjenigen, was wir die jeweilige
Weltanschauung (...) nennen: in Religion, Philosophie, Wissenschaft, auch Staat und Recht,
wobei in der Regel eine der genannten Ausdrucksformen über alle andern zu überwiegen
pflegt."3
> das Kunstwollen befriedigt die rezeptive Seite des Menschen: es sorgt dafür, daß er von
einer Welt umgeben ist, die seinem Geschmack entspricht, die ihm gefällt, in der er sich wohl
fühlt oder wiederfinden kann
das heißt aber auch: das Kunstwollen bezieht sich nicht nur auf das Malen von Bildern, die
Anfertigung von Skulpturen oder die Architektur, sondern umfaßt genauso alles andere, was
sinnlich affiziert, d. h. der Mensch gestaltet auch seinen Körper oder die Natur nach seinen
Geschmacksvorstellungen – jede Mode ist bereits Dokument des Kunstwollens
Riegl spricht hier ja ausdrücklich vom 'bildenden' Kunstwollen, das für's visuelle
Erscheinungsbild der Welt verantwortlich ist – daneben gibt es für ihn z. B. auch ein
poetisches Kunstwollen, das dafür sorgt, daß die Welt so beschrieben wird, wie sie gefällt, ja
daß das sinnlich Wahrnehmbare in eine angemessene sprachliche Form gebracht wird
doch nicht nur die rezeptive Seite des Menschen will bedacht sein – vielmehr gibt es für Riegl
auch einen Willen zur Ausdeutung der Welt, zu ihrem Verstehen, ja danach, sie sich so
zurechtzulegen, daß sie sinnvoll erscheint
dieser Wille zur Ausdeutung spiegelt sich in verschiedenen Formen von Weltanschauung, die
Riegl benennt – und die je nach Zeit und Umständen sehr unterschiedlich ausfallen können (z.
B. religiöse vs. wissenschaftliche Weltauffassung)
=> das Kunstwollen und der Wille zur Ausdeutung sind für Riegl die beiden Grundformen
des Willens, die beiden Motoren aller menschlichen Kulturgeschichte, die gleichsam in
Dauerbetrieb sind, ja ohne die nichts denkbar wäre

3
Riegl, a. a. O., S. 401.

5
=> der Begriff des Kunstwollens ist hier sehr weit gefaßt, meint nicht nur etwa die 'hohe'
Kunst, sondern umfaßt jede Gestaltung, das gesamte Feld des Ästhetischen (wie ja auch der
Zusammenhang von Riegls Begriffsbildung, die spätrömische Kunstindustrie, schon nahelegt)
insofern muß man Riegls Verwendung des Begriffs auch von jenem zuerst skizzierten
umgangssprachlichen Vorverständnis abgrenzen, das stärker daraufhin orientiert ist, im
Kunstwollen etwas zu sehen, das einen spezfischen Ehrgeiz zum Großen und Hohen und
zugleich eine Distanzierung von allem Profanen, bloß irgendwie Schönen meint
in der Rezeptionsgeschichte von Riegls Begriff spielt dieses emphatische Moment des Kunst-
Wollens (im Unterschied zu anderen Formen des Ästhetischen) tatsächlich eine starke Rolle
es war vielleicht nicht zuletzt die jeweils eigene Sehnsucht nach der Kunst, nach etwas
Großem, Heiligem, Unalltäglichen, warum sich viele Autoren, die fortan vom Kunstwollen
sprachen, in diesen Begriff verliebten und ihn zugleich verengten, ja mit Pathos aufluden
(man braucht nur einmal nach dem 'Kunstwollen' googlen und findet allerlei ziemlich
schwärmerische Belege...)
dies deutete sich bereits wenige Jahre nach dem Erscheinen von Riegls Buch über die
spätrömische Kunstindustrie an – in einem der ersten Werke, das die dortige Terminologie
aufgriff und ausführte und das zugleich ein großer publizistischer Erfolg war (was man von
Riegls Werk nicht behaupten kann)
hierbei handelt es sich um eine Doktorarbeit – eine der meistgelesenen Doktorarbeiten des 20.
