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ERNST KÄSEMANN

Das Neue rfestament


als Kaiion
Das Neue Testament
als Kanon

Dokumentation und kritische Analyse


zur gegenwärtigen Diskussion

Herausgegeben von
Ernst Käsemann

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen


Schutzum~ebl.ag: Karlgeorg Hoefer. OVandenhoeck&Ruprecht,
Göttingen 1970. - Prlnted 1n Germany. Alle Rechte vorbehalten.
Ohne aUJdriickllche Genehmigung det Verlage• bt es nicht ge-
llattet, du Buch oder Teile daraut auf foto- oder aktutomechani-
tehem Wege zu vervielfältigen. Satz und Druck: Gulde-Druck,
Tüblngen. Bindearbeit: Hubert & Co, Göttingen
Der theologischen Fakultät
an der Universität Oslo
in Freundschaft und Dankbarkeit !
Inhalt

Einführung 9

I. Awgewählte Aufsätze 13
GBRHARD GLOEGE, Zur Geschichte des Sduiftverständnisses . 13
HEBMANN STRA~, Die Krisis des Kanons der Kirdte 41
WERNER GEORG KÜMMEL, Notwendigkeit und Grenze des neutesta-
mentlichen Karions 62
ÜSIW\ CULLMANN, Die Tradition und die Festlegung des Kanons durch
die Kirche des 2. Jahrhunderts . 98
1-IANs FRHR. v. CAMPENHAUSEN, Die Entstehung des Neuen Testaments 109
ERNST las~, Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit
der Kirche? 124
KURT .Al.ANo, Das Problem des·neutestamentlichen Kanons . 1M
HERMANN DmM, Das Problem des Schriftkanons 159
HANs KÜNG, Der Frühkatholizismus im Neuen Testament als kontro-
verstheologisches Problem 175
PETER LENGSFELD, Katholische Sicht von Schrift, Kanon und Tradition 005
lhRBERT BRAUN, Hebt die heutige neutestamentlich-exegetische For-
schung den Kanon auf? . 219
WILLI MARxsEN, Das Problem des neutestamentlichen Kanons aus der
Sicht des Exegeten 233
CARL HEINZ RATScHow, Zur Frage der Begründung des neutesta-
mentlichen Kanons aus der Sicht des systematischen Theologen 247
WILFRIED JoEST, Erwägungen zur kanonischen Bedeutung des Neuen
Testaments 258

GEIUIARD EDELING, "Sola scriptura" und das Problem der Tradition 282

11. Kritische Analyse . 336


lll. Zusammenfassung 399
Einführung

Uber die Entstehung und Geschimte des neutestamenttimen Ka-


nons sind wir vortrefflim informiert•. Seine theologisme Relevanz
ist dagegen heftiger denn je zuvor umstritten. Die Diskussion dar-
über wird heute nicht nur in der gelehrten Zunft, sondern auch in der
Gemeinde leidenschaftlich, und zwar in allen Konfessionen und De-
nominationen und infolgedessen aum ökumenism, geführt. Der
Streit wurde durch die aus der Aufklärung resultierende historisch-
kritische Bibelerklärung ausgelöst, die, sich ständig radikalisierend,
bei den Experten überall mehr oder weniger selbstverständlim vor-
ausgesetzt, im liberalen Christentum methodisch anerkannt, von
nichtfundamentalistischen Kird:l.en und Gemeinschaften wenigstens
im wissensmaftlichen Bereid:l. toleriert wird. Sie hat inzwisd:l.en selbst
im römischen und orthodoxen Katholizismus, wenngleich in verschie-
denen Gebieten mit ungleid:l.em Gewimt, immer stärkeren Eingang
gefunden. Dem entspricht allerdings eine Kehrseite, von weld:l.er her
erst die Heftigkeit und Weite des Kampfes begreiflirh werden. Die
Frage der historisch-kritisrhen Auslegung der Schrift ist, wenn sie das
früher einmal gewesen sein sollte, gegenwärtig nirht länger primär
die einer wissensrhaftlimen Methodik und ihrer Bedeutung für die
Exegese. Unüberhörbar verbinden sirh mit ihr Urteile über das We-
sen des mristlichen Glaubens, die normative Geltung der Bibel, Gren-
zen und Einheit konfessioneller, kirchlirher, ökumenischer Gemein-
schaft, welche die Christenheit im ganzen herausfordern.
Man hat sim diesem Samverhalt entschlossen zu stellen und benö-
tigt dazu dringlich einer Bestandsaufnahme, welche wünsrhenswerter
Weise die Problematik zumal aus der geschichtlichen Entwicklung
des vorigen Jahrhunderts quer durm alle Kirchen darstellen sollte.
• Vgl. dazu vor allem H. Frhr. von Campenhausen, Die Entstehung der duist·
liehen Bibel, 1968. Uber die Diskussion innerhalb des römischen Katholizismus in·
formiert besonden eingehend N. Appel, Kanon und Kirche. Die Kanonkrise im
heutigen Protestantismus als kontroventheologisches Problem, 1964.
Neben der durchlaufenden Seitenzählung dieses Bandes ist bei den in ihn über-
nommenen Beiträgen auch die Seitenzählung der maßgeblichen Encheinungs-
orte übernommen worden, damit nach dieser zitiert werden kann. Die Literatur-
verweise in den Beiträgen von Cullmann und Lengsfeld wurden nach den biblio-
graphischen Angaben in den Buchausgaben ergänzt. -Den Verlagen, bei denen
die hier übernommenen Beiträge entmalig erschienen, sei für die freundliche Ge-
nehmigung des Wiederabdrucks gedankt.
10 Einführung

Ein sold:ter Entwurf würde jedoch ein ungewöhnlich hohes Maß von
Spezialkenntnissen in der allgemeinen Geistes- und Theologiege-
schichte voraussetzen, langjährige Arbeit erfordern, wenn ein Einzel-
ner sich dazu anschicken wollte, und den Rahmen eines einzigen Bu-
ches sprengen. In ein Dilemma würde aber auch der Versuch führen,
die heutigen Äußerungen zu unserm Thema systematisch zusammen-
zustellen und wenigstens fragmentarisch von da aus immer wieder
in die Vergangenheit zurückzublenden. Der unbefangene Leser wür-
de dem Chaos differierender und gegensätzlicher Meinungen aus dem
Widerstreit von Theologie und Gemeindefrömmigkeit, Konfessionen
und Denominationen, Exegese und Dogmatik, amtlimer Verlautba-
rungen, individueller Äußerungen und von Gruppen abgegebener
Bekenntnisse hilflos ausgeliefert. Der Sammler würde zu einer Aus-
wahl gezwungen sein, die ihn auch bei bestem Willen des unzurei-
chenden Überblicks und mangelnder Objektivität beschuldigen ließe.
Wie vielfach in unserer Situation wird man sich notgedrungen kon-
zentrieren, den Vorstoß in geschichtliche Tiefe und ökumenische Wei-
te äußerst reduzieren und verzichten müssen, auf den Altären wissen-
schaftlicher Vollständigkeit oder traditionell dogmatischer Fragestel-
lungen opfern zu wollen. Ein exemplarischer Ausschnitt aus der Dis-
kussion, der Dokumentation und kritische Analyse verbindet, ist mög-
lich, sinnvoll und vielleicht am hilfreichsten.
So werden im folgenden 13 Aufsätze zum neutestamentlichen Ka-
nonproblem aus dem deutschsprachigen Bereich und dem Gesichts-
feld historischer Bibelkritik wiedergegeben und anschließend auf ihre
Prämissen und Konsequenzen hin erörtert. Ein geraffter Oberblick
über die Rezeption und die Auslegung der Schrift in den verschiede-
nen Epochen der Kirchengeschichte wird vorangestellt, um in die ge-
genwärtige Problematik einzuführen. Den Abschluß bildet eine her-
meneutische Besinnung zum Thema "Schrift und Tradition" aus re-
formatorisch orientierter Sicht, welche in außerordentlicher Gründ-
lichkeit und Schärfe zum Ausgang des konfessionellen Streites um
die Bibel zurücklenkt, damit zugleich in das ökumenisd:te Gespräch
eingreift und die historische Kritik auf den ihr gebührenden Platz
eines Hilfsmittels in der Verständigung und Scheidung der Geister
verweist. Die Gesamtkird:te kann und darf sie nicht übersehen. Sie
kann und darf ihr aber auch nicht das letzte Wort überlassen, weil
ihre Einsichten und begründeten oder unbegründeten Folgerungen
wie der von da aus bestimmte Streit um den Kanon nur ein Aus-
sd:tnitt, eine Konsequenz und die heutige Signatur des Streites um
das Evangelium sind. Man hat dieses Evangelium nie ein für alle
Male, wenn daraus nicht eine religiöse Tradition unter andem wer-
den soll. Jede christliche Generation muß es neu für sich und die Welt
Einführung 11

entdecken, wobei Irrwege wie im menschlichen Leben überhaupt


nicht zu vermeiden sind. Wahrheit gibt es nicht ohne Preis und Risi-
ko, und das spiegelt sich sogar noch in den jeweils angewandten Me-
thoden wieder, die sich selbst ad absurdum führen können.
Philologische und historische Arbeit ist hier notwendig, weil das
Evangelium seinen Niederschlag in Schriften gefunden hat, welche
wie alle andern ständiger Interpretation und wissenschaftlicher Un-
tersuchung bedürfen. Anders ließe sich ihr exakter Sinn schon des-
halb nicht erfassen, weil sie aus der Antike stammen, ihr Text aus un-
zähligen überlieferungsvarianten nur in annähernder Genauigkeit
rekonstruiert werden kann und ein Prozeß von Ubersetzungen, wel-
che stets neue Möglichkeit des Verständnisses erschlossen haben, unser
eigenes Urteil vorherbestimmt. Wir haben unablässig in Richtung auf
das Ursprüngliche vorzustoßen, ohne dabei den unmittelbaren Zu-
gang zu ihm uneingeschränkt gewinnen zu können. Der Faktor des
Irrtums im einzelnen und ganzen ist nie auszuschließen. Umgekehrt
vermag historisch-philologische Arbeit, die immer traditionskritisch
erfolgt, herrschende Vorurteile zu durchbrechen und zu einem dem
Ursprünglichen angemesseneren Verständnis zu führen, wobei kirch-
liche Systematik ebenso gestört werden wie profitieren kann. Die
Schriften, mit denen wir uns beschäftigen, sind kanonisch zusammen-
gefaßt und besitzen insofern dogmatisches Gewicht in der Christen-
heit auch dann noch, wenn kritische Wissenschaft es nicht mehr aner-
kennen oder respektieren sollte. Die Exegeten stehen jedenfalls nicht
allein auf dem Plan. Sie müssen sich isolieren und würden von der
Wirklichkeit abstrahieren, wären sie sich nicht der dogmatischen
Tragweite ihres Tuns bewußt und wollten sie den Dialog mit den
Systematikern abbrechen, welche die Stimme der kirchlichen Tradi-
tion reflektieren und, in welcher Weiterführung und Umgestaltung
auch immer, lebendig erhalten. Gerade auf dieses Wechselspiel zwi-
schen Exegeten und Systematikern kommt es in unserm Bande an.
Fragestellungen, Ergebnisse und Kontroversen der neutestamentli-
chen Kritik lassen sich in den sogenannten Einleitungen dieses Fa-
ches, dogmatische Positionen und Probleme in entsprechenden Lehr-
büchern nachlesen. Hier sollen Exegeten auf ihre systematischen Vor-
aussetzungen und Leitbilder hin befragt werden und Systematiker
Antwort auf die exegetische Herausforderung geben.
Weil im deutschsprachigen Bereich die Auseinandersetzung um
den Kanon zwischen diesen Kontrahenten am radikalsten vor sich
geht, ist die Begrenzung auf die vorgelegten Beiträge sinnvoll. Sie
bietet wenigstens ein Modell des stattfmdenden theologischen Dia-
logs, an dem man sich orientieren kann. Die Auswahl im einzelnen
war schwierig. Auszüge aus Kompendien sind vermieden worden.
12 Einführung

Ein Höchstmaß an Information sollte mit besonders charakteristi-


schen und provozierenden Stellungnahmen verbunden werden. Das
ließ sich ohne schmerzliche Verzichte nicht erreichen. Immerhin ist
der Horizont weit genug gespannt, um der Mannigfaltigkeit und
dem Widerstreit der Stimmen Raum zu geben, welche die Kanonkri-
tik grundsätzlich bejahen und nicht vorschnell apologetischen Ver-
mittlungsversuchen huldigen. Lust und Qual des Wählens habe ich
reichlich ausgekostet. Ich wäre zufrieden, wenn selbst der nicht un-
mittelbar beteiligte Leser das Gefühl hätte, Zeuge eines noch anhal-
tenden Erdbebens zu sein, bei dem die Betroffenen damit beschäftigt
sind, Trümmer zu beseitigen, das Erhaltene zu retten, den Wieder-
aufbau zu diskutieren oder als unmöglich zu erklären. Auch in der
Kirchengesdrichte sind Erdbeben zuweilen nötig, um aus morschen
Häusern herauszuholen und in eine sicher unbequeme, jedenfalls
ungewisse Zukunft zu zwingen. Wer dieser etwas verwegenen Mei-
nung ist, mag sogar nicht ohne Hoffnung zuschauen und mittun.
Stabilitas loci ist uns geistig und christlich weder verheißen noch be-
kömmlich. Konservative wie liberale Theologie werden nur erschreckt
sich ins freie Feld neuer Erfahrung wagen. Die Unangefochtenen
stellen sich nicht der Selbstbesinnung. So bitter diese sein mag, so ist
sie doch fruchtbar, wenn sie uns aus Trägheit, Selbstgefälligkeit und
Verstockung aufrüttelt und uns dazu nötigt, noch einmal gleichsam
von vom zu beginnen.
Meinem Assistenten F. Lang schulde ich großen Dank für vielerlei
Hilfe in der Sichtung und Auswahl des Materials wie bei der Korrek-
tur. Ich bedauere, daß seine Vorarbeit nur in einigen Zitaten aus älte-
rer oder ökumenischer Literatur verwertet werden konnte. Doch hat
gerade sie mir gezeigt, daß ich mich zu äußerster Reduktion zu ent-
schließen hatte.

Tübingen, 1. April1970 Ernst Käsemann


Ausgewählte Aufsätze

GERHARD GLOEGE

Zur Geschichte des Schriftverständnisses •


I. Die Schrift in der Alten Kirche

1. Voraussetzungen
Der Umgang mit der Bibel setzt den Kanon voraus. Dieser hatte sich
als zweiteiliges Werk- bestehend aus dem Neuen und dem Alten
Testament - in Auseinandersetzung mit der Gnosis und vor allem in
der Abwehr Mareions durchgesetzt. Mit der Einheit des Kanons war
der Gedanke der einheitlichen Heilsgeschichte grundlegend gegeben:
in letzterer verwirklicht sich der Heilsratschluß des einen Gottes, der
die Welt schafft und erhält, erlöst und der Vollendung entgegenführt.
Alles Verstehen der Bibel war daher von vornherein heilsgeschichtlich
• Deutsche Fassung des Artikels "Bible use", in: The Encyclopedia of the Lu-
theran Church, ed. 1. Bodensieck (Minneapolis/USA), I, 249-262, erstmals veröf-
fentlicht in: G. Gloege, Verkündigung und Verantwortung. Theologische Traktate
II, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1967, ~292. Literatur zum Ganzen:
M. Kiihler, Art. Bibel, in: RE1 11, 686--691; G. Rietschel, Art. Bibellesen und Bi-
belverbot, ebd. 700-713; G. Heinrici, Art. Hermeneutik, ebd. VII, 718-750;
W. Schweitzer, Das Problem der Biblischen Hermeneutik in der gegenwärtigen
Theologie, in: ThLZ 75 (1950), 467--478; 0. Weber, Art. Hermeneutik, in: EKL II,
120-126; G. Gloege, Art. Bibel 111. Dogmatisch, in: RGG1 I, 1141-1147; C. Kuhl,
Art. Bibelwissenschaft I. Altes Testament, ebd. 1227-1235; W. G. Kümmel, Art.
Bibelwissenschaft 11. Neues Testament, ebd. 1236-1251; G. Ebeling, Art. Herme-
neutik, ebd. 111, 242-262 (besonders wichtig); M. Elzel H. Liebing, Art. Schriftaus-
legung IV, ebd. V, 1520-1535; A. Bea, Art. Biblische Hermeneutik, in: LThK1 II,
435--439; R. Simon, Histoire critique du Vieux Testament (1678); ders., Histoire
critique des principaux commentaires du Nouveau Testament (1693); L. Diestel,
Geschichte des Alten Testaments in der christlichen Kirche (1869); 1. Wach, Das
Verstehen. Grundzüge einer Geschichte der hermeneutischen Theorie im 19. Jahr-
hundert, 1-111 (1926-1933); B. Smalley, The Study of the Bibel in the Middle
Ages (Oxford [194{)] 1 1952); M. 1. Scheeben, Handbuch der katholischen Dogma-
tik I (1 1948), §§ 16-20 (Lit.); H. Grass, Die katholische Lehre von der heiligen
Schrift und von der Tradition (1954); E. G. Kraeling, The Old Testament since the
Reformation (London 1955); H.-1. Kraus, Geschichte der hist.-krit. Erforschung des
Alten Testaments von der Reformation bis zur Gegenwart (1956); W. G. Kümmel,
Das Neue Testament. Geschichte der Erforschung seiner Probleme, Orbis 111, 3
(1958); H. Beintker, Die evangelische Lehre von der heiligen Schrift und von der
Tradition (1961).
14 GEI\BAlU) GLOEGE [263/264)

orientiert, bzw. mußte sich mit der heilsgeschichtlichen Orientierung


auseinandersetzen.- Der Anspruch der Bibel, in Gestalt literarischer
Urkunden das Wort Gottes zu enthalten, stellte jede Generation neu
vor die Aufgabe, zwischen der Aussage (ß) des jeweiligen Textes und I
seinem Sinn (a) zu unterscheiden. So war der Kirche und ihren Lehren
vonAnfang an als Grundproblem jeder Bibelauslegung dieFrage nach
dem Verhältnis von Buchstabe (littera: ß) und Geist (spiritus: a) mit-
gegeben. Die Ausleger und Benutzer der Bibel können wir je nach
dem, ob das eine oder das andere Moment stärker hervortritt, als Lit·
teralisten (ß) oder Spiritualisten (a) unterscheiden. Dabei wird auch
stets die jeweilige Stellung zur Autorität der Kirche deutlich.

2. Die alexandrinische Schule


Zu den wirksamsten Voraussetzungen des weiteren (insbesondere
mittelalterlichen) Schriftverständnisses1 gehören die Werke der großen
Alexandriner. In ihnen begegnet uns im Gefolge (neu-)platonischer
Oberlieferung (u. a. auch Philos) die spiritualistische Form der Bibel-
auslegung in klassischer Ausprägung (a). Für Clemens von Alexan-
drien (t vor 216) ist die Bibel ein großes zusammenhängendes Gan-
zes, in dem jeder Teil gleich wichtig ist. Sie ist die einzige Quelle der
Erkenntnis (yvooo~). Als solche ist sie Gottes Wort. überall spricht
in ihr der Herr durch seine Werkzeuge: die Apostel und Propheten.
Ihre innere Einheit wird durch den Geist (mreü11a) begründet und ver-
bürgt. Da die Bibel ein vom Geist durchwaltetes Gefüge ist, ist auch
das Alte Testament cluistologisch zu deuten. Die Einheit der Schrift
wird auf Kosten der Verschiedenheit ihrer Teile behauptet: es gibt nur
einen Bund, der sich den einzelnen Phasen des göttlichen Heilsplanes
anpaßt. Will man die Bibel recht verstehen, so bedarf man eines Maß-
stabes (xavoov): der kurzen Zusammenfassung der biblischen Haupt-
lehren, wie sie summarisch im kirchlichen Glaubensbekenntnis vor-

1 P. Heinisch, Der Einfluß Philos auf die älteste christliche Exegese (1908); E. v.
Dobschütz, Vom vierfachen Schriftsinn. Die Geschichte einer Theorie, in: Hamack-
Ehrung (1921), 1-13; G. Zimmermann, Die hermeneutischen Prinzipien Tertul-
lians (Diss. Leipzig, 1937); W. den Boer, De Allegorese in het Werk van Clemens
Alexandrinw (Leiden 194{)); J. Danielou, Origene (Paris 1948); H. de Lubac, His-
taire et espriL L'intelligence de l'Ecriture d'apres Origene (Paris 1950); Fr. L.
Ripke, Paradoxe Einheit durch Interpretation bei Klemens von Alexandrien (Diss.
Göttingen 1955); vgl. ThLZ 81 (1956), 631 f.; H. Karpp, Schrift und Geist bei Ter-
tullian. BFChTh 47 (1955); P. Brunner, Charismatische und methodische Schrift-
auslegung nach Augustins Prolog zu De doctrina christiana, in: KuD 1 (1955) 59-
69, 85-103; R. Lorenz, Die Wissenschaftslehre Augustins, in: ZKG 67 (1955/56),
29-60; 21~251; G. Strauß, Schriftgebrauch, Schriftawlegung und Schriftbeweis
bei Augustin, BGH 1 (1958).
[264/265] Zur Geschimte des Sduiftverständnisses 15
liegen. So vermag die Bibel, die große Erzieherin, Stütze des Lebens
zu sein. AlsUrheberinder Wahrheit ist sie Quelle für die Verkündi-
gung wie auch Hilfe zur Ausformung des ethischen Ideals. - Ne-
ben die I Bibel tritt als zweite Quelle der Erkenntnis die Tradition
(xaQ<l&oou;), die als lückenlose Kette die Gegenwart mit der Vergan-
genheit verbindet. Auch in ihr waltet der göttliche Geist. Bibel und
Tradition gehören beide der Kirche, dem mystischen Leibe Christi,
zu. Von der kirchlichen Tradition unterscheidet Clemens noch eine
gnostische. Sie ist zum Verständnis der Bibel nötig, da die Bibel sym-
bolischen Charakter trägt. Die Bibel verhüllt die Wahrheit durch den
Buchstaben, wie der Logos (vgl. Joh. 1, 14) sich im Fleisch verhüllt.
DieBibel ist gleichsam die Fortsetzung der Inkarnation. Dem gewöhn-
lichen Auge verbirgt sich die Wahrheit in Gleichnissen. Der Geist er-
schließt sich nur dem Geistmenschen, dem Gnostiker. Er bedient sich
dazu der ungeschriebenen Tradition, die alle Erkenntnisse und An-
schauungen höherer Art enthält. Hier begegnet unter Hinweis auf
Jes. 8, 1 (I) das doppelte Schriftverständnis: das buchstäbliche (~) und
das geistliche (a). Dieses begreift durch Entzifferungder allegorischen
Geheimsprache das "Mysterium Christi" (Kol. 4, 5 f.).
Origenes (t 254), der große Schüler des Clemens, versteht die Bibel
ebenfalls spiritualistisch, wenn auch in einer Form, die dem Denken
und der Praxis der Kirche näher steht. Auch für ihn sind die hl. Schrif-
ten inspiriert. Kräftig arbeitet er die Verbindung von Altem und
Neuem Testament als heilsgeschichtlichen Gang von der Weissagung
zur Erfüllung heraus. Deutlicher unterscheidet er Wortsinn (ß) und
Geistsinn (a). Er handhabt die allegorische Methode planmäßiger. Er
stellt Kunstregeln der Auslegung (also eine Hermeneutik) auf. Nach
Prov. 22, 20 f. behauptet er - mit Hilfe der griechischen Trichotomie
(Leib, Seele, Geist) -einen dreifachen Schriftsinn: den buchstäblimen
(historisch-grammatischen) Wortsinn, den existentiellen (psychisdJ.-
moralischen) Lebenssinn, den spekulativen (allegorisch-mystischen
oder anagogischen) Geistsinn. Den Primat hat die allegorische Aus-
legung. Es steht fest: jedes Bibelwort hat einen geistlichen, nicht aber
jedes auch einen leiblichen Sinn. Die Bibel erzählt z. B. absichtlich
Unmögliches, um darauf aufmerksam zu machen, daß es leibhaftig
nicht geschehen sein könne (z. B. die Paradieserzählung; aber auch
Lk. 10, 4; Mt. 5, 29; 1. Kor. 9, 9). Diese spiritualistische Bibeltheorie
entspricht der Unterscheidung von zwei Gruppen von Christen, der
Masse der einfachen, die "nur" glauben, und der Schar der gebildeten,
die sich zu höherer Einsicht erheben. In der Kirche steigt man vom
Autoritätsglauben zur geistlichen Erkenntnis empor: für den Pneu-
matiker werden die einfachen Heilstatsachen zu Symbolen des Gei-
stes. Buchstäbliches Verstehen dagegen droht, zur Ketzerei zu führen. I
16 GERHAI\D GLOI!.GE

J. Die antiochenische Schule


Im Gegensatz zu den Alexandrinern streben die Antiochener- dem
aristotelischen Realismus folgend - die philologische Erfassung des
Bibeltextes an. Diodor von Tarsus (t 394) und besonders Theodor
von Mopsuestia (f 428) verwerfen die spiritualistische Allegorese (a)
und dringen auf historisch-grammatische Auslegung (ß). Angeregt
durch die jüdische Exegese und unterstützt durch die Kenntnis des
Syrisch-Aramäischen suchen sie die Häresie auf exegetischem Felde zu
besiegen. Ihre Methode der Interpretation des Alten Testaments ist
nicht die Allegorie, sondern die Typologie. Die Heilsökonomie des
Alten Testaments ist- kraftGottesanordnender Vorsehung- Vor-
bereitWlg auf den neuen BWid. In einem Wort oder einem Vorgang
des Alten Testaments präfiguriert Gott Höheres, Künftiges, das im
Neuen Testament eintrifft. Die Auslegungsweise gibt die Möglichkeit,
bei Festhaltung des ungeteilten Schriftganzen die heilsgeschichtlichen
Verschiedenheiten stärker zu betonen und zugleich das praktisch-pa-
ränetische Interesse zu befriedigen. Vor allem lehrte sie auch, auf den
Sprachgebrauch wie den Sachzusammenhang zu achten.

4. Frühe Abendländer
Standen sowohl die Alexandriner wie die Antiochener in einem kri-
tischen Verhältnis zum kirchlichen Gemeindeglauben, so wird diese
Spannung durch die frühen abendländischen Exegeten gemindert. Be-
reits Tertullian (f nach 222), der vom Wortsinn auszugehen rät, hatte
dem Schriftprinzip der Häretiker, die christliche Lehren mit philoso-
phischen Anschauungen vermischen, das Traditionsprinzip entgegen-
gestellt. Die von Christus der Kirche gelehrte Glaubensregel (regula
fidei), die Gesetz und Heil umschließt, garantiert die richtige Ausle-
gung. Nur innerhalb der auf apostolische Sukzession zurückgehenden
Kirche und ihres commonsensekann die Bibel sachgemäß gebraucht
werden.
Die allegorische Methode des Origenes gewann jedoch im Laufe der
Zeit, allerdings mit einem spürbar praktischen Einschlag, auch auf die
lateinische Kirche Einfluß. Für Ambrosius, Erzbischof von Mailand
(t 397), ist die Bibel voller Mysterien, die nur Erleuchtete verstehen.
Der Schriftsinn ist ein dreifacher: ( a) historisch-buchstäblich, (b) my-
stisch und (c) moralisch. Die Schrift selbst ist ja oft dreifach: (a) natu-
ralis in Gen., (b) mystica in Lev. und (c) moralis in Dt.; ein Gleiches gilt
für das Schrifttum "Salomos": (a) natürlich-vernünftig im Prediger, I
(b) mystisch-geistlich im Hohen Lied und (c) moralisch-praktisch in
den Sprüchen. Die Psalmen und Evangelien vereinigen alle drei
Arten.
[267/268] Zur Gesdllchte des Schriftverständnisses 17

Ähnlich urteilt Hieronymus (t 420), der- grammatism und rheto-


risch gleich gut gebildet- der Schöpfer der von der römisch-katholi-
schen Kirche allein anerkannten lateinischen Bibelübersetzung, der
sog. Vulgata (die allgemein Verbreitete), ist. Er übersetzteviele Werke
der griechismen Väter (besonders des Origenes) und sdlrieb zahl-
reiche Kommentare zu biblischen Büchern, die die abendländisme
Bibelauslegung bestimmten. Als Ubersetzer und (im antiken Sinne)
Textkritiker achtet er streng auf den ursprünglichen Schriftsinn, bleibt
aber nicht beim buchstäblichen Sinn (ß), dessen einseitiges Verständ-
nis den Häretiker erzeugt, stehen. Die vom hl. Geist "gesdlriebene
und veröffentlichte" Bibel ist in sich widerspruchsfrei und deshalb
oberste Autorität. Freilich muß sie geistlich (a) verstanden werden,
wozu viel Fleiß und Mühe nötig ist. Die Unterschiede zwischen den
Testamenten werden klarer gesehen, ja ihre Gegensätze beobachtet:
die Weltoffenheit des Alten und die Weltkritik des Neuen Testaments
(z. B. ihre gegensätzliche Stellung zur Gewaltanwendung: Ps. 45,4-
Mt. 26, 52), Gesetz und Evangelium verhalten sich wie die vergäng-
liche Gnade zu der ewigen, wie der Schatten zur Wahrheit.

5. Augustin
Der für Jahrhunderte wirksamste Bibelausleger wurde A. Augustin
(t 430). Sein Umgang mit der Schrift stellt eine Synthese zwischen
griechischer Spiritualität und lateinischem Realismus dar. Neuplato-
nisches Lebensbewußtsein öffnete ihm das geistliche Schriftverständ-
nis, insbesondere den Zugang zu der von den Alexandrinern gepfleg-
ten allegorischen Methode, die ihm von Ambrosius vermittelt wurde.
Der Manichäismus erregte ihn durch seine Bibelkritik, die besonders
den anthropomorphen Anschauungen des Alten Testaments (dem ver-
änderlichen, grausamen, lügnerischen Gott) galt; dagegen half die
Allegorese. Zugleich hat jedoch die christozentrische Frömmigkeit der
manichäischen Psalmen ihn "mystisch" beeinflußt. Als Lehrer der
Grammatik und Rhetorik ist er, ähnlich wie die Antiochener, an den
Texten als literarischen Größen interessiert. So ist Augustin Spiritua-
list (a) und Litteralist (ß) in einem. Bei ihm kann man zum ersten
Male von einer Henneneutik reden. Seine Beurteilung der Bibel wird
nur innerhalb seiner Wissenschaftstheorie verständlich. Göttliche
Wahrheiten und Tatsachen werden entweder(a) durch Autorität oder
(b) durch Zeichen erkannt. I
(a) Göttliche Autorität besitzt Gottes Offenbarung durch auser-
wählte Zeugen. Anschaulich und faßbar wird sie in der Gestalt Jesu
Christi. Die Bibel istNiederschlag aller Offenbarungserfahrungen und
folglich irrtumslos. Aber ihr kanonisches Ansehen hat sie nicht aus
2 Käsemann, Kanon
18 GEBHABD GLOEGE [268]

sich selbst, sondern dadurch, daß ihre Schriften apostolisch sind und
durm Oberlieferung (Sukzession) beglaubigt werden. Hinzu kommt
ihre Verbreitung unter vielen Völkern. Bibel und Kirche sind gleich-
rangige Zeugen der Wahrheit. Die Bibel ist gemäß der Glaubensre-
gel auszulegen. Freilich: die Kirche empfängt über die Bibel hinaus
Offenbarung. Von einem "sola scriptura" weiß Augustin nichts. Au-
torität und Vernunft sind aufeinander angelegt: die Bibel will Ein-
sicht ermöglichen.
(b) Augustins spiritualistisdte Tendenzen drücken sidt in seiner
Zeichen-Lehre bzw. seiner darin erscheinenden Sprachphilosophie
aus. Hier wird zwisdten Zeichen (signa) und Dingen (res), zwischen
Äußerem und Innerem unterschieden. Verstanden werden kann die
Bibel nur, wenn der menschliche Geist den Buchstaben der Texte
übersteigt und sich unmittelbar zu Gott erhebt. Das äußere Ohr hört
den Sprachklang des Wortes Gottes, das innere Ohr lauscht dem "ewi-
gen Worte". Die Worte der Bibel sind nur äußerer Anlaß, sozusagen
jenseits des Phonetisdten mit Gott Kontakt zu erlangen. Die Wort-
werdung des Geistes (Inverbation) entspricht der Fleischwerdung
Christi (Inkarnation).
Die inspirierte Bibel, deren grammatischer Wortlaut Zeichenhaft
den gegenwärtigen Herrn bezeugt, und der auf spirituelle Erkenntnis
angelegte Mensch gehören zusammen. Allerdings stellt hier die Kirche
den Raum dar, in dem sidt beide im Licht der göttlichen Liebe begeg-
nen: "Im würde dem Evangelium nicht glauben, wenn mich nicht die
Autorität der Kirche bewegte."

ll. Die Bibel im Mittelalter


1. Der praktische Biblizismus: die Bibel (a) als Kodex der Sitten und
(b) als Programm
War für die Exegeten der Alten Kirche die Bibel vor allem das
große Lehrbuch der göttlichen Wahrheit, so wurde sie schon früh zum
heiligen Gesetzbuch für den einzelnen wie die Gemeinschaft'. I
1 F. Kropatschek, Das Sduütprinzip der lutherischen Kirche I. Die Vorgeschi<hte.
Das Erbe des Mittelalten (1904).; 1. A. Mich.alski, Raschis Einfluß auf Nik. von
Lyra in der Auslegung der Bücher Lev., Num. und Dt., in: ZAW 55 (1915), 218 bis
246; 56 (1916), 29-63; P. Fleig, Die hermeneutischen Grundsätze des Thomas v.
Aquin (1927); B. Smalley, Stephan Langton and the Four Senses of Scripture, in:
Speculum. 6, 1931, 60-76; dies., The Study of the Bibel in the Middle Ages (Ox-
ford [1940] 11952); M. L. W. Laistner, Antioch.ene Exegesis in Western Europe
during the Middle Ages, in: HThR 40 (1947), 19-41; F. Hahn, Zur Hermeneutik
Genons, in: ZThK 51 (1954), 54-50; M. D. Chenu, Das Werk des hl. Thomas von
Aquin (Paris 1950), dt.: Erg.-Bd. zur DL Thomas-Ausgabe 1 (1960), 263 ff.
[269/270] Zur Gesc:himte des Schriftverständnisses 19

(a) Das Neue Testament wird bei einem sol<hen Verständnis zum
"neuen Gesetz" (nova Iex), das Jesus als Gesetzgeber (legislator)
brachte. Bereits die Apostolischen Väter (Anfang des 2. Jahrhunderts)
sehen die Bibel als einen Kodex der Frömmigkeit und der Sitten an,
der dem Christen die Vorschriften des Beispieles Christi einschärft.
Die Bibel ordnet das Leben der Kleriker und Laien, später das der
Mönche und Nonnen. Der Mönmsvater Joh. Cassian (t 435) formu-
liert erstmalig die Lehre vom vierfachen Schriftsinn. Alle Bewegun-
gen, die im Mittelalter den neutestamentlichen Ruf zum Nachfolgen
in den Begriff der Nachohmung (i.mitatio) verwandeln, stellen exi-
stentielle Exegesen der Bibel dar. Benedikt von Nursia (t um 547)
entnimmt der Bibel das Reglement für den geistlichen Kriegsdienst,
das zu Arbeit und Kontemplation aufruft. Für Bernhard von Clair-
vaux (t 1153), den einzigartigen Bibelkenner und Allegoriker, wird
die lmitatio Christi Mittel für Intuition und Ekstase, mit dem Ziel:
durch Weltentsagung die Welt zu heiligen, d. h. zu beherrschen.
Franz von Assisi (t 1226) predigt in der nüchtern-heiteren Art seines
Liebeschristentums den Grundsatz, die Bibel bumstäblich, ohne Zu-
satz, zu verstehen und zu praktizieren. Zu einer neuen Literaturgat-
tung wird das aus meditativer Mystik geborene "Leben Jesu" (z. B.
Ludolf von Sachsen, t 1377), das den Christen zu frommem Mitleben
und Mitleiden der Geschichte des Erlösers anleitete. Das Interesse er-
wacht, sich dem Menschen Jesus zu "konfirmieren", gleichzuformen
(Thomas von Kempen, t 1471).
Darüber hinaus wird die Bibel zur Grundordnung des Verhältnisses
von Kirche und Welt. Krise und Zerfall der Einheit des Mittelalters,
des Corpus Christianum, steigern ihre Geltung zum universalen Pro-
gramm. Die formalen Auslegungsprinzipien gestatten jedoch sehr
verschiedene Anwendung. Bei den Häretikern erhält die bumstäblim
zu verstehende Bibel kritisme und konstruktive Bedeutung als Le-
bensgesetz. Schon die Waldenser (gestiftet von Valdes 1176) stellen
unter der Losung "sola scriptura" die Autorität der Schrift der Autori-
tät der Kirche entgegen. Ihren Wortlaut kennen sie weithin auswen-
dig. Die Tradition, die bisher die Bibelauslegung normierte, erscheint
ihnen als Ursprung widerbiblischer Neuerungen: kirchliche Sitten
(Heiligenverehrung, Fürbitte für Tote, Fegefeuerlehre usw.), liturgi-
scher Pomp I (Meßgewänder, Horensingen, Altardienst), das Recht
der Kirme (Dekretalen, Banngewalt, Ablaß) wie der Welt (Smwören,
Kriegsdienst, Todesstrafe) sind aufgrund der Lehre der Bibel abzu-
smaffen. Was nam Christi Himmelfahrt eingeführt wurde, ist unver-
bindlich. Gottes Wort ist Anfang des geistlimen Lebens, das nam
der Bergpredigt (bes. Mt. 7, 12) auszurichten ist. Das Ideal des "apo-
stolischen Lebens", der "evangelischen Vollkommenheit" schließt frei-
2•
20 GERHARD GLOEGE [270/271]

willige Armut und mystische Vereinigung mit ein. Jedoch sucht man
die Welt, die man selbst verachtet, zu evangelisieren. Dennoch hält
man- der mönchischen Frömmigkeit aufgeschlossen- gut katho-
lisch an der doppelten Sittlichkeit ("nur" Glaubende und Vollk.om-
mene) fest.
TheologisdJ. gründlicher durchdenkt John Wyclif (t 1384) den Bi-
blizismus. Für ihn ist die Bibel das Gesetzes-Corpus der Christokra-
tie: Iex caritatis. Christus allein garantiert die Wahrheit der ganzen
Schrift. Das Neue Testament ist Iex gratiae, von den Evangelisten als
authentischen Notaren Christi aufgezeichnet, daher inspiriert, klar
und sidJ. selbst beglaubigend. Nur die Bibel ist Gottes Wort. Sie ent-
hält den Glauben der Kirche. Weil jeder Mensch ein Theologe und
Gesetzeskundiger (legista) sein soll, muß jeder sie kennen. Wyclif
übersetzte zum ersten Male die gesamte Bibel ins Englische (1380/82).
Kirche und Welt sind durch diese Magna Charta zu regieren. Sie ver-
bietet den geistlichen Herren, irdische Güter zu besitzen. Sie reinigt
das seit der Konstantmischen Schenkung (Donatio Constantini) ver-
giftete Leben der KirdJ.e.
J. Wyclifs Ideen werden durch die Hussiten zum revolutionären
Biblizismus radikalisiert. In Böhmen, wo separatistische Bewegungen
(Waldenser) wirkten, entsteht aus dem einheimischen Spiritualismus
der militante Biblizismus: J. Hus (f 1415) aktualisiert Wyclif: "Das
Gesetz Jesu Christi reicht aus, um die streitende Kirche zu regieren."
Nach seinem Märtyrertode versuchen die radikalen, chiliastisch ge-
stimmten Taboriten, der Welt das Evangelium mit Feuer und Schwert
aufzuzwingen. Gottes Gesetz soll das öffentliche Leben beherrschen,
die neue gesellschaftliche Ordnung schaffen. Könige, Herren, Adlige
und Ritter sind auszurotten wie Unkraut. Steuern fallen dahin. Für-
sten- und StadtredJ.te werden als Menschengesetze durch das Gottes-
gesetz gewaltsam ersetzt. "Verflucht ist jeder Gläubige, der sein
=
Schwert vom Blut der Widersacher des Gesetzes Christi [ der Bibel!]
fernhält." -Dagegen wollen die Böhmischen Brüder (seit 1447) die
Friedensethik des Neuen Testaments allgemein verwirklidJ.en und die I
verweltlichte KirdJ.e durdJ. das Liebesgebot zum "apostolischen Zeit-
alter" zurückführen.
Die römische Kirche versudJ.t, den häretischen Auswüchsen dadurch
zu begegnen, daß sie das Lesen der Bibel in der Muttersprache (vor
allem in Konventikeln) gebietsweise untersagt. Ein generelles "Bibel-
verbot" gibt es im Mittelalter jedoch nicht.
[271/272] Zur Geschichte des Schriftverständnisses 21

