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Lösen der Bande» (di zhi xian jie) [9] gehört zum
Leben wie die Nacht zum Tag oder die verschiedenen
Glieder zu ein- und demselben Körper. Eine pessimi-
stischere Sicht des Lebens und die Idee des T. als
Übergang in ein weiteres Leben kehrt in China erst
nach seiner Eroberung durch den Buddhismus im 4.
Jh. n.Chr. ein [10].
Allgegenwärtig ist der T. in der altägyptischen Kul-
tur, die von der Auffassung geprägt ist, daß nur aus
dem T. das Leben geboren werden könne. Durch ein
schon zu Lebzeiten errichtetes Grab, das Haus für die
Ewigkeit [11], will der vornehme Ägypter sich selbst
schon als tot und sein Leben als vollendetes Ganzes
vor Augen stellen, sich durch ein tugendhaftes Leben
– und durch Vermeidung der im ägyptischen Toten-
buch (‹Pert Em Hru›) aufgelisteten Verfehlungen –
ins soziale Leben einprägen und durch Mumifizierung
vor dem zweiten, endgültigen T. bewahrt werden
[12].
B. Antike. – 1. Das Wort θάνατος, seit der ‹Ilias›
belegt, mit religiösen und dichterischen Deutungen
vielfach belastet, geht bereits in der Vorsokratik in
die philosophische Sprache ein. Der Sache nach ist
die Frage der ionischen Naturphilosophen nach dem
Ursprung (ἀρχή) des Seienden – sofern sie sich nicht
nur auf das Entstehen, sondern auch auf das Vergehen
der Dinge richtet – ein Versuch, den T. zu begründen,
HWPh: Historisches Wörterbuch der Philosophie
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dammnis [53].
Bereits in der Patristik wird die paulinisch-christli-
che Todesauffassung mit der ihr wesensfremden pla-
tonischen Bestimmung (T. = Trennung der Seele vom
Leib) vermengt. Bei PAULUS sind Leben und T. ent-
gegengesetzte, aber auseinander hervorgehende Kräfte
[54]: In dem Maße, wie das σῶμα πνευματικόν
wächst, erstirbt das σῶμα ψυχικόν [55]. An die Stelle
dieser mythischen Mächte treten jetzt mehrere, nach
dem Art-Gattungs-Schema geordnete Privationsstu-
fen. ‹T› bedeutet nun ganze oder teilweise Negation
des Lebens, welches verstanden wird als Einheit der
Seele mit dem Leib und Gott. So zerfällt – nach der
für das gesamte MA gültigen Fassung AUGUSTINS
– der ganze zeitliche T., in welchem die Seele, von
Leib und Gott getrennt, der Auferstehung harrt, in
einen T., der sie von Gott («mors animae»), und einen
T., der sie vom Leibe trennt («mors corporis»). Ewi-
gen T. («mors aeterna») nennt Augustin jenen im NT
erwähnten zweiten T., bei dem die Seele, von Gott ge-
trennt, aber mit dem Leib verbunden, ewige Strafen
erleidet [56].
Die bei Platon entlehnte Unsterblichkeitslehre be-
reitet den christlichen Denkern eine Reihe von
Schwierigkeiten:
a) Eine unsterbliche Seele kennt strenggenommen
keinen T. Wann kann man von einem Menschen
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bricht.
In der sog. postmodernen Philosophie, die Katego-
rien wie ‹Subjekt›, ‹Identität› und ‹Totalität› kritisch
hinterfragt, wird der T. als jene Negativität gedacht,
an der das absolute Totalitäts- und Identitätsstreben
scheitert. Nach J. DERRIDA ist der T. die Kraft, die
als «différance» die Identität ständig aufschiebt. Das
Verhältnis des Subjekts zu seinem eigenen T. drückt
sich als das «Abwesend- und Unbewußt-Werden des
Subjekts» aus («le devenir-ab-sent et le devenir-in-
conscient du sujet») [168], das dessen Transparenz
und Identität untergräbt. Der T. ist nicht «das einfache
Draußen des Lebens» («le simple dehors de la vie»)
[169]. Er ist vielmehr im Inneren des Lebens als des-
sen Organisationsprinzip am Werk. Hier folgt Derrida
Nietzsche und Freud. Die sogenannte Dekonstruktion,
die Derridas Denken charakterisiert, ist als jene Pra-
xis des «donner-la-mort» zu interpretieren, die dem
Begehren nach Identität und Geschlossenheit nach-
spürt und deren Unmöglichkeit konstatiert, denn der
T. ist das «Prinzip der Ruine» («le principe de ruine»)
[170].
Die Verdrängung des T. zugunsten des Lebens
zieht für J. BAUDRILLARD eine tödliche Starre des
Lebens nach sich; es verkommt zum ökonomischen
Kalkül: «La mort ôtée à la vie, c'est l'opération même
de l'économique – c'est la vie résiduelle» [171]. Die
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[157] a.O.
[158] a.O. [155] 171.
[159] H. MARCUSE: The ideology of death, in: H. FEIFEL
(Hg.): The meaning of death (New York/London 1959,
21965) 64–76, 66; dtsch.: Die Ideol. des T., in: H. EBELING:
Der T. in der Moderne (1979) 106–115, 107.
[160] Zu Utopie und T. vgl. U. DIERSE: Et ego in utopia, in:
F. GRUNERT/F. VOLLHARDT (Hg.): Aufklärung als prakt.
Philos. Festschr. W. Schneider (1998) 369–375.
[161] MARCUSE, a.O. [159] 69/dtsch. 110.
[162] TH. W. ADORNO: Jargon der Eigentlichkeit (1964)
129. Ges. Schr., hg. R. TIEDEMANN 6 (1973) 413–526,
517.
[163] a.O. 128/516.
[164] Negat. Dialektik (1966), a.O. 364.
[165] Gespräch mit E. Bloch (1980) 68.
[166] Berg (1968), a.O. [162] 13 (1971) 374.
[167] a.O.
[168] J. DERRIDA: De la grammatologie (Paris 1967) 100;
dtsch.: Grammatol. (1974) 120.
[169] a.O. 205/dtsch. 247.
[170] Apories – Mourir – s'attendre aux ‘limites de la véritéʼ,