Jahrhunderts – ihr Autor: Wilhelm Worringer, der 1906 mit einer Arbeit unter dem Titel
"Abstraktion und Einfühlung" promoviert wurde, die dann zwei Jahre später im Druck
erschien
Worringer erklärt sich bereits auf den ersten Seiten den Anschauungen Riegls verpflichtet –
und macht aus dem Kunstwollen gleich ein "absolutes Kunstwollen" – er schreibt:
"Unter 'absolutem Kunstwollen' ist jene latente innere Forderung zu verstehen, die, gänzlich
unabhängig von dem Objekte und dem Modus des Schaffens, für sich besteht und sich als
Wille zur Form gebärdet. Sie ist das primäre Moment jedes künstlerischen Schöpfens und
jedes Kunstwerk ist seinem innersten Wesen nach nur eine Objektivation dieses a priori
vorhandenen absoluten Kunstwollens. Die kunstmaterialistische Methode (...) sah im (...)
Kunstwerk ein Produkt der drei Faktoren: Gebrauchszweck, Rohstoff und Technik. Die
Kunstgeschichte war für sie im letzten Grunde eine Geschichte des Könnens. Die neue
Anschauung dagegen betrachtet die Entwicklungsgeschichte der Kunst als eine Geschichte
des Wollens, von der psychologischen Voraussetzung ausgehend, dass das Können nur eine
sekundäre Folgeerscheinung des Wollens ist. Die Stileigentümlichkeiten vergangener
Epochen sind also nicht auf ein mangelndes Können, sondern auf ein anders gerichtetes
Wollen zurückzuführen."4
> das 'Absolute' des Kunstwollens besteht ganz wörtlich darin, daß es losgelöst ist von
irgendwelche äußeren Bedingungen (es folgt allein einer "inneren Forderung"!) – es ist ein
allgemeiner "Wille zur Form" (was schon wieder nach Nietzsche klingt, den Worringer im
Unterschied zu Riegl auch gewiß kannte)
> das Kunstwollen ist "a priori" vorhanden, d. h. der Mensch kommt dazu nicht erst durch
seine Sozialisierung, etwa dadurch, daß er andere Kunstwerke sieht, die er nachzuahmen
versucht – auch bei Worringer gilt: das Kunstwollen als ein Urtrieb des Menschen
> ebenfalls parallel zu Riegl: die Distanzierung vom Materialismus à la Semper, d. h. von der
Vorstellung, daß äußere Umstände oder antrainierte Fertigkeiten über den Kunstwert einer
Sache bestimmen
> pointierter als bei Riegl: das Können ist eine "sekundäre Folgeerscheinung", ergibt sich also
gleichsam zwangsläufig aus dem Wollen: wer unbedingt eine bestimmte Welterfahrung in
einem bestimmten Material oder einer bestimmten Faktur umsetzen will, wird das auch

4
Wilhelm Worringer: Abstraktion und Einfühlung (1908), München 1910, S. 10f.

6
schaffen – wenn nicht, dann hat's nicht an fehlendem Können gelegen, sondern an zu
schwachem Wollen
das heißt umgekehrt auch: die Vermittlung technischer Fertigkeiten bringt nichts bei denen,
die kein hinreichend starkes Kunstwollen haben – ihre Werke sind dann zwar technisch
perfekt, aber langweilig, nur 'äußerlich'
man sieht: die Vorstellung von künstlerischem Schaffen, die Worringer, basierend auf Riegl,
entwickelt, findet sich heute in der Praxis an Kunsthochschulen wieder: es gibt als nicht
erforderlich oder vielleicht sogar als nicht sinnvoll, bestimmte technische Qualifikationen als
obligatorisch auszugeben, ja den Studierenden ein Curriculum abzuverlangen, innerhalb
dessen sie ein klar definiertes Know-How, sozusagen Standards der Kunst lernen (dies im
Unterschied zu früher!)