2. Der heilsgeschichtliche Biblizismus: die Bibel als Kompendium


(a) der individuellen Erfahrung und (b) der Heilsgeschichte
(a) Während der praktisch-programmatische Biblizismus die Gel-
tung der Bibel stärkt, gefährdet der spekulative Spiritualismus sie aufs
höchste. Die Bedeutung des Bibeltextes tritt für die apokalyptisch Ge-
sinnten gegenüber der eigenen ekstatischen Erfahrung zurück (Hilde-
gard von Bingen, t 1178; Birgitta von Schweden t 1373) oder erlischt
ganz (bereits im Montanismus etwa ab 160; Amalrich von Bena,
t 1204; Brüder und Schwestern vom freien Geist, 13./14. Jahrhun-
dert). Besonnenere Geister verlangen immerhin die Übereinstim-
mung der "Offenbarungen" mit eindeutigen Bibelworten (Richard
von St. Victor, t 1173). Die Franziskaner-Spiritualen um Joachim von
Floris (t 1202) verkünden den Anbruch des johanneischen Zeitalters,
das das petrinische und paulinische ablöst: Altes und Neues Testa-
ment werden durch das "ewige Evangelium" abgeschafft. Jedes Zeit-
alter hat seineeigene "Bibel". Das dritte Zeitalter hat die "ungeschrie-
bene" Bibel; Buchstabe und Schrift hören auf. Die Bibel selbst wird
zur Quelle einer kirchenkritischen Geschichtsphilosophie. U. a. gehört
Petrus Olivi (t 1298), der eine für das Mittelalter einflußreiche Po-
stille über die Offenbarung des loharmes schrieb, zu diesen Radi-
kalen.
(b) Gegenüber dem enthusiastischen Spiritualismus haben jedoch
andere Exegeten des Mittelalters die Bibel nüchterner zu verstehen
gesucht. Freilich sind die Unterschiede zwischen kirchlicher und geist-
licher Auslegung teilweise recht erheblich. Die Bibel ist das Kompen-
dium der Heilsgeschichte Gottes mit der Welt. Motive der Geschichts-
typologie des Neuen Testaments (Röm. 4-5; Gal. 4; Hehr.) werden
überformt durch die griechische Paideia-ldee und durch Elemente
hellenistisch-jüdischer Apologetik. So wird die Bibel zum propheti-
schen Generalbericht über die chronologisch berechenbare Erziehung
der Menschheit (vgl. später G. E. Lessing) durch den Gott-Logos. Mit-
tels des Weissagungsbeweises (vgl. bereits Mt.) wird der biblische Zu-
sammenhang zwischen Schöpfung und Erlösung, Gesetz und Evan-
gelium als gradweise fortschreitende Entwicklung gedeutet, deren
Rhythmus I die Epochen der Kirche strukturiert. Gottes Heilsplan ent-
faltet sich in überhöhender Stufung: dreifach bei Theophilus von An-
tiochien (t nach 180) in den Zeitaltern vor, unter, nach dem Gesetz-
vierlach bei lrenäus (t nach 190) in den Bundesschlüssen mit Adam,
Noah, Mose, Christus. Die heilsökonomische Periodisierung zeigt die
Einheit der Bibel in ihrer Mannigfaltigkeit, macht aus der Polypho-
nie der Stimmen "das eine symphonische Melos" hörbar. Augustin
setzt diese heilsgeschichtliche Deutung voraus, das Mittelalter über-
GEIUIAI\D GLOEGE [272/273]

nimmt und variiert sie. Die areopagitsche Mystik prägt das Bibelver-
ständnis der Vi.k.torianer, vorab Hugos von St. Viktor (f 1141).1n der
Bibel findet dieser die Fülle der göttlicl:J.en Mysterien, Sakramente
und Symbole verborgen: ihre Summe ist- nacl:J. "Zeitenserie und Ge-
scl:J.lechterfolge" verscl:J.ieden- das Wacl:J.stum des Reimes Christi in
den Fortscl:J.rittsphasen des Natur-, Schrift- und Gnadengesetzes. Ihm
folgend bewundert Bonaventura (t 1274) an der Bibel nacl:J. Eph. 4,
14-17 ihre Weite (alles umfassend), Länge (universelle Gescl:J.icl:J.te),
Höhe (Herrlichkeit der Seligen) und Tiefe (Gottes Gericl:J.t).

J. Der theoretische Biblizismus: die Bibel als Corpus (a) der Lehre und
(b) des Naturrechts
(a) Der spekulative Trend wird durcl:J. die doktrinäre Reflexion ge-
dämpft. Der spanische Enzyklopädist lsidor von Sevilla (t 636) sieht
in der Bibel die Fundgrube einer Zahlenmystik, die auf alles real
Wißbare anwendbar ist. Der angelsäcl:J.siscl:J.e Hofgelehrte Alkuin (t
804) will die Bibel, die er als Kompilator überlieferter Auslegungen
kommentiert und deren lateinischen Text er revidiert, "katholiscl:J."
im Sinne des vulgär-augustiniscl:J.en Symbolismus verstanden wissen
und der nacl:J. Kulturwissen hungernden Zeit als Bildungsgut ersdilie-
ßen. Thomas von Aquino (t 1274) faßt das scholastische Bibelver-
ständnis zusammen: für ihn ist die Scl:J.rift der Autorität der Väter
und der Oberlieferung grundsätzlich übergeordnet. Der buchstäblime
Sinn bildet die Grundlage für den dreifachen geistlichen Sinn. Dieser
wird nacl:J. Augustin real-typologisch verstanden: Gott macht nimt
nur Worte, sondern aU<n Ereignisse zu Elementen seiner Rede und
verknüpft sie analogisch zu Beziehungen. Das Alte Testament ist Fi-
gur des Neuen Testaments (allegorisch); das Christusgeschehen be-
zeichnet das Handeln des Christen (moraliscl:J.); das Evangelium weis-
sagt die ewige Herrlichkeit (anagogisch). I
Unter dem Einfluß jüdischer Philologie, z. B. des Talmudisten Ra-
scl:J.i (t 1105), macht besonders Nikolaus von Lyra (t 1340) den gram-
matisch-historischen Sinn der Bibel geltend. Allerdings differenziert
er gerade hinsichtlich des Bucl:J.stabens zwiscl:J.en äußerer und innerer
Schrift (sensus litteralis historicus und sensus litteralis phropheticus).
Seine Bedeutung für die Reformation faßt später der Vers zusammen:
"Si Lyra non lyrasset, Lutherus non saltasset."
(b) Im späten Mittelalter wird dann die Beziehung Bibel und Tra-
dition in die von Bibel und Naturrecht modifiziert. Das Dekret Gra-
tians (um 11.W), das den ersten Teil des Corpus Juris Canonici bildet,
stellt zu Beginn die Identität von Bibel und Naturrecht fest. Thomas
von Aquino begründete diese von der Bibel, dem römischen Recht und
[273/274] Zur Geschichte des Schriftverständnisses

der stoischen Philosophie her. Nach Robert Grosseteste (t 1253) ist die
Bibel das Steuer, das Petri Schifflein zum Hafen des Heils lenkt. Das
in ihr erhaltene göttliche Recht ist mit dem Naturrecht identisch. Ro-
ger Bacon (t 1292) singt in seiner Epistel an den Papst das "Lob der
hl. Schrift" : Alle Weisheit ist allein in ihr zu finden. Sie ist Quelle und
Regel des Glaubens. Ihrer Lektüre muß man daher vor der dogma-
tischen Arbeit an den Sentenzen den Vorzug geben. Marsilius von
Padua (t ca. 1543) begründet mittels der Bibel und des kritisch an-
gewendeten Naturrechts die Theorie des Konziliarismus gegenüber
dem Episkopalismus. Die Bibel darf allein durch das Generalkonzil
ausgelegt werden. Für Ockham (t 1547) ist allein die Bibel irrtums-
lose Autorität, weil sie älter ist als alles Kirchenrecht. Ihr Inhalt deckt
sich mit dem Naturrecht und bildet die widerspruchslose Korrespon·
denz von Gottes Wort und Vernunft. Der ganzen Kirche gehört die
Bibel, wie auch ihre Auslegung. Theologie ist Bibelwissenschaft. Wi-
derspruch gegen die Bibel bedeutet Häresie. Die unfehlbare Bibel
steht über dem irrtumsfähigen Papst. -Nach dem Konziliaristen Job.
Gerson (f 1429) legt die Bibel sich selbst aus. Christi schlichtes Evan-
gelium bildet, gegenüber dem positiven Recht der Kirche, das Re-
formprogramm. Das göttliche oder Naturgesetz enthält die prinzi-
piellen Forderungen: Gott absolut zu gehorchen, ihn und die Men-
schen zu lieben, das Eigentum zu schützen, Gewalt und Unrecht ge-
waltsam abzuwehren. Pierre d' Ailly (t 1420) sieht zwar in den bibli-
schen Schriftstellern die Sektretäre des hl. Geistes, hält aber spirituali-
stisch die Bibel nur für ein Abbild des wahren Gesetzes, das dem Men-
schen von jeher übernatürlich eingepflanzt ist. - Mit der polemischen
Losung "Allein die Schrift" der Reformtheologen J. Pupper von Goch
(t 1475), J. v. Wesel (t 1481) und W. Gansfort (t 1489) klingt das
Mittelalter aus. I

lll. Das Wort Gottes bei Luther

Martin Luther setzt die Arbeit der Humanisten an den Schriften


des Alten (J. Reuchlin, t 1522) und des Neuen Testaments (D. Eras-
mus, t 1536) voraus. Unter Rückgriff auf den hebräischen und grie-
cbisdlen Urtext bedient er sich der philologisch-historischen Erkennt-
nisse der Zeit. In intensivem Studium der Bibel vernimmt er in neuer
Weise Gottes eigene lebendige Stimme. Gottes Rede, die er in der Bi-
bel zu hören beginnt, ist ihm aber nicht ein allgemeines "Wort Got-
tes", sondern das Evangelium Jesu Christi (solus Christus), das als
Gnadenwort das Gerichtswort des Gesetzes überwindet (sola gratia)
und im Glauben (sola fide) angeeignet wird: viva vox evangelii. Bei
24 GEI\HARD GLOEGE [274/275]

dieser Neuentdeckung werden alte Elemente der mittelalterlichen


Oberlieferung übernommen, aber sie erhalten vom Evangelium her
neue Funktionen bzw. werden inhaltlich umgeschmolzen3 •

1. Anknüpfung an das Mittelalter


Materiell übernimmt Luther von der Überlieferung des Mittelal-
ters: (a) das Schriftprinzip (sola scriptura), das gut vulgärkatholisch
ist und sowohl von den Scholastikern wie den freieren Denkern (R.
Grosselteste, R. Bacon, J. Gerson, P. d'Ailly, J. v. Wesel) und von den
Häretikern (Waldenser, Hussiten) vorausgesetzt wird.
(b) die Theorie von der Inspiration, die auf die jüdische Apokalyp-
tik (IV. Esra; M. Maimonides) und die neuplatonische Pneuma-Idee
(Philo) zurückgeht. Sie ist ein Erbe spätantiker Religionsphilosophie,
also keineswegs spezifisch "christlich" und sowohl dem Vulgärkatho-
lizismus (Gregor d. Gr.) eigen wie der Scholastik (Thomas), der frühen
Exegese (Walafried Strabo, t 849) wie der späteren Kirchenkritik (P.
d'Ailly, G. Biel), von den Spiritualisten ganz zu schweigen.
(c) das Auslegungsaxiom: daß die Bibel sich selbst auslegt und alle
einzelnen Stellen untereinander und zusammen ein Ganzes bilden
a 0. Scheel, Luthers Stellung zur Hl. Schrift (1902); K. A. Meissinger, Luthers
Exegese in der Frühzeit (1911); K. HoU, Luthers Bedeutung für den Fortschritt der
Aualegungskunst (1920), in: Gesammelte Aufsätze I (46 1927), 544-582; P. Althaus,
Gehorsam und Freiheit in Luthers Stellung zur Bibel, in: Luther 9 (1927), 74 bis
86 = Theologisdle Aufsätze I (1929), 140 ff.; E. Hirsch, Luthers Deutsdle Bibel
(1928); P. Schempp, Luthers Stellung zur Hl. Sdlrift, FGLP 2, 3 (1929); E. Vogel-
sang, Die Anfänge von Luthers Christologie nadl der 1. Pss-Vorlesung, AKG 15
(1929); W. Elert, ML I (1931) S 14 f.; H. Bomkamm, Das Wort Gottes bei Luther
(1933); ders., Luther und das Alte Testament (1948); F. Hahn, Luthers Aualegungs-
grundsätze und ihre theologischen Voraussetzungen, in: ZSTh 12 (1934/35) 165 bis
218; ders., Faber Stapulensis und Luther, in: ZKG 57 (1938), 556-432; E. Schlinlt,
Theologie der lutherischen Bekenntnisschriften ([1940] 1 1946), Kap. I; G. Ebeling,
Evangelische Evangelienauslegung. Eine Untersudlung zu Luthers Hermeneutik,
FGLP 1 (1942); ders., Die Anfänge von Luthers Hermeneutik, in: ZThK 48 (1951},
172-230; R. Prenter, Spiritua creator (Kopenhagen [19#] 1 1946); W. A. Quanbeck,
The Henneneutical Principles of Luther's Early Exegesis (Diss. Princeton, 1948);
J. M. Reu, Luther and the Scriptures (Columbus 1949); Fr. K. Schwnann, Gedan-
ken Luthers zur Frage der Entmythologisierung, in: Festsdlrift fiir R. Bultmann
(1949}, 208-220 = ders., Wort und Gestalt (1956), 165-178; W. v. Loewenich, Lu-
ther als Aualeger der Synoptiker (1954); H. fZJstergaard-Nielsen, Scriptura sacra et
viva vo:x, FGLP X/10 (1957); E. Wölfel, Luther und die Skepsis, FGLP X/12
(1958); G. Rupp, Word and Spirit in the First Years of the Reformation, in: ARG
49 (1958), 1~26; R. Hermann, Von der Klarheit der Hl. Schrift (1958); G. Ebeling,
J. Atkinson, R. Josefson, in: Lutherforschung heute. Referate und Berichte des 1.
Internationalen Lutherforschungskongresses, hrsg. v. V. Vatja (1958), 32-63;
G. Krause, Studien zu Luthers Auslegung der Kleinen Propheten, BHTh 33 (1962);
K. Bomluunm, Luthers Aualegung des Galaterbriefes von 1519 und 1531, AKG 55
(1963).
[275/276] Zur Geschichte des Schriftverständnisses

(bes. in der Spätzeit: J. Gerson, W. Gansfort, J. v. Wesel, W. v. Ock-


ham) und daß auch im Alten Testament Christus ihr Inhalt sei.

2. Oberwindung des Mittelalters


Materiell überwindet Luther jedoch den mittelalterlichen Biblizis-
mus, indem er folgende Elemente preisgibt, die grundlegend waren:
(a) die Identifizierung von Bibel und Vernunft (etwa R. Bacon: alle
Weisheit sei in der Bibel enthalten, ähnlich J. Wyclif).
(b) die Identifizierung von Bibel, Evangelium und Gesetz, die für
die Individualethik (imitatio) den Verdienstbegriff einschloß, für die
Sozialethik die Idee der Theokratie (Vorbild: der Gottesstaat des Alten
Testaments).
(c) die Identifizierung des in der Bibel verfaßten göttlichen Rechtes
(lex caritatis) mit dem natürlichen Recht unter Rezeption des aristo-
telischen Begriffs der Billigkeit (btlElxELa).

J. Das lebendige Wort


Das Kriterium für jene Beibehaltung und Neuformung der alten
Elemente (1) und ihrer Abstoßung (2) ist die grundlegende Erkennt-
nis, daß in der Bibel Gottes lebendige Stimme hörbar wird. Die Bibel
ist für Luther in erster Linie nicht optisch, sondern akustisch zu ver-
stehen. Mit diesem Bibelverständnis ist der theoretisch-doktrinäre·
Biblizismus (s. o. II, 3) erledigt. "Lehre" (doctrina) der Bibel ist ihm
nicht Theorie, sondern die den Menschen und die Welt angreifende
Verkündigung: Predigt. Jesus selbst schrieb kein Buch, forderte auch
nicht die Jünger auf, Bücher zu schreiben, sondern hinzugehen und
allen Völkern das Heil zu verkündigen. Die schriftliche Fixierung der
Botschaft im Bibelbuch stellt nur einen Notbehelf dar, der durch das.
Abnehmen des Geistes in den ersten Gemeinden und das Auftreten
der Irrlehre nötig I wurde (WA 10 I/1, 625 ff.). Zugleich versteht Lu-·
ther das in der Bibel sprechende Wort als den Mutterschoß der Kirche.
Das mündliche Wort ist das Zeichen, um das sich die Kampfschar
Christi sammelt. Zeimen der Kirche (nota ecclesiae) ist das Wort
nimt als Etikett, sondern als Daseinsgrund. "Das Evangelium ist
vor (prae) Abendmahl und Taufe das einzige, gewissesteund edel-
ste Symbol der Kirche. Denn allein durm das Evangelium wird die
Kirme empfangen, geformt, genährt, erzeugt, erzogen, geweidet, be-
kleidet, gesclunückt, gestärkt, bewaffnet, bewahrt. Kurzum: das ganze
Leben und Wesen der Kirme besteht im Worte Gottes (tota vita et
substantia Ecclesiae est in verbo dei)." Luther meint hier mit dem
"Worte Gottes" ausdrücklim nimt das geschriebene Bibelwort, son-
dern das mündliebe Evangelium, das in der Predigt verkündigt wird
26 GI!.RHARD GLOEGE (276/277]

(WA 7, 720 f.). Die Bibel ist für ihn nicht Corpus himmlischer Lehre,
"Lehr- und Lesebuch" (legibile), sondern "Predigt-, Höre- und Streit-
buch" (doctrinale, audibile, pugnax: WATR 2, Nr. 2185).

4. Die Gerechtigkeit Gottes


Allerdings entdeckt Luther die Bibel als Träger des Rufes Gottes in
der Auslegung ihres Textes, bei der Klarstellung des Begriffes "Ge-
rechtigkeit Gottes" (Röm. 1, 17). Dabei hilft ihm die kritische Unter-
scheidung von Gesetz und Evangelium, von Mose und Christus. Er
lernt die Gerechtigkeit des Gesetzes von der Gerechtigkeit des Evan-
geliums unterscheiden (WATR 5, Nr. 5518). Die Gerechtigkeit Gottes
ist ihm fortan nicht die fordernde Gerechtigkeit, durch die Gott den
Menschen straft, sondern die schöpferische Gerechtigkeit, durch die er
den Sünder gerecht macht. Mit dem Verständnis, daß diese Gerechtig-
keit mit der Gnade identisch ist, hatte ihm "der Hl. Geist die Schrift
offenbart" (WATR 3, Nr. 3232 c). Ihm wird die Unterscheidung zur
Pforte des Paradieses (WA 54, 185, 14 ff.) und so zum hermeneuti-
schen Axiom für die Bibelauslegung. Noch die Konkordienformel
weiß, daß der Unterschied zwischen Gesetz und Evangelium einen
hermeneutischen Sinn hat. Er ist "ein besonders herrlich Licht ... ,
welches dazu dienet, daß Gottes Wort recht geteilet und der heiligen
Propheten und Apostel Schriften eigentlich erkläret und verstanden"
werden (FC SD V = BSLK 951, 4 ff.). Indem Luther Gesetz und
Evangelium kategorial unterscheidet, aktualisiert er die Bibel zur
Gottesrede, die durch Töten lebendig macht, durch Gericht zur Gnade
führt. Mit diesem Bibelverständnis ist der gesetzliche, programma-
tische Biblizismus (s. o. II, 1) erledigt. Die Bibel ist für Luther nicht
Codex religiös-sittlicher Vorlschriften, weder für den einzelnen noch
für die Gesellschaft, sondern die Gestalt der richtenden und rettenden
Gottesrede.

5. Das prophetische Buch


Diese Erkenntnis hat sich aber nur im Rahmen einer exegetischen
Bemühung vollzogen, bei der sich Luther gewisser Begriffe des über-
lieferten Schemas vom "vierfachen Schriftsinn" bedient. Dieser be-
ruhte auf der für das Mittelalter durchgängigen Unterscheidung von
buchstäblicher und geistlicher Auslegung. Die buchstäbliche (ß) Aus-
legung forderte die grammatisch-historische Methode; die geistliche
(a) daneben die allegorisch-mystische (a 1), die tropologisch-mora-
lische (a 2) und die anagogisch-eschatologische (a 3). Als Königin der
Exegese galt die Allegorie (a 1). Luther dagegen erklärt den buch-
stäblichen Sinn für den geistlichen Quellsinn. Er identifiziert also ß
[277 /278) Zur Gesdllmte des Schriftventändnisses 27

und a und kombiniert ihn mit der zum Hauptsinn erhobenen Tropo·
logie (a 2). Der "geistlirhe Burhstabe" (ß und a in einem: littera spiri·
tualis) enthält als Grundsinn das Zeugnis Jesu Christi, also das Heils·
handeln Gottes, das sirh mittels des tropologischen Gegenwartssinnes
(a 2) am Mensrhen verwirklicht. Derselbe Text, der das Handeln
Gottes in Christus verkündet, srhafft im Hörenden die neue Schöp-
fung. Der Verkündete wirkt den Glauben. Christus schafft den Chri-
sten. Wie Christus ganz Gottes Werk ist, so ist auch der Glaubende
allein Gottes Werk. Das Ergebnis dieser tropologischen Exegese, die
das Heilsgesrhehen von "damals und dort" im "heute und hier" ver-
gegenwärtigt, ist die Rerhtfertigungslehre (E. Seeberg).
Bereits Faber Stapulensis, dessen Psalterausgabe (1509) Luther für
seine erste Vorlesung (1513/14) benutzte, hatte den buchstäblichen
Sinn (ß) für den geistlichen (a) erklärt. Luthers Konzeption ist nur
darin neu, daß er und wie er die bereits vollzogene Identifikation mit
der tropologisch·existentiellen Auslegung verband. Neu ist auch die
Konsequenz, mit der er der Anagogie (a 3) und besonders der Allegorie
(a 1) den Abschied gibt. Jedenfalls sind beide nicht mehr für die Aus-
legung der Bibel konstitutiv. Luther bezieht die Bibel streng auf die
Christusbegegnung, so daß die Botsrhaft das Gewissen trifft und Glau-
ben schafft. Dadurch werden die "Leseworte" des Geschirhtsburhes zu
"lauter Lebensworten" (WA 31/1, 67). An die Stelle der Vernunft, des
Gesetzes und der Spekulation tritt der mit dem Evangelium iden-
tische Christus. Als der Person gewordene Freispruch, den Gott im
Gericht fällt, ist er der einzige Inhalt der Bibel und wird durch den
hl. Geist beglaubigt. Mit diesem Bibelverständnis ist der heilsge-
schichtlirhe Biblilzismus (s.o. II, 2) erledigt. Die Bibel ist für Luther
nicht das Compendium einer Gotteshistorie, die zu philosophischen
Spekulationen veranlaßt, sondern das prophetische Buch, das Jesus
als den Christus verheißt.

6. Buchstabe und Geist


Luthers entscheidende Tat auf dem Gebiet der Bibelbenutzung be-
steht einerseits darin, daß er den mittelalterlichen Biblizismus auf
der ganzen Linie (s. die Abschnitte 3-5) radikal überwindet, ande-
rerseits darin, daß er das von Augustin formulierte Problem "Buch·
stabe und Geist" vom neu verstandenen Evangelium aus neu beant-
wortet. Luther denkt von der in Jesus Christus geschehenden Gottes-
geschichte her. Indem er den Satz Joh. 1, 14 von der Fleischwerdung
des Wortes ernst nimmt, gewinnt er den konkreten Geistgedanken.
Für Luther gibt es wohl eine logische Unterscheidung, aber keine tat-
sächliche Trennung von beiden: das "Wort" ist geisthaltig- und um-
28 GEJUIARD GLOEGE [278/279]

gekehrt: der "Geist" ist wortgebunden. "Der Geist ist im Buchstaben


verborgen." "Die hl. Schrift ist Gottes Wort, geschrieben und (daß ich
so rede) gebuchstabet und in Buchstaben gebildet, gleichwie Christus
ist das ewige Gotteswort, in die Menschheit verhüllt, und gleichwie
Christus in der Welt gehalten und gehandelt ist, so gehts dem schrift-
lichen Gotteswort auch" (WA 48, 31). Wie Luther in seinem reforma-
torischen Lebenswerk zur Rechten gegen den Papst und zur Linken
gegen die Schwärmer anzukämpfen hat, so muß er sich im Verständ-
nis der Bibel nach zwei Seiten hin abgrenzen: zur Rechten (a) gegen
den Litteralismus (Buchstabentheologie) und zur Linken (b) gegen
den Spiritualismus (Geistfanatismus).
(a) Gegen den Litteralismus (ß) setzt Luther das Zeugnis vom
freien, lebendigen Wort (a). "Wort" bedeutet für ihn ursprünglich
nicht Schrift-, sondern Geistwort. Gewiß: Geistwort ist "äußerliches
Wort" (verbum externum), vorgetragen durch den Mund von Men-
schen: mündliches Wort. Ist aber für den alten Bund die schriftlich
fuierte Urkunde, der Buchstabe wesentlich, so für den neuen Bund
die mündliche Verkündigung, das Kerygma. Das Wort muß zum
Klingen kommen, wie die Notenschrift in klingende Musik umgesetzt
werden will. So ist auch die geschriebene Bibel nur Hilismittel, um
die Erinnerung an das verkündigte Wort festzuhalten und rein zu er-
halten gegen allen Millbrauw. - Luther liest die Bibel, auch das
Alte Testament, christozentrisch. Den christozentrischen Kanon im
Kanon sieht er im Joh.Ev., 11. Joh., Röm., Gal., Eph., 1. Petr. Er liest
die Synoptiker vom vierten Evangelium her. Er versteht das Neue
Testament von Paulus her (WADB 6, 40, 29 :ff.).
(b) Gegen den Spiritualismus (a) setzt Luther das an den Buchsta-
ben konkreter Texte sich bindende Wort (ß), das nur aus eben diesen
Texten zu erheben ist. Die Smwärmerei der "Innerlidlkeit", des "un-
mittelbaren" Zuganges zu Gott ist Wahn, aber nicht minder smein-
bar entgegengesetzter Enthusiasmus des Papstes, der "alle Rechte ...
im Schrein seines Herzens" zu haben vorgibt (Schmalk. Art III, 8, 4 =
WA 50, 245 = BSLK 454, 8 f.). - Das Evangelium kann nur durch
die Sprachen erhalten werden. "Die Sprachen sind die Scheiden, darin
dies Messer des [hl.] Geistes stedtt." Sie sind der Schrein für das Klein-
od, das Gefäß für diesen Trank, die Kammer für diese Speise, die
Körbe für Brote, Fisdie und Brodten (Mt. 14,20: WA 15, 38 = BoA
2, 451, 26 :ff.). Allein dies Motiv läßt ihn, ähnlich wie die Humani-
sten, und dom ganz anders begründet, die Sprache ernst nehmen.

7. Das Kriterium: Christus


Indem Luthers Verstehen der Bibel ganz durch die Erkenntnis
Christi bestimmt ist, gewinnt er ein Sadlkriterium, durch das nicht
[279/280] Zur Geschichte des Schriftverständnisses

nur die Lehre der Kirche zu überprüfen ist, sondern auch jede Aussage
der Bibel selbst. So wird Luther zum Begründer einer christozentri-
schen Bibelkritik. Ist Christus "Herr und König der gesamten Schrift",
so bedeutet das positiv: Luther übernimmt den Kanon der Kirche (und
damit auch das Alte Testament) nicht aus Gründen der Pietät, son-
dern von seinem Christusverständnis her. Dadurch tritt er in Gegen-
satz zu Marcion, den Manichäem und Katharern, die den Wider-
spruch zwischen Altem und Neuern Testament dramatisieren, den
Gott des Alten Testaments veränderlich, grausam und lügnerisch fin-
den und das ganze mosaische Gesetz als vom Teufel gegeben verwer-
fen. Das christozentrische Kriterium bedeutet kritisch: als Herr der
Schrift ist Christus nicht nur Grund, sondern auch Grenze ihrer Au-
torität: Kanon im Kanon. In den Vorreden zum September-Testament
von 1522 steht der gewichtige Satz: "Das ist der rechte Prüfstein, alle
Bücher zu tadeln, wenn man siebet, ob sie Christus treiben oder nicht,
sintemal alle Schrift Christum zeiget, Röm. 3, und S. Paulus nichts
denn Christum wissen will, 1. Kor. 2. Was Christum nicht lehret, das
ist noch nicht apostolisch, wennsgleich S. Petrus oder Paulus lehrete.
Wiederumb was Christum prediget, das wäre apostolisch, wenns
gleid:J. Judas, Hannas, Pilatus und I Herodes tät" (WADB 7, 384: Vor-
rede auf die Episteln S. Jakobi und Judas). Damit verwandelt Luther
den historisch-formalen Begriff des Apostolischen (ob eine Schrift von
einem Apostel stamme) in ein Sachkriterium. Von daher ist seine chri-
stozentrische Kritik nicht nur an Büchern des Alten Testaments, son-
dern auch an denen des Neuen Testaments zu verstehen. Die später
von der Orthodoxie ausgebaute Unterscheidung von proto- und deu-
terokanonischen Schriften hat bei Luther ihren Ursprung. In der ge-
nannten Ausgabe des Neuen Testaments läßt der Reformator den Ja-
kobus-, Judas- und Hebräerbrief sowie die Apokalypse ohne Nume-
rierung und ohne Seitenzahl - wie eine Art Anhang - drucken. Be-
deutsamer ist aber noch die Konsequenz, mit der Luther dem rationa-
listisch-gesetzlid:J.en Bibelverständnis der Biblizisten die These entge-
gensetzt: "Wenn die Gegner die Schrift treiben gegen Christus, so
treiben wir Christus gegen die Schrift" (WA 39/1, 47). "Christus trei-
ben" heißt aber für Luther: die Rechtfertigung verkündigen.

8. Das Budz. der Gottesgeschichte

Die Ausrichtung der Schriftaussagen auf Christus lehrt Luther das


Alte wie das Neue Testament geschichtlich verstehen. Ist der abstrakt-
formale Biblizismus überwunden, so wird die Bibel zur "göttlichen
Aeneis" (WA 48, 241): sie erzählt von den Schicksalen, die der Ver-
heißung Gottes zu verschiedenen Zeiten, an verschiedenen Orten, bei
GEI\HAJU) GLOEGE (280/281]

verschiedenen Geschlechtern und Völkern widerfahren. Gottes ver-


heißendes Wort liegt mit dem Menschen beständig im Kampf und
gelangt durch Niederlagen zum Siege; auf Irrgängen und Umwegen
läuft es seinem Ziele entgegen. Es sagt nicht allen Menschen aller
Zeiten und Länder dasselbe, sondern spricht jeweils in ihre besondere
Situation seinen besonderen Ruf. Luther hat also das an der Bibel
wahrgenommen, was wir heute ihre konkrete "Geschichtlichkeit"
nennen. Jeder Mensch hat jederzeit zu prüfen, ob ihm das betreffende
Bibelwort wirklich gilt - oder nicht. Was Israel gesagt ist, oder den
Jüngern, gilt nicht ohne weiteres den Christen; was damals gesagt
wurde, gilt nicht ohne weiteres heute. Der Glaubende ist also stets zur
rechten Prüfung beim Gebrauch der Bibel aufgerufen. Aber jeder
einzelne und jede Generation ist in besonderer Weise eingeladen, sich
in den Lauf des lebendigen Wortes hineinnehmen zu lassen. I

IV. Stadien auf dem weiteren Wege 4


1. Die lutherische Theologie
Unter Luthers Mitarbeitern und Schülern kommt es zu einer weit-
gehenden Rationalisierung des Bibelverständnisses.
(a) Bereits Ph. Melanchthon (CR 23, 585 ff.) rürkt die ganze Bibel
in doktrinäre Sicht. Sie ist die Quelle der reinen Lehre. Ihre einzig-
artige Autorität beruht auf ihrem Inhalt, der als vollkommen irrtums-
los gilt. Die göttliche Offenbarung stellt, zum.al durch Wunder be-
glaubigt und verbürgt, die absolute Wahrheit dar. Ihre Sätze be-
sitzen dieselbe Gewißheit wie die ebenfalls von Gott mitgeteilten ma-
thematischen Axiome. Neben die Bibel treten als Normen ihres Ver-
• E. Nagel, Zwinglis Stellung zur m. Schrift (1896); G. Moldaenlce, Schriftver-
ständnis und Schriftdeutung im Zeitalter der Reformation I. M. Flacius lllyricus,
FKGG (1936); T. H. L. Parker, The Oracles of God (1947) (Calvin); .A. M. Hunter,
The Teaching of Calvin (11950); B. Hägglund, Die Heilige Schrift und ihre Deu-
tung in der Theologie Joh. Gerhards. Eine Untersuchung über das altlutherische
Schriftverständnis (Lund 1951); W. Kreclr., Wort und Geist bei Calvin, in: Fest-
schrift für G. Dehn (1957), 167-181.
D. Fr. Schleiennacher, Ober den Begriff der Hermeneutik, in: Sämtliche Werke
III/3 ((1829] 1 1835), 344--386; ders., Hermeneutik, hrsg. v. H. Kimmerle, AAH
1959, 2 (1959); Fr. Overbeclr., Ober Entstehung und Recht einer rein kritischen Be-
trachtung der neutestamentlichen Schriften i!l der Theologie (1871); P. Gennrich,
Der Kampf um die Schrift in der deutschen evangelischen Kirche des 19. Jahrhun-
derts (1898); M. Kähler, Dogmatische Zeitfragen I. Zur Bibelfrage (11907); H. E.
Weber, Historisch-kritische Schriftforschung und Bibelglaube ((1913] 1 1914); E. Pe-
terson, Das Problem der Bibelauslegung im Pietismus des 18. Jahrhund~, in:
ZSTh 1 (1923), 468--481; E. W. W endebourg, Die heUsgesdüchtliche Theologie
J. Chr. K. v. Hofmanns in ihrem Verhältnis zur romantischen Weltanschauung, in:
ZThK 52 (1955), 64--10+.
[281/282] Zur Geschichte des Schriftverständnisses 31

ständnisses die altkirchlichen Symbole. über der Bibel als Corpus der
Lehre wird die Kirche zur Schule, die Theologie zur Scholastik.
(b) Matt. Flacius schafft in seinem "Clavis scripturae sacrae" (1567)
die erste lutherische Hermeneutik. Neben einem biblisch-theologi-
schen Wörterbuch umfaßt dies Standardwerk Abhandlungen, die
Grammatik, Rhetorik und Stilistik methodisch der Exegese dienstbar
machen wollen. Das Schriftganze tritt in den Blick; Zusammenhangs-
Exegese wird gefordert. Freilich trägt die Wiederaufnahme aristote-
lischer Begriffe und Denkstrukturen zur Rekonstruktion des verbal-in-
spirierten Bibelbuches beL Die Kirchenlehre wird zur norma normans
der Exegese, denn der Inhalt der Bibel ist mit dem orthodoxen Dog-
ma identisch. Aus der Schrift als dem Gnadenmittel wird die Bibel als
Erkenntnisquelle. I
(c) Unter großem Aufwand von Scharfsinn hat die lutherische
Orthodoxie eine systematische Lehre von der hl. Schrift erarbeitet.
Dabei bleiben kritische Gesichtspunkte, wie die Unterscheidung von
proto- und deuterokanonischen Schriften, wach. Auch verbirgt sich
hinter rationaler Doktrin wahre Frömmigkeit, die den Lobpreis der
Bibel singt und nicht nur denkerisch aus ihr lebt. Die Lehre von den
"Eigenschaften" (affectationes, z. B. Abr. Calov, t 1686) oder "Herr-
lichkeiten" (a\Jxi}J.W'ta, Job. Gerhard, t 1637) enthält unverlierbare
Erkenntnisse des Schriftverständnisses: Die Bibel setzt (a) ihre Wahr-
heit krafteigenen Spruches durch (auctoritas). Sie schließt (b) jede
andere sie zusätzlich beglaubigende Instanz (z. B. die Tradition) aus
(perfectio bzw. sufficentia). Sie deckt (c) dem Menschen in konkreter
Anrede das Dasein vor Gott in der Welt auf (perspicuitas). Sie läßt
(d) den Menschen in unausweichlicher Entscheidung die Rettung aus
Gottes Gericht ergreifen- oder verfehlen (efficacia).
(d) Eine beachtliche Intensivierung verdankt das Bibelstudium
dem Pietismus, der die Bibel in erster Linie "erbaulich" verstand. Von
spiritualistischen Motiven gespeist, hält er gegenüber dem Wiederauf-
kommen des doktrinären Biblizismus die Erinnerung daran wach,
daß der Ruf der Bibel das Leben des Menschen und der Gemeinschaft
angeht. So ·erscheinen in ihm fundamentale Erkenntnisse der tropo-
logischen Exegese Luthers wiedergewonnen (Ph. J. Spener, t 1705),
die innerhalb der Orthodoxie verlorenzugehen drohten. Grundlage ist
der buchstäbliche Sinn (ß), der zugleich übernatürlich und geistlich ist
(a). A. H. Francke (t 1727), Orientalist und Vorkämpfer für die Lek-
türe der hebräischen Bibel, wirkt auf Philologie und Textkritik anre-
gend. Der Außenseiter N. L. Graf von Zinzendorf (t 1760) antizipiert
- in den Spuren Luthers das Grundmotiv der Inkarnation für Sprache
und Schriftverständnis fruchtbar machend - Gedanken J. G. Ha-
manns, S. Kierkegaards und H. Bezzels: die Bibel ist Zeugnis des sich
GElUIAJ\D GLOBGE [282/283]

selbst herablassenden Gottes (Kondeszendenz). Jedenfalls überkommt


den modernen Menschen mittels dieser existentiellen Exegese der Bi-
bel sein bisher letztes religiöses Bildungserlebnis von Gewicht.

