Professional Documents
Culture Documents
Und Negt ist optimistisch, indem er leitmotivisch Kant zitiert: dass auch ein
Volk von Teufeln das Problem des Staatsmanagement noch lösen könne.
Negt nimmt als Ausgangspunkt für sein Werk die zugegebenermaßen
erstaunliche Tatsache, dass es Menschen gibt, die unter bestimmten
Verhältnissen ihren politischen Verstand verlieren, während andere wiederum
pointiert politische Urteilskraft beweisen und praktizieren.
Nach was also entscheidet der politische Mensch - nach Charakter, Wissen,
Lernen, Erfahrung, Gewissen? Der Testfall für den politischen Verstand oder
Unverstand sieht Negt immer dann gekommen, wenn Extremsituationen
entstehen, z.B. zur Frage nach zu praktizierendem Widerstand gegen einen
faschistischen Staat. Aber, so mahnt Negt, dann ist es oft schon zu spät zu
vernünftigem politischen Handeln. Politische Bildung muss schon viel früher,
muss in der Normalzeit einsetzen. Negt entfaltet seinen Begriff von
politischer Bildung über sechs Kategorien: Orientierung, Wissen, Lernen,
Erfahren, Urteilen, Charakterbildung. Das sind auch die Leitkategorien seines
Buches, auch wenn sie leider - die/der Leser/in vermisst es - im weiteren
Verlauf das Buch nicht so gliedern.
Militäraggression der Nato mit aktiver deutscher Beteiligung auf dem Balkan
völlig aus. Spätestens hier hätte Negt sich eindeutig von Gerhard Schröder,
der Deutschland in diesen Krieg getrieben hat und in dessen Beraterstab
Negt gewirkt hat, distanzieren müssen. Es ist auch unverständlich, warum die
Aufzählung seiner "Krisenherde" in Teil II keinen Krisenherd mit dem
schlichten Titel "Krieg" aufführt.
Web 2.0 schreiben, also schon rund ein Jahrzehnt in der Online-Revolution
leben, ohne dass der Autor irgendwo auf diese Revolution Bezug nimmt, ist
befremdlich. Das einzige wirklich moderne Wort in seiner Publikation ist,
soweit ich sehe, die irgendwann, wohl mehr aus Zufall eingestreute, Vokabel
"Handy".
Dass man statt der o.a. vier Geschichtszeichen, wie sie die traditionelle
Geschichts- und Politikwissenschaft bereithält, genau so gut, und der
Rezensent meint: mit sehr viel Plausibilität eher den Beginn der
Massenanfertigung des PC, der Start von Ebay, Amazon und Google nennen
könnte, liegt offenbar völlig außerhalb des Blickfeldes von Negt. Man kann
aber nicht über politische Bildung räsonieren, diese über Kategorien wie
Orientierung, Wissen, Lernen, Erfahren, Urteilen entfalten, ohne zu
reflektieren dass die online-Welt mit Wiki, Google, Twitter, SMS, Blogging,
Facebook genau solche Kategorien in den letzten Jahren radikal verändert
hat.
Negts Buch ist ein Bezug auf eine Welt ohne netbook, ohne
DSL, ohne iphone; etwas platt formuliert: der Autor ist leider nicht auf der
Höhe der modernen Web-Zeit. Das soll den humanistischen ethischen Ansatz
von Negt keinesfalls schmälern. Hier schreibt ein hochengangierter Autor, der
sich viel Gedanken über die politische Kultur der Gegenwart macht. Der auch
dankenswerterweise Fehlentwicklungen in der Politik anprangert und besorgt
über die internationalen Machtverhältnisse ist.
Nur ist diese Gegenwart bei Negt nach wie vor die Welt der universitären
Seminarräume, der
Das mag wohl gerade noch für die Generation von Oskar Negt gelten.
Spätestens für die jetzt heranwachsende Generation, die keine Welt ohne PC
und ohne Web mehr kennt, sind solche Topoi der Kommunikation und
Information, wie Negt sie präsentiert, obsolet geworden. Nachbarschaft ist
schon lange durch online gaming und chatten ersetzt, das Unverständnis
über den Sinn von
Man kann über diese Entwicklung nachdenklich werden, man kann besorgt
sein - aber man darf diese Phänome in einer gesellschaftlichen Analyse, wie
es diese Publikation in Anspruch nimmt, nicht einfach ausblenden. Negts
Buch verliert deshalb leider trotz des sympathisch engagierten Duktus an
vielen Stellen enorm an Wert, weil der Autor sich dieser Gesellschafts-
Veränderung nicht stellt. Dabei hätte die intellektuelle Vorgehensweise von
Negt, u.a. sein Eintreten für die Kompetenz "Zusammenhänge herstellen",
"Orientierendes Denken", die Berücksichtigung des Neuen (online)-Lernens,
der neuen webvernetzten Orientierung und der Verlagerung unserer
Informationsgewinnung weg von Faktenansammlungen hin zur
sophistizierten online Suchstrategie eine solche Verarbeitung durchaus
erwarten lassen.
Zwiespältig legt man also das Buch beiseite. Da müht sich ein politisch und
gesellschaftlich hochengagierter und -motivierter Denker ab, um den Begriff
der politischen Bildung in der modernen Zeit neu zu fassen und bleibt doch
merkwürdig blind gegenüber den die Gegenwart so nachhaltig prägenden
online-Determinanten. Hier tritt ein Nachfahre der Frankfurter Schule
empathisch für Vernunft und Aufklärung ein, reflektiert aber nicht, welche
fundamentalen Veränderungen beide Kategorien inhaltlich wie methodisch
durch die Online-Welt genommen haben.
Niklas Luhman, der Satire nie abgeneigt, hätte beim Lesen vielleicht sein
berüchtigtes Wort vom "intellektuellen recycling" bemüht. So unbarmherzig
sollte man mit Oskar Negt, gerade nach seinem reichhaltigen intellektuellen
Leben, nicht verfahren, aber es muss doch gegen seinen Versuch,
demokratisches politisches Lernen in der Gegenwart zu revitalisieren,
eingewandt werden: Zu sehr eine Rückschau, zu wenig Focussierung auf die
Moderne.
Verlegerisch ärgerlich ist das Fehlen eines Personen- und Sachregisters (als
ob es dafür heutzutage keine software gäbe, die so etwas ohne viel Mühe
automatisiert generieren kann) und ebenso das Fehlen einer Bibliographie.
Bei beidem sollte der Verlag, wenn es zur zweiten Auflage kommt, dringend
nachbessern, um eine bessere Akzeptanz mit dem Buchinhalt zu
ermöglichen.