tatsächlich: das Lernen wird als sekundär angesehen – man agiert nach der Maxime: wer
etwas will, wird sich das dazu Erforderliche schon aneignen – eine Kunsthochschule ist
entsprechend ein Ort, an dem viele Möglichkeiten bereitgehalten werden, wo aber das
Kunstwollen jedes einzelnen anerkannt wird
mit der Priorisierung des Wollens gegenüber dem Können ist ein Paradigmenwechsel
verbunden – erstmals wird es möglich, daß ein Künstler unabhängig von der Professionalität
und von technischen Standards seiner Werke geschätzt werden kann
auch wer schlecht malt oder gegen Geschmacksideale verstößt oder ohne maximale Sorgfalt
agiert, kann etwas vorlegen, was als eindrucksvolles Dokument des Kunstwollens fungiert
vielleicht hat unprofessionelle Kunst sogar den Vorzug, daß sie nicht mit bloß sekundären
Eigenschaften zu blenden versucht – anstatt auf Effekte aus zu sein oder Bewunderung wegen
stupender Technik etc. einzufordern, reduziert ein dilettantisch auftretender Künstler die
Aufmerksamkeit auf sein Kunstwollen, ja bringt – so zumindest die zur letzten
Jahrhundertwende aufkommende Vorstellung – den künstlerischen Gehalt seines Werks
unverstellt, ehrlich und authentisch zum Vorschein
(schon bei der Mappenauswahl zählt oft weniger das handwerkliche Vermögen, das ein
Kandidat unter Beweis stellt, sondern eher der Impetus, die Haltung, die man aus dem
Vorgelegten zu ersehen meint)
kein Zufall: zur selben Zeit hatten erstmals Autodidakten und Kunstlaien die Chance, mit
ihren Werken ernst genommen zu werden, ja gerade sie wurden als authentische 'Willenstäter'
gesucht und geschätzt [Dia links: Rousseau, Tiger fällt einen Büffel an (1908)] [Dia rechts:
Rousseau, Selbtsbildnis (1890)]
z. B. Henri Rousseau, der nie eine akademische Ausbildung erfuhr – und bis zum Alter von
49 nur nebenbei malte – ihn schätzten viele Künstler der Avantgarde als besonders stark ein –
gerade weil er aus einem kunstfernen Milieu stammte, galten seine Bilder als Beleg eines
starken – 'absoluten' – Kunstwollens
daß er stilistisch ganz eigen war, unterstrich seine Unabhängigkeit von äußeren Vorgaben,
technischen Anforderungen etc. – das pure Kunstwollen fand hier seinen Ausdruck
wichtig auch die Nähe zur Volkskunst als urtümlicher, echter Kunst [Dia links: Rousseau,
Blumen (1890)] [Dia rechts: Rousseau, Vertreter auswärtiger Mächte kommen, um der
Republik im Zeichen des Friedens zu huldigen (1907)]
Rousseau starb 1910, aber schon zu Lebzeiten wurde er groß gefeiert, ein Jahr nach seinem
Tod gab es eine große Gedächtnisausstellung in Paris (Salon des Indépendants) und eine erste
Biographie (von Wilhelm Uhde, einem der einflußreichsten Kunstsammler und -kritiker der
Zeit)
auch jemand wie Arnold Schönberg, der neben seiner kompositorischen Arbeit malte, wurde
gerade von bildenden Künstlern begeistert rezipiert – als Beleg für die autonome Kraft des
Kunstwollens, das sich ganz unabhängig von äußeren Umständen Bahn bricht
vor allem öffnete die Abwertung von Materialbeherrschung und technischer Avanciertheit
auch den Blick für sogenannte primitive Kulturen und deren Werke, ja die Primitivität war

7
nicht länger ein Problem, sondern galt im Gegenteil ebenfalls als Chance, das Kunstwollen
ganz direkt wahrnehmen zu können
=> ohne jenen Paradigmenwechsel vom Können zum Wollen wäre die Faszination, die viele
Künstler, aber auch Sammler für Plastiken aus Afrika oder Werke der Azteken entwickelten,
kaum zu erklären
und wenn sich zahlreiche Künstler ihrerseits diesen Formsprachen annäherten und bewußt das
Primitive suchten, war das ebenfalls ein Versuch, das Kunstwollen möglicht elementar zum
Ausdruck zu bringen [Dia links: Picasso, Figur (1907)] [Dia rechts: Modigliani,
Frauenkopf (1909)]
=> der Begriff des Kunstwollens wirkte enorm befreiend – er entpflichtete die Künstler nicht
nur von technischen Fertigkeiten, sondern auch von einem traditionellen Anspruch wie
Naturnachahmung, der ja ebenfalls viel mit Know-How zu tun hatte (wie schafft man es,
illusionistische Effekte zu erzeugen, den dreidimensionalen Raum in ein zweidimensionales
Bild umzusetzen etc.)