2. Die reformierte Theologie


Neben Luther treten andere Formen des Bibelverständnisses.
(a) H. Zwingli (f 1531) verkörpert ihm gegenüber relativ selbstän-
dig, von humanistischen Impulsen beflügelt, einen gesetzlichen Spiri-
tualismus. Mittels der augustinischen Korrelation von "res" und "si-
gnum" versteht er die Bibel als Wort des hl. Geistes, das aber auch I
anderen Ortes vernehmbar wird. Christus selbst schreibt sein Gesetz
in das Herz. Die vom Geist bewegte Seele wird befähigt, den Buch-
staben der Bibel zu verstehen. Eine unvermittelte Beziehung zwi-
schen Gottesgeist und Menschengeist gibt den äußeren Zeichen ihren
Sinn.
(b) J. Calvin (lnstitutio I, 6 ff.) vertritt, hierin Luthernäherstehend,
-ein lebendiges Schriftverständnis. In der Bibel begegnet er dem
erleuchtenden Worte, durch das Gott den Menschen anspricht (pro-
missio) und beansprucht (Iex), um ihm seine Majestät zu offenbaren.
Das "heimliche Zeugnis des Geistes" (testimonium Spiritus sancti ar-
<:anum) wirkt Erkenntnis des in der Bibel sich bekundenden Gottes-
willens. Der Vater bezeugt sich im Sohne durch den hl. Geist. Schrift
(ß) .und Geist (a) sind wechselweise fest verknüpft, ebenso Geist und
Glaube. Die Bibel ist "Schule des hl. Geistes", in der Gottes Offen-
barungsworte (oracula) laut werden.
(c) Der reformierte Biblizismus ist noch in der zweiten Generation
(vgl. die BSRK), bei ausgesprochener Inspirationstheorie, durch das
Moment der Verkündigung belebt. Aus ihm entwickelt sich die Föde-
raltheologie, die in der Bibel die Geschidlte von sich einanderablösen-
den Gottesbündnissen sieht. Der Gedanke des Bundes (foedus) beein-
flußte bereits den Lutheraner G. Calixt (f 1656) und findet bei J. Coc-
~ejus (f 1669) seine klassische Ausprägung. Indem der Zeitbegriff
Maßstab der Gesmichte wird, wird damit zugleich das neuzeitliche
Geschichtsdenken (J. G. Herder) kräftig angeregt und vorgeprägt. J.
A. Bengel (t 1752) versteht von der Idee der Zeitenordnung (ordo
temporum) her die Bibel als Urkunde einer universalen, organism
fortschreitenden Ökonomie Gottes. Sie ist ihm lebendiges "System
göttlicher Zeugnisse", "ein einheitlich zusammenhängendes Gefüge",
"ein ganzheitlicher Leib", "himmlisches Depositum" (Gnomon,
praef. §§ 1, 27). Als geistlich-leiblicher Organismus erzeugt sie den
heiligen "schriftgemäßen Gottesmenschen". Diese Bibeltheorie ist ge-
schichtlich äußerst wirksam geworden. Sie wirkte auf das fromme wie
[283/284] Zur Gesmichte des Schriftverständnisses 33

auf das gelehrte Bibelstudium vertiefend ein. J. T. Beck (t 1878) sieht


in der Schrift einen "sich fortbildenden Organismus der Theopneu-
stie". J. Ch. K. v. Hofmann (t 1877) sucht in ihr die "weissagende Ge-
sclllchte" (Altes und Neues Testament bezogen auf die Mitte Jesus
Christus), die sich im Heiligungsstand des Christen verwirklicht. Zu-
gleich mit pietistischen Motiven prägt die Theorie die Erweckungs-
bewegungen des 19. Jahrhunderts. Freilich droht sie, die Philologie
(J. G. Hamann, t 1788) in Sprachmythologie und die Theologie in I
Theosophie (Fr. Chr. Oetinger, t 1782) zu verkehren und die so in der
Reformation entdeckten historischen Elemente der Bibel in Ge-
schichtsphilosophie zu verflüchtigen.

3. Die römisch-katholische Theologie und die orthodoxe Kirche


Die Reformation nötigte die römische Kirche zu einer normativen
Formulierung ihres Bibelverständnisses. Zwar hatte bereits der kirch-
liche Positivismus der Franziskaner, obwohl er sein abstraktes Schrift-
prinzip kritisch einsetzte, nicht nur die Autorität der Kirche als Ord-
nungsmacht verstärkt (Bonaventura, Duns Scotus), sondern auch ihr
Monopol der Schriftauslegung gefestigt (J. Gerson), doch erst in der
Abwehr des reformatorischen Schriftprinzips ordnete die römische
Kirche die schriftlid:ten und mündlid:ten Traditionen (Plur.) dem ge-
setzlich verstandenen Lehrbuch der Bibel gleich. Das Konzil von Tri-
ent erklärte 1546, daß "alle Heilswahrheit und sittliche Ordnung",
die aus dem Evangelium quelle, "enthalten ist in geschriebenen Bü-
chern und in ungeschriebenen Überlieferungen, die von den Aposteln
aus Christi eigenem Munde empfangen wurden, oder von den Apo-
steln selbst nach dem Diktat des hl. Geistes gleichsam von Hand zu
Hand überliefert und so bis zu uns gekommen sind". Das Konzil er-
klärt, daß es beide (d. h. Bibel und Tradition) "mit gleicher Pietät
und Ehrfurcht annehme und ehre".
"Der hl. Mutter Kirche kommt es zu, über den wahren Sinn und
die Auslegung der hl. Schrift zu urteilen." Niemand darf sie gegen das
Verständnis der Kird:te und die einmütige Meinung der Väter ausle-
gen (Sess. IV: Denz. 32 , 1501 ff.). Das Vatikanische Konzil hat 1870 so-
gar die Tradition der im Papsttum repräsentierten Kirche unterwor-
fen (Sess. IV: Denz. 3050 ff.). Damit wurde die Schriftautorität prak-
tisch entkräftet (Leo XIII.: Enz. "Providentissimus Deus" von 1893:
Denz. 3280 ff.).lmmerhin behauptet 1920 Benedikt XV. für ihren ge-
samten Inhalt Inspiration und Irrtumslosigkeit (Enz. "Spiritus Pa-
raclitus": Denz. 3652 ff.). Pius XII. forderte noch 1943 in einer auf
diesen Grundsätzen ruhenden "Hermeneutik" zum vertieften Bibel-
studium auf und ordnete Litteralsinn (ß) und geistlichen Sinn (a) ein-

3 Kücmann, Kanon
GERHARD GLOEGE [284/285]

ander zu (Enz. "Divino afflante Spiritu": Denz. 3825 ff.). Trotzdem


wurde mit der Defmition des Dogmas von der leiblichen Himmelfahrt
Marias 1950 (Const. Apost. "Munificentissimus Deus": Denz. 3900 ff.)
schließlich sogar die das Schriftverständnis bisher regulierende Tradi-
tion zugunsten des Kirchlichen Lehramtes radikal problematisiert.
Nach wie vor gilt jedoch die Bibel "bloß" als "schriftliches Deposi-
tum" oder I "urkundliche Quelle des Glaubens" innerhalb eines Ent-
wicklungsprozesses, der Offenbarung und Uberlieferung genetisch-
organisch verbindet. Die autoritäre Erklärung des "lebendigen, per-
manenten Lehrapostolats" sorgt als "souveräne und direkte Regel"
für ihre Auslegung und disziplinäre Anwendung. Die Bibel ist "dem
Buche der Natur ähnlich", aber in weit höherem Sinne und Grade,
"ein objektiv vor die Augen des Menschen gestelltes Kunstwerk, ein
Gemälde und Drama der göttlichen Weisheit" zur "Anregung" man-
nigfachster Erkenntnisse und zur "Veranschaulichung" der überna-
türlichen Welt (M. J. Scheeben, Nr. 267; 271; 240).
Die orthodoxe Kirche glaubt, daß sie selbst "keine geringere Zeu-
genkraft hat als die hl. Schrift. Denn da der Urheber von beiden der
gleiche hl. Geist ist, ist es dasselbe, ob du von der Schrift oder von der
katholischen [ = orthodoxen] Kirche belehrt wirst" (Bekenntnis des
Dositheus, 1672). Das von den sieben alten ökumenischen Konzilen
(325-787) abschließend festgelegte Dogma enthält die unwandelbare
Lehre der Schrift. Ihre im Dogma fixierte Kraft durchwaltet das ge-
samte Dasein in Kultus und Frömmigkeit. Sie legt sich aus in der
hl. Kirche, ihren Liedern und Heiligenlegenden. Durch die Ikonen,
in denen sich die Abgebildeten inkarniert vergegenwärtigen, durch
das mit Küssen verehrte Evangelienbuch, durch die Dramatik des
Gottesdienstes vollzieht sich das in der Bibel beschriebene Heilsge-
schehen vom Anfang bis zum Ende der Weltgeschichte. Die im Evan-
gelium aufgezeichnete Fleischwerdung des Logos bewirkt Vergottung
des Menschen, Heiligung der Kreatur, Verklärung des Kosmos. Zwi-
schen Schrift, Uberlieferung und Werk der Kirche besteht vollkom-
mene Ubereinstimmung. Alle drei sind äußerlich, innerlich ist nur
der Geist Gottes. "Die Schrift hat keine Grenzen, denn jede Schrift,
welche die Kirche als die ihre anerkennt, ist hl. Schrift" (A. Chomja-
kow, 1840). Im Leben des Kirchenvolkes spielt die Bibel eine unterge-
ordnete Rolle. Da sie schwerverständlich ist, braucht sie nicht von
allen Gläubigen gelesen zu werden. Ihren zentralen Ort hat sie im li-
turgischen Geschehen. Ihre Worte, Gedanken, Gestalten durchträn-
ken die liturgischen Texte.Ihre Energien ereignen sich real im Gottes-
dienst. Ihren Sinn versucht man- unter Ablehnung des "reinen Bi-
blizismus" (des 18. und 19. Jahrhunderts) - in intensiverer Predigt-
arbeit zu erschließen.
[285/286] Zur Geschimte des Schriftverständnisses

4. Kritische Bibelforschung
Im Gegenschlag gegen jedes dogmatisch gebundene Bibelverständ-
nis werden die Impulse des Humanismus und der durch ihn befruch-
teten I Sprachforschung, aber auch die des Sozianismus, des Arminia-
nismus (H. Grotius) und des englischen Deismus (Cherbury, J. Locke,
J. Toland, M. Lindal, Th. Chubb usw.) in allen Kirchen und Kon-
fessionen virulent. Wirkte der Rationalismus in den orthodoxen Sy-
stemen mehr konstruktiv, so trat fortan seine kritisch, destruktive
Kraft hervor. Der Jude B. Spinoza (t 1677) formuliert als erster die
Prinzipien der literar-historischen Bibelkritik. Der französische Ora-
torianer Richard Sirnon (t 1712) versteht die Bibel als Literaturwerk
und entdeckt hinter dem Werden ihrer Schriften die Entstehung
schriftlicher und mündlicher überlieferungen. Die Umwälzungen auf
den Gebieten der allgemeinen Welterkenntnis und der Naturwissen-
schaften (Kopernikus im 17., Kant im 18. und Darwin im 19. Jahr-
hundert) radikalisieren die neu entstehende historisch-kritische Bibel-
forschung, provozieren aber zugleich die negative Reaktion der Kirche.
Im Zuge der Aufklärung, die die Leitbcgriffe "Natur und Vernunft"
zum Siege führt, versucht J. S. Semler (t 1791) die biblische Geschichte
von dogmatischer überfremdung zu befreien und- wie bereits R. Ba-
con im Mittelalter- zwischen historischer und dogmatischer (bzw. er-
baulicher) Exegese zu unterscheiden. Indem man die Theorie von der
Verbalinspiration als biblische Randaussage erkennt, fmdet man zu-
gleich zurück zum geschichtlichen Charakter der Bibel und ringt um
Auslegungsmethoden, die ihrem Verständnis angemessen sind. Die
philosophisch-historische Forschung betrachtet die Bibel primär als
Quellensammlung. Rationalistische Elemente und Haß gegen die Re-
ligion (H. S. Reimarus, t 1768; Wolfenbütteler Fragmente 1774 ff.)
misd:J.en sich mit spiritualistischen Tendenzen und Liebe zur Wahr-
heit. FürG. E. Lessing gilt: "Der Buchstabe ist nicht der Geist, und die
Bibel ist nicht die Religion." Die Bibel enthält die Elementarbücher des
Alten und Neuen Testaments, über deren "Staffeln" die ewige Vor-
sehung die "Erziehung des Menschengeschlechts" betreibt, bis hin zur
höchsten Stufe der Aufklärung, der Zeit der Vollendung. J. G. Herder
(t 1803) lehrt die Bibel, als "ein Buch durch Mensd:J.en für Menschen
gesd:J.rieben", menschlich zu lesen und erlaßt das geschichtliche Mo-
ment kräftiger. Fr. D. Schleiermacher - nicht nur Wissenschaftler,
sondern auch bedeutender Prediger an der Berliner Dreifaltigkeits-
kirche (t 1834)- entwickelt aus der Analyse des Verstehens- Sprad:J.e
und Denken unterscheidend - zum ersten Male eine allgemeine mo-
derne Hermeneutik. Nach ihm begründet nid:J.t das Ansehen der hl.
Schrift den Glauben an Christus, sondern umgekehrt setzt jene diesen

J•
36 GERHARD GLOEGE [286/287]

voraus. Erst im 19. Jh. kommen infolge der sich verfeinemden histo-
rischen Methode rationalistische Postulate zur Wirkung: die Texte J
der Bibel sollen, wie andere Schriften des Altertums, mittels der Mo-
mente der Kritik, Analogie und Korrelation aus dem allgemeinen
Kausalzusammenhang immanenten Geschehens erklärt werden.
(b) Allerdings wird das historische Verstehen der Bibel zwiefach
getrübt: (1) durch das Aufkommen der modernen Wissenschaftsidee,
die seit dem 18. Jahrhundert an den Naturwissenschaften orientiert
ist und objektive Dinge exakt erfassen, logisch beweisen, mathema-
tisch formulieren will (R. Descartes, G. W. Leibniz, I. Kant) und in
der Bibel "ewige Wahrheiten" zu finden meint (Rationalismus). -
Die Bibel bezeugt aber den Ungegenständlichen, Unverrechenbaren,
Unverfügbaren, der nicht erklärt werden kann, sondern verstanden
werden will.
Die andere Trübung (2) erfolgt durch die Geistphilosophie, die neu-
platonischer Überlieferung entstammt, christliche Erfahrungen säku-
larisiert und die Bibel als Niederschlag antiker und spätantiker vor-
derorientalischer Religiosität auffaßt (Idealismus). - Die Bibel ist
aber etwas anderes und mehr als eine Sammlung religiöser Doku-
mente.- Beide Eintrübngen werden um so bedenklicher, als zu glei-
cher Zeit die Einheit des biblischen Kanons faktisch zerfällt. Das Aus-
einandertreten der Wissenschaft des Alten und der des Neuen Testa-
ments hat weniger methodische Gründe (Arbeitsteilung) als gnmd-
sätzlime. Durm sie wird die Preisgabe des biblischen Kanons dra-
stisch dokumentiert. Der Verbindung beider Eintrübungen liegen an-
tidogmatisme, aber dogmatism begründete Ressentiments zugrunde,
die unter dem mißverständlichen Begriff der "liberalen Theologie"
zusammengefaßt wurden.

f. Historisch-kritische Forschung
Noch unter ihrer Herrschaft kommt es zur echten Hinwendung zur
Geschichte, von der aus allein die Einheitlichkeit der Bibel wieder-
gewonnen werden kann. Sie vollzieht sich in drei Etappen:
(a) Die rein-historische Tendenzforschung bedient sich vorwiegend
analytism der Literarkritik. Im Alten Testament untersucht J. Weil-
hausen (f 1918) die Geschichte des Volkes Israel, im Neuen Testa-
ment D. Fr. Strauß (t 1874) das "Leben Jesu" und F. Chr. Baur (t
1860) die Entstehung des Urchristentums. Alle drei sind unterschied-
lich durm Hegels Geschichtsphilosophie beeinflußt. Individuen und
Institutionen müssen von Ideen her verstanden werden. Trotz der
Abwertung großer Teile der biblischen Überlieferungen als unhista-
risch bzw. mythoJlogisch bleibt als Ertrag die Einsicht in die Viel-
schichtigkeit der biblischen Quellen, die zeitlich z. T. weit auseinan-
[288/289] Zur Geschid:J.te des Sd:J.riftverständnisses 37

derliegen. Im Alten Testament erzielt die seit dem 18. Jahrhundert


in Fluß geratene Pentateuch-Kritik in Heraushebung verschiedener
Quellen relative Gewißheit (J. Wellhausen). Im Neuen Testament er-
reicht die Evangelienkritik die Anerkennung der Zweiquellentheorie:
die Annahme der Erzählungs- (Mk.) und der Spruchsammlung (Q)
(H. J. Holtzmann).
(b) Die religionsgeschichtliche Forschung sucht die Einseitigkeit der
literarkritischen Methode ergänzend zu regulieren. Ideen und Insti-
tutionen werden vom Individuellen her verstanden. Für das Alte Te-
stament haben u. a. H. Gunkel (t 1932), für das Neue Testament u. a.
0. Pfleiderer (t 1908) und W. Bousset (t 1920) die Anschauungen der
biblischen Schriften aus ihrer religiösen Umwelt zu interpretieren
versucht. So veranschaulichen ägyptische, babylonische, hethitische,
kanaanäische Einflüsse die Eigenart des Alten Testaments, indo-
iranische, hellenistische, gnostische, rabbinische, essenische Elemente
(Handschrifteniunde von Qumran) die des Neuen Testaments. Die
Erforschung des Spätjudentums, besonders seiner Apokalyptik, rückt
beide Testamente wieder näher aneinander. Darüber hinaus hat die
Archäologie durch Funde und Ausgrabungen Lebensräume vergan-
gener Kulturen mit ihren Denkmälern, Literaturen und Mythologien
entdeckt, deren Kenntnis für das Verständnis der Bibel unerläßlich
ist. In Abgrenzung gegen die Religionsgeschichte gewinnt die "kon-
sequente Eschatologie" (J. Weiß, Alb. Schweitzer) die Erkenntnis,
daß das Neue Testament in seinen Grundbestandteilen ein eschato-
logisches Buch ist.
(c) Zugleich mit der zur reformatorischen Exegese zurückrufenden
(dialektischen) "Theologie des Wortes" (K. Barth) vollzieht sich nach
dem 1. Weltkrieg eine Rückwendung zur geschichtlich-theologischen
Betrachtung, die Wende vom Liberalismus zum Kritizismus. Ideen
und Individuen werden von den Institutionen her verstanden. Ältere
theologische Tendenzen kommen in der form- und überlieferungs-
geschichtlichen Forschung zur Geltung. Bereits im Alten Testament
von H. Gunkel angewandt (später von A. Alt, M. Noth, G. v. Rad),
wird sie durch M. Dibelius, R. Buhmann, K. L. Schmidt in der syn-
optischen Kritik des Neuen Testaments durchgeführt. Den Kernbe-
standteil der Evangelien bilden nicht historische Protokolle, sondern
mündlich überlieferte "Perikopen" (Sprüche und Erzählungen), die
ihren ursprünglichen "Sitz im Leben" in Gottesdienst, Missionspre-
digt, Unterweisung, aber auch in Apologetik, Polemik, schriftgelehr-
ter Arbeit, Gelmeindedisziplin usw. haben. Ihre Absicht ist nicht, hi-
storische Ereignisse aufzuzeichnen, sondern dogmatisch-erbaulich zu
belehren. Ihre spätere Zusammenfassung und Rahmung zu Gruppen
oder endlich zum Evangelienbuch ist sekundäres Werk der glauben-
GEI\HARD GLOEGE [289]

den Gemeinde. Indem man innerhalb der Bibel, mittels differenzier-


ter Methoden literarisd:J.e Formen und Gattungen und ihre Oberlie-
ferung verständlich mad:J.en kann, tritt die ursprünglid:J.e Botschaft
(Kerygma) nad:J.Inhalt und Tendenz überzeugender hervor.
Die historisch-kritisd:J.e Forsd:J.ung hat im Zuge zunehmender Spe-
zialisierung Hervorragendes geleistet, indem sie den Text, die Text-
kritik (K. v. Tisd:J.endorf; B. F. Westcott, J. A. Hort, B. H. Streeter),
die Sprad:J.e, die literarisd:J.en Formen, die Bildung des Kanons usw.
gesd:J.id:J.tlich erfaßte. Jeder Bibelleser lebt von den mühsam gewonne-
nen Früd:J.ten zäher Kleinarbeit. Gilt es doch, aus der Fülle von Bibel-
handschriften, deren ungeheure Zahl immer noch wächst (vgl. die
Papyri- und Qumranfunde), den bestmöglichen Bibeltext herzu-
stellen.
V. Gegenwärtige Fragestellungen
Für die gegenwärtige Bibelwissenschaft5 ist damit die theologisd:J.e
Fragestellung in den Vordergrund gerückt. Voraussetzung jedersach-
1E. v. Dobschütz, Vom Auslegen in Sonderheit des Neuen Testaments ((1922]
1 1927); K. Girgensohn, Die Inspiration der hl. Schrift (1925); E. Fascher, Vom Ver-
stehen des Neuen Testaments (1930); ders., Textgeschichte als hermeneutisches
Problem (1953); E. Schaeder, Das Wort Gottes, BFChTh 2, 22 (1930), 111-128;
Fr. Torm, Hermeneutik des Neuen Testaments (1930); A. Oepke, Geschichtliche
und übergeschichtliche Schriftauslegung ([1931] 1 1947); R. Bultmann, Glauben und
Verstehen I (1933) 85-113, 153-187, 268-293; II (1952) 211-235; H. Echtenuu:h,
Es stehet geschrieben (1937); K. Barth, KD 1/2 (1938), §§ 19-21; KD IV /1 (1953),
182 f., 404 ff., 804 f.; W. Zimmerli, Auslegung des Alten Testaments, in: ThB119
(194<>), 145-157; E. Brunner, Offenbarung und Vernunft (1941), 117 ff. - H. H.
Rowley, The Relevance of the Bible (London 1942); A. Hunter, The Unity of the
New Testament (London (1943] 11946); H. Cun.liffe-Jones, The Authority of the
Biblical Revelation (London 1945); C. H. Dodd, The Bible To-day (1947); 0. Eiß-
feldt, Geschichtliches und Obergeschichtliches im Alten Testament (1947); A. G.
Hebert, Scripture and the Faith (London 1947); R. Bring, A. Fridrichsen, H. J.
Lindroth, 0. Linton, A. Nygren, E. Sjöberg, in: En bok om bibeln (Lund 1947);
G. Wingren, Predikan (Lund 1949); R. Bring, Kristendomstolkningar (Stockholm
1950); E. Dinlr.ler, Bibelautorität und Bibelkritik, in: ZThK 47 (1950), 70-93 (auch
in SGV 193 (1950] erschienen); G. Ebeling, Die Bedeutung der historisch-kritischen
Methode für die protestantische Theologie und Kirche, in: ZThK 47 (1950), 1-46
= ders., Wort und Glaube (1960), 1-49; E. Kiisemann, Begründet der neutesta-
mentliche Kanon die Einheit der Kirche?, in: EvTh 11 (1951/52), 13-21; ders.,
Zum Thema der Nichtobjektivierbarkeit, in: EvTh 12 (1952/53), 455-466 = Exe-
getische Versuche und Besinnungen I (1 1961), 224--236; G. Gloege, Mythologie und
Luthertum ([1952] 1 1963); R. Hauge, GudsAbenbaring og troslydighet (Oslo 1952),
155 ff.; Fr. Baumgärtel, Verheißung (1952); G. v. Rad, Typologische Ausle-
gung des Alten Testaments, in: EvTh 12 (1952/53), 17-33; R. Josefson, Bibelns
auktoritet (Stockholm 1953); A. N. Wilder, Biblical Hermeneutic and American
Scholarship, in: Neutestamentliche Studien für Rud. Buhmann, BZNW 21
(1954), 24--32; A. A. v. Ruler, Die christliche Kirche und das Alte Testament
(1955); T. Aultrust, Forkynnelse og historie (Oslo 1956); W. Eichrodt, Ist die typo-
[290/291] Zur Geschichte des Schriftverständnisses 39

gemäßen Exegese ist die radikale Preisgabe einer illusionären Un-


verjbindlichkeit des Exegeten und die Übernahme wissenschaftlicher
Verantwortlichkeit im Raume kirchlicher Existenz. Während in der
Wissenschaft vom Alten Testament heute ein weitgehender Arbeits-
konsensus prinzipieller Art erreicht ist, stehen sich in der Erforschung
des Neuen Testaments zwei "Richtungen" gegenüber. Während die
eine sich stärker am Rahbinismus ausrichtet, repräsentiert durch P.
Billerbecks "Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und
Midrasch", und mehr "konservativ" wirkt (A. Schlatter, G. Kittel, J.
Jeremias, 0. Michel, E. Stauffer), orientiert sich die andere mehr an
den hellenistisch-gnostischen Einflüssen (R. Buhmann, E. Käsemann,
G. Bornkamm., H. Braun u. a.). Methodisch ausgleichend wirkt die
Formgeschichte. Durch die Kritik R. Bultmanns und seiner Schüler
erhalten die Fragen der Hermeneutik besonderes Gewicht. Über die
"existentiale Interpretation" (R. Bultmanns "Entmythologisierung"!)
hinaus gilt es zu einer bereits von J. Schniewind (f 1948) geforderten
existentiellen Auslegung vorzudringen, die das Zueinander von Theo-
logie I("Idee"), Person ("Individuum") und Gemeinde ("Institution")
berücksichtigt.
Historische und theologische Problematik beginnen sich wechselsei-
tig zu befruchten. Zwar legt man einerseits den Ton auf das "Keryg-
ma", das ohne historischen Gehalt inhaltlich zu "verdampfen"
droht, während man andererseits die "Heilstatsachen" betont, die-
positivistisch verstanden -zur "Realtheologie" zu erstarren drohen.
Dennoch spiegelt sich in der Spannung zwischen Botschaft (a) und
Geschichte (ß) in neuer Form die alte Polarität von spiritus (a) und
logische Exegese sachgemäße Exegese?, in: ThLZ 81 (1956), 641-654; R. Prenter,
Die systematische Theologie und das Problem der Bibelauslegung, ebd. 577-586;
H. W. Wolf!, Zur Hermeneutik des Alten Testaments, in: EvTh 16 (1956), 337 bis
370; R. Hermann, Gotteswort und Menschenwort in der Bibel (1956); H. Diem,
Was heißt schriftgemäß? (1958); ders., Der Theologe zwischen Text und Predigt,
in: EvTh 18 (1958), 289-302; G. Ebeling, Wort Gottes und Hermeneutik, in:
ZThK 56 (1959), 224-251 = ders., Wort und Glaube (1960), 319-348; R. Her-
mann, Offenbarung, Wort und Texte, in: EvTh 19 (1959), 99-116; W. Pannenberg,
Heilsgeschehen und Geschichte, in: KuD 5 (1959), 218-237, 259-288; Cl. Wester-
mann (Hrsg.), Probleme alttestamentlicher Hermeneutik, ThB 11 (1960) (Lit.verz.:
S. 363-366); G. Bornkamm, Geschimte und Glaube im Neuen Testament, in:
EvTh 22 (1962), 1-15; 1. Moltmann, Exegese und Eschatologie der Geschichte,
ebd. 31-66; Cl. Westermann, Was ist eine exegetische Aussage?, in: ZThK 59
(1962), 1-15; H. W. Wolf!, Das Alte Testament und das Problem der existentialen
Interpretation, in: EvTh 23 (1963), 1-30; Ed. Schweizer, Die historisch-kritische
Bibelwissenschaft und die Verkündigungsaufgabe der Kirche, ebd. 31-34; Komelis
H. Miskotte, Wenn die Götter schweigen. Vom Sinn des Alten Testaments (1963);
K. Koch, Was ist Formgeschichte? (1964); F. Mildenberger, Gottes Tat im Wort
(1964); James Ban, The Semantics of Biblical Langnage (Oxford 1961); dt.: Bibel-
exegese und moderne Semantik {1965).
GERHARD GLOEGE [291/292]

littera (ß) wider. Der Nachweis, daß die Bibel doch "recht hat", ist
nicht durch archäologische Funde zu erbringen (denn sie beziehen sidt
auf etwas, worüber uns die Bibel nicht informieren will), sondern
allein durch das Zeugnis der Verkündigung und den Glauben, der
sich freudig empfängt (denn sie beziehen sich auf die Rechtfertigung
des Menschen und der Welt durch Christus).
Für die gesamte Bibelforschung gilt es, in der Detailforschung den
Grundsatz zu erproben: die Bibel hat- analog der Gottmenschlich-
keit Jesu Christi - "zwei Naturen". Sie ist einerseits ganz und gar
"Bibel", d. h. Menschenwort, das Gottes einst ergangene Tatrede be-
zeugt, Sammlung von Glaubensaussagen und Berichten über Offen-
barung, Denkmal einer Vergangenheit. Und sie ist andererseits ganz
und gar "hl. Schrift", d. h. Gotteswort in menschlicher Knedltsgestalt,
Ausdruck seines Herrenwillens: bestimmende Macht für Gegenwart
und Zukunft. Das bedeutet praktisch für die Kirche wie für jeden ein-
zelnen Christen: "in, mit und unter" der Bibel (ß) als einer Samm-
lung antiker religiöser Urkunden glauben wir dem Rufe der Schrift
(a), in der Gott selbst redet durch den Sohn im hl. Geist. - Es ist
dreierlei zu bedenken:
(1) Die Bibel ist nicht Sammlung historischer Protokolle über die
Entstehung von Welt und Mensch, Natur und Geschichte zu lnfor-
mationszwecken, sondern das Buch der Kirche, "Urkunde für den
Vollzug der kirchengründenden Predigt" (M. Kähler). Ihr Redestil ist
nicht die informierendeAussage über etwas, sondern die appellierende
Ansage an den Menschen (Kerygma).
(2) Die Bibel ist begründet in Gottes geschehender Verkündigung
seines Gerichtes und Heiles (Gesetz und Evangelium). Sie zielt zu-
gleich auf Sendung, auf Missionierung der Welt. Als Mittel der uni-
versalen Botschaft der Kirdte ist sie das Buch der Menschheit (Mis-
sion).
(3) Die Bibel bedarf, indem sie Gottes Geschichte mit der Welt
immer neu aktualisieren will, ständig der rechten Auslegung. Der
Text Ihat seinen Sinn auszusagen, der Buchstabe den Geist zu entbin-
den, die "Note" den Ton hörbar zu machen (Interpretation).
Die Kirche weiß mit Luther, daß Gott und die Bibel wie Schöpfer
und Geschöpf voneinander zu unterscheiden (WA 18, 606, 11 f. =
BoA 3, 101, 4 f.: "duae res sunt Deus et Scriptura Dei"), aber auch
stets aufeinander zu beziehen sind. Daher weiß sie sich an die Ge-
schichte gewiesen, in deren Medium sich Gott und Mensch treffen.
Die Theologie sollte wissen, daß der geistliche Sinn der Bibel (a)
nicht am historisch überlieferten Text (ß) vorbei zu erfragen ist, son-
dern nur in ihm selbst gefunden wird. "Richtige Pneumatik und rich-
tige Historik sind unlöslich beieinander" (Ad. Schlauer).
IhRMANN STRATHMANN

Die Krisis des Kanons der Kirche*


Joh. Gerhards und Joh. Sal. SemZers Erbe
I.
Eine schleidzende Krankheit der evangelischen Theologie und da-
mit der evangelischen Kirche ist die Unklarheit ihres Verhältnisses zu
den Urkunden ihres Ursprungs, also zum Bibelkanon, genauer des-
sen ungeschichtliches, nämlich intellektualistisch-juridisches Mißver-
ständnis und seine Auswirkungen.
In Luthers Kampf gegen die mittelalterliche Kirche bildete die im
Sinne des evangelischen Grundartikels von der Rechtfertigung (Art.
Smalc. II) verstandene hl. Schrift die Grundlage seiner eigenen inne-
ren Stellung und daher aucl:t der Ausgangspunkt seines Angriffs und
seiner Verteidigung.
Es genügt nicht, einfach zu sagen, die hl. Schrift oder auch das
Neue Testament sei diese Grundlage gewesen. Es muß heißen: Die
im Sinne des evangelischen Grundartikels verstandene hl. Schrift.
Denn Luther wurde der Reformator nicht dadurch, daß er die hl.
Schrift entdeckte, sondern dadurch, daß ihm wie in einer plötzlicl:ten
Erleuchtung der Schlüssel zu ihrem Verständnis- eben im Rechtfer-
tigungsglauben-geschenkt wurde. Den Bibelkanon hat er von der
mittelalterlichen Kircl:te geerbt. Aber der half ihm nicht in seinen
Seelennöten. Als er jedocl:t in Röm 1, 17 den Kanon des Kanons ent-
deckte, da war ihm geholfen1• I
Darum wenn Luther in seiner Auseinandersetzung mit der mittel-
alterlichen Kirche schlechterdings keine Autorität gelten lassen wollte
als die hl. Schrift, so folgt daraus nicht, daß er gewillt gewesen wäre
oder hätte sein müssen, alles, was zur Bibel gerecl:tnet wurde, als eine
• Ersbnals veröffentlicht in: ThBl 00, J. C. Hinrichs-Verlag, Leipzig 1941~
Sp. 295-310.
1 Dieses Verhältnis von Bibelkanon und Rechtfertigungsglauben spiegelt z. B.