=> der Begriff des Kunstwollens kam gerade den Künstlern entgegen, die sich auf die
Abstraktion zubewegten
hierfür war vor allem auch Wilhelm Worringer verantwortlich, was der Titel seiner
Doktorarbeit ja bereits andeutet
mit den beiden Begriffen 'Abstraktion' und 'Einfühlung' ging es ihm um eine Differenzierung
des Rieglschen Kunstwollens – er wollte zwei Grundformen beschreiben und insbesondere
auf den Wert der Abstraktion aufmerksam machen
während sich der Einfühlungsdrang (Worringer spricht auch gerne vom Trieb!) gerade im
Streben nach Mimesis und Nachahmung manifestiert – man genießt das Wiedererkennen
einer bekannten Welt und letztlich sich selbst als Teil dieser Welt –, gibt es eine zweite
Ausprägung des Kunstwollens, die sich im Abstraktionsdrang äußert
"Wie weit der Abstraktionsdrang das Kunstwollen bestimmt hat, können wir (...) an den
Kunstwerken ablesen. Dabei finden wir, dass das Kunstwollen der Naturvölker, (...) dann das
Kunstwollen aller primitiven Kunstepochen und schliesslich das Kunstwollen gewisser
entwickelter orientalischer Kulturvölker diese abstrakte Tendenz zeigt. Der Abstraktionsdrang
steht also am Anfange jeder Kunst und bleibt bei gewissen auf hoher Kulturstufe stehenden
Völkern der herrschende..."5
> das Kunstwollen äußert sich zuerst als Abstraktionsdrang, d. h. als Vorliebe für
ornamentale, geometrische, kurzum: nicht-mimetische Formen der Gestaltung
> indem der Abstraktionsdrang die erste Äußerung des Kunstwollens ist, ist es auch die
authentischste – diese Wertung spricht Worringer zwar nicht explizit aus, sie ist aber implizit
überall präsent
> als erste Äußerung des Kunstwollens kann der Abstraktionsdrang auch immer wieder zum
Ausbruch kommen, ja jeder Neuanfang ist davon gekennzeichnet
=> anders als viele die Entwicklung der Kunst beschreiben würden, sieht Worringer diese
nicht als einen Fortgang vom Naturalismus, ja von der Naturnachahmung hin zu einer
allmählichen Abstraktion, sondern diese als abrupten Neustart, als etwas wieder
Ursprüngliches, ganz Frisches, als Beginn eines neuen Lebenskreises der Kunst – oder auch
als geläuterte Rückkehr zu den Anfängen, als Überwindung eines von Wissenschaft, Technik,
Rationalismus geprägten Zeitalters
gerade indem er die damals zeitgenössischen Tendenzen zur Abstraktion in die Nähe des
Primitiven rückte, machte er den betreffenden Künstlern das größte Kompliment: sie konnten
sich als heroische Gründungsväter einer neuen Epoche begreifen
das heroische Moment ergibt sich auch aus Worringers Beschreibung der Umstände, unter
denen der Abstraktionsdrang jeweils auflebt:

5
Ebd., S. 19.

8
"Welches sind nun die psychischen Voraussetzungen des Abstraktionsdranges? Wir haben sie
im Weltgefühl der Völker, in ihrem psychischen Verhalten dem Kosmos gegenüber zu
suchen. Während der Einfühlungsdrang ein glückliches pantheistisches
Vertraulichkeitsverhältnis zwischen dem Menschen und den Aussenwelterscheinungen zur
Bedingung hat, ist der Abstraktionsdrang die Folge einer grossen inneren Beunruhigung des
Menschen durch die Erscheinungen der Aussenwelt (...). Diesen Zustand möchten wir eine
ungeheure geistige Raumscheu nennen. Wenn Tibull sagt: primum in mundo fecit deus timor
[= als erstes in der Welt schuf Gott die Angst], so lässt sich dieses selbe Angstgefühl auch als
Wurzel des künstlerischen Schaffens annehmen."6
> Angst als Motor der Kunst – die Künstler als Menschen, die existenzieller als andere
empfinden – und sich nur noch damit helfen können, daß sie gestalterisch tätig werden
warum aber gerade in abstrahierenden Formen?
für Worringer besitzt allein das Abstrakte die Klarheit und Ruhe, welche nötig sind, um den
Menschen aus der Angst zu erlösen
=> Abstraktion als Beruhigung, schafft die Illusion einer Welt, in der alles geordnet zugeht, in
der nichts Unvorhergesehenes droht, die beherrschbar scheint
anders formuliert: glückliche Zeitalter können dem Einfühlungsdrang nachgeben, die
Menschen sich dann spielerisch in der Welt verlieren, sich in den Dingen spiegeln und dies
alles genießen – in weniger glücklichen Zeitaltern hingegen geht es darum, zumindest einen
sicheren Ort zu schaffen, wo man sich nicht bedroht, nicht an die Gefahren des Alltags
erinnert fühlt
in Unglück und Unsicherheit erfolgt der Rückzug, ja äußert sich jene 'Raumscheu', von der
Worringer spricht
er formulierte diese Gedanken auch vor dem Hintergrund einer Zeitstimmung: der Erste
Weltkrieg lag bereits in der Luft, vor allem aber fühlten sich die Menschen seit der
Industrialisierung entfremdet, bedroht von der Gewalt der Technik, der modernen
Arbeitswelt, den Erkenntnissen der Naturwissenschaft
die beginnende Abstraktion in der Kunst war Worringer direkter Ausdruck dieser von
Ängsten begleiteten Entfremdungserfahrungen
wie sehr er mit seinen Überlegungen auch das Empfinden anderer traf oder aber auf deren
Deutung der Abstraktion Einfluß nahm, belegt z. B. eine Tagebuchaufzeichung von Paul
Klee, die er 1914, kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs, niederschrieb:
"Je schreckensvoller diese Welt (wie gerade heute), desto abstrakter die Kunst, während eine
glückliche Welt eine diesseitige Kunst hervorbringt."7 [Dia links: Klee, Im Steinbruch
(1913)] [Dia rechts: Klee, Motorisches einer Landschaft (1914)]
Klee reflektierte mit einer solchen Äußerung, daß seine eigene Kunst gerade zu der Zeit viel
abstrakter wurde – sein Frühwerk ist noch ganz dem Gegenständlichen verhaftet; erst ab 1914
ist das Gegenständliche nur noch Zugabe, ein letztes Zugeständnis an das 'Diesseitige', aber
nicht mehr die Grundlage des bildnerischen Denkens – oder des Kunstwollens
schon 1911 hatte er in einem Brief Sympathie für Worringers Thesen geäußert und vor allem
gelobt, daß dieser die Kunst als eine Welt für sich, unabhängig von der Natur sehe und dem
Primitiven Wertschätzung entgegenbringe
gerade durch seine Aufwertung des Primitiven, ja der Werke früher und außereuropäischer
Kulturen bestätigte Worringer im übrigen nochmals den prinzipiellen Charakter des
Kunstwollens, wie er schon von Riegl postuliert worden war: das Kunstwollen ist eine genuin
menschliche Eigenschaft, nicht beschränkt auf bestimmte Zeiten und Kulturen – nur
individuell verschieden stark ausgeprägt
das heißt auch: die Werke aller Zeiten und Kulturen haben etwas gemeinsam, sind
miteinander vergleichbar – sofern sie Abstraktes bieten, ist diese Vergleichbarkeit um so
6
Ebd., S. 19f.
7
Paul Klee: Tagebücher 1898-1918, Köln 1957, S. 323 (Nr. 951).

9
besser gegeben, ja darin spiegelt sich in immer neuen Varianten die immer selbe Angst,
dassselbe existenzielle Unsicherheitsgefühl (anders als bei Riegl ist ein Fortschrittsbegriff
nicht mehr im Spiel!)