die Apologie der C. A. wenigstens im deutachen Text IV 2 f. (M 80) deutlich wie-


der: Dieweil aber solcher Zank ist über dem höduten fürnehmsten Artikel der
ganzen christl. Lehre, also daß an diesem Artikel ganz viel gelegen ist, welcher
auch zu klarem richtigen Verstande der ganzen hl. Schrift fürnehmlich dienet, und
zu dem unaussprechlichen Schatz und dem rechten Erkenntnis Christi allein den
Weg weiset, auch in die ganze Bibel allein die Tür auftut, ohne welchen Artikel
auch kein arm Gewissen ein rec:hten ... Trost haben ... mag etc.
42 [296]

in sich gleichwertige und gleichgewichtige Masse anzusehen und sich


jedem Buchstaben ohne weiteres zu fügen, wenn es auch bisweilen
den Anschein hatte. Seine erstaunlich freimütigen Urteile über ein-
zelne Teile der Bibel und gerade auch des Neuen Testaments bewei-
sen das. Die klassische Formulierung seines Verhältnisses zur Bibel
fmdet sich bekanntlich in der Vorrede zum Jakobusbrief v. J. 1522:
"Darin stimmen alle rechtschaffenen heiligen Bücher überein, daß sie
allesamt Christum predigen und treiben. Auch ist das der rechte Prüf-
stein, alle Bücher zu tadeln, wenn man sieht, ob sie Christum treiben
oder nicht, sintemal alle Schrift Christum zeigt, Röm 3, 21, und St.
Paulus nichts denn Christum wissen will, 1. Kor 2, 2. Was Christum
nicht lehrt, das ist noch nicht apostolisch, wenn's gleichSt. Petrus oder
Paulus lehrte. Wiederum, was Christum predigt, das wäre apostolism,
wenn's gleich Judas, Hannas, Pilatus und Herodes täte." Das Ver-
hältnis dessen, was man später als Formal- und Materialprinzip der
Reformation unterschied, verstand Luther demnach dialektisch. Darin
offenbart sich die lebendige Ursprünglichkeit seines Glaubens und ist
seine kühne Freiheit gegenüber allem Buchstabenwesen begründet.
Dieses dialektische Verständnis der Schriftautorität, das damit ge-
gebene Verhältnis freier Gebundenheit wich jedoch in der Folgezeit
mehr und mehr einem intellektualistisch-juridischen. Die heftigen
dogmatischen Streitigkeiten mit den Römischen, mit schwärmeri-
schen und anderen Richtungen und im eigenen Lager der Evangeli-
schen führten folgerichtig in der Konkordienformel zur scharfen Her-
ausstellung der hl. Schrift als des allein anzuerkennenden Erkenntnis-
prinzips (vgl. besonders Epitome, De compendiaria regula atque nor-
ma 1. 7 u. 8). Aber davon, daß es auch für Verständnis und Wertung
des Kanons einen Kanon gebe, ist nicht die Rede. Der dialektische
Charakter des ursprünglich-reformatorischen Verständnisses der
Schriftautorität kommt nicht zum Ausdruck2 • Die Erinnerung an die
ungünstigen Urteile Luthers über einige Schriften auch des neutesta-
mentlichen Kanons lebte zwar noch fort. Aber der Unterschied zwi-
schen kanonischen und apokryphen Schriften des Neuen Testaments
wurde selbst von Chemnitz (t 1586), der noch entschieden an ihm
festhielt, keineswegs mehr in der religiösen Weise Luthers, sondern
äußerlich-historistisch mit dem Mangel eines völlig einheitlichen Ur-
teils der christlichen Urzeit über diese Schriften begründet (Exam. conc.
Trid. I 92). Job. Gerhard (t 1637) wollte die Gegenüberstellung von
kanonischen und apokryphen Schriften des Neuen Testaments lieber
durch die Unterscheidung von kanonischen Büchern erster und zwei-
ter Ordnung ersetzt wissen (Loci theol. li 186). "Kanonisch" waren
1 Der später formulierte Grundsatz der Auslegung der Schrift secundum analo-
giam fidei ist dafür kein Ersatz.
[296/297] Die Krisis des Kanons der Kirche

sie beide. Man sprach dann von protokanonischen und deuterokano-


nischen Schriften (Quenstedt). Das hatte aber nur die Bedeutung
einer Erinnerung daran, daß über die menschlichen auctores secun-
darü der zweiten Gruppe hie und da in der alten Kirche Zweifel zu-
tage getreten waren. Über den auctor primarius, nämlich den hl. Geist,
und darum auch über die Autorität dieser Schriften habe es dagegen
keinen Zweifel gegeben. Es war nur folgerichtig, daß man die ganze
Unterscheidung zuletzt als dogmatisch unerheblich beiseite schob3 •
Einer Theologie, deren Interesse nicht auf das gelschichtliehe Ver-
ständnis der Bibel und besonders des Neuen Testaments, sondern
allein darauf gerichtet war, sie als die von keiner Unsicherheit be-
drohte Urkunde der göttlichen Offenbarung darüber, was der das
ewige Heil erstrebende Mensch zu glauben und zu tun hat, als prin-
cipium cognoscendi zu erweisen und sicherzustellen, konnte an sol-
chen Unterscheidungen nichts liegen. Um so energischer wurde die
Lehre von der hl. Schrift als dem principium cognoscendi certissimum
ausgebaut. Das ist sie, weil Gott selbst ihr eigentlicher und alleiniger
Urheber ist, der seine Offenbarung eben darum schriftlich nieder-
legen ließ, weil die Reinheit der Lehre gegen jede Entstellung gesi-
chert werden mußte. Die hl. Schrift ist instrumenturn publicum, eine
öffentliche Beweisurkunde, dei auctoritate, iussu ac mandato perscrip-
tum. Die Aufzeichnung erfolgte freilich durch menschliche Schrift-
steller, die aber, ohne aus Eigenem etwas hinzuzufügen, nur nieder-
schrieben, was vom hl. Geist ihnen eingegeben war, - bloße ama-
nuenses dei oder notarii des hl. Geistes. Dessen Autorität deckt also
den gesamten Inhalt bis in alle Einzelheiten. Keinerlei Irrtum, auch
nicht in Nebensächlichkeiten, keinerlei Unvollkommenheit, auch nicht
nach der sprachlich-formalen Seite hin, kann daher zugegeben wer-
den. Weil die Bücher der hl. Schrift, und nur sie, so entstanden sind,
darum also kommt ihnen und nur ihnen kanonische Autorität zu,
d. h. es darf in keiner Weise, weder in Abstrichen noch durch Zutaten
von ihnen abgewichen werden. Der Kanon steht mit seinem ganzen
Inhalt als unverbrüchliches Gesetz da, an welchem die gesamte kirch-
liche Lehre auszurichten ist. Was Gott in seinem Wort geoffenbart
hat, ist untrüglich wahr et reverenter credendum et amplectendum
(Gerhard). Hinter dieses Prinzip kann nicht zurückgegangen werden.
Zur Rechtfertigung dieser Lehre von der Schrift berief man sich
- mit recht sorgloser Exegese - auf einige mehr oder weniger entle-
gene Bibelstellen, besonders 2. Tim 3. 16 und 2. Petr 1, 21, die frei-
1 Die Belegstellen findet man am bequemsten bei Heinr. Schmid, Die Dogmatik
der ev.-luth. Kirche, § 12 Kanon u. Apokryphen. Hier benutzt in der 5. Au.ß. (1863).
-Zu der ganzen Entwicklung vgl. H. E. Weber, Reformation, Orthodoxie u. Ratio-
nalismus I 2 {1940) bes. S. 260 ff.
HERMANN STRArnMANN [297/298]

lieh höchstens den Wert von Selbstzeugnissen haben konnten. Aber


ein eigentlicher "Beweis" für das Recht dieses Bibelglaubens konnte
naturgemäß überhaupt nicht geführt werden. Man konnte sich nur
auf das testimonium spiritus sancti, also auf die persönliche innere
Erfahrung berufen, die aus der hl. Schrift das Wort Gottes vernimmt,
von ihm getroffen wird und sich zum Glauben führen läßt. So über-
zeugt die hl. Schrift von sich selbst den, dem es gegeben wird. Das ist
zwar ein Zirkel. Aber dieser Zirkel ist unvermeidlich. Denn das Ver-
hältnis von Glaube und Bibel ist dialektisch. Was man darüber hin-
aus als innere und äußere Kriterien für die spezifische Qualität der
kanonischen Schriften anführte, wie z. B. ihr Alter, die die biblischen
Lehren bestätigenden Wunder, das Zeugnis der Kirche, das Zeugnis
der Märtyrer, der Missionserfolg der Kirche usw., war ebenfalls nicht
als Beweis, sondern höchstens als Ausrufungszeichen und Hinweis dar-
auf anzusprechen, daß es mit diesen Schriften eine besondere Be-
wandtnis habe, und war auch nicht anders gemeint. Doch ist zu be-
achten, daß man bei der Frage der Zugehörigkeit der einzelnen
Schriften zum Kanon des Neuen Testaments auf das Zeugnis der apo-
stolischen Zeit über Herkunft und Charakter dieser Schriften - sie
konnte am besten ihre Zuverlässigkeit und ihren Inspirationscharak-
ter beurteilen- entscheidendes Gewicht legte.
Doch glaubte man so die Autorität der hl. Schrift als einer unbe-
dingt zuverlässigen Norm und als der einzigen Norm für das, was
christlich ist, genügend gesichert. Aber in Wirklichkeit war dies nur
ein System von Postulaten. Diese Lehre hatte ihren Ursprung weder
in der Wirklichkeit der Bibel, noch in der Erfahrung an und mit ihr,
und zwar weder der Erfahrung des einzelnen, noch der Erfahrung
der Kirche. Auf die Erfahrung des einzelnen wurde zwar mit dem
Argument I des testimonium spiritus sancti zurückgegriffen. Aber die-
ses Argument ist offensichtlich völlig unfähig, von der göttlichen
Inspiration und Autorität ganzer Schriften oder gar des Kanons zu
überzeugen. Es reicht nicht weiter als die Wahrheit oder die Wirk-
lichkeit, die den Betreffenden innerlich ergreift und überwindet. Der
Antrieb zur Entwicklung der Lehre lag vielmehr in dem Postulat
einer unbedingt zuverlässigen äußeren Autorität, eben eines instru-
mentum, einer Beweisurkunde, auf die man sich jederzeit berufen
konnte. Zu diesem Zweck bediente sie sich des aus der jüdischen Theo-
logie übernommenen und in der Zeit des Werdens des neutestament-
lichen Kanons auf dessen Schriften ausgedehnten Theologumenons
der lnspirationslehre, das man in einer bis dahin unbekannten Strenge
und Exklusivität ausbaute, ohne sich dabei durch die widerstrebende
Wirklichkeit, der dies System von Postulaten aufgezwungen werden
sollte, stören zu lassen. Aber die Füße derer, die dies künstliche Ge-
[298) Die Krisis des Kanons der Kirche 45

bäude abtragen sollten, standen bereits vor der Tür. Hollatz' (1648
bis 1713) Zeitgenosse war Richard Sirnon (1638-1712), dessen kri-
tische Geschichte des Textes und der Obersetzungen des Neuen Testa-
ments schon 1689 und 1690 erschienen war. Ihre Ubersetzung ins
Deutsche zu veranlassen, hat Johann Salomo SemZer (1725-1791) im
Interesse seines Kampfes gegen die herrschende orthodoxe Bibeltheo-
rie noch nach Abschluß seines wichtigsten Werkes, nämlich der vier-
bändigen Abhandlung von freier Untersuchung des Kanon (1771 bis
1775), für nützlich gehalten (1776 f.).

li.
Joh. Sal. Semler war keineswegs der erste in Deutschland, der sei-
nen Angriff auf die orthodoxe Bibeltheorie richtete. Vor ihm tat das
z. B. Job. Gottl. Toellner (t 1774). Aber Semlers Angriff, mit umfas-
sender Gelehrsamkeit ausgeführt, war der wirksamste.
Doch war es ihm gar nicht um Angriff zu tun. Vielmehr war seine
Absicht, der Sache des Christentums zu dienen, indem er den Druck
der Scbwie1igkeiten beseitigte, durch welche nach seinen Erfahrun-
gen die orthodoxe Theorie jedenfalls die, welche auf eigenes Denken
und Urteilen nicht verzichten wollten, dem Glauben entfremdete. Er
sucht nichts "als die wahre und folglich leichtere Anempfehlung der
christlichen Lehre und eignen Religion unter unsern Zeitgenossen",
eine Aufgabe, die die Theologieprofessoren "zunächst befördern, und
alle ihre Bemühungen dazu heiligen und ernstlich anwenden sollen"
(I Vorr. 4 b). Er will mit seinen Untersuchungen über den Kanon
"vielen redlimen Zeitgenossen aus ihrer unaufhörlichen Unzufrie-
denheit und innerlichen Unruhe so helfen, daß sie die lebendige Er-
kenntnis Gottes, und die treue Anwendung der leichten und gött-
lichen Lehre Jesu, ohne Anstoß, zu ihrer großen Beruhigung und in-
neren Uberzeugung, anwenden können" (II 14). Seine offene und
ehrliche Prüfung langhergebrachter theologischer Theorien dient nur
"der leichten und praktischen Einsicht und Annahme der wesentli-
chen Grundsätze des Christentums" (II 15). Er hat nur "die erhabene
Absim t, die christliche wahre Religion nach ihrem göttlichen Grunde
zu verteidigen und leichter auszubreiten, mitten unter den sogenann-
ten Christen" (II 608. 581). Denn oft genug hat er beobachtet, daß
viele unter dem Einfluß der traditionellen Gleichsetzung von Bibel
und Christentum oder Bibel und Wort Gottes all' die Mängel, Schat-
tenseiten und Menschlimkeiten, die sie an der Bibel wahrnehmen,
für Mängel der christlieben Religion selbst halten und dann alles mit-
einander aufgeben (I 63 f.). Oft spricht Semler davon, daß er dieLe-
ser aus der "Unmhe und Angst" befreien will, "in welche man sie
46 [298/299]

durch Beibehaltung einer alten Lehrordnung, bisher gesetzt hat" (III


407), welche diese Bücher als ein Ganzes ansieht, das aus gleichar-
tigen, gleichwertvollen und gleichverbindlichen Teilen besteht. Denn
die gemeine ILehrart über den Kanon sei "der echtenBeförderungder
christlichen inneren Religion, so den Wachstum in Vollkommenheiten
des Verstandes so gut als des Willens mit sich bringt" weder nötig
noch dienlich gewesen (I 20 f.). Und die konsequent und wahllos
durmgeführte Bibellektüre - etwa in der Hausandacht - habe nur
zur Folge, daß "der Christ sich gleichsam verkälte oder sich an dem
sonst leichten Fortgang in seinem Wachstum hindere" (I 70).
Wie den religiösen Nöten, die aus dem Druck der orthodoxen Bi-
beltheorie sich ergeben, will Semler zugleich dem Verfall der Theo-
logie, ihrer Erstarrung in ödem Traditionalismus wehren, die in den
gleimen Voraussetzungen wurzele. Immer wieder spottet er über die
Eintönigkeit der Kompendienwissenschaft, die mit geschlossenen Au-
gen an den Fragen vorübergeht, welche die geschichtliche Wirklich-
keit dem erwachenden kritischen Sinn in den Weg legt, und die den
erwachenden Geist des Individuums in ererbter Selbstverständlichkeit
festzuhalten strebt. Demgegenüber vertritt Semler das Recht des In-
dividuums auf kritische Prüfung, auf selbständiges Urteil und auf
Freiheit der Auswahl der biblischen Schriften und Stoffe, von denen
es wirkliche innere Förderung zu erwarten hat. Solche freie Prüfung
und Erkenntnis wird "den Wachstum der christlichen Religion" nur
fördern. "Der wählende Leser der kanonischen Schriften ist zu allen
moralischen Vorzügen fähiger ... , was doch der Endzweck aller ge-
hörig gegründeten und vernünftigen Religion ist", als der durch die
traditionelle Lehrart gebundene (vgl. z. B. Vorrede zu I; 66. 125 f.;
Vorr. zu III).
Es ist mithin nichts weniger als die Wut des Aufklärens, was den
"Vater der Aufklärung" bei seiner freien Untersuchung des Kanons
getrieben und geleitet hat. Der Motor war vielmehr ein sehr positives,
praktisch-religiöses, ja geradezu seelsorgerliebes Interesse und - in
dessen Dienst - der Wunsch, die Theologie zu der geschichtlichen
Wirklichkeit und zu den Aufgaben der historisch-kritischen Forschung
zu rufen, die ihrer warteten. Semler zwang sie, der Krisis des Kanons
ins Gesicht zu sehen, der sie sich gegenübergestellt fand. -
Zu diesem Zweck unterzog er die orthodoxe Bibeltheorie einer drei-
fachen Kritik, einer historischen, einer dogmatischen und einer reli-
giösen. In der reichlich ungepflegten Schreibweise Semlers kreuzen
sich zwar diese Gesichtspunkte beständig. Aber es dient der Ubersicht-
lichkeit, sie auseinanderzuhalten.
Die orthodoxe Theorie vom Kanon ist nach Semler zunächst durch-
aus unhistorisch. Sie beruht auf unhaltbaren historischen Vorausset-
[299/300] Die Krisis des Kanons der Kirche 47
zungen. Weder berücksichtigt sie den tatsächlichen historischen Be-
fund, noch hat sie den Vorgang der Kanonsbildung richtig gedeutet.
Die orthodoxe Theorie setzt eine im wesentlichen einstimmige
Oberlieferung der Kirche, zumal der Alten Kirche, über Text, Ent-
stehung und Bestand des Kanons voraus. Semler zeigt, daß dies eine
geschichtswidrige dogmatische Fiktion ist. "Aber durch Konsequen-
tien, durch Erdichtungen in abstracto aus der Mondwelt, wird für
Kenntnisse, die ihrer Natur nach historisch sind und historisch blei-
ben, wenig nützlicher Einfluß erleichtert" - heißt es in Semlers
schönem Deutsch (111 Vorr. 28 f.). Man stellt dogmatische Sätze über
den Begriff des Kanons auf. Aber aus dogmatischen Abhandlungen
entsteht keine Gewißheit über historische Vorgänge (vgl. z. B. 111 434).
Die orthodoxe Bibeltheorie setzt zunächst einen sicheren Text vor-
aus. Semler zeigt, daß es einen zweifellos sicheren Text des Neuen
Testaments nicht gibt (vgl. z. B. 111 420). Was hilftdiekanonische Au-
torität, wenn man nicht sagen kann, welchem Text sie zukommt? Zu
dieser Erkenntnis hat sich Semler selbst erst durchringen müssen. Das
Comma Johanneum 1. Job 5, 7. 8 hat er in seiner Erstlingsschrift noch
verteidigt, um einige Jahre I später seine Echtheit mit besseren Grün-
den zu bestreiten. Er ist dann nächst J. A. Bengel der Bahnbrecher der
textkritischen Arbeit der deutschen Theologie geworden.
Bei der Entstehung des Kanons sodann ist es sehr menschlich zuge-
gangen. Zunächst gab es überhaupt keinen besonderen christlichen
Kanon. Man übernahm den jüdischen. Dann hatten die einzelnen
Gemeinden, Provinzen, Parteien je ihren eigenen Kanon, dessen Be-
stand von allerlei Willkürlichkeiten und Privatneigungen der Kir-
chenleiter abhängig war. Aus praktischen Gründen wurde allmäh-
lich ein Ausgleich herbeigeführt. Dabei ging es keineswegs immer
sehr geistlich zu. Minderheiten wurden vergewaltigt. Diplomatische
Rücksichten und Zweckmäßigkeitserwägungen spielten eine größere
Rolle, als der später für entscheidend angesehene Gesichtspunkt des
göttlichen Ursprungs. Ein völlig einheitliches Urteil wurde nie erzielt.
Bei der sich oftmals wiederholenden Entwicklung dieser Gedanken
entfaltet Semler die ganze Fülle seiner großen Gelehrsamkeit. Er
geht- ein Bahnbrecher- die Kanonsgeschichte der ersten Jahrhun-
derte durch; er zeigt, wie verschieden die einzelnen Kirchen geurteilt,
wie sie geschwankt und einander widersprochen haben, wie selbst
päpstliche Entscheidungen - betr. II Macc. - in entgegengesetztem
Sinn gefällt worden sind. Ergebnis: Es hat nie einen völlig gleichför-
migen christlichen Kanon gegeben; zwischen Orient und Okzident ist
eine gemeinsame Verabredung über den Kanon nie zustande gekom-
men. Auch im Okzident haben nie alle Gebiete einen übereinstim-
menden Kanon besessen. Die Vorstellung also von der Einmütigkeit
48 HERMANN STRAniMANN [300/301]

der Alten Kirche über den Bestand des Kanons ist historisch haltlos.
Woraus alsbald das Recht des freien Urteils über den Kanon gefol-
.gert wird. Denn nach dem öfter zitierten Sprichwort "Tout ce qui
varie est faux".
Aber auch wenn die Dinge anders lägen, wäre damit noch nicht ge-
holfen. Denn die Aufstellung des Kanons hatte durchaus nicht den
Sinn, eine absolut unverbrüchliche Norm für Denken, Urteil und Ver-
halten der ganzen Gemeinde und jedes ihrer Glieder zu errichten. Sie
war vielmehr ein kirchenregimentlieber Akt, der nur die gemeinsame
öffentliche Religionsübung regeln wollte. Der Kanon war das kireben-
regimentliehe Verzeichnis der gottesdienstlichen Vorlesebücher, auf
.äußeren Zweckmäßigkeitsgründen und bischöflichen Abmachungen
beruhend, ·daher nur mit äußerlicher Verbindlichkeit (externa obli-
gatio li 513). Er war der Kanon der Kirchendiener, nicht aber der
Kirchenglieder (I 19 f.). Der Privatgebrauch religiöser Bücher, die
Privatreligion der einzelnen blieb davon unberührt. Nur der öffent-
lichen Verwirrung sollte durch den Kanon gesteuert werden. Er ist so-
mit ein Stück der kirchlichen Theologie. Aber diese ist nicht dasselbe
wie Religion. Diese ist im eigentlichen Sinne überhaupt nicht Sache
<ler Kirche, sondern des Individuums, welches somit der bindenden
Kraft des Kanons nimt unterworfen ist.
Zu dem gleichen Ergebnis führt die dogmatische Kritik. Stände es
nämlich auch mit den historischen Voraussetzungen der herkömm-
lichen Schrifttheorie besser, so wäre damit noch gar nichts gewonnen.
Denn es ist nicht einzusehen, inwiefern dergleichen Ubereinstim-
mung früherer Zeiten über den Kanon einen Grund dafür abgeben
könnte, daß wir heute ebenso urteilen und diesen Kanon beibehalten
müßten. Daß die Juden die 24 Bücher des Alten Testaments als ein
Ganzes von gleichmäßiger göttlicher Herkunft ansahen, kann kein
Grund für die Christen sein, ebenso zu urteilen (z. B. II 198,111 124 f.
u. oft). Dasselbe gilt aber auch von den Festsetzungen der christlimen
Kirme über den Bestand des Kanons, um.somehr, als sie je und dann
nam Ermessen geändert wurden (z. B. 111 97. 123). "Alles Zeugnis
also der sogen. jüdischen und christlichen Kirche ist für einen For-
-scher des Wahren, in Absicht solcher Bücher, die von Gott herkom-
men sollen, zur eigejnen Oberzeugung unzulänglich ... Er erfährt
was diese Parteien selbst sagen und glauben; aber hierdurch ist er von
<ler Same selbst, von der wirklimen Göttlichkeit, nicht gewiß gewor-
den ... Das Zeugnis der sogenannten Kirche kann also, wie ein jedes
historismes Zeugnis, nur von einer äußerlichen Begebenheit etwas
bejahen oder verneinen; die Frage aber, ob ein oder mehrere Bücher
.einen göttlichen Ursprung haben oder einem Verfasser eingegeben
worden sind, ist keine äußerlime Begebenheit; es gibt also auch da-
[301] Die Krisis des Kanons der Kirche 49
von kein äußerliches oder historisches Zeugnis" (I 28 f. 244, 111 353).
Ebensowenig vermag das Urteil von Kirchenversammlungen. Schon
Gregor von Nazianz sprach von den Konzilien seiner Zeit als Ver-
sammlungen von Gänsen und Kranichen, unter denen er sich schäme
zu erscheinen (I 230). Protestanten hätten vollends Grund, sich nicht
auf solche Autoritäten zu berufen. Auch Aussagen der Apostel selbst
sind in dieser Beziehung, wie Semler ausdrücklich hinzufügt, ohne
Beweiskraft. Mit der Menge der sonstigen Beweise der Dogmatik
steht es nicht besser. Man nennt die Wunder. Semler bestreitet sie
nicht, ob er auch sein Urteil zurückhält. Aber möchten auch hie und
da in der hl. Schrift enthaltene Lehren je und dann durch Wunder
bestätigt sein- was ist damit gewonnen für Ursprung und Autori-
tät des Buches, das von ihnen berichtet?- Man verweist auf die Er-
habenheit und Heiligkeit der Lehre. Wo aber wäre in den Büchern
Ruth oder Esra, dem Hohenlied oder dem Philemonbrief, ganz zu
schweigen von der Apokalypse - dieses Buch hat der rohe jüdische
Feuer- und Zorngeist ausgehaucht (I 252) - die Erhabenheit der
Lehre? - Man nennt die Weissagungen, die erfüllt seien. Aber selbst
wenn man sie zugeben wollte- wozu Semler keineswegs ohne wei-
teres bereit ist-, was beweisen die Weissagungen etwa der Genesis
für die Chronik? - Man spricht von der Bekehrungskraft der Bibel.
Spurgeon hoffte, im Himmel einmal Leute zu fmden, die durch die
Geschlechtsregister der Genesis bekehrt worden wären. Aber Semler
fragt, ob etwa durch diese Namenreihen, durch die Geschichten von
Jephta und Simson, durch die Berichte von Heiraten und Feldzügen,
wie sie jedes Volkes Geschichte aufweise, jemand zum Glauben ge-
bracht sei. -Der apostolische Ursprung! Aber haben die Apostel nicht
auch manche Zeilen gleichgiltigen Inhalts geschrieben? (vgl. z. B. 111
352). Übrigens stehe es mit der Überzeugung von der Göttlichkeit
dieser Schriften schlecht genug, wenn sie von der historischen Gewiß-
heit über die Verfasser abhänge. Denn hier blühte der Zweifel durch
Jahrhunderte (111 360). -Die stets herangezogene Bibelstelle 2. Tim
3, 16 aber beweist so wenig, daß Paulus hier vielmehr criteria inspi-
ratarum scripturarum hat an die Hand geben wollen (II 147) und so-
mit den größten Teil des Alten Testaments, nämlich alles, was nicht
zur Besserung nützlich ist, für nicht von Gott eingegeben erklärt! Wie
etwa der fanatische "Roman" des Estherbuches oder die Kultusvor-
schriften des Levitikus zur Besserung nützlich sein sollten, ist ja doch
nicht einzusehen I
So zerpflückt Semler ein Argument der üblichen criteria, an denen
sich die hl. Schrift als Wort Gottes bewähre, nach dem anderen. Ein-
zig das testimonium spiritus sancti, das innere Oberzeugtwerden von
dem Wahrheitsgehalt und Wert, die Förderung, welche man durch
4 Käscm:mn, Kanon
50 [301/300]

sie erfährt, kann die Autorität der hl. Schrift beweisen (II 39); viel-
mehr nicht der hl. Schrift, sondern nur der Stelle, um die es sich ge-
rade handelt. Auf Esther, Ruth oder die Erzählung von Bileams Ese-
lin wird sich dieses Argument nie erstrecken! "Dies ist der einzige
rechte Beweis des göttlichen Ursprungs der Begriffe und Lehren;
aber alle einzelnen Schriften und Teile derselben, die jetzt die Bibel
heißen, trifft er nicht. Ich glaube auch nicht, daß Luther oder Me-
lanchthon jemalen verlangt haben, Leser sollen sich überzeugen durch
göttliche Kraft und Wirkung, von dem göttlichen I Ursprung der Er-
zählungen von Philistern, Simson, Boas, Esther usw." (II 73).
Dies führt bereits zur religiösen Kritik hinüber. Gewiß hat auch
die traditionelle Theorie der Frömmigkeit dienen wollen. Aber sie
verkannte deren Bedürfnisse. Denn sie bedarf gar nicht solch eines
Kanons. Wohl bedarf sie des Wortes Gottes. Aber, wie Sem.ler nicht
müde wird zu wiederholen, das Wort Gottes ist nicht gleich scriptura
sacra. Das Ursprüngliche ist die mündliche Predigt (I 216 f.). Die ka-
nonischen Schriften sind nur ein Niederschlag des mündlichen Un-
terrichts. Des Kanons bedarf es also gar nicht. "Die Grundlehren des
Christentums an und für sich konnten auch ohne Schriften und Bü-
cher richtig und vollständig angenommen, verstanden und erklärt
werden" (111 99). Wie lange haben manche Kirchen nur ein Evan-
gelium gehabt! Aber sie entnahmen daraus dasselbe wie wir aus den
vieren, geschweige denn, daß die Frömmigkeit des ganzen jüdischen
Kanons mit seinen 24 Schriften bedürfte!
Aber dieser Kanon in seiner Gesamtheit ist auch durchaus unfähig
zu leisten, was man von ihm erwartet. Dienen etwa die Bücher Esra,
Nehemia, Esther, Ruth, Richter, Chronik der "moralischen Ausbesse-
rung"? Womit Semler bezeichnet, was man heute etwa sittlich-reli-
giöse Förderung nennen würde. Hat man etwa aus den Geschichten
von Jakob und Jephta einen inneren Gewinn? überhaupt- was geht
uns das Alte Testament an? Es enthält die Geschichte des jüdischen
Volkes. Aber das ist daher auch nur dessen Angelegenheit. Gewiß
enthalten die alttestamentlichen Geschichten manche Wahrheiten.
Aber sie sind verhüllt und verkapselt in Provinzialideen, Lokal-, Fa-
milien- und Zeitideen. Von alldem Vergänglichen sind sie nur schwer
zu lösen. Die zeitgeschichtliche Einkleidung, die Verbindung mit den
Idiotismen des jüdischen Wesens ist zu eng, Religion und bürgerliche
Sozietät sind zu innig miteinander verknüpft, als daß nicht die gleiche
Belehrung und Förderung anderwärts, zumal in der Geschichte der
Christenheit, viel besser gefunden werden könnte als in "ausländi-
schen", "hebräischen" Geschichten (z. B. I 65. 78 f. 239).
Doch nicht nur das. Der jüdische Kanon ist vielfach geradezu min-
derwertig und schädlich. Der jüdische Haß gegen alle anderen Völker,
[302/303] Die Krisis des Kanons der Kirche 51

wie ihn das BuchEsther atmet; die Hoffnung auf sinnliche Glückse-
ligkeit in diesem Leben; die erotischen Schilderungen des Hohen Lie-
des - dieses und vieles sonst ist für unser religiöses Leben vielmehr
nachteilig als förderlich. Bei den Juden selbst hat dieser Kanon viel-
fach den moralischen Fortschritt gehindert. "Für Christen aber ist es"
- der Ausdruck ist Semler nicht zu stark - "unleugbar unanständig,
eine so uneingeschränkte Hochachtung gegen alle Bücher, so die Ju-
den unter ihrer Mikra begreifen, zu hegen, als wenn, wo sie nicht
alle diese Bücher einem Einfluß Gottes beilegten und ihnen einen
unaufhörlichen Nutzen, geistliche Wahrheiten daraus geradehin zu
ihrer geistlichen Wohlfahrt zu lernen und anzuwenden, zuschrieben,
alsdann der christlichen Religion wirklich so und soviel zu ihrer wah-
ren Beschaffenheit und Brauchbarkeit fehlen würde" (I 108).
Aber auch vor dem Neuen Testament macht Semlers religiöse Kri-
tik durchaus nicht halt. Daß die Apokalypse "mit ihren groben und
z. T. albernen Bildern und Malereien", "die niemand ehrlicherweise
... in Lehrsätze und Begriffe der christlichen Heiligkeit verwandeln
kann" (I 155), im Neuen Testamente steht, ist ihm geradezu anstößig.
Aber auch bei Paulus findet Semler manche Stücke, die mit dem
wirklichen Christentum nichts zu tun haben, Reste jüdischen Den-
kens, Anschauungen, die nur als Akkomodation an den kleinen jüdi-
schen Geist zu begreifen sind. Die Beschreibung z. B. des Werkes
Christi als Erlösung vom Fluch des Gesetzes sei eine Anpassung an
den vom Gesetz geängsteten Geist des Judentums. Ähnlich steht es
mit den Relden Jesu selbst. Die von ihm wirklich oder scheinbar ge-
teilte Dämonenvorstellung z. B. ist eine bloße "Zeitidee" und als
solche heute wertlos.
Freilich hat man sich bemüht, durch Allegorese das Anstößige zu
beseitigen, das Unerbauliche erbaulich zu machen. Aberwas fürwun-
derliche Blüten sind dabei getrieben worden! Wenn doch z. B. die
Coccejaner die Schlacht bei Mühlberg, die Gefangennahme des säch-
sischen Kurfürsten unter Karl V. und die Befreiung der Niederlande
im - Hohenliede geweissagt fanden. Aber" wozu sollte denn jener Po-
et von diesen ausländischen Begebenheiten und nicht lieber ebenso gut
von der ostindischen englischen oder holländischen Kompanie den Ju-
den etwas vorsingen?" (I 83). Also die Allegorese ist nur eine leere
und verräterische Ausflucht. Denn in ihr liegt das Eingeständnis, daß
in den Texten selbst oft genug nichts Erbauliches enthalten ist (cf.
z. B. I 52).
Nun will Semler durchaus nicht bestreiten, daß auch die von ihm
als wertlos beurteilten Teile des Kanons mit ihren Gedanken zu ihrer
Zeit einen bestimmten Zweck hatten, ja daß sie unter göttlicher Lei-
tung den Menschen zugekommen sind. Deshalb sind sie aber noch
52 [303/304]

lange nicht "bis ans Ende der Welt zu der Menschen Seligkeit durch
Vermehrung und Ausbesserung moralischer Kenntnisse nötig und
nützlich" (II 152 f. ). Es gibt Fortschritt und Wachstum. Und das ist für
Semler ein weiterer Mangel der gegnerischen Theorie, daß sie die Un-
terschiede des geistigen und sittlichen Zustandes der Menschen nicht
berücksichtigt. Als ob die Bibel ein Buch wäre von gleichem Wert in
allen Teilen für alleund zu allen Zeiten! Aber die herrschende Theorie
vom Kanon hält alle auf der gleichen Stufe fest und hindert so den
Fortschritt - während doch "wahre Christen ... ihre große christliebe
Fähigkeit üben und anwenden und den alten Buchstaben, die Zeit, wo
der Glaube und der Geist noch nicht da war, den Schatten, das Nacht-
licht unterscheiden müssen" (II 95). Hat doch auch Paulus für die Kin-
der aaQXLXOO~ geredet, für die Erwachsenen aber vernünftig. So ist die
Lehre vom Kanon nur eine Bestätigung der häufig von Semler ge-
äußerten Meinung, daß nur sehr weniges von der Kirchentheologie
zur Förderung und "Erleichterung" der wahren, inneren Religion
dienlich ist.
Das Ergebnis der Semlerschen Kritik ist demnach dieses: die tradi-
tionelle Bibeltheorie ist unhaltbar. Sie steht im Widerspruch zur ge-
schichtlichen Wirklichkeit; sie ist religiös unmöglich.-
Die Wurzel des Ubels ist die Verwechselung von hl. Schrift und
Wort Gottes, die einander gleichgesetzt werden. Der Grundsatz der
Gegenseite lautet: Christiani citra ullam dubitationem aut demon-
strationem simpliciter credere debent, verbum dei esse verbum dei,
oder - was ja wohl dasselbe sei, canonem esse canonem. Das sei
Axiom. Denn auch die Lehre von den criteria der hl. Schrift (oben
(Sp. 297) wolle ja nur allerlei "Motive" aufzählen, durch welche den
noch Ungläubigen der Eindruck von der Göttlichkeit der hl. Schrift
vermittelt werden solle. Cum Christianis enim non de scriptura sed e
scriptura disputandum est. Gegen das apriorische Postulat dieses
Standpunktes- mit Semler zu reden: Dichtung in abstracto aus der
Mondwelt - richtet sich sein leidenschaftlicher Kampf. Er wird nicht
müde, gegen den Satz, verbumdeiesse verbum dei, zu protestieren.
Das Wort Gottes ist zwar im "Wort Gottes", nämlich der Bibel, "hie
und da enthalten" (I 48. 131 u. ö.). Abernicht scriptura sacra in einem
Bande genommen ist geradehin das Wort Gottes" (I Vorrede S. 9).
Das Wort Gottes ist "ein Mittel zu einer allgemeinen Absicht, für alle
Menschen, zu ihrer größten Vollkommenheit und Ausbesserung"
(111 598). Aber die jüdischen "Nationalnachrichten" haben damit
nichts zu tun. Die fides, "so sich auf der Menschen Seligkeit und Got-
tes Ehre bezieht", kann große Teile der hl. Schrift gar nicht zum Ge-
genstandehaben (II 18). Mögen Ruth, Esther, Hoheslied "zu der hl.
J

Schrift, wie dieser historische relative Terminus unter den Juden auf-
[304] Die Krisis des Kanons der Kirche

gekommen ist", gehören, so deshalb noch lange nicht zum Worte Got-
tes (I 75). Daher protestiert Semler gegen den Unfug, die ganze Bibel
wie sie ist, in Predigt oder Hausandacht durchzunehmen. Er wünscht
einen Bibelauszug, der fortließe, was nur den Juden gehört (z. B. I
70), und findet den Standpunkt der "papistischen Gelehrten" in die-
ser Beziehung durchaus verständig. Ein solcher Auszug werde posi-
tiv dieselben Dienste leisten wie die Vollbibel (III 541). Die "charakte-
ristischen, lokalen Teile" dienen doch nicht der inneren Förderung.
Das tut nur "das Allgemeine". Jenes ist nur für die Gelehrten (I 86).
Darüber aber, was zu diesem wertvollen "Allgemeinen" gehöre,
könne eine Unsicherheit nicht entstehen. Hier beruft sich Semler auf
die ursprüngliche Evidenz der sittlich-religiösen Erkenntnis: "Die,
die Gottes Eingebung zuerst erfahren haben, haben den göttlichen
Ursprung dieserneuen Vorstellungen und den Zusammenhang der-
selben mit Gottes Wirkung bloß aus dem Inhalt und aus der Erfah-
rung der neuen Wirkung abgenommen, wodurch ihre vorige Neigung
gebessert worden" (III 318). "Göttliche Wahrheiten empfehlen sich,
weil sie gemeinnützig sind, sogleich von selbst. Die Wirklichkeit ihres
Inhalts entdeckt sich ohne Untersuchung" (III 336).
Hiernach könnte es den Anschein haben, als ob für Semler doch
noch irgendwie ein Kern des Kanons übrig bliebe. In Wirklichkeit ist
das nicht der Fall. Vielmehr wird der Begriff des Kanons so erweicht,
daß man von seiner völligen Auflösung sprechen muß. Wertlos ist
das Historische, das Individuelle, das Lokale. Was aber ist das Wert-
volle, das bleibt? Semler sagt: das Allgemeine, nämlich was darum
von allgemeinem, an die Schranken von Ort, Zeit und Individuum
nicht gebundenem Wert ist, weil es "der moralischen Ausbesserung",
wir würden sagen: der geistigen und sittlichen Förderung dient. Sem-
ler denkt nicht nur an Tugendlehren und -vorbilder, sondern zu-
gleich an alle Wahrheiten, die ihm zu einer geläuterten Gotteser-
kenntnis gehören. Dringt man aber aufs Konkrete, so greift man ins
Leere. Materielle, allgemeingiltige Regeln für die Auswahl des als
bleibend wertvoll Anzuerkennenden gibt es für ihn nicht und kann
es nicht geben, weil der geistig-sittliche Stand der Menschen örtlich,
zeitlich und individuell verschieden ist (I § 5). Nur dann, so weit und
so lange hat man die Bücher des Kanon als göttlich zu beurteilen,
wenn, soweit und solange man sie ihrem Endzweck dienlich findet,
daß nämlich "Gott dadurch Menschen in heilsamen und notwendigen
Wahrheiten viel gewisser, leichter und nützlicher hat unterrichten
lassen wollen" (I 8). Darüber, wie weit das der Fall ist, muß jeder für
sim selbst entscheiden (II 123. 179. 281). Und auch sein Urteil wird
sich wandeln. Das Buch Ruth oder den Philemonbrief erklärt Sem-
ler nicht für durchaus nutzlos. Aber sie werden nutzlos, sobald jemand
54 HEI\MANN STRATHMANN [304/305]

die hier vertretenen Grundsätze schon selbst besitzt oder gar darüber
hinauswächst (I 25 f.). Der "Kanon" wird eine fließende Größe, und
da man geistig-sittliche Förderung keineswegs nur aus biblischen
Schriften empfangen kann, so schrumpft der Bibelkanon nicht nur
zusammen, sondern er verliert zugleich alles Spezifische gegenüber
der außerbiblischen Literatur, während andrerseits auch aus den spä-
teren Jahrhunderten immer Neues hinzutreten könnte.
Semler selbst will diese Folgerungen nicht ziehen. Aber entziehen
kann er sich ihnen nur durch Inkonsequenzen und - von seinen
Grundanschauungen aus geurteilt- willkürliche Einschränkungen.
Natürlich ist Semler der Meinung, daß Gott auch unter den Heiden
moralische Wahrheiten verbreitet, die geradezu als seine Eingebun-
gen anzusehen sind (z. B. IV 284. 326 f.). Aber "es ist keine Fantasay
und Einbildung, I daß Gott in den Christen durch größere geistliche
Wirkungen sich beweiset und offenbaret, als durch natürliche sonst
auch göttliche Religion je geschehen ist oder geschehen mag" (111
Vorr. S. 28). Ja, er statuiert, daß kanonische Schrüten nur aus der
apostolischen Zeit, nur aus den Schriften des Urchristentums stammen
dürften. Er statuiert es. Aber er begründet es nicht. Was ihn dazu be-
stimmt, ist nicht die Folgerichtigkeit seiner Theorie, sondern das
Schwergewicht der Tradition, die sein Gefühl beherrscht. Die Frei-
heit des geschichtslosen Individuums beugt sich unwillkürlich der Au-
torität der Geschichte.
Auch dem Einwand, daß es nach ihm des Kanonisierens kein Ende
sein werde (II 410), da z. B. das Kirchenlied eines Orthodoxen oder
auch eines Sozinianers, in dem Gottes Weisheit und Güte gepriesen
wird, für Semler Anspruch auf kanonisches Ansehen haben müsse,
kann er nichts Durchschlagendes entgegenstellen. Semler antwortet
zwar: Keineswegs; denn es sei nur die Rede von den in den vorigen
Zeiten in den Kanon gebrachten Schriften (II 413); auch erweise sich
der Inhalt einer Schrift nur dann als göttlich, wenn er neue, überna-
türlich entstandene Vorstellungen und Urteile enthalte. Neue mora-
lische Begriffe könnten sich aber in protestantischen Kirchenliedern
der Natur der Sache nach nicht fmden. "Es muß ... dieses Merkmal
(des Kanonischen) seine wahre Größe und Ausdehnung haben: meh-
rere moralische Wahrheiten, muß neue, vorher unbekannte Objekte
und Realitäten begreifen, neue Verknüpfung mit den schon daseien-
den Erkenntnissen; neue und mehrere Wirkungen, zu größeren und
mehreren moralischen, inneren Vollkommenheilen ... und nun muß
dies immer fortgehen ... so ist das der gewisseste und unfehlbare Be-
weis ... des göttlichen Ursprungs solcher Begriffe und der dazu ge-
hörigen Realitäten" (111 328; vgl. Il412. 596; 111 319). Es liegt auf
der Hand, daß von Semlers Grundstellung aus geurteilt es sich hier
[305/306] Die Krisis des Kanons der Kirche 55
um willkürliche Einschränkungen handelt, die den Zweck haben, nun
doch den biblischen Schriften eine Sonderstellung zu sichern.
Auch der Besorgnis, daß mit wachsender moralischer Vollkommen-
heit der Kanon einer fortschreitenden Schwindsucht anheimfallen
müsse, glaubt sich Semler entziehen zu können. "Allgemeine unauf-
hörliche Brauchbarkeit der Begriffe und Lehrsätze" (II 398) ist ihm
wesentliches Merkmal des Kanonischen, und er traut der Bibel in
hohem Maße diese dauernde Brauchbarkeit zu und beruft sich dafür
auf die Erfahrung aller christlichen Jahrhunderte (111 335 f.). Da er
aber gleichzeitig nicht müde wird, das ständige moralische Wachs-
tum - oder vielmehr den Wachstum - zu betonen, und sich auch
selbst über manche biblische Schriften, wie etwa Apokalypse und Phi-
lemonbrief, längst hinausgewachsen erscheint, so ist nicht einzusehen,
weshalb es schließlich mit den übrigen Schriften anders gehen sollte. -
SemZer hat demnach den herkömmlichen Kanonsbegriff, die her-
kömmliche Bibeltheorie wohl zersetzt, aber eine neue überzeugende
Begründung der dennoch fortbestehenden Autorität der Bibel in kei-
ner Weise zu geben vermocht, obwohl er gefühlsmäßig unter der Wir-
kung der Tradition dahin strebte. Seine Wirkung war darum nur eine
unterwühlende, auflösende, nicht eine aufbauende, trotz seiner ge-
genteiligen Absicht. Der Begriff des Kanons hatte in Wirklichkeit für
ihn nur noch eine historische Bedeutung. Er gehörte ihm der Vergan-
genheit an, wie er denn gelegentlich von dem "ehemaligen Kanon"
sprechen kann (I 174). Am besten überließe man "den ganzen Praß
vom canone der Kirchengeschichte" (III Vorr. S. 35).
Der Grund dieser Unfähigkeit Semlers liegt in dem juridisch-
doktrinären Religionsbegriff-den er als nicht weiter diskussionsbe-
dürftige Voraussetzung mit seinen Gegnern teilte. "Religio christiana
est ratio colendi verum deum in verbo praescripjta" formulierte Quen-
stedt. "Religio, quae est forma aut ratio colendi deum, ambitu suo
complectitur credenda et agenda" heißt es bei Hollatz. Dies konnte
Semler durchaus akzeptieren. Denn auch für ihn bestand die christ-
liche Religion aus Wahrheiten, Erkenntnissen, Lehrsätzen, die man
glauben und anerkennen muß und einem entsprechenden Verhalten.
Für den Inhalt beriefen sich seine Gegner auf das "Wort Gottes",
dessen Autorität entscheidend nur mit dem testimonium spiritus
sancti internum zu begründen war. Semler akzeptierte auch das, aber
so, daß er das Wort Gottes vom" Wort Gottes", nämlich der hl. Schrift,
unterschied, und das Argument, welches die Autorität der Bibel be-
gründen sollte, als kritischen Maßstab gegen sie wandte. Er verstand
das testimonium spiritus sancti internumals die Evidenz der sittlich-
religiösen Erkenntnis. Diese aber stützt die Autorität der Bibel nur
so, daß sie sie zugleich einschneidend - auf die einleuchtenden
56 [306]

Wahrheiten und den moralisch förderlichen Gehalt- begrenzt. Eben


der juridisch-doktrinäre Religions- und Wahrheitsbegri.ff, der die
stille Voraussetzung der orthodoxen Kanonstheorie bildete, führte zu
ihrer Auflösung. Darum konnte eine Neubegründung der Autorität
des Kanons von hier aus nicht gewonnen werden.