Worringer (wie schon Riegl) beschäftigte sich viel mit dem Ornament als einer Hauptform
des Abstrakten, die zudem tatsächlich kultur- und epochenübergreifend überall zu finden ist –
und die die Überlegung besonders plausibel erscheinen läßt, die Abstraktion diene der
Beruhigung, der Kompensation – die Regelmäßigkeit des Rapports eines Ornaments, seine
Gleichförmigkeit wirkt zuverlässig und stabil
er eröffnete mit seinen Überlegungen aber auch vielen Künstlern der Zeit die Chance, ihre
Arbeit in den großen Strom der Kunstgeschichte eingebettet zu sehen, ja sie direkt mit den
Werken fremder Kulturen oder ferner Epochen kurzzuschließen – und damit nicht zuletzt
gegenüber denjenigen zu legitimieren, die das Abstrakte nur als billige Schmiererei, als
dilettantische Attitüde abqualifizierten
zu denen, die von Worringers Gedankengut besonders beeinflußt waren, gehörte nicht zuletzt
Wassily Kandinsky, der ja auch oft als derjenige gilt, der das erste abstrakte Bild gemalt hat,
der darin aber eine konsequente Fortsetzung seiner Orientierung an der Volkskunst sah [Dia
links: Kandinsky, Reitendes Paar (1907)] [Dia rechts: Kandinsky, Berg (1909)]
auch er war auf der Suche nach dem 'Authentischen', dem reinen Kunstwollen – und er fand
es in eher kunstgewerblichen Formen wie der bäuerlichen Hinterglasmalerei genauso wie in
der Geschichte der Abstraktion und des Ornaments [Dia links: Kandinsky, Abendmahl
(1910) (Hinterglasbild)] [Dia rechts: Improvisation 9 (1910)]
in seinem reichhaltigen schriftlichen Werk taucht zwar die Vokabel 'Kunstwollen' nicht direkt
auf, die intellektuelle Nähe zu diesem Begriff ist jedoch immer wieder spürbar – so etwa an
folgendem Textstück aus dem Jahr 1920:
"In der Kunst wird immer etwas ganz Unterschiedliches gemacht. Und immer ein und
dasselbe. Der 'Wilde', der mit einem spitzen Stein etwas in einen Knochen ritzt, die Bemalung
des Tuches der eingehüllten Mumien mit den allereinfachsten Erdfarben, die dürftigen
Materialien der Kunst, die durch ein Wunder geborenen Sphinxen, die vielschichtigen
Prozesse in der Temperamalerei der alten Meister, die Arsenale der Farben und der Mittel des
zeitgenössischen Malers, Bildhauers, Architekten – es sind dies Verschiedenartigkeiten, die
im langsamen Verlauf der Jahrhunderte geschaffen wurden. Der zeitgenössische Künstler
indes, der ein Werk des 'Wilden' in der Hand hält, vertieft sich zitternd und bebend in dessen
unfaßbaren künstlerischen Wert und vergißt darüber den gegenwärtigen Reichtum der
Technik sowie die bescheidenen technischen Mittel des 'Wilden'. Die Jahrhunderte
verwischen sich. Alle Errungenschaften erscheinen unbedeutend. Es gibt keine
Vorwärtsbewegung. Die Kunst schreitet voran. Durch eine unfaßbare Unruhe unerbittlich
angetrieben, übernimmt der Künstler keine fertige Form, er greift zu keinem erprobten Mittel,
das sich als ewig gültig erwiesen hat, sondern er sucht nach seinen eigenen Mitteln, und wenn
er sie gefunden hat, schafft er etwas, was es noch nie gegeben hat. Eine neue, ungeahnte
Freude entsteht. Jener sieht fürwahr die Kunst, der nicht der Jahrhunderte eingedenk ist. Vor
ihm stürzen alle Mauern und Wände nieder, und die Kunst schenkt ihm das, was nur die
Kunst schenken kann."8
> auch Kandinsky betont, daß äußere Kriterien wie die Technik oder Materialbeherrschung
nicht entscheidend für den künstlerischen Wert sind, ja sogar vom Blick auf diesen ablenken
> die Kunst unterliegt damit auch keinem (technischen) Fortschritt – aber sie schreitet voran,
d. h. sie ist von einem 'inneren Motor' getrieben
> diesen 'Motor' bestimmt auch Kandinsky als "Unruhe", als jene Angst, die den Menschen
gemäß Worringer erst dazu bringt, sich eine Gegenwelt der Kunst – der Abstraktion – zu
schaffen
8
Wassily Kandinsky: Text ohne Titel (1920) (russisches Typoskript), zit. nach Reinhard Zimmermann: Die
Kunsttheorie von Wassily Kandinsky, Bd. II, Dokumentation, Berlin 2002, S. 604f.