I II.

Was von Semlers Kanonskritik am stärksten nachwirkte, war sein


Angriff auf die in der orthodoxen Kanonstheorie enthaltenen histo-
rischen Elemente. Was er nach der dogmatischen und religiösen Seite
hin ausgeführt hatte, war unvermeidlich stark subjektiv gefärbt.
Aber den objektiven historischen Argumenten konnte man sich nicht
entziehen. So erhielt die Erforschung der Geschichte des Kanons und
besonders der Entstehungsverhältnisse der einzelnen neutestament-
lichen Schriften die stärksten Antriebe, aber so, daß sie vermöge eben
dieses Ursprungs lange Zeit hindurch unterdemdogmatischen Vorzei-
chen des Kampfes um den Kanon, sei es im Angriff oder in der Abwehr,
vor sich ging. Durch diese eigentümliche Problemverschlingung, wel-
che die Untersuchungen über den Ursprung der neutestamentlichen
Schriften, nümlich über die Frage ihrer Echtheit, stets zugleich als
Streit um ihr kanonisches Ansehen empfinden ließ, erhielten die Aus-
einandersetzungen über Echtheit und Unechtheit der neutestament-
lichen Schriften, die Jahrzehnte hindurch mit einer für uns schier un-
verständlich gewordenen Inbrunst geführt wurden, ihr Tempera-
ment.
Höchst bezeichnend ist in dieser Beziehung ein Aufsatz von F. Chr.
Baur über das Thema: "Die Einleitung in das Neue Testament als
theologische Wissenschaft; ihr Begriff und ihre Aufgabe, ihr Entwick-
lungsgang und ihr innerer Organismus" (Theol. Jahrb. 1850/1851).
Die "Einleitungswissenschaft" ist für Baur - durchaus dem Geiste
Semlers entsprechend - "Kritik des Kanons". Ihr Gegenstand "sind
die kanonischen Schriften, aber nicht wie sie an sich sind, sondern mit
alljenen Vorstellungen und Voraussetzungen, die sie zu kanonischen
machen. Als kanonische Schriften sind sie Schriften, mit welchen sich
der Begriff einer bestimmten dogmatischen Autorität verknüpft. Sie
gelten dem Dogma als göttlich inspirierte Schriften, als urkundlicher
Ausdruck und Inbegriff der göttlichgeoffenbarten Wahrheit, welche
die bestimmende Norm für das ganze theoretische und praktische
Verhalten des Menschen sein soll. Das eigentliche Objekt der Kritik
ist nun eben dieses Dogmatische an ihnen, das Prinzip ihrer kanoni-
schen Autorität. Die Einleitungswissenschaft hat daher zu untersu-
(ö06/307] Die Krisis des Kanons der Kirche 57
chen, ob diese Schriften auch an sich das sind, was sie nach der dogma-
tischen Vorstellung, die man von ihnen hat, sein sollen, und da die
erste Voraussetzung ... ist, daß sie von den Schriftstellern wirklich
verfaßt sind, welchen sie zugeschrieben werden, so ist ihre erste Auf-
gabe die Beantlwortung der Frage, mit welchem Recht sie sich für
apostolische Schriften ausgeben" (1850 S. 478). Präziser als es in die-
sem Passus geschieht, kann die dogmatische Abzweckung der histo-
rischen Untersuchung nicht ausgesprochen werden. Das Ergebnis ist,
"daß der kritische Begriff des Kanons ein wesentlich anderer ist, als
der dogmatische"; "der dogmatische Begriff widerspricht der Wirk-
lichkeit der Sache" (1851 S. 315). Da (nach Baur) ein großer Teil der
neutestamentlichen Schriften keineswegs von den Autoren stammt,
denen die kirchliche Überlieferung sie zuschreibt, so haben sie ihr
Recht im Kanon verwirkt. Sie sind aus ihm hinauszuweisen. (1850
s. 466. 467. 472).
H. J. Holtzmann bemerkte hierzu (ThStKr 1860 S. 412), es bestehe
bei Baur ein Widerspruch in der Disziplin selbst, da nach ihm "die
Einleitung in die kanonischen Schriften zu zeigen habe, daß es keine
kanonischen Schriften gibt". Wenn er aber dort weiter der Einleitung
die Aufgabe zuschreibt, "die dogmatischen Begriffe, die wir als evan-
gelische Theologen von den kanonischen Schriften haben ... , ins
rechte Verhältnis zu setzen mit den derzeitigen sicheren Resultaten
der historischen Kritik" -so scheint damit im Holtzmannschen Stile
nichts anderes gesagt zu sein als auch Baur meinte. Daß sich Holtz-
mann auch später von diesen Gedanken keineswegs frei gemacht hat,
zeigt sich darin, daß er dem ganzen "besonderen Teil" seiner "Ein-
leitung" die Oberschrift gab: "Die protestantische Kritik des Ka-
nons."'
An frühzeitigem Einspruch gegen die dogmatisch-historische Pro-
blemverschlingung, deren bezeichnendster Vertreter F. Chr. Baur ist,
hat es nicht gefehlt. Ed. Reuß faßte die Aufgabe rein literargeschicht-
lich, ebenso z. B. H. Hupfeld. Er warf Baur - mit Recht - Rückfall
in den Dogmatismus der Anfangszeit der protestantischen Wissen-
schaft vor. Ihm sei die "Einleitung" nicht eine geschichtliche Wissen-
• Auf beide, Baur wie Holtzmann, traf die spöttische Bemerkung zu, die man
in der Vorrede zu Ed. Reuß' Geschichte der hl. Schriften Neuen Testaments (6. A.,
1887, S. VI) findet: "Unsere Alten, in ihren Lehrbüchern, stellten sich die Aufgabe,
zu beweisen, daß alle Bücher, welche in den gedruckten protestantischen Bibeln
stehen, und nur diese, wirklich dahin gehören und die Eigenschaften haben, welche
ein biblisches Buch, ein Teil des Offenbarungskodex haben müsse. So war die ,Ein-
leitung' in der Tat eine theologische Disziplin. Aber wie der ,Theologie' direkt viel
damit gedient sein kann, wenn jetzt der Reihe nach ungefähr allen diesen Büchern
ihr Anrecht auf diese Stelle abdisputiert wird, und gerade dies die Hauptsache bei
der ganzen Arbeit ist, geht über meine Begriffe."
58 [307/308]

schaft, sondern eine dogmatische, eine Magd der Dogmatik, wie den
Alten, nur in entgegengesetzter Richtung (ThStKr 1860 S. 12-20).
Aber die Belastung mit dogmatischen Folgerungen blieb ein schweres
Hemmnis für die Entwicklung einer unvoreingenommenen Erfor-
schung und Beurteilung des Ursprungs des urchristlichen Schrifttums.
Die dogmatisch-historische Problemverschlingung löste sich für das
theologische Empfmden nur sehr allmählich. Wenn man in Feines
"Einleitung" liest, es sei die Aufgabe der neutestamentlichen Einlei-
tungswissenschaft, den geschichtlichen Grund und das geschichtliche
Recht der Wertung des Neuen Testaments zu erweisen, die in ihm das
Buch sieht, das für die christliche Kirche Urkunde der Offenbarung
Gottes und Norm des Glaubens und Lebens bildet (8. A. 1936 S. 4), so
wird man darin einen letzten Ausläufer dieser verhängnisvollen
Problemverschlingung erblicken müssen. Wer wollte sagen, daß sie
im Bewußtsein der Heutigen nicht mehr nachwirkt?
Viel bedeutsamer aber ist die hemmende Wirkung, die von hier
aus auf die Klärung des Verhältnisses der christlichen Gemeinde zur
Bibel ausging. Denn ihre Gedanken über die Bibel wurden hierdurch
bei historistisch-dogmatischen Versuchen festgehalten und so der
Durchstoß zu einer klaren religiösen und zugleich echt geschichtlichen
Betrachtung verhindert.
Jene Bemühungen sind historistisch, sofern sie auf der I Vorstellung
ruhen, die Autorität der neutestamentlichen Bücher durch gesd:licht-
liche Einzelnachweise über ihren Ursprung begrenzen oder begrün-
den zu können oder auch nur etwas Entscheidendes hierzu auf diesem
Wege beizutragen. Hier müßte schon der Umstand zur Vorsicht mah-
nen, daß dann das Ansehen dieser Schriften immer von den schwan-
kenden Urteilen der "derzeitigen sicheren Resultate der historischen
Kritik" abhängig bliebe. Wie "derzeitig" diese Resultate großenteils
waren oder sind, bedarf keiner Erörterung. Abgesehen davon aber
kann das kanonische Ansehen der biblischen Bücher so nur durch Ver-
koppelung mit Residuen der alten Inspirationslehre begründet wer-
den. Gelingt es, die Herkunft dieser oder jener Schrift von Aposteln
oder Männem der apostolischen Zeit zu dem optimalen Grad von
Wahrscheinlichkeit zu erheben, der bei geschichtlichen Fragen der
Art überhaupt erreichbar ist, so ist das zwar historisch gewiß von
hohem Interesse. Es ist aber schlechterdings nicht einzusehen, inwie-
fern damit eine maßgebende religiöse Autorität, wie sie der Begriff
des Kanons in sich schließt, begründet wäre, es sei denn, daß im vor-
aus die entsprechende religiöse Autorität der Apostel oder der aposto-
lischen Männer feststeht, d. h. wenn sie in dieser ihrer Eigenschaft
und deren Betätigungen als inspiriert gedacht werden. Die Herkunft
der Schriften von Aposteln oder apostolischen Männem ist dann also
[308/309] Die Krisis des Kanons der Kirche 59

deshalb entscheidend, weil diese inspiriert sind. Damit befmden wir


uns aber sofort wieder im Strudel der Schwierigkeiten der apriori-
schen Inspirationstheorie mitsamt ihrem doktrinär-juridischen Re-
ligionsverständnis, die Semler aufgedeckt und zur Geltung gebracht
hat, ohne widerlegt werden zu können5 • Wo aber diese Gedanken-
gänge heute noch festgehalten werden, wirken sie sich durch ihren
Widerspruch zur geschichtlichen Wirklichkeit der biblischen Schriften
in Auseinandersetzung mit dem kritischen oder geradezu antichrist-
liehen Zeitgeist noch viel verheerender aus als zur Zeit Semlers. Keine
Behandlung der biblischen Schriften hat heute noch irgendwelche
Glaubwürdigkeit, welche der geschichtlichen Wirklichkeit dieser Bü-
cher nicht in voller Aufgeschlossenheit und Ehrlichkeit Rechnung
trägt. Die Wirklichkeit ist stärker als alle apologetische Künstelei.
Daß die kirchliche Unterweisung aller Stufen gehemmt durch einge-
wurzelte Gewöhnung einerseits, durch theologische Unsicherheit an-
drerseits, diesem Sachverhalt zu wenig Rechnung getragen hat und
in der Handhabung des biblischen Wortes weithin bei einer "Theo-
logie als ob" stehen geblieben ist, nämlich bei einer Theologie, als ob
es keine historisch-kritische Schriftforschung gäbe oder diese eine
bloße Frucht menschlichen Vorwitzes und Unglaubens, nicht aber
eines sehr ernsten gewissenhaften Wahrheitsstrebens sei und daher
ignoriert werden könne, hat die Krisis des Kanons, in der wir seit an-
nähernd zweihundert Jahren stehen, nicht etwa gemildert, sondern
nur vertieft und zeitigt- gewiß neben anderen Ursachen- in der
heutigen Entfremdung des Volkes von Bibel, Christentum und Kirche
verhängnisvolle Folgen.
Das Verhältnis der christlichen Gemeinde zum Neuen Testament
(und seiner Vorstufe im Alten Testament) ist nicht dem Verhältnis
des Staats zu seinem Grundgesetz oder einer Körperschaft zu ihrer
Satzung vergleichbar. Es ist ein lebendig-religiöses Verhältnis. Es
kann deshalb nicht historisch-dogmatisch, sondern nur geschichtlich-
religiös, nämlich aus der tatsächlichen Lebensbeziehung der Kirche
und ihrer Glieder zum Neuen Telstament begründet werden. Diese
Lebensbeziehung ist aber nicht so zu beschreiben, daß das Neue Te-
stament die "Urkunde der Offenbarung Gottes" enthielte, auf der
sich dann die Kirche aufbaut. Es gibt keine Urkunden der göttlichen
Offenbarung, (man müßte denn an die beiden Gesetzestafeln von Ex
----
1 Damit wird nicht die Unmöglichkeit einer Inspirationslehre gegenüber den
biblischen und besonders den neutestamentlichen Schriften behauptet. Jedes christ-
liche Verhältnis zur Bibel drängt vielmehr auf eine solche Lehre hin. Aber sie kann
immer nur der abschließende dogmatische Ausdruck eines schon bestehenden reli-
giösen Verhältnisses zu den biblischen Schriften, nie dagegen die Grundlage eines
erst zu gewinnenden sein. Es kann nur eine aposteriorische und demgemäß be-
grenzte, nie eine apriorische, unbegrenzte Inspirationslehre geben.
60 IhRMANN STRArnMANN [309]

32, 15 denken; aber die sind zerbrochen) und kann keine geben. lg-
natius von Antiochien hatte ganz recht, wenn er seinen Gegnern zu-
rief: "Meine Urkunden sind Jesus Christus, ... sein Kreuz, sein Tod,
seine Auferstehung und der durch ihn bestehende Glaube" (Philad.
8, 2). Man sollte also diesen höchst konfusen Begriff fallen lassen. Die
neutestamentlieben Schriften sind Urkunden, nämlich Urzeugnisse
der glaubensvollen Verkündigung, aus der die Kirche erwachsen ist,
"Zeugnisse der kirebengründenden Predigt", wie M. Kähler zu sagen
pflegte. Das Zentrum dieser Zeugnisse bildet die Gestalt Christi -
und sonst nichts-, deren erlösende, lebenspendende Macht die Zeu-
gen als erlebte Wirklichkeit bekunden. Das geschieht in der Form von
Berichten über ihn, von mancherlei Bildern, Vergleichen und lehr-
haften Aussagen. Aber nicht diese Lehren, sondern die Gestalt, die
sie schildern und von deren Bedeutung sie handeln, bildet den Mit-
telpunkt. Die christliebe Gemeinde schätzt diese Schriften, weil sie
von der in ihnen bezeugten Gestalt zu dem Glauben überwunden
wurde, in dem sie den Frieden mit Gott und ewiges Leben fmdet.
Diese religiöse Lebensbeziehung erneuert sieb in ihr von Geschlecht
zu Geschlecht. Sie ist eine Lebensbeziehung der Gemeinde wie ihrer
einzelnen Glieder, die die Wahrheit von Job 6, 56 an sich erfahren
und daher von dieser Gestalt nicht loskommen. Der Christ glaubt
demnach, um abermals eine der präzisen Kählerschen Formulierun-
gen zu gebrauchen, "an die Bibel" (sofern man diesen ungenauen
Ausdruck einmal gelten lassen will) um Christi willen, nicht aber an
Christus um der Bibel willen. Da dieses Verhältnis zum Neuen Te-
stament geschichtlich erwachsen ist und sich im Lauf der Geschichte
immer wieder erneuert, ist es zugleich als religiös und geschichtlich
zu bezeichnen.
Das so begründete Verhältnis läßt eben darum zugleich die Frei-
heit zu völlig unbefangener Würdigung dieser Schriften sowohl nach
der religiösen wie nach der geschichtlichen Seite zu und macht zu-
gleich ihren doktrinär-juridischen Mißbrauch unmöglich. Da nämlich
der Glaube, um den es sich hier handelt, Glaube an die Gestalt Chri-
sti ist, kann niemals gefolgert werden, daß die Urzeugnisse dieses
Glaubens, in denen gewiß Gottes Geist, aber durch gläubige Men-
schen, zu uns redet, von dem Menschlichen dieser Zeugen nichts mehr
an sich tragen dürften und also alle Aussagen und Urteile unbesehen
als autoritativ übernommen werden müßten. Vielmehr ist es einzig
folgerichtig, alles vom Zentrum aus zu prüfen und zu beurteilen.
Mit anderen Worten: Was Luther in seiner Vorrede zum Jakobus-
brief über das Christum-Treiben gesagt hat, bringt mit der intuitiven
Sicherheit des Genius den Sachverhalt auf die schlechthin zutreffende
Formel. Auch nach der geschichtlichen Seite hin läßt das so verstan-
[309/310] Die Krisis des Kanons der Kirche 61

dene und begründete Verhältnis der gläubigen Gemeinde zum Neuen


Testament der Forschung völlige Freiheit. Denn um es gleich an
einem Hauptpunkt zu erläutern: ob das 4. Evangelium vom Zehe-
daiden stammt (das dürfte immer noch das weitaus Einleuchtendste
sein) oder von anderer Hand- so bleibt es die "Vollendung des neu-
testamentlicllen Glaubenszeugnisses", aucll wenn man die Freiheit
der Umformung der Einzelheiten, die kerygmatische Stilisierung-
so wäre das zu nennen - sehr hoch anschlägt (und das muß man
wohl). Die Frage nach dem Verfasser des 4. Evangelium behält li-
terargesclliclltlich ihre große Bedeutung; hinsichtlich des religiösen
und theologischen Gewichtes tritt sie durchaus in den Hintergrund.
Wollte man hier einwenden, daß sich diese Betrachtungsweise wehr-
los der historischen Skepsis auslie!fere, die etwa im Zweifel an der
Geschiclltlichkeit Jesu ihren Gipfel erreicht, so wäre darauf zu ant-
worten, daß dieser Zweifel ein theoretisches Gespinst ist, dem nur der
Charakter einer logizistischen Denkübnng, aber keine Wirklichkeits-
bedeutung zukommt. Wird man einmal das Dritte Reich ohne Adolf
Hitlcr geschichtlich begreiflich zu machen versuchen? Daß ein doktri-
när-juridischer Mißbrauch des Neuen Testaments bei dieser Anschau-
ung nicht mehr möglich ist, bedarf keines weiteren Nachweises. Hie
und da soll ja noch immer ein primitiver "Schriftbeweis" in übung
sein, welcher glaubt, die christliche Legitimität einer dogmatischen
Aussage durch Heranziehnng vereinzelter Bibelstellen dartun zu
können. Nach dem hier Gesagten kann vielmehr dieser Nachweis nur
im biblisch-theologischen Zusammenhang vom Zentrum des neute-
stamentlichen Glaubens aus geführt werden. Der biblische Wahr-
heitsbegriff ist nicht doktrinär-juridisch, sondern personhaft: "Ich
bin der Weg, die Wahrheit und das Leben."
Die Krisis des Kanons der Kirche, das Erbe Joh. Gerhards und Joh.
Sal. Semlers, kann nur durch ein geschichtlich-religiöses, in der tat-
sächlichen Lebensbeziehung der Kirche und ihrer Glieder begründetes
Verständnis der Autorität der hl. Schrift und darum in Freiheit über·
wunden werden.
WERNER GEORG KüMMEL

Notwendigkeit und Grenze


des neutestamentlichen Kanons•
I

Die Frage nach dem Wesen und der richtigen Bewertung des neu-
testamentlichen Kanons steht heute nicht im Mittelpunkt der theo-
logischen Diskussion. Man nimmt in der Regel den Kanon als gege-
bene Größe hin, ohne sich über die Notwendigkeit des Vorhanden-
seins einer abgegrenzten Sammlung urchristlicher Schriften oder
über Recht und Unrecht der geschehenen Abgrenzung klare Vorstel-
lungen zu machen. Diese Unklarheit aber ist innerhalb einer Kirche,
die ihre göttliche Botschaft allein aus dem im Kanon gesammelten
urchristlichen Schrifttum (und erst in dessen Licht dann auch aus dem
Alten Testament) empfängt, nicht wohl tragbar, und so hat H. Strath-
mann1 diese Unklarheit mit Recht "eine schleichende Krankheit der
evangelischen Theologie und damit der evangelischen Kirche" ge-
nannt. Erhebt nämlich innerhalb einer an das Evangelium allein ge-
bundenen Kirche die theologische Lehre ebenso wie die praktische
Verkündigung den Anspruch, dem Menschen rettende Botschaft und
bindende Weisung nur darum verkünden zu sollen, weil Gottes Wort
sie dazu ermächtigt, so darf gerade die Frage nicht unbeantwortet
bleiben, wo dieses Wort sicher zu finden sei und wie man es in den
biblischen Schriften sicher finden könne. Diese Frage schien ja so
lange leicht zu beantworten zu sein, als die überzeugung herrschte,
"daß das Neue Testament seit unvordenklichen Zeiten der Kirche
den Dienst leiste", welchen es den Vätern der Kirche am Ende des
2. Jahrhunderts geleistet hat, als man begann, sich über den Umfang
des neutestamentlichen Kanons Gedanken zu machen2 • Diese Ober-
zeugung aber wurde unhaltbar, als durch Johann Salomo SemZer
• Aus: W. G. Kümmel, Heilsgeschehen und Geschichte. Ges. Aufsätze 1933 bis
1964, hg. von E. Grässer, 0. Merk und A. Fritz (Marburgcr Theologische Stu-
dien 3), Elwert-Verlag, Marburg 1965, S. 230-259 (Erstveröffentlichung in: ZThK
47, 1950, s. 277-313).
1 H. Strathmann, Die Krisis des Kanons der Kirche. Job. Gerhards und Job. Sal.

Semlers Erbe, ThB120, 1941, Sp. 295 ff. (295).


1 So nach Th. Zahn, Geschichte des Neutestamentlichen Kanons I, 1, 1888, S. 434;

ähnlich auch M.-J. Lagrange, Histoire ancienne ducanon du Nouveau Testament,


1933, s. 5 f.
[230/231] Notwendigkeit und Grenze des neutestamentlichen Kanons 63

und seine Nachfolger der Nachweis geführt worden war, daß der Ka-
non des Neuen Testaments sich erst im Laufe des 2. Jahrhunderts all-
mählich zu formen begonnen hat und daß seine Abgrenzung zu
der uns geläufigen Form erst die Folge einer jahrhundertelangen
Auseinandersetzung innerhalb der Kirche gewesen ist. Damit stand
ja fest, daß Entstehung und Abgrenzung des Kanons innerhalb der
kirchlichen Entwicklung vom 2. Jahrhundert an vor sich gegangen
ist, daß der Kanon also zum mindesten in seiner endgültigen Form
eine I Schöpfung der Kirche und damit Resultat eines geschichtlichen
Werdeprozesses ist. Eine die geschichtliche Wirklichkeit ernst neh·
mende Theologie und Verkündigung sieht sich also im Kanon einer
geschichtlichen Größe gegenübergestellt, angesichts derer die Frage
nach ihrer Entstehung und nach der sachlichen Berechtigung ihrer
Entwicklung unausweichlich gestellt werden muß. Und es gibt keine
andere Möglichkeit, über Bedeutung und Umfang des neutestament-
lichen Kanons für die Kirche von heute Klarheit zu gewinnen als auf
dem Wege über die geschichtliche Frage nach dem Werden dieser
Schriftensammlung.
Diese geschichtliche Frage nach dem Werden des neutestament-
lichen Kanons, die Kanonsgeschichte, ist aber dann auch in doppelter
Hinsicht von aktueller theologischer Bedeutsamkeit. 1. Die Untersu-
chung der Kanonsbildung darf ihr Augenmerk nicht bloß auf die
wechselreichen Wandlungen in der Abgrenzung des Kanons richten,
sondern muß vor allem fragen nach den Motiven, die überhaupt zur
Bildung eines neuen Kanons und zur Ausschließung oder Einbezie-
hung der einzelnen Schriften in diesen Kanon führten. Denn der Ka-
non als geschichtlich gegebene Größe kann nur aus den bei seiner Bil-
dung bestimmenden Vorstellungen begriffen werden, die sachliche
Berechtigung oder Notwendigkeit gerade dieser Abgrenzung kann
ohne Kenntnis der dabei einstmals treibenden Motive nicht nachge-
prüft werden. Die bis heute umstrittene Frage, ob die Gesamtheit der
von der Alten Kirche kanonisierten Schriften mit Recht zum Kanon
gerechnet wird, kann man also nur unter Berücksichtigung des ge-
schichtlichen Werdens dieser Abgrenzung zu beantworten versuchen.
2. Viel wichtiger ist aber, daß die Einsicht in das geschichtliche Wer-
den und die geschichtliche Bedingtheit der Kanonsbildung die theolo-
gische Besinnung dazu zwingt, die Frage nach dem Recht, der Not-
wendigkeit und der bleibenden Bedeutung der Kanonsbildung über-
haupt zu stellen und von da aus die Frage zu klären, in welchem
Sinn dieser geschichtlich gewordene Kanon auch für uns heute nor-
mativen Charakter haben könne oder müsse. Denn es kann kein
Zweifel sein, daß mit der Erkenntnis vom geschichtlichen Werden
und damit der zufälligen Gestalt des neutestamentlichen Kanons sidl
64 WERNER GEORG KüMMEL (231/~]

die Frage stellen mußte und immer wieder stellt, ob der geschichtlich
so zufällig zustande gekommene Kanon überhaupt bleibende norma-
tive Bedeutung haben könne bzw. worin diese normative Bedeutung
begründet sei. Die Einsicht in die geschichtliche Zufälligkeit der über-
lieferten Gestalt des neutestamentlichen Kanons hatte ja schon loh.
Sal. Semler dazu geführt, den Kanon praktisch aufzugeben, da für
ihn nur noch das im Kanon als wertvoll bestehen bleibt, was der "mo-
ralischen Ausbesserung" dient3 • Und die kritische Theologie neigte
lange Zeit dazu, den Kanon nur noch als eine geschichtliche Gegeben-
heit zu werten, die durchaus zufälligen Charakter trage und dogma-
tisch keine maßgebende Bedeutung mehr haben dürfe4 • Die Einsicht
in die geschichtliche Bedingtheit und I Zufälligkeit des Kanons hatte
also die Aufhebung seiner Anerkennung als einer wesentlichen
Norm, die Bestreitung seiner Notwendigkeit zur Folge.
Aber so sehr die Einsicht in die geschichtliche Bedingtheit der Ka-
nonsbildung und Kanonsabgrenzung davon befreien mußte, "daß
dieser Kanon aus einer Stütze ein drückendes Joch werden- bleiben
durfte" 5 , so problematisch mußte doch die völlige Preisgabe des Ka-
nonsbegriffes für eine Theologie sein, die wieder darum wußte, daß
alle christliche Verkündigung ihre Begründung und Ermächtigung
allein durch das einmalige Handeln Gottes in Jesus Christus und den
Aposteln erhält, und der darum die Frage brennend ist, wo dieses ein-
malige Heilshandeln Gottes uns in unverfälschter Form faßbar sei.
Wenn wir uns an die geschichtliche Offenbarung Gottes in Jesus
Christus gebunden wissen, so müssen wir ernstlich fragen, ob der Ka-
non des Neuen Testaments nicht doch eine bleibende und unaufgeb-
bare Bedeutung habe. Darum ist eine Neubesinnung auf Notwendig-
keit und Grenze des neutestamentlichen Kanons eine unumgängliche
Aufgabe einer an das Evangelium gebundenen Theologie, eine Auf-
gabe, die freilich nur unter sorgfältiger Berücksichtigung der Ge-
schichte dieses Kanons in befriedigender Weise gelöst werden kann.
Es wird darum notwendig sein, der grundsätzlichen Besinnung über
a Siehe den Nachweis bei H. Strathmann, ThBl20, 1941, Sp. 298 ff.
4 Vgl. z. B. H.J. Holtzmann, Lehrbuch der historisch-kritischen Einleitung in das
NT, 18928, S. 186: "Damit ist aber der Begriff des Kanons in seiner scharfen dog-
matischen Umrissenheil überhaupt aufgegeben, und insofern hat die ,Geschichte
des Kanons' ihren unvermeidlichen Abschluß gefunden"; W. Wrede, Uber Auf-
gabe und Methode der sogenannten Neutestamentlichen Theologie, 1897, S. 11:
"Wo man die Inspirationslehre streicht, kann auch der dogmatische Begriff des
Kanons nicht aufrecht erhalten werden ... Wer also den Begriff des Kanons als
feststehend betrachtet, unterwirft sich damit der Autorität der Bischöfe und Theo-
logen jener Jahrhunderte. Wer diese Autorität in andem Dingen nicht aner-
kennt ... , handelt folgerichtig, wenn er sie auch hier in Frage stellt." Siehe auch
H. Weinel, Biblische Theologie des Neuen Testaments, 1921 1, S. 8 f.
1 A. Jülicher-E. Fascher, Einleitung in das Neue Testament, 19317, S. 558.
[232/ 233] Notwendigkeit und Grenze des neutestamentlichen Kanons 65

die bleibende Bedeutung des neutestamentlichen Kanons einen kur-


zen überblick über die Entstehung und weitere Geschichte dieses Ka-
nons vorauszuschicken6 , wobei besonders auf die in dieser Geschichte
wirksamen Motive das Augenmerk gerichtet werden soll.

II
Jesus und die Urchristenheit haben das Alte Testament als Heilige
Schrift gekannt und anerkannt. Es ist aber äußerst fraglich, ob der
alttestamentliche Kanon zur Zeit Jesu in Palästina schon endgültig
abgeschlossen war, da wir erst gegen Ende des ersten Jahrhunderts
von der offiziellen Abgrenzung des palästinischen Kanons hören7, so
daß wir schwerlich das Recht haben, für die palästinische Urchristen-
heit die Vorstellung eines endgültig abgeschlossenen Kanons voraus-
zusetzen. Darüber hinaus steht Jesus der von ihm anerkannten Norm
der "Schriften" im einlzelnen durchaus frei gegenüber, weil er sich das
Recht zuerkennt, als der eschatologische Ausleger der Gottesworte in
eigener Vollmacht darüber zu entscheiden, was innerhalb der "Schrif-
ten" wirklich Gottes Wort ist8 • Indem Jesus so der überlieferten Schrift-
norm autoritativ gegenübersteht, wohnt der christlichen Stellung zur
alttestamentlichen Schriftnorm von vorneherein eine kritische Kom-
ponente inne: oberste Norm ist sachlich die Person Jesu selbst. Das
zeigt sich ganz ähnlich auch bei Paulus. Auch Paulus kennt die jü-
dische Bibel als Autorität und zitiert aus allen drei Teilen des hebräi-
schen Kanons9 • Da er das Alte Testament meistens nach der Septua-
ginta zitiert, jedenfalls nicht auf den Urtext zurückgreift, ist es äußerst
wahrscheinlich, daß für ihn das Alte Testament den Umfang der
Septuaginta hatte. Von einer Abgrenzung des jüdisch-hellenistischen
Kanons hören wir aber aus jüdischen Quellen nirgendwo etwas, und
als die ersten christlichen Kanonsverzeichnisse für das Alte Testament
aufgestellt wurden, wichen sie in den einzelnen Kirchenprovinzen
sehr stark voneinander ab 10 • Es ist darum sehr wahrscheinlich, daß
1 Für die Einzelheiten sei verwiesen auf die Darstellungen in den "Einleitun-

gen in das NT" von A. Jülicher-E. Faseher (19317), P. Feine-/. Behm (19368), W.
Michaelis (1946), ferner auf 1. Leipoldt, Geschichte des neutestamentlichen Ka-
nons I. II, 1907/08. Die beste Quellensammlung ist noch immer E. Preuschen, Ana-
leeta II: Zur Kanonsgeschichte, 191()1 (eine Neuauflage ist dringend erwünscht);
die kleinere Sammlung von F. W. Grosheide, Some Early Lists of the Books of
the New Testament, 1948, ist unzureichend.
7 0. Ei.ssfeldt, Einleitung in das AT, 1934, S. 618 ff.
8 Siehe W. G. Kümmel, Jesus und der jüdische Traditionsgedanke, ZNW 33,
1934, S. 105 ff.; A. Oepke, Jesus und das AT, 1938; ders., Studia Theologica II,
s.
1948/50, 136.
• 0. Michel, Paulus und seine Bibel, 1929.
10 A. Jepsen, Kanon und Text des AT, ThLZ 74, 1949, S. 65 ff. (68 f.).

5 Käscmann, Kanon
66 WERNl!.R GEORG KüMMEL [233/234]

auch Paulus als ehemaliger hellenistischer Jude keinen abgeschlos-


senen Kanon des Alten Testaments voraussetzt, und 1 Kor 2, 9 zitiert
er ja zweifellos einen apokryphen Text als Bestandteil der "Schrift" 11 •
Aber auch Paulus steht dieser überlieferten Schriftnorm kritisch ge-
genüber. Nicht nur behauptet er, daß allein die Christen als Träger
des Geistes Christi die Heilige Schrift der Juden richtig interpretieren
können (2 Kor 3, 6. 15-17; 1 Kor 10, 11), sondern er beruft sich mehr-
fach als auf die abschließende Autorität auf ein Wort des Kyrios, der
für ihn der irdische Jesus und der Auferstandene ist (1 Thess 4, 15;
1 Kor 7, 10; 9, 14). Neben diese dem Alten Testament übergeordnete
Norm tritt die Autorität des vom Auferstandenen berufenen Apostels
(1 Kor 7, 25. 40; 14, 37 f.; Galt, 1 ff.), die ebenso wie die Worte des
Kyrios noch eine lebendige und nirgendwo festgelegte Norm darstellt.
Schon hier ist also die von den Juden übernommene Norm der jüdi-
schen "Schrift" nicht mehr die einzige Norm, sondern es bildet sich
daneben eine neue sachliche Norm; an die Stelle des irdischen Jesus
ist dabei nach Ostern und Pfingsten der mit dem irdischen Jesus iden-
tische Auferstandene getreten, der nun dieselbe eschatologische Auto-
rität beansprucht wie der eschatologische Lehrer der Bergpredigt (Mt
5, 21 ff.). Letzte Norm ist so von Beginn des Urchristentums an der
auferstandene Herr, der in seinen eigenen Worten ebenso wie in der
Verkündigung der von ihm berufenen Zeugen dem Hörer begegnet.
Die Frage kann darum nicht sein, wie es überhaupt zu einerneuen
Normbildung in der christlichen Kirche kommen konnte, sondern
warum und in welchem Sinn diese Norm die Gestalt eines Schriften-
kanons angenommen hat bzw. annehmen mußte.
Das spätere Urchristentum bestätigt diesen Sachverhalt. Auch hier
gilt das Alte Testament als Heilige Schrift, ohne als Kanon scharf ab-
gegrenzt zu sein, aber auch I hier weiß man, daß nur die Christen die
Schrift richtig interpretieren können, weil die Christusoffenbarung
dem alten Bund weit überlegen ist (Apg 17, 2 f.; Job 5, 39 ff.; 2 Tim
5, 15 f.; Hehr 8, 15; 10, 1 usw.). So tritt auch hier die Autorität des
Kyrios über die alte Norm der "Schrift" (Apg 20, 55; Apk 2, 1 ff.), und
daneben beanspruchen die Anordnungen der christlichen Lehrer nor-
mative Geltung, ob man nun in der Rolle eines der ältesten Apostel
redet {Eph 4, 1; 1 Tim 6, 15 ff.; 1 Petr 5, 1 f.) oder als zeitgenössischer
christlicher Lehrer schreibt (Hehr 10, 26 f.; 5 Job 5 ff.; Apk 1, 1-3).
Aber es ist die lebendige Stimme der Verfasser dieser Schriften und
nicht eine "Heilige Schrift", die diese Autorität beansprucht11• So tritt
11 Nam Origenes handelte es sim um secreta Eliae prophetae, s. H. Lietzmann-
W. G. Kümmel, An die Korinther I. II, 19494, S. 13, 170.
11 Apk 22, 18 f. bildet keine Ausnahme, da die Verwünschungsformel das Bum
als inspiriert deklariert, nimt aber eine Kanonisation vollziehen will (s. B. Olsson,
[234/235] Notwendigkeit und Grenze des neutestamentli<hen Kanons 67

denn auch weiterhin im frühen nachapostolischen Zeitalter neben die


alttestamentliche Schrift das durch die Apostel vermittelte Gebot des
Herrn (2 Petr 3, 2), und dieser Kyrios ist der Gemeinde zugänglich in
seinem eigenen Wort oder im Wort der Apostel (lgn. Magn. 7, 1)13 ,
und noch um die Mitte des 2. Jahrhunderts stellt 2 Clem 14, 2 "die
Apostel" neben "die Bücher" (Altes Testament). Das Wort des Herrn
und der Apostel ist also nach wie vor die oberste Autorität, und es ist
nicht in Büchern festgelegt, oder zum mindesten nicht in Büchern,
die den Heiligen Schriften zugerechnet werden. Sind so "die
Apostel der älteren Periode ein rein idealer Kanon, ungreifbar,
unkontrollierbar" 14 , und sind sie ebenso wie der Kyrios nur in
der noch ungefestigten mündlichen und schriftlichen Oberliefe-
rung zugänglich, so ergab sich doch aus dieser rein innerkirch-
lichen Entwicklung mit dem Abbrechen der mündlichen Tradi-
tion früher oder später unausweichlich die Notwendigkeit, die
für die Kirche unentbehrliche Norm des Kyrios und der Apostel nur
noch in Schriften aus der Apostelzeit zu suchen. Und sobald sich die
Frage nach dem sicheren Zugang zur eschatologischen Offenbarung
Gottes in Jesus Christus und den Aposteln stellte, mußte der Fundort
ein zweiteiliger sein, weil die neue Norm sowohl den Kyrios wie die
Apostel zum Reden bringen mußte.
Diese Entwicklung bahnt sich gegen das Ende des nachapostoli-
schen Zeitalters an. Jetzt werden Jesusworte wie alttestamentliche
Schriften zitiert (Barn 4, 14; 2 Clem 2, 4), so daß ein Evangelienwort
die gleiche normative Geltung erhält wie die Heilige Schrift des Alten
Testaments, ohne daß freilich irgendwie angedeutet wäre, daß man
sich schon über die Entstehung einerneuen schriftlichen Autorität be-
wußt wäre. Für Apostelschriften können wir dagegen noch nicht zur
gleichen Zeit die Anführung als "Schriften" beobachten15 ; doch nach-
dem einmal Evangelienschriften als "Schrift" eingeschätzt wurden,
mußten früher oder später auch Apostelschriften ebenso gewertet
werden.!
Aber diese ausdrückliche Wertung von Evangelientexten als

ZNW 31, 1932, S. 84 ff.). Röm 16, 26 cpaVEQ<.Ot!vto~ 6! vüv 6..U n yQacp<i)v
XQOCinl'tLXÖJVmit seinem Hinweis auf christliebe Offenbarungsschriften erweist sieb
auch von hier aus als nic:bt-paulinisc:b und spät-nachapostolisch (vgl. M. Gogwl,
Introduction au Nouveau Testament IV, 2, 1926, S. 251 f.).
11 "Wie nun der Herr ohne den Vater nichts getan hat, mit dem er geeinigt ist,
weder in eigener Person, noch durch die Apostel, so tut auch ihr nichts ohne den
Bischof ... "
1' A. Jülic:lu!r-(E. Fascher), Einleitung in das NT, 19317, S. 405; ähnlich J. Lei-
poldt, Geschichte des neutestamentlieben Kanons I, S. 190 f.
11 Im Polykarpbrief 12,1 kann die Anführung von Eph 4, 26 als scriptura nur
ein Fehler der Oberlieferung oder ein Irrtum sein (s. 1. Leipoldt, aaO I, S. 191).

s•
68 WERNER GEORG KüMMEL [235)

"Schrift" und dieses Wissen um die unentbehrliche Autorität aposto-


lischer Äußerungen bedeutet noch nicht, daß damit bereits das Neue
Testament, wenn auch nur im Keim, vorhanden gewesen wäre. Ehe
es zur bewußten Bildung und dann auch Abgrenzung einerneuen
normativen Schriftensammlung kommen konnte, mußten erst über-
haupt Sammlungen urchristlicher Schriften geschaffen werden und
mußten solche Sammlungen zu einem größeren Ganzen vereinigt
werden. Beide Voraussetzungen müssen aber gegen die Mitte des 2.
Jahrhunderts erfüllt gewesen sein, ohne daß wir diese Vorgänge im
einzelnen sicher verfolgen könnten. Paulusbriefe sind schon zu Leb-
zeiten des Paulus zwischen den Gemeinden ausgetauscht worden, und
am Anfang des 2. Jahrhunderts muß eine Sammlung von Paulus-
briefen bestanden haben, wie die häufige Bezugnahme auf Paulus-
briefe in den Schriften des nachapostolischen Zeitalters ebenso wie die
Analogie der Sammlung der Ignatiusbriefe beweist16• Von einer
Sammlung sonstiger Apostelschriften hören wir vor der Zeit der
eigentlichen Kanonsbildung in der zweiten Hälfte des 2. J ahrhun-
derts nichts, und wir können nur darauf verweisen, daß einige dieser
Schriften zweifellos schon im nachapostolischen Zeitalter benutzt wor-
den sind 17• Die andere Frage, seit wann es eine Zusammenstellung
mehrerer Evangelienschriften gegeben hat, ist noch schwieriger zu
beantworten, weil bei der Anführung evangelischer Texte bis gegen
das Ende des 2. Jahrhunderts nirgendwo eine bestimmte Evangelien-
schrift zitiert wird. Doch steht fest, daß Ignatius Johannes und Mat-
thäus benutzt hat und daß Papias Matthäus, Markus und Johannes
kannte und miteinander verglich; Papias hat also zum mindesten
diese drei Evangelien als zusammengehörig, schwerlich aber schon
als geschlossene Sammlung betrachtet, wie sein Suchen nach münd-
licher Oberlieferung der Herrnworte beweist (Eus. h. e. III, 39, 3 f.) 18•
11 A. v. Harnack, Die Briefsammlung des Apostels Paulus und die anderen vor-
konstantinischen christlichen Briefsammlungen, 1926, S. 6 ff. Vgl. auch J. Knor,
Mareion and the New Testament, 1942, S. 172 f. - Daß erst Markion eine plan-
mäßige Sammlung von Paulusbriefen angelegt habe, ist eine unwahrscheinliche
Vermutung (gg. W. Bauer, Rechtgläubigkeit und Ketzerei im ältesten Christen-
tum, 1934, s. 224).
17 1. Clemens 36, 2 f. kennt den Hebräerbrief, Polykarp 7, 1 und 10, 2 den 1. Jo-
hannes- und 1. Petrushrief; Papias hat nach Eus. h. e. 111, 39, 17 den 1. Petrus- und
1. Jobarmesbrief zitiert und anerkannte die Zuverlässigkeit der Apokalypse des
Johannes (frgm. V Bihlmeyer, erhalten bei Andreas Caesar. praef. in Apc.).
11 Für die Kenntnis des Johannesevangeliums durch lgnatius vgl. C. Maurer,
lgnatius von Antiochien und das Johannesevangelium, 1949; für die Benutzung
des Matthäusevangeliums durch lgnatius s. B. H. Streeter, The Four Gospels,
19361, S. 504 ff. Die bekannten Äußerungen des Papias über Matthäus und Markus
finden sich bei Eus. h. e. 111, 39, 15 f.; die Kenntnis des Jobarmesevangeliums durch
Papias ergibt sich sehr wahrscheinlich aus dem antimarkionitischen Jobarmesprolog
[235/236] Notwendigkeit und Grenze des neutestamentlichen Kanons 69

Tatian schließlich hat seine Evangelienharmonie zwar vielleicht erst


nach der Mitte des 2. Jahrhunderts abgefaßt 19, setzt aber bei seiner
Zusammenarbeitung der vier Evangelien deutlich voraus, daß diese
vier I Evangelien bereits um die Mitte des 2. Jahrhunderts in Rom als
Sammlung bekannt gewesen sind. Und noch einen Schritt weiter
führt etwa zur gleichen Zeit Justin, der in seiner Apologie an Anto-
ninus Pius (ca. 155) berichtet, daß im sonntäglichen Gottesdienst die
"Apostel-Memoiren" (d. h. Evangelien, s. ap. I, 66, 3) oder die Schrif-
ten der Propheten verlesen werden (ap. I, 67, 3). Hält man neben
diese Nachricht die Tatsache, daß Justin mehrfach synoptische Texte
als "geschrieben" zitiert20 und darauf hinweist, diese "Memoiren"
seien verfaßt "von seinen (d. h. Christi) Aposteln und deren Nach-
folgern" (Dial. 103, 8), so kann kein Zweifel darüber herrschen, daß
Justin eine Sammlung von Evangelienschriften kennt, die er auf Apo-
stel und deren Schüler zurückführt, und daß er dieser Sammlung
gleiche Autorität und gottesdienstliche Bedeutung zuerkennt wie den
Schriften des Alten Testaments. Justin kennt also eine neue, dem
Alten Testament gleichgestellte Heilige Schrift, die auf alle Fälle
die Evangelien umfaßt; und wenn er einmal von "anderen Schriften"
redet und dabei an die Apokalypse denkt (ap. I, 28, 1), so kann man
mit guten Gründen fragen, ob ihm nicht auch schon diese Schrift ka-
nonische Geltung hat21 • Aber ob diese Vermutung zu Recht besteht
oder nicht, fest steht auf alle Fälle, daß wir bei Justin einem neuen
Kanon begegnen, der im gottesdienstlichen Gebrauch noch einteilig
zu sein scheint, der aber keineswegs abgeschlossen ist und deutlich
die Tendenz hat, auch Apostelschriften aufzunehmen. Und auch das
ist ganz deutlich, daß sich dieser neue Kanon völlig unreflektiert aus
den Bedürfnissen des kirchlichen Lebens entwickelt hat: fehlte das
mündliche Wort der Männer der Apostelzeit, so mußte man die
Worte des Herrn ebenso wie die Verkündigung der Apostel aus Evan-
gelien- und Apostel-Schriften entnehmen, die damit ganz von selber
in die Würde einer dem Alten Testament überlegenen Norm ein-
(Papias frgm. XIII Bihlmeyer; s. dazu A. v. Hamo.ck, Die ältesten Evangelien-
prologe und die Bildung des NT, SAB, Phil.-hist. Kl. 1928, S. 333 f.).
11 Nach Eusebius (h. e. IV, 29, 6) hat Tatian die Evangelienharmonie erst als
Sektenhaupt, d. b. nach seiner Trennung von der Kirche ca. 170, verfaßt; aber die
Geschid:J.te des Diatessarontextes spricht viel eher dafür, daß er das Werk schon
früher in Rom geschaffen hat (s. C. Peters, Das Diatessaron Tatians, 1939, S. 212 f.).
~ Dial. 100, 1.4; 101,3; 102, 5; 103,6. 8; 104, 1; 105, 1.5.6; 106, 1.3.4. Daß
Justin auch das Johannesevangelium kannte, läßt sich nur wahrsd:J.einlich mad:J.en
(vgl. ap. I, 61, 3 f. Dial. 88, 7); dagegen W. Bauer, Red:J.tsgläubigkeit und Ketzerei,
s. 208 f.
11 Bestätigend könnte sein, daß Dial. 81, 4 die Autorität des Apokalyptikers Jo-

hannes neben die des Kyrios gestellt wird. W. Bauer, aaO, S. 218macht darauf auf-
merksam, daß sich bei Justin aber keine Kenntnis der Paulusbriefe verrät.
70 WEBNER GEORG KÜMMEL (236/237]

rückten, welche Würde vorher den Worten des Kyrios und den An-
ordnungen der apostolischen Zeugen eingeräumt worden war. Die
Bildung eines neutestamentlichen Kanons hat sich also mit dem Ende
des urchristlichen Zeitalters als notwendige Formwerdung innerhalb
der Kirche vollzogen, und dieser Kanon hatte von Anfang an aus sach-
lichen Gründen die Tendenz, Evangelienschriften und Apostelschrif-
ten nebeneinander zu enthalten.
Nun war freilich etwa zur gleichen Zeit um die Mitte des 2. Jahr-
hunderts in Rom der Kleinasiate Markion aufgetreten und hatte nach
seiner endgültigen Trennung von der römischen Gemeinde für seine
Gemeinde unter völliger Verwerfung des Alten Testaments eine neue
Heilige Schrift geschaffen, die aus E'Öayylllov und W.:ocno).~ be-
stand, das heißt aus einem verkürzten Lukasevangelium und zehn
ebenfalls verkürzten Paulusbriefen (ohne die Pastoralbriefe). Die
Kirchenväter sind nun in ihrer Polemik gegen Markion von der An-
schauung ausgegangen, Markion habe aus einem bereits bestehenden
Vierevangelienkanon der Kirche ebenso wie aus einer umfanglreiche-
ren kirchlichen Sammlung der Apostelschriften eine willkürliche Aus-
wahl getroffen22 • Demgegenüber hat A. Hamack die Anschauung
vertreten, Markion habe als erster nicht nur den Gedanken eines
neuen Schriftenkanons, sondern auch die Zweiteiligkeil dieses Ka-
nons erfunden, und die Kirche ho.be beides von Markion übcmom-
men23; die Schaffung eines Neuen Testaments ebenso wie dessen Aus-
gestaltung in zweiteiliger Form wären demnach erst ein Gegenschlag
der Kirche gegen Markions grundlegende Schöpfung gewesen. Noch
einen Schritt weiter ist neuerdings J. Knox gegangen mit seiner
These, daß die Kirche durch Markions Kanon aus E'ÖayyULov und
W.:ootoA.o; gezwungen worden sei, dem Kanon Markions einen um-
fangreicheren Kanon aus vier Evangelien und einem erweiterten
Apostolos einschließlich der Apostelgeschichte gegenüberzustellen2'.
Nun kann ja keine Frage sein, daß Markion als erster einen geschlos-
senen Kanon geschaffen und an die Stelle des Alten Testaments ge-
11 Siehe besonders Iren. adv. haer. 111, 12, 15 (11, 67 ed. Harvey) und Epiph.,
haer. 42, 9 bei Prewchen, Analeeta II, S. 7 f. Ähnlich noch M. Meinertz, Einleitung
in das NT, 19334, S. 334.
11 A. v. Harnack, Die Entstehung des NT und die wichtigsten Folgen der neuen
Sdlöpfung, 1914, S. 40 ff.; ders., Marcion: Das Evangelium vom fremden Gott,
19241, s. 72 f., 210 ff., 441* ff.
14 J. Kno:r, Mareion and the New Testament. An Essay in the Early History of
the Canon, 1942. Kno:r behauptet sogar, Markions t:uayyH.tov gehe auf eine frü-
here Form des Lukasevangeliums zurück als das kanonische Lukasevangelium,
und das kanonische Doppelwerk Lukas-Apostelgeschichte sei erst im Gegensatz zu
Markions Kanon nach 150 durch Erweiterung des ursprünglichen Lukasevangeliums
geschaffen worden, um den Paulus kirchlich einzuordnen. Diese These, die für das
Lukasevangelium nur durch sorgfältige textkritische Untersuchungen ausreichend
[237 /238] ~otwendigkcit und Grenze des neutestamentlichen Kanons 71

stellt hat; dagegen ist es keineswegs sicher, daß Markion sein eines
Evangelium aus dem kirchlichen Vierevangelienkanon ausgesucht
und daß er mehr als die zehn von ihm aufgenommenen Paulusbriefe
gekannt hat25 • Daß Markions Kanon eine Auswahl aus dem schon
vorhandenen reicheren kirchlichen Kanon gewesen sei, wie es die
Kirchenväter wollten, widerspricht in der Tat allem, was wir von der
Stellung der Kirche zu den Schriften des späteren Neuen Testaments
aus der Zeit Markions wissen. Aber ebensowenig gibt es ausreichende
Beweise für die Annahme, erst Markions Kanon habe die Bildung
eines zweiteiligen Neuen Testaments oder gar des Vierevangelien-
kanons veranlaßt. Wir hören ja von der Zusammenordnung mehrerer
Evangelienschriften, wie wir sahen, schon vor der Mitte des 2. Jahr-
hunderts, und der Vierevangelienkanon hat sich gar nicht mit einem
Schlag, sondern nur zögernd im Laufe der zweiten Hälfte des 2. Jahr-
hunderts in der Kirche durchgesetzt28 • Und die schon vor Markion
nachweisbare Anschauung von der normativen Bedeutung der Lehre
der Apostel hat ebenfalls in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts
nur langsam dazu geführt, daß Zitate aus Apostelschriften den IEvan-
gelienzitaten gleichgestellt wurden27 • Markions Kanonsbildung hat
also weder die Entstehung eines Neuen Testaments noch die Bildung
eines Vierevangelienkanons noch gar die Nebeneinanderstellung von
Evangelien und Apostelschriften erst veranlaßt. Die Gleichstellung
von Evangelienschriften mit der Heiligen Schrift des Alten Testa-
ments und das langsame Einrücken apostolischer Schriften in die
gleiche Würde ergaben sich vielmehr aus dem schon im apostolischen
und nachapostolischen Zeitalter sich zeigenden Bedürfnis der Kirche
mit innerer Notwendigkeit. Aber das Vorhandensein des abgeschlos-
widerlegt werden könnte, ist weder durch die vorgelegte Wortstatistik bewiesen
noch in Obereinstimmung mit der Tatsache, daß die Apostelgeschichte die Samm-
lung der Paulusbriefe noch nicht kennt.
II Siehe W. Bauer, Rechtgläubigkeit und Ketzerei, S. 225 ff.
11 Noch Tatian konnte es wagen, die vier Evangelien in eines zusammenzuzie-
hen; die von Epiphanius als "Aloger" bezeichneten Gegner des Montanismus
konnten um 170 das Johannesevangelium und die Apokalypse als Werke des Gno-
stikers Kerinth verwerfen, ohne aus dem Rahmen der Kirche zu fallen (s. J. Lei-
poldt, Geschichte I, S. 43 ff., 146 ff.; W. Bauer, aaO, S. 209 f.).
17 Tatian hat auch eine sprachliche Überarbeitung der Paulusbriefe vorgenom-
men (Eus. h. e. IV, 29, 6); Athenagaras führt ein zusammengesetztes Pauluszitat
xa'ta 'tOV lut6a'toA.ov an (de res.18);Theophilus vonAntiochien stellt 'tO EÜayyt:A.LOv
und ln Jli!V xat 6 eEio~ >..6yo~ (zusammengesetztes Zitat aus Paulus) nebeneinan-
der (s. R. M. Grant, The Bible of Theophilus of Antioch, JBL 66, 1947, S. 173 ff.);
der Gnostiker Ptolemäus (s. A. v. Hamack, Ptolemäus, Brief an die Flora, 1912)
zitiert den xueLo~ und Ilaü>..o~ 6 ci1t6'toA.o~ in gleicher Weise (II, 4; III, 15; IV, 5).
Andererseits stellen die Märtyrer von Scili (um 180, s. Preusdten, Analeeta II,
S. 17) neben die libri, zu denen zweifellos auch die Evangelien zu rechnen sind,
die epistulae Pauli viri iusti.
72 WERNER GEORG KÜMMEL [238/239)

senen Kanons der Markioniten hat die schon im Gang befindliche


Entwicklung zweifellos beschleunigt. Nun mußte die Entwicklung
dahin gehen, eine bestimmte Zahl von Evangelien als allein maß-
gebend zu bezeichnen und die Sammlung der Paulusbriefe, die Mar-
kion schon vorgefunden hatte, zu einer Sammlung aller Zeugnisse
der Apostel zu erweitern, wobei auch die Apostelgeschichte einbezo-
gen28 und der von Papias und Justin schon so hoch geschätzten Jo-
hannesapokalypse der Weg zur Anerkennung als "Schrift" bereitet
wurde. Markion hat also schwerlich die Kanonsbildung der Kirche an-
geregt, wohl aber beschleunigt und in Nebenpunkten beeinflußt29 .
Wir sehen denn auch, daß sich die in der zweiten Hälfte des 2.
Jahrhunderts fortgebildeten Ansätze zur Bildung des Vierevangelien-
kanons und zur Gleichstellung einer Sammlung von Apostelschriften
mit diesem Evangelienkanon am Ende des 2. Jahrhunderts weit-
gehend konsolidiert haben. Den drei großen Theologen, die am Ende
des 2. Jahrhunderts die Traditionen des Westens und Ägyptens re-
präsentieren, steht die Vierzahl der Evangelien ebenso fest wie die
Wertung von 13 Paulusbriefen, der Apostelgeschichte und des 1. Pe-
trusbriefes als Bestandteile der "Heiligen Schrift". Und doch bestehen
noch erhebliche Unterschiede. Irenäus, der die Vierzahl der Evan-
gelien als providentiell nachzuweisen sucht30 , führt keine von ihm zi-
tierten I Apostelschriften ausdrücklich als "Schrift" an31 ; Clemens von
Alexandrien dagegen stellt noch apokryphe Schriften wie Bamabas
und 1. Clemens den späteren kanonischen Schriften des Neuen Te-
staments gleich, verrät überhaupt noch kein Wissen um eine feste
18 Die Apostelgeschichte wird vor dem letzten Drittel des 2. Jahrhunderts nir-
gendwo sicher zitiert (s. J. Leipoldt, Geschichte I, S. 195 f.; die Benutzung durch
lgnatius hat W. L. Knox, The Acts of the Apostles, 1948, S. 1 f. nicht wirklich be-
wiesen). Sie ist auch relativ lange nicht als kanonisch betrachtet worden, wie die
große Breite der Varianten im 2. Jahrhundert beweist (s. M. Dibelius, The Text of
Acts, JR 21, 1941, S. 421 ff.). Aber das beweist nicht, daß die Apostelgeschichte erst
im Zusammenhang mit einer kirchlichen Bearbeitung des Lukasevangeliums im
Gegensatz zu Markion verfaßt worden sei (so J. Knox, Marcion, S. 126 ff.), sondern
nur, daß die Apostelgeschichte erst spät im 2. Jahrhundert kanonisiert wurde, als
man daran ging, auch über den Umfang des Apostelteils des neuen Kanons sich
Gedanken zu machen.
11 Die Kirche hat nicht nur die markionitischen Prologe zu den Paulusbriefen,
sondern auch den markionitischen Laodizenerbrief, ja teilweise auch markionitische
Textformen (Doxologe des Römerbriefs) unbemerkt übernommen (s. die Nach-
weise bei A. v. Hamack, Marcion, S. 127• ff., 134• ff. und Studien zum NT I,
1931, s. 184 ff.).
10 Die theologische Unmöglichkeit dieses Versuchs betont mit Recht 0. Cull-
mann, Die Pluralität der Evangelien als theologisches Problem im Altertum, ThZ
1, 1945, s. 23 ff. (38 ff.).
31 Nur haer. 111, 12, 12 (II, 65 Harvey) werden einmal die Paulusbriefe im Vor-
beigehen zu den scripturae gerechnet.
[239] Notwendigkeit und Grenze des neutestamentlichen Kanons

Grenze des Kanons 32 ; und T ertullian, der als erster ausdrücklich vom
Alten und Neuen Testament redet (deres. cam. 39), weiß, daß überdie
normative Geltung bestimmter Apostelschriften verschiedene Meinun-
gen herrschen33 • Man kennt also im Westen und in Ägypten am Ende
des 2. Jahrhunderts einen neuen Kanon, der unbestrittenermaßen aus
vier Evangelien und einem Apostelteil besteht, wobei der Apostelteil
noch keineswegs einheitlich begrenzt wird. Dieser Sachverhalt wird
bestätigt durch das älteste vorhandene Kanonsverzeichnis, das Mura-
tarische Fragment, das zweifellos den römischen Kanon vom Ende
des 2. Jahrhunderts wiedergibt34 • Auch hier zeigt sich das Bewußt-
sein, daß die Christen einen neuen Kanon besitzen {vgl. den Gegen-
satz der nach der Zahl vollständigen Propheten zu den apostoli in fine
temporum, Z. 79 f.); auch hier zeigt sich die Tatsache, daß es neben
den für den Verfasser unumstritten kanonischen Schriften noch solche
gibt, die darum kämpfen, "in die katholische Kirche aufgenommen
zu werden" (Z. 66), wozu der angebliche Laodizenerbrief des Paulus
(aus der markionitischen Kirche stammend) und der Hirt des Hermas
gehören, während an der Zugehörigkeit der Petrusapokalypse zum
Kanon der Verfasser im Gegensatz zu anderen Christen nichts aus-
zusetzen hat (Z. 71/3). Wichtiger aber ist, daß wir hier zum erstenmal
in die Motive bewußter Kanonsabgrenzung einen Einblick erhalten:
als kanonisch werden nur Schriften anerkannt, die von einem Apostel
stammen bzw. unter dessen Autorität geschrieben sind und die für
die ganze catholica ecclesiabestimmt sind. Damit ist von Anfang an
als maßgebendes, aber nicht streng durchführbares Motiv für die Zu-
lassung zum Kanon die Abfassung einer Schrift durch einen "Apostel"
zur Anwendung gekommen, das Neue Testament ist also durch einen
nach einem bestimmten Maßstab sich vollziehenden Ausleseprozeß
abgegrenzt worden, ohne daß die Abgrenzung des Apostelteils Ende
des 2. Jahrhunderts schon endgültig vollzogen gewesen wäre.
So ging denn in den beiden folgenden Jahrhunderten der Kampf
weitgehend um die Frage der endgültigen Abgrenzung des Apostel-
teils des neuen Kanons; doch war auch die Vierzahl der Evangelien

u S. J. Ruwet, Clement d'Alexandrie, canon des ~critures et apocryphes, Biblica


29, 1948, s. 77 ff., 240 ff., 391 ff.
13 Er nennt den von ihm auf Bamabas zurückgeführten Hebräerbrief nur recep-
tior apud ecclesias im Verhältnis zum Hirten des Hennas (de pud. 20, 2); nennt
er diese Apokalypse hier als apocryphus pastor moechorum und führt dieses Urteil
auf Gemeindebeschlüsse zurück (de pud. 10, 12), so hatte er diese Schrift früher als
kirchlicher Theologe zur scriptura gerechnet (de orat. 16, s. J. Leipoldt, Geschichte
I, S. 36 f.).
14 M.-J. Lagrange hält mit guten Gründen Hippolyt für den Verfasser (Le ca-
non d'Hippolyte et le fragment de Muratori, Rev. Bibi. 1933, S. 161 ff.). Der Text
des Fragments bei Preuschen, Analeeta II, S. 27 ff.
74 WERNER GEORG KüMMEL (239/~]

noch nicht endgültig überall anerkannt. Origenes hat noch das apo-
kryphe Hebräerevangelium zu den in ihrer kanonischen Geltung Ivon
manchen umstrittenen Schriften geredmet35 , und Ende des !2. Jahr-
hunderts mußte der Bischof Serapion von Antiochien in seiner Diözese
das Petrusevangelium wegen seiner doketischen Ansichten verbieten,
ohne daß das Buch darum aus dem kirchlichen Gebrauch verschwun-
den wäre38 ; in der syrisch sprechenden Kirche hat gar bis zum 5. Jahr-
hundert nur das Diatessaron Tatians in kirchlichem Gebrauch gestan-
den, und die syrischen Bischöfe des 5. Jahrhunderts konnten auch
dann nur unter Schwierigkeiten das Diatessaron durch den Vierevan-
gelienlmnon verdrängen37 • Doch sind das nur Einzelfälle, die zeigen,
daß das Bewußtsein noch längere Zeit nicht verlorenging, daß der
Vierevangelienkanon nicht von jeher bestanden hat und erst im Laufe
einer, wenn auch relativ kurzen, Entwicklung Anerkennung gefun-
den hatte. Dagegen blieb die Frage der Abgrenzung des Apostelteils
des neuen Kanons noch lange der eigentliche Gegenstand der Diskus-
sion, auf derenEinzelheitenhier nicht eingegangen zu werden braucht.
Das Kriterium, mit dem die Auseinandersetzung in erster Linie um
die kanonische Geltung des Hebräerbriefs, der Johannesapokalypse,
des !2. Petrus-, !2. und 3. Johannes-, Judas- und Jakobusbriefes geführt
wurde, ist auch weiterhin die Anerkennung oder Bestreitung der Ab-
fassung einer Schrift durch einen Apostel (vgl. Origcnes bei Eus. h. e.
VI, !25, 10), aber man sieht sich immer wieder zu dem Zugeständnis
gezwungen, daß über diese Frage in manchen Fällen verschiedene
Urteile möglich sind, und stellt darum letztlich auf das Urteil der
Mehrheit über diese Fragen ab (so besonders Euseb selber, z. B. h. e.
111, !25, 3 ff.). Diese Unsicherheit in der Abgrenzung des Apostelteils
des Kanons, die in Syrien besonders groß gewesen zu sein scheint38,
war unvermeidlich, wenn als maßgebendes Kriterium für die kano-
nische Geltung einer Schrift die apostolische Abfassung angewandt
wurde, eine Entscheidung über den Verfasser aber in manchen Fällen
15 M.-J. Lagrange, Histoire ancienne du canon du Nouveau Testament, 1933,
s. 96 f.
• Eus. h. e. VI, 12, 2 ff.; über den weiteren Gebrauch des Buchs in Syrien s.
J. Leipoldt, Geschichte I, S. 177 f.
17 S. J. Leipoldt, Geschichte I, S. 165 ff. und J. Schäfers, Evangelienzitate in
Ephräms des Syrers Kommentar zu den paulinischen Schriften, 1917.
18 Die antiochenischen Väter des 4. Jahrhunderts anerkannten teilweise nur
drei, teilweise gar keine katholischen Briefe als kanonisch und lehnten alle die
Apokalypse ab (s. J. Leipoldt, Geschichte I, S. 91 f., 247 f.). In der nationalsyrischen
Kirche finden sich vor der Peschitta (Anfang des 5. Jahrhunderts) keine katholi-
schen Briefe und keine Apokalypse im Kanon, und auch dort fehlten noch 2. Petr,
2. und 5. Job, Jud, Apk, die erst in die Philoxeniana (6. Jh.) zur Angleichung an
den Kanon der Griechen eingefügt wurden (s. W.Bauer, Der Apostolos der Syrer,
1903).
[240/241) Notwendigkeit und Grenze des neutestamentlichen Kanons 75

(etwa beim Hebräerbrief oder der Apokalypse) nur durch dogmatische


Überlegungen oder überhaupt nicht sicher möglich war. So bedurfte
es denn eines autoritativen Entscheids, um hier eine endgültige Rege-
lung zu treffen. Er geschah in der griechischen Kirche durch den be-
kannten 39. Osterfestbrief des Athanasius von 36739 , der das Neue
Testament in seinem heutigen Umfang festlegte und erreichte, daß
nur noch in ganz vereinzelten Fällen im griechischen Kirmengebiet
an der Zahl dieser 27 Schriften des Neuen Testaments gerüttelt
wurde. Im Westen hat Papst Innozenz I. 405 in einem Brief an einen
französischen Bischof ebenfalls den Kanon Ides Athanasius vertreten40 ,
und an dieser Entscheidung ist von amtlicher Seite nicltt mehr gerüt-
telt worden, mochten auch vereinzelte Handschriften noch eine Zeit-
lang älteren Anschauungen folgen. Die endgültige Abgrenzung des
Neuen Testaments in der Alten Kirdie ist also durch einen nicht wei-
ter begründeten autoritativen Entscheid vollzogen worden. Das Mit-
telalter hat sich einfach an diesen Entscheid gehalten, und erst durch
den Humanismus wurden die von Hieronymus überlieferten Beden-
ken der Alten Kirche gegen die apostolische Herkunft der im 3. und
4. Jahrhundert umstrittenen Schriften wieder belebt. Cajetan ging so
weit, einige dieser Schriften als nicht apostolisch und darum nicht im
vollen Sinne kanonisch zu bezeichnen41 • Dieser Kritik gegenüber ver-
warf das Decretum de canonicis scripturis des tridentinischen Kon-
zils42 jede Abstufung innerhalb des Kanons und bezeichnete ausdrück-
lich alle Schriften des Apostelteils des Kanons als Werke von Aposteln,
stellte darüber hinaus aber die ungeschriebene Tradition den ge-
schriebenen Büchern gleich. Damit war nicht nur die Grenze des neu-
testamentlichen Kanons unwiderruflich gezogen, sondern auclt diese
Grenzziehung zugleich relativiert, weil die veritas ja nur zu einem
Teil im Kanon enthalten ist. Es ist darum unvermeidlich gewesen,
daß das Vaticanum noch weitergehend die Kirche der Schrift und der
Tradition überordnete und die letzte Autorität dem ex cathedra leh-
renden Papst zuschrieb 43 . Damit ist die Grenze des Kanons für die
katholische Theologie letztlich unwesentlich geworden, und das Pro-
blem der sachlich richtigen Abgrenzung des Kanons kann sich gar
nicht mehr stellen.
Dieses Problem dagegen mußte in der Reformation notwendiger-
" Abgedruckt bei Prewchen, Analeeta II, S. 42 ff.
40 S. J. Leipoldt, Geschichte I, S. 230 Anm. 3.
41 S. J. Leipoldt, Geschichte II, S. 33 ff. Vom Hebräerbrief sagt Cajetan: "qUD-
niam nisi sit Pauli, non perspicuum est canonicam esse" I
u C. Mirbt, Quellen zur Geschichte des Papsttums und des römischen Katholizis-
mus, 19244 , S. 291 f.
43 C. Mirbt, aaO, S. 458, 16 ff.; S. 465, 24 ff. Vgl. dazu H. Strathm.ann, Heilige
Schrift, Tradition und die Einheit der Kirche, ThBl 21, 1942, S. 33 ff. (36 ff.).
76 WERNER GEOI\G KüMMEL [241/242]

weise aufbrechen. Luther war ausgegangen von der Überzeugung, daß


die ganze Bibel einen einheitlichen Sinn habe, hatte aber schon bald
bemerkt, daß nicht alles im N eueruTestament mit dem von ihm als zen-
tral erkannten paulinischen Evangelium in Übereinstimmung seiu..
Diese Einsicht fand ihren Niederschlag in den Vorreden zum Sep-
tembertestament von 1522cs. Hier betont Luther einerseits, daß es nur
ein Evangelium gibt, weil alle Schriften von Christus reden 48 , unter-
scheidet aber andererseits die besten Bücher von denen, die weniger
Predigt Christi enthalten, und stellt daneben dann noch die Bücher,
die nicht zu den "rechten, gewissen Hauptbüchern des Neuen Testa-
ments" gehören (Hebräerbrief, Jakobus- und Judasbrief, Apoka-
lypse)47, und die er darum ohne Numerierung ans Ende seiner Über-
setzung stellte. I Die Anfechtung der vollen kanonischen Geltung die-
ser vier Schriften begründet Luther einerseits mit der Bestreitung
ihrer apostolischen Herkunft in der Alten Kirche und führt selber
Gründe gegen die Abfassung der Schriften durch einen Apostel an 48 ;
andererseits treibt Luther eine sachliche Kritik an Hebräer, Jakobus
und Apokalypse mit dem Hinweis darauf, daß sie mit Paulus in Wi-
derspruch stehen, und mit der Feststellung, daß sie nicht "Christum
predigen und treiben" 49 • Luther ist in der Verbindung dieser beiden
Forderungen für die kanonische Geltung einer neutestamentlichen
Schrift dabei so weit gegangen, daß er apostolisch nennen möchte,
"was Christum predigt, wens gleych Judas, Annas, Pilatus und He-
rodes thett" 50 • Die konsequente Anwendung dieses Grundsatzes würde
bedeuten, daß nicht die Abfassung durch einen Apostel, sondern die
Obereinstimmung mit dem apostolischen Christuszeugnis der entschei-
dende Maßstab für die Zugehörigkeit zum Kanon sei. AberLuther hat
diesen zweifellos richtigen Grundsatz nicht konsequent durchführen
können, weil ihm letztlich im Anschluß an die altkirchliche und hu-
manistische Fragestellung doch die Abfassung durch einen Apostel
das entscheidende Kriterium blieb. So bleibt sein Urteil über den ka-
nonischen Charakter der von ihm angefochtenen Schriften doch un-

" K. Holl, Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte I, 19231 - 1 , S. 549, 560 f.;
G. Ebeling, Evangelische Evangelienauslegung, 1942, S. 402 ff.
4$ Lutlzer, Weimarer Ausgabe (WA), Deutsche Bibel (DB), Bd. 6 und 7.
41 "Vorrede an das NT", WA, DB 6, S. 2 und 6.
47 "Welches die rechten und edelsten Bücher des NT sind" (WA, DB 6, S. 10 f.);

"Vorrede auf die Epistel zu den Hebräern" (WA, DB 7, S. 344).