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> sofern die Kunst jeweils von einer existenziellen Situation ihren Ausgang nimmt, bedeutet
sie auch jeweils einen Neuanfang – der Künstler rekurriert nicht auf tradierte Erfahrungen,
sondern drückt seine individuelle Befindlichkeit aus – das Wollen ist eindeutig wichtiger als
das Können!
> daß alle authentische Kunst demselben Kunstwollen entspringt, erlaubt auch eine
beglückende Rezeptionserfahrung: alles schließt sich zu einer Einheit zusammen, das
scheinbar Entfernteste gehört zusammen, es gibt keine Trennung – und es gibt Erlösung, weil
eine aus Unruhe entstandene (abstrakte) Kunst als Heilmittel wirkt und einen Ort der Ruhe
stiftet
Kandinsky verklärt die Kunst geradezu – sie kann den Menschen aus seiner Sicht mehr
beschenken als alles andere – mit etwas, das sich offenbar gar nicht genau beschreiben läßt,
das aber zu pauschaler Begeisterung Anlaß gibt ("zitternd und bebend", "unfaßbar")
=> aus dem Text ist eine Faszination an der Kunst herauszulesen, auch ein Bedürfnis, sie 'an
sich selbst' freizulegen, indem von allem Sekundären abgesehen wird
allerdings: daß das Wollen gegenüber dem Können betont wurde, ja daß die Werke primitiver
Kulturen mit den eigenen Arbeiten gleichgesetzt wurden, machte die abstrakte Kunst sowie
viele andere Strömungen der Moderne natürlich auch angreifbar
es wurde den Gegnern leicht gemacht, zu polemisieren und das 'Primitive' im
umgangssprachlichen Sinn zu verstehen – und entsprechend nicht als besonders authentisch
und existenziell zu würdigen, sondern als besonders dilettantisch und hilflos zu denunzieren
'Kunstwollen' konnte so auch zu einem Begriff für Unvermögen werden – als Bezeichnung
für das Phänomen, daß jemand gerne Kunst machen würde, es aber nicht schafft, ja an den
äußeren Widerständen scheitert, so daß es beim guten Willen dazu bleibt – in Riegls
Terminologie: der Kampf wird dann verloren
=> 'Kunstwollen' als unartikulierte Äußerung, als beinahe animalische Regung
tatsächlich richtete sich die Kampagne der Nazis gegen 'Entartete Kunst' nicht nur gegen
Künstler wie Klee oder Kandinsky, sondern insbesondere auch gegen die Priorisierung des
Wollens gegenüber dem Können – man sah in der Moderne viele Künstler, die aufgrund einer
'Entartung' jenen 'Kampf' verloren hatten, zu schwach waren für die Kunst
1937 erklärte er zur Eröffnung des Hauses der Deutschen Kunst in München – derselben
Stadt, in der dreißig Jahre zuvor Worringers Buch erschien und Künstler wie Klee und
Kandinsky lebten und arbeiteten:
"Ob jemand ein starkes Wollen hat oder ein inneres Erleben, das mag er durch sein Werk und
nicht durch schwatzhafte Worte beweisen. Überhaupt interessiert uns alle viel weniger das
sogenannte Wollen als das Können. Es muß daher ein Künstler, der damit rechnet, in diesem
Haus zur Ausstellung zu kommen oder überhaupt noch in Zukunft in Deutschland aufzutreten,
über ein Können verfügen. Das Wollen ist doch wohl von vornherein selbstverständlich!
Denn es wäre schon das Allerhöchste, wenn ein Mensch seine Mitbürger mit Arbeiten
belästigte, in denen er am Ende nicht einmal was wollte."9
hier wird also jener Paradigmenwechsel ausdrücklich zurückgenommen – und das Können
wieder als erste Tugend des Künstlers inthronisiert

9
Adolf Hitler: Rede zur Eröffnung der 'Großen deutschen Kunstausstellung' (1937), in: Peter-Klaus Schuster (Hg.):
Nationalsozialismus und 'Entartete Kunst', München 1987, S. 251.

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