48 Die altkirchlichen Bedenken gegen die apostolische Abfassung des 2. Petrus-
briefes und des 2. und 3. Jobarmesbriefes scheint Lutlzer nicht zu kennen oder
übersieht sie, obwohl Erasmus diese Nachridlten im Anschluß an Hieronymus wei-
tergegeben hatte (s. J. Leipoldt, Geschichte II, S. 17 f.).
•• Vorreden zu Hebr, Jak und Jud, Apk (WA, DB 7, S. 344, 384, 404).
60 "Vorrede auf die Episteln Sanct Jacobi und Judas" (WA, DB 7, S. 584).
[24!2/243] Notwendigkeit und Grenze des neutestamentlichen Kanons 77

sicher-5 1, aber an dem unevangelischen Charakter des Jakobus- und


Judasbriefes hat Luther immer festgehalten 52 • Diese kanonkritischen
Urteile Luthers haben freilich kaum weitergewirkt: die andem Re-
formatoren und die spätere reformatorische Theologie haben keinen
Zweifel an der vollen Kanonizität der 27 neutestamentlichen Schrif-
ten zugelassen, und wenn z. B. J. Brenz die sieben von der Alten Kirche
umstrittenen Schriften zu den libri apocryphi zählte und nicht zum
dogmatischen Beweis zulassen wollte53 , so haben die späteren Dog-
matiker diese rein historisch gemeinte Unterscheidung als unnötig
wieder aufgehoben5• und darin die richtige Einsicht gezeigt, daß die
Frage nach dem dogmatischen Normcharakter einer Schrift durch die
unsichere Antwort auf die Frage nach ihrem Verfasser nicht entschie-
den werden kann. Als dann die Theologie der Aufklärung den Nach-
weis führte, daß der neutestamentliche Kanon eine geschichtlich ge-
wordene Größe sei, da löste sich dieser nur mit historischen Argumen-
ten abgegrenzte Kanon als dogmatischer Begriff völlig auf, wie wir
gesehen haben, und so kam es zu der Kanonskrise, die bis heute an-
dauert und eine Gefahr für eine biblisch begründete Theologie be-
deultet. Es muß darum im folgenden unsere Aufgabe sein, unter vol-
ler Berücksichtigung der geschichtlichen Tatbestände die Frage nach
der Notwendigkeit und der Grenze des neutestamentlichen Kanons
zu beantworten.

III
Nach katholischer Anschauung hat die Kirche die neutestament-
lichen Bücher als von Gott inspirierte Schriften anvertraut bekommen
und nur diese ihr anvertraute Wahrheit durch Aufstellung eines Ver-
zeiclmisses dieser Bücher autoritativ verkündet, so daß der treue Sohn
der Kirche auf deren Autorität hin diese Wahrheit glauben kann55 •
Die Geschichte des Kanons beweist, daß diese Anschauung unrichtig
ist. Der Gedanke einerneuen Schriftautorität ist erst im Laufe des
2. Jahrhunderts aufgekommen, und die Kirche hat nicht nur mit
61Einige der schärfsten Urteile über den Jakobusbrief und die Apokalypse hat
Lut.her in den späteren Ausgaben der deutschen Bibel gestrichen (s. J. Leipoldt,
Geschichte II, S. 79 f.).
51 Zum Jakobusbrief vgl. bes. WA, Tischreden, Nr. 5443 (aus dem Jahr 1542);
noch 1543 wies Luther eine Berufung auf Jakobus gegenüber der übrigen Schrift
zurück (K. Roll, Gesammelte Aufsätze I, 1gz)!-1, S. 561 Anm. 6). Zum Judasbrief
vgl. die Zitate aus WA 14, S. 75 ff. bei J. Leipoldt, Geschichte II, S. 75 Anm. 1.
51 S. J. Leipoldt, Geschichte II, S. 127 ff.
14 Siehe K. Barth, Kirchliche Dogmatik, I, 2, 1938, S. 528 f.
16 M.-J. Lagrange, Histoire ancienne du canon, S. 5. 171 ("La verite qu'elle [sc.

die Kirche] a definie touchant les livres canoniques doit se trouver dans le depöt de
Ia revelation, scelle a la mort du dernier des Apötres").
78 WEI\NEI\ GE.OI\G KüMMEL [243/244]

Hilfe der Tradition die später aufgekommenen Zweifel an der apo-


stolischen Herkunft der neutestamentlichen Schriften widerlegt18,
sondern die Kirche hat nach langem Hin und Her deklariert, was
allein als Bestandteil der Heiligen Schrift zu gelten und darum nor-
mative Bedeutung hat. Die Kirche hat bei dieser Deklaration in der
Hauptsache die Abfassung der einzelnen Schriften durch einen Apo-
stel als letztes Kriterium für die Zugehörigkeit zum neutestament-
lichen Kanon angewandt; doch galt dieses Prinzip in der ältesten Zeit
der Kanonsbildung noch nicht ausschließlich, andernfalls wären die
Evangelien des Markus und Lukas und die Apostelgeschichte über-
haupt nicht in den Kanon gekommen 57 • Der Kanon ist also in seiner
abgeschlossenen Form zweifellos eine bewußte Schöpfung der Kirche;
im Verhältnis zum Kanon als geschlossener Größe ist also die organi-
sierte Kirche primär. Und als die Kirche durch autoritative Entscheide
festlegte, welche Schriften endgültig zum Kanon gehören dürften und
welche nicht, hat sie die in den Gemeinden da und dort herrschende
kanonische Schätzung einer Schrift immer wieder außer Kraft gesetzt,
sich aber auch da und dort überzeugen lassen, daß eine andere kirch-
liche Gruppe eine richtigere Anschauung über die apostolische Her-
kunft einer bestimmten Schrift vertrete58 • Es ist also das Urteil der
Kirche gewesen, das bestimmte Schriften als kanonisch und damit
als normativ I deklarierte, ohne daß diese Schriften selber auf solche
Geltung Anspruch erhoben hätten (vgl. nur den Jakobusbrief!); aber
das bedeutet nicht, daß der Kanon des Neuen Testaments überhaupt

H M.-J. Lagrange, aaO, S. 179.


17 Schon Justin hat festgestellt, daß die "Memoiren" verfaßt seien v1t0 'tÖ>V
O:tocno>.wv a\hoüxal 'tÖ>V btdvouc; naQaxoAoui'r)aanwv (Dial. 103, 8); Papias hat
das Markusevangelium unter die Autorität des Petrus gestellt (Eus. h. e. 111, 39,
15), und der antimarkionitisme Lukasprolog (abgedruckt bei Huck-Lietzmann,
Synopse der drei enten Evangelien, 1936', S. VIII) bezeid:met Lukas als Schüler
der Apostel und des Paulus. Für die Apostelgeschimte betont smon das Muratori-
sme Fragment, es handle sim um acta omniwn apostolorwn, und das Buch habe
den gleichen Verfasser wie das Lukasevangelium. Man hat also die zweifellos nicht
von "Aposteln" verfaßten Schriften unter die Autorität von "Aposteln" gestellL
11 So ist Ende des 4. Jahrhunderts der bis dahin im Westen nur gelegentlich als
Bamabasbrief bekannte Hebräerbrief durch den Einfluß der östlimen Theologen
als 14. Paulusbrief stufenweise in den Kanon aufgenommen worden; so hat man
im Osten im Laufe des 4. und 5. Jahrhunderts die Apokalypse auch dort als kano-
nism anerkannt, wo man sie vorher völlig abgelehnt hatte. So stand andereneits
die Petrusapokalypse nach dem Muratorismen Fragment am Ende des 2. Jahr-
hunderts im Kanon der römismen Gemeinde und wurde von Giemens von Ale-
xandrien ausgelegt (Eus. h. e. VI, 14, 1), geriet aber dann fast völlig in Vergessen-
heit, während der Bamabasbrief und der 1. Clemensbrief, die von Giemens von
Alexandrien als kanonism angesehen worden waren und in den Codex Sinaiticus
bzw. Alexandrinus des Neuen Testaments aufgenommen wurden, nie in ein Ka-
nonsverzeichnis gelangt sind.
[244/245] Notwendigkeit und Grenze des neutestamentlidlen Kanons 79

eine bewußte Schöpfung der Kirche gewesen sei. Vielmehr hatten


sich die Worte des Kyrios und die apostolische Verkündigung schon
im apostolischen Zeitalter als neue Norm über das Alte Testament ge-
stellt, und aus dieser zunächst nur im lebendigen Wort sich äußern-
den Norm mußte beim sich vergrößernden Abstand von der Apostel-
zeit notwendigerweise vom Anfang des 2. Jahrhunderts an die Norm
des geschriebenen Wortes des Kyrios und der geschriebenen Apostel-
verkündigung werden. Daß es zur Bildung eines neuen Kanons über-
haupt kam, war darum die einfache Folge aus der Tatsache, daß die
Kirche begründet ist auf das durch die Apostel bezeugte Christusge-
schehen und ohne dieses Zeugnis nicht sein kann. Ist so die Ent-
stehung eines neuen Kanons Teil der Formwerdung der Kirche und
nicht bewußte Schöpfung, so ist dieser Kanon doch durch die Jahr-
hunderte nur dadurch bewahrt worden, daß die Kirche ihm durch
einen bewußten Akt eine Begrenzung gab. Dieser Tatbestand, der
sich aus der Kanongeschichte eindeutig ergibt, stellt uns nun vor die
doppelte Frage, ob diese Bildung eines Kanons eine auch für uns
maßgebende Tatsache ist und ob die autoritative Abgrenzung dieses
Kanons durch die Alte Kirche berechtigt sei bzw. wie wir die Grenze
des Kanons zu beurteilen haben.
Wenden wir uns zunächst der Beantwortung der ersten Frage zu,
so müssen wir ausgehen von dem ganz einfachen Tatbestand, daß
wir als Christen mit der für unsern Glauben in irgendeiner Weise
wesentlichen geschichtlichen Gestalt Jesu nur dann in Berührung
kommen und bleiben können, wenn uns von Jesus etwas überliefert
wird, wenn uns ein irgendwie gearteter Bericht über ihn zugänglich
ist. Eine Uberlieferung über die geschichtliche Gestalt Jesu ist uns
aber erhalten fast ausschließlich in den Schriften des Neuen Testa-
ments, und darum kann kein christlicher Theologe bestreiten, daß die
Evangelien des Neuen Testaments als grundlegende Quelle für un-
sere Kenntnis der geschichtlichen Gestalt Jesu für uns unentbehrlich
sind59 • Aber diese Uberlegung führt nicht weiter als bis zu der Fest-
stellung, daß die Christen ohne die geschichtlichen Nachrichten über
Jesus in den Evangelien keine I Jünger Jesu sein können, wie es keine
Platoniker hätte geben können, bestünde keine Uberlieferung über
11 Ob wir aus außerduistlichen Quellen etwas über die Penon Jesu erfahren und
ob wir in späteren christlichen Schriften geschichtlich braudlbare Oberlieferungen
über Worte und Taten Jesu fmden, die nicht in den Schriften des Neuen Testaments
enthalten sind, darf in diesem Zusammenhang beiseite gelassen werden. Beides ist
sehr wahrscheinlidl der Fall (s. einerseits H. Windisch, Das Problem der Geschicht-
lichkeit Jesu: Die außercbristlidlen Zeugnisse ThR N. F. 1, 1929, S. 266 ff., anderer-
seits 1. leremias, Unbekannte Jesusworte, 1948); aber die Frage nach der geschicht-
lichen Zuverlässigkeit dieser doch vereinzelten Nachrichten kann ja nur von den
kanonischen Evangelien her beantwortet werden.
80 WERNER GEORG KüMMEL [~45]

die Lehre Platos. Der Kanon des Neuen Testaments enthält aber nicht
nur Worte Jesu und Berichte über Jesus, sondern in seinem Werden
wie seinem endgültigen Bestande nach eine Zusammenstellung von
EuayyH.lov und lm6otoAo~. Und der Kanon ist nicht als Sammlung ge-
schichtlicher Oberlieferungen entstanden, sondern aus dem Bedürfnis,
die Kunde von Jesus und das Zeugnis für Jesus als Norm für die
christliche Verkündigung weiterhin zur Verfügung zu haben. Worin
aber besteht diese nonnative Verkündigung des Neuen Testaments?
Nicht in einer unbeteiligten oder doch in der Hauptsache einfach be-
richtenden Überlieferung von Jesus, da ja durch die formgeschicht-
liche Arbeit an den Evangelien klargestellt worden ist, daß auch die
synoptischen Evangelien als ganze und in ihren wesentlichsten Be-
standteilen kerygmatischen Charakter tragen60. Vielmehr besteht die
grundlegende Verkündigung des Neuen Testaments in EuayyEAlOV und
lm6otoÄo~ in gleicher Weise in dem Zeugnis, daß der Mensch Jesus
von N azareth der Messias, der Menschensohn, der Gottessohn sei, weil
Gott den ans Kreuz Geschlagenen von den Toten auferweckte und
"sichtbar werden ließ nicht dem ganzen Volk, sondern den von Gott
vorher ausgewählten Zeugen" (Apg 10, 40 f.). Und die Schriften des
Neuen Testaments wollen im Leser diesen Glauben wecken und stär-
ken. Der Kanon des Neuen Testaments ist darum seinem wesentlichen
Inhalt nach nicht geschichtliche Mitteilung, sondern zeugnishafte Aus-
sage über ein geschichtliches Faktum. Solche zeugnishafte Aussage
über Gottes Tat in Jesus Christus ist aber auch das Wesen der Ver-
kündigung der Apostel und ihrer Schüler und Helfer gewesen, und
nur auf Grund solcher zeugnishaften Aussagen ist die Kirche entstan-
den61. Diese Verkündigung der Apostel und ihrer Schüler war zunächst
mündliche Verkündigung, aus dieser mündlichen Verkündigung er-
wuchs der Glaube der ersten Christengemeinden. Nur wo dieses Zeug-
nis gehört werden konnte, konnte Glaube und damit Kirche entstehen,
der Glaube war gebunden an die Zuverlässigkeit der Verkündigung
der apostolischen Zeugen. Nun konnte dieses Zeugnis gehört werden,
solange es Christen der ersten und zweiten Generation gab, die am
Christusgeschehen noch persönlich Anteil genommen oder direkt aus

• Siehe dazu M. Dibelius, Gospel Criticism and Christology, 1935; K. L.


Schm.idt, Fondement, but et limites de la methode dite la "Formgeschichte" appli-
quee aux Evangiles (in "Le Probleme du Christianisme primitif", 1938, S. 7 ff.);
H. W. Bartsch, Die theologischen Konsequenzen der formgeschichtlichen Betrach-
tung der Evangelien, ThBl 19, 1940, S. 301 ff.
11 "Das Apostelwort gehört selbst in die Offenbarung Gottes durch Jesus Chri-
stus hinein. Der Akt der geschichtlichen Gottesoffenbarung ist erst dort vollendet,
wo er im Apostel zum sprachlichen \Vort ... und zum Glauben schaffenden Zeug-
nis wird" (E. Brunner, Offenbarung und Vernunft, 1941, S. 121).
(245/246] Notwendigkeit und Grenze des neutestamentlichen Kanons 81

dem Munde der ersten Zeugen davon gehört hatten62 • Dieses Zeugnis
konnte aber nach dem Aussterben der Christen der ersten und zwei-
ten Generation nur noch weiter gehört werden, wenn es in schrift-
licher Form niedergelegt und weitergegeben wurde. So trat völlig
notwendigerweise im Laufe des I 2. Jahrhunderts an die Stelle des
mündlichen Zeugnisses der ersten Christenheit das schriftliche Zeug-
nis aus der Apostelzeit als die Botschaft, an der allein der Glaube sich
entzünden und auf die allein der Glaube sich mit guten Gründen
stützen konnte, weil nur hier in ursprünglicher Weise von Jesus be-
richtet und von Jesus Christus Zeugnis abgelegt wurde. Dieses ur-
sprüngliche Zeugnis aber mußte für die Kirche erhalten bleiben, weil
der christliche Glaube nur möglich ist, wenn er Kunde hat von dem
geschichtlichen Heilshandeln Gottes, das das Wirken Jesu Christi
ebenso in sich befaßt wie die Schaffung der Gemeinde durch die Auf-
erweckung Jesu Christi. Die Kunde von diesem Heilshandeln Gottes,
die nie anders denn als Zeugnis von diesem Heilshandeln ausgespro-
chen werden konnte, war aber als menschliches Zeugnis Menschen-
wort und damit selbst eine geschichtliche Größe, die vor ständiger
Umbildung und damit Auflösung des Ursprünglichen nur bewahrt
werden konnte, wenn sie fixiert und dadurch vor Vermehrung, Ver-
minderung oder Veränderung geschützt wurde. Weil die Heilstat
Gottes sich in der Geschichte vollzog, war die Bildung einer neuen
schriftlichen Norm notwendig, die die Berichte von Jesus und die Be-
zeugung der Wirklichkeit des Auferstandenen und seiner Gemeinde
enthielt. Nicht deswegen mußten den Christen des 2. Jahrhunderts
die schriftlichen Zeugnisse der apostolischen Zeit maßgeblich sein,
weil in diesen schriftlichen Zeugnissen die ursprüngliche Ergriffen-
heit und Glaubenstärke der neuen Bewegung zu spüren war, sondern
weil die Männer der apostolischen Zeit die ersten Zeugen waren, die
darum dem Heilsgeschehen zeitlich am nächsten standen, und weil
so ihr Zeugnis der Verderbnis durch Mißverständnis oder Umbildung
am wenigsten ausgesetzt war83 • Weil die Apostel die Zeugen der er-
sten Zeit waren, die das Heilsgeschehen als einmaliges geschichtliches
Ereignis in sich barg, ist das Amt und die Funktion der Apostel, wie
immer man diesen Begriff begrenzen mochte, auch einmalig geblie-
ben und in der späteren Kirche mit Recht nicht fortgeführt worden64 •
11 Vgl. noch Papias' Prooemium (bei Eus. h. e. III, 39, 4): "\Venn aber irgendwo
ein Nachfolger der Ältesten kam, so forschte ich nach den Worten der Ältesten ...
Denn im glaubte nicht von dem, was aus Büchern stammt, so viel Nutzen zu haben
als von dem, was aus lebendiger, bleibender Stimme (ertönt)."
11 "Der Vorrang des apostolischen Zeugnisses ist nicht ein inhaltlidter, sondern
ein geschichtlicher, der der heilgeschichtlichen Ordnung" (P. Althaus, Die christ-
liche Wahrheit I, 1947, S. 179).
14 Siehe dazu besonders Ph.-H. Menoud, L'Eglise et lcs ministeres selon le Nou-

6 K3scmann, Kanon
82 WERNER GEORG KüMMEL [246/24-7)

Darum konnte aber auch nur eine Sammlung der schriftlich nieder-
gelegten Äußerungen der Männer der Apostelzeit in der Form eines
nicht mehr abzuändernden Kanons die apostolische Botschaft von
Gottes Heilstat späteren Generationen so unverfälscht wie möglich
weitergeben und so in die Nachfolge der Apostel eintreten81 , damit
auch die späteren Generationen die Möglichkeit hätten, ihren Glau-
ben auf die ursprüngliche Kunde von Gottes Heilstat aufzubauen und
ihre Glaubenserkenntnis an der apostolischen Botschaft zu messen.
Die Schätzung bestimmter urchristlicher Schriften als der alttesta-
mentlichen Norm gleichgestellt, ja übergeordnet, ist so notwendiger-
weise in der frühen Kirche entstanden, und die Abgrenzung gegen
die Irrlehre, besonders gegen Markion, hat die Kirche nicht erst ver-
anlaßt, einen Kanon zu schaffen, sondern nur das Bewußt!werden der
Kanonsbildung beschleunigt. Der Glaube, daß Gott sich in Jesus Chri-
stus einmalig offenbart hat, geht also der Einsicht in die Notwendig-
keit und den normativen Charakter des neutestamentlichen Kanons
von Anfang an voraus, zieht aber diese Einsicht notwendigerweise
hinter sich her. Nur der Glaube, der im Zeugnis der im Kanon enthal-
tenen urchristlichen Schriften der Botschaft von Jesus Christus begeg-
net ist, kann darum die Berechtigung und Notwendigkeit eines neu-
testamentlichen Kanons für die christliche Kirche erkennen und be-
jahen; wo Jesus nls Religionsstifter angesehen und das Urchristentum
als eine Zeit besonders lebendiger Religiosität gewertet wird, muß
die Notwendigkeit einer solchen Norm bestritten werden.
Ist so mit dem Glauben an die Einmaligkeit und Geschichtlichkeit
der Christusoffenbarung die Anerkennung der Notwendigkeit eines
neutestamentlichen Kanons gegeben, so kann auch die Notwendig-
keit nicht bestritten werden, daß dieser Kanon abgegrenzt sein muß.
Es ist geschichtlich nicht ganz sicher zu erkennen, wann und aus wel-
chen Motiven sich die Notwendigkeit einer genauen Begrenzung des
neuen Kanons zuerst ergeben hat. Die älteste uns bekannte Kanons-
liste, das Muratorische Fragment, erhebt den Anspruch, diejenigen
Bücher aufzuzählen, die in der Gemeinde dem Volk sich kundtun
dürfen (se publicare in ecclesia populo ... potest Z. 77 f.), betrachtet
also die als kanonisch anerkannten Bücher allein als diejenigen, die
im Gottesdienst vorgelesen werden dürfen; und wenn dann weiter
gesagt wird, daß ein nichtkanonisches Buch weder unter den zahlen-
mäßig abgeschlossenen Propheten noch unter den "Aposteln am

veau Testament, 1949, S. 25 ff. und H. v. Campenhau.sen, Der urchristliche Apo-


stelbegriff, Studia Theologica I, 1947, S. 96 ff. (bes. 121 f.).
111 Vgl. die Bemerkungen von H. v. Cam.penhau.sen, aaO, S. 127 ff. und G. Ebe-
ling, Die Bedeutung der historisch-kritischen Methode für die protestantische
Theologie und Kirche, ZThK 47, 1950, S. 1 ff. (13 f.).
(247 /248] Notwendigkeit und Grenze des neutestamentlichen Kanons 83

Ende der Zeiten" vorgelesen werden dürfe (Z. 78/80), so zeigt sich
hier deutlich das Bewußtsein, daß auch die Schriften der Apostel eine
grundsätzlich geschlossene Größe darstellen, ohne daß über den Um-
fang dieser Größe schon allgemeine Obereinstimmung herrschte. In
dieser Kanonsliste ist also am Ende des 2. Jahrhunderts die Vorstel-
lung deutlich vorhanden, daß das Neue Testament eine klare Abgren-
zung haben müsse. Und dieses Bewußtsein ist wohl auch schon etwas
früher zu erschließen, wenn Melito von Sardes (um 180) eine Liste
der alttestamentlichen Bücher aufstellt und sie bezeichnet als "die
Bücher des Alten Bundes" (Eus. h. e. IV, 26, 13 f.), wobei der Liste der
Bücher des Alten Bundes doch wohl eine aufzustellende Liste der Bü-
dler des Neuen Bundes entspricht. Völlig eindeutig ist diese Vorstel-
lung vom geschlossenen Kanon dann bei Tertullian vorhanden, der
die ganze Bibel als "totum instrumenturn utriusque testamenti" (adv.
Prax. 20) bezeichnet. Vor Melito können wir dieses Bewußtsein, daß
die neue Offenbarungsurkunde eine feste Grenze haben müsse, aber
nicht sichernachweisen68 • Die Annahme, daß die Kanonsbildung Mar-
kions die Kirche mehr oder weniger gezwungen habe, den Kanon
Markions durch einen umfangreicheren abgeschlossenen Kanon zu
überbieten67 , hat sich uns als unwahrscheinlich erwiesen, weil die
Kirche schon aus Iinneren Gründen auf dem Weg war, mehrere Evan-
gelienschriften und eine Sammlung von Apostelschriften zu einer
zweiteiligen schriftlichen Norm zusammenzuschließen, deren Sinn als
Bewahrung der Stimme der apostolischen Verkündigung notwen-
digerweise zur Ausschließung späterer Schriften und damit zu einer
gewissen Abschließung dieser Norm führen mußte. Markions Vor-
bild hat die innerkirchliche Entwicklung aber zweifellos beschleunigt
und bewußter gemacht. Wenn auf der anderen Seite A. v. Hamack
die These vertrat, daß der Kampf gegen die montanistische These vom
Weitergehen der Offenbarung im Parakleten allererst die Kirche ver-
anlaßt habe, den Kanon als instrumenturn novum ideell abzu-
schließen68, so ist auch diese Vermutung unwahrscheinlich, weil sich
schon bei Justin die Tendenz zeigt, neben die als Norm gewerteten
Evangelien Apostelschriften zu stellen, und weil man es andererseits
zur Zeit des beginnenden Montanismus gerade noch nicht gewagt
hat, den Apostelteil des neuen Kanons als wirklich abgeschlossen hin-
.. Zwischen Melito und Tertullian ist das Zeugnis des antimarkionitischen Ano-
nymus (Polykrates von Ephesus?, so W. Kühnert, ThZ 5, 1949, S. 436 ff.) bei Eus.
h. e. V, 16, 3 anzusetzen, der von der Gefahr der Zufügung zum "Wort des neuen
Bundes des Evangeliums" redet, was zweüellos auf "Schriften des Neuen Bundes,
und zwar nicht nur Evangelien führt" (so A. v. Harnack, Die Entstehung des NT,
1914, s. 27).
17 So J. Kno:r, Mareion and the New Testament, S. 32 ff.
• A. v. Hamack, aaO, S. 24 ff.
84 WERNEI\ GEOI\G KÜMMEL [248/249]

zustellen, und sich über die Art der zu vollziehenden Abgrenzung


noch keineswegs im klaren war. Es spricht vielmehr alles dafür, daß
die Notwendigkeit, den Kanon als Schutz des apostolischen Kerygmas
grundsätzlich als abgeschlossen zu denken, sich der Kirche im Laufe
der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts aufdrängte, weil mit dem Fer-
nerrücken der apostolischen Zeit die Möglichkeit immer geringer
wurde, daß noch unbekannte apostolische Schriften auftauchten, die
Gefahr des Eindringens späterer Fälschungen oder umfangreicher
Veränderung des apostolischen Schrifttums aber immer größer wurde.
Freilich hat dieses Bewußtsein, daß die für den neuen Kanon in Be-
tracht kommenden Schriften grundsätzlich beschränkt sein müßten,
zunächst keineswegs zur Folge gehabt, daß man diese Schriften in
ihrem Wortlaut als unantastbar ansah. Denn es kann keine Frage
sein, daß zwar die Aufnahme einer Schrift unter die kanonischen
Schriften ihren Text vor der völligen Verwilderung schützte18 ; aber
ebenso ist sicher, daß der große Variantenreichtum gerade auch der
am frühesten zum Kanon gezählten Schriften (synoptische Evange-
lien, Paulusbriefe) zum allergrößten Teil bis in die zweite Hälfte des
2. Jahrhunderts zurückverfolgt werden kann, als diese Schriften be-
reits gottesdienstlich gebraucht und als Norm gewertet wurden70 • Die
Anschauung, daß der Kanon grundsätzlich als abgeschlossen zu den-
ken sei, hat also nicht zu einer sklavischen Fixierung des Textes der
kanonischen Bücher geführt.
Damit ist aber auch schon gesagt, warum der Kanon des Neuen Te-
staments seijnem Wesen nach abgegrenzt sein muß, wenn er die Auf-
gabe erfüllen soll, um derentwillen er geschaffen wurde. Begegnet
die Kirche im Kanon dem Zeugnis der geschichtlichen Heilstat Gottes,
wie es die Männer der apostolischen Zeit allein unverfälscht verkün-
den konnten, und kann dieses Zeugnis von späteren Generationen
nur gehört, nicht aber neu gegeben werden, so kann dieses Zeugnis
gegen eine Verderbnis nur dann geschützt werden, wenn es in seiner
geschichtlichen Gegebenheit erhalten und darum unverändert bleibt.

" Auffallend starke Variantenbreite zeigen die erst spät im 2. Jahrhundert ka-
nonisierte Apostelgeschichte (s. M. Dibelius, The Text of Acts, JR 21, 1941,
S. 421 ff.) und die pericope adulterae (Job 7, 53-8, 11), die erst im 4. Jahrhundert
aus der apokryphen Oberlieferung in den kanonischen Text eingedrungen ist (s.
Th. Zahn, Das Evangelium des Johannes 1921 1-., S. 723 ff.).
70 So sind z. B. die sachlich bedeutsamen Varianten Job 1, 13 (lS; ... lyEvvi)atJ,

s. die Erörterung der Bezeugung bei F.-M. Braun, Qui ex deo natus est, Aux sour-
ces de la tradition chretienne, Melanges offerts a M. Goguel, 1950, S. 11 ff.), Mt 27,
16 f. ('l11ooii'v BaQaßßäv, s. A. Merx, Das Evangelium Matthaeus, 1902, S. 400 f.
und B. H. Streeter, The Four Gospels, 19365, S. 87, 101), Gal2, 5 (Fehlen des ouöt,
s. H. Schlier, Der Brief an die Galater, 1949, S. 40 Anm. 2) genauso sicher für das
ausgehende 2. Jahrhundert bezeugt wie ihre breiter bezeugten Gegenlesarten.
[249] Notwendigkeit und Grenze des neutestamentlichen Kanons 85

Diese Erkenntnis zieht aber zwei wichtige Folgerungen nach sich.


1. Enthält der Kanon die apostolische Botschaft, die die Kirche be-
gründet hat und auf die sich der Glaube allein immer wieder grün-
den kann, so muß sich die im Kanon enthaltene Verkündigung selber
als Wahrheit erweisen und kann nicht erst durch die Kirche als Wahr-
heit erwiesen werden. Die Kirche übermittelt uns wohl den Kanon,
aber sein Inhalt muß sich uns selbst in seinem Sinn erkennbar ma-
chen71, kann also seinen Sinn nicht von der Kirche vorgeschrieben er-
halten. Jegliches kirchliche Bekenntnis kann nur als aktuelle Inter-
pretation des Neuen Testaments berechtigt sein und muß sich immer
vom Neuen Testament her prüfen und korrigieren lassen. 2. Der Ka-
non kann der Kirche das unverfälschte Kerygma der Apostelzeit und
dadurch den Zugang zum geschichtlichen Heilsereignis nur dann si-
chern, wenn der geschlossene Kanon nicht dadurch überflüssig ge-
macht wird, daß eine mündliche oder schriftliche Tradition sich neben
oder über ihn stellt72 . Die Notwendigkeit, daß der Kanon grundsätz-
lich geschlossen sein müsse, kann nur dort eingesehen und bejaht
werden, wo die Einmaligkeit des geschichtlichen Heilshandeins Got-
tes nicht in Frage gestellt wird durch die Gleichstellung der späteren
Kirche mit dem apostolischen Zeugnis. Diese Einsicht macht das Chri-
stentum nicht zur Buchreligion73 , nimmt dagegen die Unwiederhol-
barkeit und den begründenden Charakter der christlichen Urge-
schichte ernst. Das der Kirche verheißene Zeugnis des Geistes (Joh
14, 16 f.; 16, 12 f.) schafft nicht neue Offenbarung, sondern ermög-
licht nur die immer neue lebendige Begegnung mit der geschicht-
lichen Offenbarung.

IV

Ist so mit der Entstehung eines neuen Kanons das Wissen darum
gegeben, daß der Kanon auf das apostolische Zeugnis beschränkt und
71 "Da die Autorität des Neuen Testaments keine andere als die des Evange-
liums ist, beglaubigt sie sich auch nicht anders als so, daß das Evangelium sich mit
seiner Wahrheitsmacht bezeugt, d. h. Jesus Christus durch das Zeugnis von ihm
Glauben an sich wirkt. Es kann nicht die Autorität der Schrift vor und unabhängig
von der Autorität des Evangeliums begründet werden" (P. Althaus, Die christliche
Wahrheit I, 1947, S. 200).
71 So schon eindeutig die Professio fidei Tridentinae von 1546 (s. C. Mirbt, Quel-

len zur Geschichte des Papsttums ..., S. 339, 32 ff.).


71 Wo die geschichtliche Einmaligkeit des Heilshandeins Gottes verkannt wird,

weil das Urchristentum nur als "Zeitalter des Enthusiasmus" angesehen wird, muß
der Gedanke des Abgeschlossenseins des Kanons als bedauerliche Fehlentwicklung
beurteilt werden: "Das Zeitalter des Enthusiasmus ist geschlossen und für die Ge-
genwart der Geist wirklich- um mit Tertullian zu reden (adv. Prax. 1) - verjagt;
er in in ein Buch gejagt!" (A. v. Hamack, Die Enstehung des NT, 1914, S. 25).
86 WERNER GEORG KüMMEL [249/250]

darum grundsätzlich geschlos!sen sein müßte, so stellt sich nun die


letzte Frage nach der richtigen Abgrenzung des Kanons und nach
der Handhabung der Kanonsgrenze. Da der Kanon uns von der Alten
Kirche überliefert, und zwar in einer durch autoritativen Entscheid
der Kirche abgegrenzten Form überliefert ist, kann es nicht unsere
Aufgabe sein, eine Grenze des Kanons überhaupt erst zu ziehen. Wir
fmden uns vielmehr dem Kanon der Alten Kirche gegenüber und
stehen vor der Frage, ob dieser Kanon sachgemäß begrenzt worden
ist oder nicht bzw. ob wir diese Abgrenzung in dem Sinne beibehalten
müssen und können, wie sie von der Alten Kirche gemeint war. Diese
Frage ist aber durchaus notwendig, ja ihre rechte Beantwortung für
die Grundlegung einer wirklich biblisch begründeten Theologie un-
erläßlich. Wir sahen ja, daß die Entstehung des Kanons ein notwen-
diger Vorgang beim Übergang von der Urkirche zur frühkatholi-
schen Kirche war und daß der Kanon seine Funktion nur erfüllen
kann, wenn er grundsätzlich für jede spätere Erweiterung geschlos-
sen ist. Nun hat die Kirche zwar nicht den Kanon durch einen be-
wußten Akt geschaffen, wohl aber im 4. Jahrhundert nach zweihun-
dertjährigem Schwanken eine endgültige Begrenzung des Kanons
dekretiert, die als Werk der Kirche notwendigerweise der immer er-
neuten Nachprüfung bedarf. Hat doch die Betrachtung der zur end-
gültigen Kanonsabgrenzung führenden Auseinandersetzungen deut-
lich gezeigt, daß die Kirche bei der endgültigen Festlegung des Apo-
stelteils des Kanons nicht einfach einen vorhandenen Tatbestand fest-
gestellt, sondern für bestimmte, nicht in allen Teilen der Kirche aner-
kannte Anschauungen über die Herkunft einzelner Schriften allge-
meine Anerkennung gefordert und durchgesetzt hatn. Das Motiv für
7& Wenn K. Barth sagt: "Die Kirche konnte und kann sich den Kanon in keinem
Sinn dieses Begriffes selber geben ... Sie kann ihn nur als schon geschaffenen und
ihr gegebenen Kanon nachträglich nach bestem Wissen und Gewissen, im Wagnis
und im Gehorsam eines Glaubensurteils, aber auch in der ganzen Relativität einer
menschlichen Erkenntnis der dem Menschen von Gott eröffneten Wahrheit fest-
steHen ... Irgend einmal und in irgendeinem Maß ... haben gerade diese Schrif-
ten kraft dessen, daß sie kanonisch waren, selbst dafür gesorgt, daß gerade sie
später als kanonisch auch anerkannt und proklamiert werden konnten" (Kirchl.
Dogmatik I, 2, 1938, S. 524 f.), so ist das angesichts des Verlaufs der Kanonsge-
schichte in der Alten Kirche falsch. Die Kirche hat sich ganz gewiß den Kanon
nicht gegeben; aber sie hat bei der endgültigen Grenzziehung nicht einfach fest-
gestellt, was kanonisch war, weil es sich schon als kanonisch erwiesen hatte, son-
dern sie hat die gegen die apostolische Herkunft bestimmter Schriften bestehenden
Bedenken ganzer Teile der Kirche durch autoritativen Entscheid beiseite geschoben
und damit diese Schriften für große Teile der Christenheit erst kanonisch gemacht.
K. Barths Behauptung entspricht zwar der katholischen Anschauung (s. S. 243),
übersieht aber, daß der Kanon in seiner endgültigen Form eine zufällige geschient-
liehe Größe ist und darum an der Kontingenz jeder geschichtlichen Größe Anteil
hat. Wenn die Kirche wirklich nur festgestellt hätte, was kanonisch schon war,
[250/251] Notwendigkeit und Grenze des neutestamentlichen Kanons 87

die Ausschließung einiger Schriften, die da und dort als normative


angesehen worden waren (Petrusapokalypse, Bamabas- und 1. Cle-
mensbrief, Hirt des Hermas usw.), ganz besonders aber für die end-
gültige Aufnahme der längere Zeit umstrittenen Schriften (Hebräer-,
Jakobus-, Judas-, 2. und 3. Johannes-, 2. Petrusbrief, Apokalypse)
war fast aus!schließlich die Frage, ob diese Schriften durch einen Apo-
stel abgefaßt sein könnten; bei dieser Diskussion über die apostolische
Herkunft der einzelnen Schriften haben dann in geringerem Maße
auch sachliche Motive eine Rolle gespielt, freilich nur in dem Sinn,
daß die Erörterung inhaltlicher Fragen bei der Entscheidung über
die apostolische Abfassung mit zur Entscheidung beitrug75 • Die Folge
dieser Anschauung, daß die kanonische Autorität einer Schrift ab-
hängig sei von ihrer Abfassung durch einen Apostel, war zunächst in
der Alten Kirche, daß mit der Anerkennung der apostolischen Abfas-
sung einer urchristlichen Schrift deren volle Zugehörigkeit zum neu-
testamentlichen Kanon als gesichert erschien; wo sich eine solche Si-
cherheit nicht gewinnen ließ wie etwa beim Hebräerbrief78, mußte
die kanonische Geltung einer solchen Schrift unsicher bleiben. Und
als man auf Grund der historischen Fragestellung der Aufklärung
die traditionellen Angaben über die Verfasser aller neutestament-
lichen Schriften grundsätzlich einer geschichtlichen Prüfung unter-
warf, da brachte die traditionelle Verkoppelung von apostolischer
Abfassung und kanonischer Geltung es mit sich, daß die Frage nach
dem Verfasser einer neutestamentlichen Schrift aus einer rein ge-

dürfte auch K. Barth nicht nachher fordern, daß die Kirche "sich gegen weitere
Belehrung auch hinsichtlich des Umfangs dessen, was ihr als Kanon tatsächlich an-
vertraut ist, nicht zum vomherein verschließen" dürfe (aaO, S. 532, s. auch S. 526).
Der endgültig abgeschlossene Kanon muß vielmehr ohne Umschweife als der
Nachprüfung bedürftiges Werk der Kirche auf Grund des geschichtlichen Sachver-
halts anerkannt werden.
71 So ist in der nationalsyrischen Kirche des 3. und 4. Jahrhunderts der Phile-
monbrief als unerbaulich dem Paulus abgesprochen oder wenigstens als nicht inspi-
riert aus dem Kanon ausgeschlossen worden (s. J. Leipoldt, Geschichte I, S. 209 ff.);
so hat Dionysius von Alexandrien die Apokalypse dem Evangelisten Johannes
hauptsächlich aus stilistisch-sprachlichen Gründen abgesprochen, aber daneben auch
die irdisch-ausmalende Eschatologie gegen die Herkunft vom Evangelisten ange-
führt (Eus. h. e. VII, 25, 3 f.); und der Bischof Serapion von Antioc:hien hat am
Ende des 2. Jahrhunderts die zunächst gegebene Erlaubnis zur gottesdienstlichen
Verlesung des Petrusevangeliums zurückgezogen, nachdem ihm der doketisc:he
Charakter der Schrift durch eigene Lektüre deutlich geworden war (Eus. h. e. VI,
12, 3 ff.). J. Leipoldt, Geschichte I, S. 267 hat darauf verwiesen, daß auch ganz
gelegentlich einmal Kanonizität trotz fehlender Apostolizität behauptet worden ist.
71 Origenes (bei Eus. h. e. VI, 25, 13 f.) stellt fest, daß die Gedanken des He-
bräerbriefs paulinisc:h seien, die Sprache aber nicht; er will darum zulassen, daß
man man den Brief als Paulusbrief betrachte, wo man es bisher tat; "wer aber
den Brief geschrieben hat, weiß in Wahrheit Gott".
88 WERNER GEORG KüMMEL [251/252]

schichtliehen zu einer eminent theologischen Frage wurde: was "un-


echt" und darum nicht von einem "Apostel" geschrieben war, konnte
nicht kanonisch sein, und was kanonisch sein sollte, mußte als "echt"
erwiesen werden77 • Bei allen diesen Argumentationen wurde aber ein
grundlegender Fehler gemacht: man arbeitete mit einem auf be-
stimmte Personen beschränkten Begriff des "Apostels", ohne zu be-
achten, daß dieser Begriff durchaus nicht streng faßbar ist. Denn der
bei Paulus erkennbare älteste Apostelbegriff der Urkirche bezeichnet
mit diesem Titel eine nicht genau begrenzte Zahl von Christus selbst
berufener Auferstehungszeugen und Missionare, zu denen auch Pau-
lus sich rechnet; schon bei Lukas dagegen wird der Begriff, freilich
nicht ganz konsequent, auf die Zwölf beschränkt, während Paulus
diesen Titel nicht erhält (Apg 14, 4 ist die Ausnahme, die I die Regel
bestätigt); und vom Ende des 1. Jahrhunderts an wird Paulus zwar
fast ausnahmslos auch zu den Aposteln gerechnet, dagegen mehr oder
weniger in Abhängigkeit von den Zwölfen =
den Aposteln gesehen78 •
Wird so der Apostelbegriff im Neuen Testament selber mehrdeutig
gebraucht, so ist darüber hinaus nicht einmal sicher, daß das Neue
Testament für die Verfasser des Jakobus- und Judasbriefes, die nach
der ältesten Tradition von den Herrenbrüdern dieses Namens stam-
men sollen, überhaupt den Aposteltitel gebraucht hat79 • Es ist also
völlig unmöglich, den Begriff des "Apostels" geschichtlich scharf zu
77 Das hat schon F. C. Baur deutlich formuliert: "Die Einleitungswissenschaft

hat zu untersuchen, ob diese Schriften auch das an sich sind, was sie nach der
dogmatischen Vorstellung, die man von ihnen hat, sein sollen ... Thre erste Auf-
gabe ist die Beantwortung der Frage, mit welchem Recht sie sich für apostolische
Schriften ausgeben"; er redet dementsprechend von "jeder mit den besten kriti-
schen Gründen aus dem Kanon verwiesenen Schrift" (Theol. Jahrbücher 1850,
S. 478 und 472; auf diese Äußerung verweist H. Strathmann, aaO, Sp. 306 f.).
78 Siehe W. G. Kümmel, Kirchenbegriff und Geschichtsbewußtsein in der Ur-
gemeinde und bei Jesus, 1943, S. 5 ff. und besonders H. v. Campenhausen, Der
urchristliche Apostelbegriff, Studia Theologica I, 1947, S. 96 ff. und für die spätere
Zeit J. Wagenmann, Die Stellung des Paulus neben den Zwölf in den ersten
drei Jahrhunderten, 1926, S. 55 ff.
78 Die Zurückführung des Jakobusbriefes auf den Herrnbruder begegnet zum

erstenmal bei Eus. h. e. II, 23, 24, aber schon Origenes hatte den Verfasser ö än6a"to-
AO~ genannt, ohne über dessen Identität sich im klaren zu sein (s. A. Meyer, Das
Rätsel des Jakobusbriefes, 1930, S. 51 ff.); und so heißt der Verf. denn "Apostel"
in den abschließenden Kanonsverzeichnissen der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts
(Athanasius, s. Preuschen, Analeeta II, S. 44, und die römische Synode von 382,
s. Th. Zahn, Grundriß der Geschichte des neutestamentlichen Kanons, 19041, S. 85).
Es ist aber äußerst fraglich, ob Paulus den Jakobus zu den Aposteln gerechnet hat
(s. W. G. Kümmel, aaO, S. 45 Anm. 15), und im übrigen Neuen Testament erhält
Jakobus nirgendwo diesen Titel. - Der Judasbrief wird schon von Tertullian (de
culL fern. I, 3) auf einen Apostel, von Giemens von Alexandrien (adumbr. in epi-
stula Judae, Werke hrsg. von 0. Stählin 111, 1909, S. 206) auf den Herrenbruder
zurückgeführt; aber im Neuen Testament wird Judas nirgends Apostel genannL
[252/253] Notwendigkeit und Grenze des neutestamentlichen Kanons 89

defmieren, und schon darum ist die Anschauung, daß die Abfassung
durch einen "Apostel" Vorbedingung für die kanonische Geltung
einer neutestamentlichen Sduift sei, unhaltbar. Und wenn sich dar-
über hinaus aus den Diskussionen in der Alten Kirche ebenso wie aus
der modernen Einleitungswissenschaft ergibt, daß in mehreren Fällen
überhaupt nicht sicher festgestellt werden kann, wer eine bestimmte
neutestamentliche Schrift geschrieben hat, so ist es erst recht unmög-
lich, die Entscheidung über die Zugehörigkeit einer urchristlichen
Schrift zum Kanon von ihrer Abfassung durch einen "Apostel" ab-
hängig zu machen. Die Abgrenzung des neutestamentlichen Kanons
mit Hilfe der Rückführung jeder einzelnen Schrift auf einen Apostel
als Verfasser muß darum völlig aufgegeben werden.
Muß man so die Verkoppelung der Fragen nach der apostolischen
Abfassung und der Kanonizität einer neutestamentlichen Schrift auf-
geben, so ergibt sich ebenso unausweichlich die Folgerung, daß die
Frage nach der Grenze des neutestamentlichen Kanons nicht mehr
unter Weiterführung der Diskussionen des 3. und 4. und des 16. Jahr-
hunderts gestellt werden kann. Denn dort ging es ja fast ausschließ-
lich um die Frage, ob die sogenannten Antilegomena (Hehr, Jak, Jud,
2. Petr, 2. und 3. Job, Apk) auch wie die 20 unbestrittenen Schriften
des Neuen Testaments als kanonisch anzusehen seien oder nicht, und
die Entscheidung über diese Frage wurde, mit der einzigen Ausnahme
Luthers, letztlich nur von der Frage nach der apostolischen Herkw#\
dieser Schriften her zu entscheiden gesucht. Im Anschluß an diese alt-
kirchlich-humanistische Fragestellung sucht auch heute noch die Dog-
matik immer wieder die Richtigkeit der letzten altkirchlichen Ka-
nonsbegrenzung zu begrünlden oder in Frage zu stellen80 • Sucht man
aber von dieser Fragestellung aus die Grenzen des neutestament-

81 So redetE. Brunner, Offenbarung und Vernunft, 1941, S. 131 von einer "Ka-
nonsperipherie", "innerhalb deren etwa der 2. Petrusbrief, der Judasbrief, der Ja-
kobusbrief und die Apokalypse liegen". Und W. Elert, Der christliche Glaube,
194{), S. 221 ff. behauptet, die Theologie sei immer erneut vor die Frage nach der
Geltung der Antilegomena gestellt, und nennt für die Entscheidung der Kanons-
fähigkeit zwei Kriterien: "erstens, ob sich in ihrem Zeugnis die Verheißung erfüllt,
die Christus an die Sendung des Pneumas knüpfte, zweitens, ob es ursprüngliches
oder, anders gesagt, ob es kein abgeleitetes Zeugnis ist". Nun ist das erste Krite-
rium durchaus berechtigt, das zweite aber schwerlich durdtführbar, da literarische
Abhängigkeit, auch wo sie sicher nachweisbar ist, kein Argument gegen kanonische
Geltung zu sein braucht. Elert will denn von hier aus nur den Judasbrief als "nicht
ursprüngliches Zeugnis" gelten lassen, weil sein Inhalt fast ganz im 2. Petrushrief
enthalten sei. Aber wenn man schon dieses Kriterium der "Ursprünglichkeit" im
literarischen Sinne aufstellt, darf man die Frage der literarischen Priorität zwi-
schen 2. Petrus und Judasbrief nicht offen lassen, wie Elert es tut, weil ja bei der
wahrscheinlicheren Annahme der Abhängigkeit des 2. Petrusbriefes vom Judas-
brief diese aus anderen Gründen so problematische Schrift gerade als "ursprüng-
90 WEl\NEI\ GEORG KÜMMEL (253/254]

liehen Kanons zu bestimmen, so müßte sich die Folgerung ergeben,


daß die Entscheidung der Kirche des späteren 2. Jahrhunderts betreffs
der unbestritten kanonischen Schriften unantastbar sei, nicht aber die
der Kirche des 4. Jahrhunderts betreffs der umstrittenen Bücher. Und
überdies müßte man dann zugeben, daß die Pastoralbriefe eine un-
anfechtbare kanonische Autorität besäßen, nicht aber der Hebräer-
brief. Diese theologisch unmöglichen Folgerungen beweisen, daß die
Frage nach der Grenze des neutestamentlichen Kanons nicht mehr
von der Fragestellung aus gelöst werden kann, ob auch die letzte Ent-
scheidung der Alten Kirche auf Grund ihrer Fragestellung nach der
"apostolischen" Herkunft der noch umstrittenen Schriften bindend sei
oder nicht. Vielmehr müssen wir entschlossen von dem Tatbestand
ausgehen, daß der von der Alten Kirche uns überlieferte Kanon uns
nicht nur durch bestimmte seiner Schriften, die aus mehr zufälligen
Gründen länger umstritten waren als andere, sondern als ganzer vor
die Frage stellt, ob er sachgemäß abgegrenzt sei oder nicht.
Gehen wir bei der Antwort auf diese Frage von der grundlegenden
Einsicht aus, daß die Kirche einen neutestamentlichen Kanon darum
haben muß, weil das Zeugnis der ersten Christenheit von der ge-
schichtlichen Heilstat Gottes in Jesus Christus, seiner Auferstehung
und der Gründung seiner Gemeinde weitergegeben und vor Auflö-
sung und Umbildung bewahrt werden mußte, so ist klar, daß Schrif-
tep., die nach einem bestimmten Zeitpunkt, also etwa nach dem ersten
Viertel des 2. Jahrhunderts, abgefaßt worden sind, nicht mehr als ur-
sprüngliche Zeugnisse angesehen und darum auch nicht mehr zum
Kanon gerechnet werden können. Insofern ist der Ausschluß des Hir-
ten des Hermas aus dem Kanon durch das Muratorische Fragment
durchaus richtig damit begründet worden, daß er erst neuestens ge-
schrieben worden sei81 • I Freilich läßt sich dieses chronologische Argu-
ment nicht als positives Kriterium verwenden, denn der 1. Giemens-
brief z. B., der noch von Giemens von Alexandrien zu den kanoni-
schen Schriften gerechnet wurde, liegt zeitlich schwerlich weit vom
Johannesevangelium ab, müßte also nach diesem rein chronologi-
schen Maßstab ebensogut in den Kanon aufgenommen werden wie
das 4. Evangelium. Und von den lgnatiusbriefen, die zweifellos noch
ins erste Viertel des 2. Jahrhunderts gehören, wohin etwa auch die
lid:J." und damit als in höherem Maße kanonisd:J. ersd:J.einen müßte! Die Frage der
literarischen Ursprünglichkeit kann ebensowenig kanonskritische Bedeutung haben
wie die Frage der "apostolischen" Abfassung der sogenannten Antilegomena.
81 "Den Hirten aber, den neuerdings zu unsem Zeiten Hermas in der Stadt Rom
verfaßte, als auf dem Stuhl der Stadt Rom sein Bruder Bisd:J.of Pius saß, soll man
deshalb zwar lesen, aber er kann nid:J.t in der Gemeinde dem Volk öffentlid:J. ver-
kündigt werden, weder unter den Propheten, die der Zahl nach vollständig sind,
noch unter den Aposteln am Ende der Zeiten" (Z. 73 ff.).
[254] Notwendigkeit und Grenze des neutestamentlichen Kanons 91

Pastoralbriefe oder der 2. Petrushrief zu verlegen sein werden, wissen


wir nicht, daß sie je als kanonisch gewertet worden seien. Der chrono-
logische Maßstab läßt sich also nur negativ anwenden, indem man
feststellt, daß Schriften aus der Zeit der ältesten Apologeten (etwa
Barnabasbrief, Papias, Polykarpbrief) nicht mehr zum Kanon ge-
hören können.
Weitere formale Kriterien für die Zugehörigkeit einer urchrist-
lichen Schrift zum neutestamentlichen Kanon gibt es aber nicht. Ist
es der Sinn der Bildung und Abschließung des neutestamentlichen
Kanons, das Zeugnis der ältesten Christen über das geschicl:Itliche
Heilshandeln Gottes gegenüber späteren Veränderungen und Zu-
fügungen abzuschließen, so muß die Möglichkeit zugegeben werden,
daß ein derartiges urchristliches Schriftstück heute noch auftaucht:
und der Kirche muß das Recht zugestanden werden, ein solches erst
jetzt gefundenes Dokument der Apostelzeit auch heute noch in den
Kanon aufzunehmen, wenn es sich bei Prüfung nicht nur als ur-
christlicl:I, sondern auch als in Obereinstimmung mit dem grundle-
genden neutestamentlichen Kerygma erwiese82 • Und umgekehrt muß
die Kirche das Recht haben, ein zum endgültigen Bestand des Neuen
Testaments gehöriges Dokument aus dem Kanon wieder auszuschei-
den, falls sicher erwiesen werden könnte, daß eine solche Schrift erst
jenseits der chronologischen Grenzen des apostolischen Kerygmas
entstanden ist. Aber dazu ist einschränkend doch einerseits zu sagen,
daß ein solcher den altkirchlichen Kanon abändernder Akt nur dann
mehr als ein weiteres historiscl:I zufälliges Ereignis sein könnte, wenn
die Gesamtheit der Christenheit sich dazu verstehen könnte, was
kaum denkbar istss. Und andererseits könnte, wie schon das Beispiel
des 1. Giemensbriefes beweist, die Frage, ob eine neu gefundene
Schrift aufzunehmen oder eine bisher als kanonisch angesehene aus-
zuscheiden wäre, doch auf keinen Fall nur nach dem chronologischen
81 Diese Frage wäre heute etwa zu stellen gegenüber der pericope adulterae, die
nicht zum Johannestext gehörte, als das 4. Evangelium kanonisiert wurde, die aber
wahrscheinlich in "apokrypher" Oberlieferung bis in die Zeit des Urchristentums
zu verfolgen ist; die Frage wäre auch zu stellen gegenüber einzelnen apokryph
überlieferten Worten und Taten Jesu; doch läßt sich deren Alter weniger sicher
erweism (s. J. Jeremias, Unbekannte Jesusworte, 1948). Auf alle Fälle müßten
dabei die kanonischen Evangelien der Maßstab sein.
81 "Es ist klar, daß eine solche Veränderung des Kanonbestandes ... sinnvoll
und legitim nur als ein kirchlicher Akt, d. h. in Form einer ordentlichen und ver-
antwortlichen Entschließung eines verhandlungsfähigen Kirchenkörpers Ereignis
werden könnte" (K. Barth, Kirchliche Dogmatik I, 2, S. 530). Eine chronologische
Umordnung und Ergänzung des Kanons durch Apokryphen, um dadurch "eine
dem Stande der Wissenschaft entsprechende Neugruppierung und Ergänzung des
Kanons zu erreichen" (das fordert E. Platzhoff-Lejeune, Schweiz. Theol. Umschau
19, 1949, S. 108 ff.), könnte nur Ausdruck subjektiver Willkür sein.
92 WERNER GEORG KüMMEL [254/255]

Gesichtspunkt entschieden, sondern müßte I in entscheidender Weise


durch Besinnung auf den sachlichen Gehalt der betreffenden Schrift
geklärt werden.
Damit sind wir aber bei der Erkenntnis angelangt, daß wir den von
der Alten Kirche durch autoritativen Entscheid abgeschlossenen Ka-
non als gegebene Tatsache anerkennen müssen, ohne seinen Umfang
als notwendig begründen zu können. Damit ist nicht gesagt, daß der
Entscheid der Alten Kirche über den Umfang des Kanons für uns den
Charakter einer bindenden Norm haben könne, schon darum nicht,
weil dieser Entscheid ja bis ins 16. Jahrhundert nicht allerseits an-
erkannt worden ist, ganz besonders aber darum nicht, weil wir wis-
sen, daß dieser Entscheid mittels des sachlich unhaltbaren Maßstabs
der "apostolischen" Herkunft der einzelnen Schriften gefällt worden
ist84 • Der Entscheid der Alten Kirche über den Umfang des Kanons ist
vielmehr für uns der einzig mögliche Ausgangspunkt für die notwen-
dige Besinnung über die Frage, was nun wirklich innerhalb des ge-
gebenen Kanons Norm für den Glauben sein kann und muß. Denn
der Kanon ist, wie wir sahen, Norm ja nicht auf Grund einer kirchli-
chen Autorität, die uns seinen normativen Charakter garantiert, son-
dern er ist Norm auf Grund des nns aus dem Kanon selber entgegen-
tönenden und unsem Glauben weckenden Zeugnisses von Gottes Heils-
handeln in Jesus Christus. Und das kann ja nur heißen: der Kanon
ist Norm für die Verkündigung der Kirche und damit für den Glau-
ben, insoweit und nur insoweit er solches Christuszeugnis ist. Es kann
also gar keine Frage sein, daß Luthers Grundsatz völlig richtig ist,
daß kanonisch sei, "was Christum prediget und treibet" 85 • Nur bleibt
die Frage zu beantworten, wie dieser Grundsatz konkret angewandt
werden könne.
Suchen wir aber auf diese Frage eine wirklich zuverlässige Ant-
wort, so müssen wir mit der schon genannten Erkenntnis Ernst ma-
chen, daß die Frage nach dem "apostolischen" Verfasser in diesem
Zusammenhang völlig aus dem Spiele bleiben muß. Aber ganz ge-
nauso müssen wir uns darüber im klaren sein, daß es eine durchaus
unberechtigte Voraussetzung ist, daß das Christuszeugnis in den äl-
teren Schriften am unverfälschtesten zu finden sein müsse, so daß also
84 Es ist darum falsch, daß man die einst gefallenen Entscheidungen der Kirche

"wie hinsichtlich des Dogmas so auch hinsichtlich des Kanons als in Kraft und Gel-
tung stehend ansehen müssen" werde (so K. Barth, aaO, S. 530). K. Barth zitiert dar-
um zustimmend die in der Confessio Gallicana von 1559 erfolgte Festlegung des
Umfangs der Heiligen Schrift auf den altkirchlichen Kanon (aaO, S. 525), wäh-
rend die lutherischen Bekenntnisschriften mit Recht keine solche Festlegung vorge-
nommen haben (s. P. Althaus, Die christliche Wahrheit I, S. 199 und W. Eiert, Der
christliche Glaube, S. 221).
ea S. oben S. 242.
[255/256] Notwendigkeit und Grenze des neutestamentlichen Kanons 93

etwa die Synoptiker infolge ihrer größeren Nähe zum geschichtlichen


Jesus dem völlig vom Christusbekenntnis der Urkirche her redenden
Johannesevangelium in jeder Hinsicht überlegen sein müßten. Wir
haben ja das Zeugnis von Jesus Christus in allen Schriften des Neuen
Testaments nur in menschlicher Form, und die menschliche Irrtums-
fähigkeit und das menschliche Unverständnis der göttlichen Wahr-
heit gegenüber ist angesichts der älteren Schriften ebenso in Rech-
nung zu stellen wie angesichts der jüngeren. Es ist darum ganz gewiß
möglich und sogar wahrscheinlich, daß der zeitllich größere Abstand
von der Geschichte Jesu auch eine sachliche Entfernung von der ur-
sprünglichen Offenbarung Gottes in Jesus Christus mit sich bringt;
aber wenn wir nicht bewußt im Gegensatz zum ganzen Neuen Testa-
ment die Offenbarung auf den geschichtlichen Jesus vor Ostern und
Pfmgsten einschränken, so kann die frühere oder spätere Entstehung
einer urchristlichen Schrift innerhalb der für den Kanon in Betracht
kommenden Zeit (sog. apostolisches und nachapostolisches Zeitalter) an
sich noch nichts über ihr sachliches Verhältnis zum apostolischen Ke-
rygma aussagen88 • Wir kommen zu einer nicht rein subjektiven, aber
auch nicht rein historisierenden Bestimmung der Grenze des neute-
stamentlichen Kanons nur dann, wenn wir den uns von der Alten
Kirche überlieferten Kanon von dem Wissen her prüfen, daß hier von
der geschichtlichen, endgültigen Offenbarung Gottes die Rede ist. Und
das heißt ja nicht nur, daß die urchristliche Verkündigung der ge-
schichtlichen Person Jesu und den geschichtlichen Ereignissen nach
seinem Tode eine für immer gültige göttliche Bedeutung beimißt,
sondern daß diese Verkündigung selber eine in der vergangenen Ge-
schichte sich vollziehende und darum nicht zeitlose und unwandelbare
Verkündigung ist. Das Zeugnis des Neuen Testaments ist seinem We-
sen nach ein vielfältiges und sich entwickelndes, und gerade darum
kann nur eine Sammlung der verschiedenartigen Zeugnisse, d. h. der
Kanon, uns in ausreichender Weise mit dem urchristlichen Kerygma
der Apostelzeit in Verbindung bringen87 • Dieses vielgestaltige Zeug-
nis hat aber seine für alle Zeiten normative Bedeutung nicht deswe-
gen, weil es im Kanon steht, sondern darum, weil es in einem zeitlich

ee Die Forderung von P. Althaus (Die christliche Wahrheit I, S. 195), "die Nähe
einer Schrift zur Offenbarungsgeschichte, zu dem ursprünglichen missionarischen
Zeugnis der Apostel" müsse durch historische Untersuchung festgestellt werden,
ehe über die Kanonizität einer Schrift entschieden werden könne, ist nur dann
richtig, wenn man sie auf die historische Feststellung beschränkt, daß eine Schrift
vor etwa dem zweiten Viertel des 2. Jahrhunderts entstanden sei.
87 0. Cullmann, Die Pluralität der Evangelien als theologisches Problem im
Altertum, ThZ 1, 1945, S. 23 ff. (40 ff.) hat mit Recht die Mehrzahl der kanoni-
schen Evangelien mit der notwendigen Beschränktheit des einzelnen Christuszeug-
nisses begründet.
94 WEBNJU\ GEORG KüMMEL (256/257]

und sachlich nahen Verhältnis zur geschichtlichen Christusoffenba-


rung steht. Daraus ergibt sich, daß eine Schrift des Neuen Testaments,
aber ebenso auch nur ein Abschnitt einer neutestamentlichen Schrift,
um so sicherer zum normativen Kanon gerechnet werden muß, je ein-
deutiger der Text auf die geschichtliche Christusoffenbarung hinweist
und je weniger er durch außerchristliche Gedanken oder durch spä-
tere christliche Fragestellungen verändert ist88 • Was aber von dieser
Christusoffenbarung und ihrer Bedeutung für den Glauben nicht re-
det, hat nur in einem beschränkten oder auch in gar keinem Maße
Anteil am normativen Charakter des Kanons89 • I
Wie aber finden wir, ob eine Schrift oder Schriftstelle eindeutig auf
die geschichtliche Christusoffenbarung hinweist oder nicht? Wir ha-
ben diese Christusoffenbarung ja nicht außerhalb ihrer Bezeugung im
Neuen Testament, können das normative Zeugnis über sie also nur
durch kritische Zusammenschau der verschiedenen Formen der neu-
testamentli<hen Verkündigung herausstellen90 • Sowohl die Besinnung
auf die Geschichte des urchristlichen Denkens als auch die sachliclle
Besinnung auf das in aller neutestamentlichen Verkündigung grund-
legende Kerygma wird dabei immer wieder zu dem Resultat kommen,
daß wir bei solchem inneren Vergleich ausgehen müssen von der Bot-
schaft und Gestalt Jesu, wie sie uns in der ältesten Form der synopti-
schen Tradition begegnet, von dem das Leben und Sterben Jesu deu-
tenden und die Auferstehung Christi bezeugenden ältesten Kerygma
der Urgemeinde und von der ersten theologischen Durchdenkung die-
ses Kerygmas in der Theologie des Paulus. Die schon in sich sehr viel-
gestaltige älteste und grundlegende Verkündigung ist also nur zu
gewinnen aus dem Zusammenklang mehrerer Stimmen, und beson-
ders das sachliche Verhältnis von Jesus und Paulus herauszustellen,
bleibt eine unausweichliche Aufgabe jeglicher Besinnung auf das
normative Zeugnis des Neuen Testaments. Läßt sich nun gerade bei
streng geschichtlicll-theologischer Arbeit zeigen, daß aus der Zusam-
menschau dieser drei ältesten Formen des neutestamentlichen Keryg•

88 "Ist Gegenstand des Glaubens das Evangelium, also die Gestalt Christi in ih-
rer Heüsbedeutung, so wird die Autorität des einzelnen Bibelwortes oder -buches
um so größer sein, je näher es innerlich mit diesem Zentrum verbunden ist, und
sie wird abnehmen, je weniger das der Fall ist" (H. Strathmann, ThBl 21, 1942,
s. 37).
8' Auf die oft betonte Tatsache, daß historische Widersprüche oder Fehler den
normativen Charakter des neutestamentlichen Kerygmas nicht in Frage stellen, daß
aber um des geschichtlichen Charakters der neutestamentlichen Schriftenwillen die
historische Kritik unentbehrlich ist, soll hier nicht eingegangen werden. Siehe dazu
zuletzt E. Dinkler, Bibelautorität und Bibelkritik, ZThK 47, 1950, S. 70 ff.
10 P. Althaus, Die christliche Wahrheit I, S. 195 prägt darum die Formel: Scrip-
tura sacra sui ipsius critica.
[257 /258] Notwendigkeit und Grenze des neutestamentlichen Kanons 95

mas sich eine in den Grundzügen einheitliche Verkündigung ergibt91 ,


so haben wir eine zentrale Verkündigung gewonnen, an der das üb-
rige Zeugnis des Neuen Testaments gemessen werden kann. Solches
Messen bedeutet eine in historischer Arbeit sich vollziehende Auf-
gabe, die in vieler Hinsicht erst geleistet werden muß. Es wird sich bei
solcher Untersuchung auf der einen Seite herausstellen, daß auch die
geschichtlich späteren Schriften des Neuen Testaments zu einem er-
heblichen Teil eine sachlich berechtigte oder sogar notwendige Wei-
terbildung der zentralen Christusverkündigung enthalten (das gilt
z. B. weitgehend für das Evangelium und die Briefe des Johannes,
den Hebräer-, 1. Petrus- und Epheserbrief, die Geschichtsanschauung
der Johannesapokalypse); es wird sich auf der andem Seite zeigen,
daß auch Schriften, die an bestimmten Punkten in sachlichem Gegen-
satz zur zentralen Christusverkündigung stehen (der Hebräerbrief
mit seiner Lehre von der Unmöglichkeit der 2. Buße; die Pastoral-
briefe und der Judasbrief mit ihrem Glaubensbegriff; die Apokalypse
mit ihrer Erwartung eines messianischen Zwischenreiches und der
Ausmalung der sich folgenden eschatologischen Ereignisse; der 2. Pe-
trusbrief mit seiner hellenistischen Erlösungslehre und seiner Aufhe-
bung der eschatologischen Naherwartung), daneben durchaus an der
allgemein neutestamentlichen Christusverkündigung Anteil haben
(der Hebräerbrief durch seine ganz auf die Einmaligkeit des Opfers
Christi gebaute Sühnelehre; die Pastoralbriefe durch ihre Betonung
der Fleischwerdung und der rettenden Kraft des eschatologischen I
Geistes; die Apokalypse mit ihrer Betonung der Folgerichtigkeit des
eschatologischen Handeins Gottes und ihrer Betrachtung der Gegen-
wart als vorauswirkendem Beginn der Endzeit; der 2. Petrushrief mit
seiner Betonung der bleibenden Bedeutung der Erwartung des escha-
tologischen "Tages" usw.; nur der kleine Judasbrief enthält keinerlei
zentrale Christusverkündigung). Es wäre also durchaus unsinnig,
diese in irgendeiner Hinsicht zur zentralen Verkündigung in Span-
nung stehenden Schriften deswegen schon aus dem Kanon zu verwei-
sen, zumal manche der genannten Anstöße ihre Parallelen auch in
sonst durchaus der zentralen Verkündigung zugehörigen Schriften
haben92 • Ja, es findet sich bei Vertretern des zentralen Kerygmas
11 Vgl. W. G. Kümmel, Jesus und Paulus, ThB119, 1940, S. 209 ff. und meine
Bemerkungen in M. Dibelius, Paulus, 1951, S. 141 ff.; ferner C. H. Dodd, The
Apostolic Preaching and its Developments, 1936 (dazu ThR N.F.14, 1942, S. 93ff.)
und H.-D. Wendland, Geschichtsanschauung und Geschichtsbewußtsein im NT,
1938, s. 10 ff., 23 ff., 69 ff.
11 Die Lehre des Hebräerbriefs von der Unmöglichkeit der 2. Buße hat ihre

Parallelen in 1.Job 5, 16 f. und in entfernterem Maß in Mk 3, 28--30; der Glau-


bensbegriff der Pastoralbriefe und des Judasbriefs begegnet ähnlich auch Hehr 11,
1-6 und Jak 2, 14 ff. (s. W. G. Kümmel, Der Glaube im NT, seine katholische
96 WERNER GEORG KüMMEL [258/259]

durmaus audl "apokryphes" Einzelgut93 , und es fmden sidl dort sach-


liche Widersprüche gegen das ursprüngliche Christuszeugnis96 • Die
eigentliche Grenze des Kanons läuft also durch den Kanon mitten hin-
durch, und nur wo dieser Sachverhalt wirklich erkannt und anerkannt
wird, kann die Berufung katholischer oder sektiererischer Lehren auf
bestimmte Einzelstellen des Kanons mit wirklich begründeten Argu-
menten abgewehrt werden95 • Diese "innere Grenze" des Kanons kann
nur durch ständig neue Besinnung auf die zentrale Christusverkündi-
gung und durch Prüfung des gesamten neutestamentlichen und au-
ßerkanonisdlen frühkirclilichen Schrift!tums an dieser zentralen Ver-
kündigung erkannt und gesichert werden98 • Von solcher Besinnung

und reformatorische Deutung, ThBl 16, 1937, S. 209 ff., bcs. 216 f.); eine Aus-
malung der eschatologischen Ereignisse im Sinne der Apokalyptik ähnlich wie in
der Apokalypse fmdet sich auch Mk 13 und par. und in abgeschwächtem Maße bei
Paulus t.Kor 15 und 2.Thess 2; die eschatologische Naherwartung tritt auch im
Jobarmesevangelium völlig zurück.
13 K. L. Schmidt, Kanonische und apokryphe Evangelien und Apostelgeschichten,
1944, S. 33 f. hat darauf verwiesen, daß die Erzählung vom Tod des Täufers Mk 6,
17 ff. und par. "innerhalb der kanonischen Evangelien ein eigentliches Apokry-
phon" ist; der Mythos von der Hadespredigt Christi t.Petr 3, 19 f. hat im Neuen
Testament keine Parallele und ist eine sachlich problematische Erweiterung des
ältesten Kerygmas (s. den Nachweis in Abschnitt Il, b meines Aufsatzes "Mythos
im NT", ThZ 6, 1950, Heft 5, S. 321-337 [329 ff.]); Apg 20, 7 ff. und 28, 3 ff. fin-
den sich völlig profane und ohne jede erkennbare Beziehung zum Christuskerygma
stehende Wundererzählungen (s. M. Dibelius, Stilkritisches zur Apostelgeschichte,
Eucharisterion für H. Gunkel Il, 1923, S. 42 f., 45).
14 Die Vorstellung von der religiösen Unterlegenheit der Frau dem Mann ge·
genüber (1.Kor 11, 2 ff.) widerspricht der christlichen Einsicht des Paulus (Gal 3,
28; s. meine Bemerkungen in der 4. Aufl. von H. Lietzmann, An die Korinther I,
Il, 1949, S. 183 f.); in der Apostelgeschichte findet sich (17, 28 f.) die dem Men·
sehenbild des ganzen Neuen Testaments widersprechende Vorstellung von der
Gottverwandtschaft des Menschen (s. W. G. Kümmel, Das Bild des Menschen im
NT, 1948, S. 51 ff.); die Vorstellung von der NadLweisbarkeit der Auferstehung
Christi durch die Tatsache des Essens des Auferstandenen mit den Jüngern (Lk 24,
36 ff.) und durch die Wirklichkeit des leeren Grabes (Mt 27,62 ff.; 28, 11 ff.) wi-
derspricht der ursprünglichen Verkündigung, die nur eine Bezeugung der Aufer·
stehung Christi kennt (s. meinen in der vorigen Anmerkung genannten Aufsatz
und ThR N. F. 17, 1948/49, S. 6 ff.).
11 Siehe dazu meinen Aufsatz ThB116, 1937, S. 209 ff. und die Bemerkung von
P. Althaus, Die christliche Wahrheit I, S. 213: "Die evangelische Kritik an Rom
läßt sich nicht ohne Kritik innerhalb der Schrift vom Evangelium her vollziehen."
Vgl. auch Luthers oft zitierte These von 1535 (WA 39, 1, S. 47): "Scriptura est, non
contra, sed pro Christo intelligenda, ideo vel ad eum referenda, vel pro vera Scrip-
tura non habenda ... Quod si adversarii scripturam urserint contra Christum, ur-
gemus Christum contra scripturam" (von Althaus, S. 211 angeführt).
81 Es fehlen z. B. fast völlig Arbeiten, die den sachlich berechtigten Ausschluß
der "nachapostolischen" Literatur aus dem N'euen Testament nachweisen, etwa an
Hand des Moralismus und der Traditionslehre des 1. Giemensbriefes oder der will-
kürlichen Typologie des Bamabasbriefes. Ein wichtiger Vorstoß in dieser Richtung
[259] Notwendigkeit und Grenze des neutestamentlichen Kanons 97

aus gewinnen wir die Freiheit, die zentrale Christusverkündigung


des Neuen Testaments in ihren verschiedenen Formen wirklich als
Nonn zu begreifen97 , von der der Christ jeder späteren Zeit als der
Hörende sich abhängig weiß, ohne in Versuchung geraten zu müssen,
jedes Wort des Neuen Testaments nur darum alsnormativ anzusehen,
weil es in die kirchliche Sammlung der apostolischen Schriften aufge-
nommen worden ist.
Die Grenze des neutestamentlichen Kanons ist darum historisch ge-
schlossen, sachlich aber immer von neuem zu bestimrnen98 • Und darin
hat der Kanon nur Anteil an der geschichtlichen Zufälligkeit und Un-
gesichertheit, aber ebenso an der einmaligen und unbedingten Be-
deutsarnkeit des rettenden Handeins Gottes in Christus. Und sowenig
wir das Christusgeschehen in eindeutige Formeln fassen können, so-
wenig können wir den das Zeugnis von diesem Geschehen bewahren-
den Kanon eindeutig begrenzen. Das mag für den Theologen eine
Not sein, der er sich aber nicht entziehen darf. Für den Glaubenden
ist die Unsicherheit der Grenze des neutestamentlichen Kanons ein
Hinweis auf die Fleischwerdung des Logos.
ist von K. L. Schmidt durch seinen Vergleich des Petrusevangcliums mit den ka-
nonischen Evangelien vorgenommen worden (Kanonische und apokryphe Evan-
gelien und Apostelgcschichten, 1944, S. 37 ff.); und für lgnatius liegen wichtige
Untersuchungen in dieser Richtung vor, besonders Ph.-H. Menoud, L'originalite de
la pensee johannique, Rev. de theol. et de philos. 1940, S. 233 ff. und C. Maurer,
lgnatius von Antiochien und das Johannesevangelium, 1949.
' 7 Zum Wortsinn von xavwv vgl. H. W. Beyer, ThW 111, 1938, S. 600 ff.
118 Wo man die Grenze des neutestamentlichen Kanons nach der Alten Kirche

hin grundsätzlich offenläßt, wie es E. Stauffer tut (Die Theologie des NT, 19484),
muß unvermeidlimerweise die urchristliche Botschaft von der frühkatholischen
Fortbildung des Urchristentums her uminterpretiert werden, und der Kanon ver-
liert seinen Charakter als Maßstab für die kirchliche Verkündigung (s. meine Be-
merkungen ThLZ 75, 1950, S. 424 ff.). Wo umgekehrt die "Einheitlichkeit" der
neutestamentlichen Aussagen als zu erstrebendes Ziel vorausgesetzt wird, wie etwa
bei M. Barth (Der Augenzeuge, 1946), da müssen nicht nur sich widersprechende
Aussagen gewaltsam zur Einheit geführt werden, sondern da wird auch die Wirk-
lichkeit nicht ernst genommen, daß der Kanon Zeugnis einer Entwicklung des
Christuszeugnisses ist, und die geschichtliche Wirklichkeit des sich wandelnden Ur-
zeugnisses muß ersetzt werden durch eine ungeschichtliche Konstruktion (s. dazu
E. Käsemann, ThLZ 73, 1948, S. 665ff.). Die Gleichwertigkeit des ganzen Kanons
ist zum Prinzip erhoben von 1.-L. Leuba, L'institution et l'evenement, Diss. Neu-
chAtel 1950, S. 6 ("Mais ce a quoi l'Eglise et le theologien se refuseront, c'est a
se confier a l'etude historique pour determiner ce qui est canonique et ce qui ne
l'est plus. La decision a ete prise une fois pour toutes. L'Eglise reformee, si fiere,
a juste titre, du fondement scripturaire de Sa theologie, fera bien de s'en SOUVenir,
Ia toute premierel"). Dagegen betont mit Recht im Sinne des oben Ausgeführten
E. Käsemann, Verkündigung und Forschung, 1950, S. 209 f., die Gefahr eines
"massiven und primitiven Kanonbegriffs" für die "sachliche Autorität des refor-
matorisch verstandenen Evangeliums".

7 Kisemann, Kanon
OsKAR CuLLMANN

Die Tradition und die Festlegung des Kanons


durch die Kirche des 2. Jahrhunderts•
Um die Bezogenheil von Schrift und Tradition zu bestimmen, sind
wir in den beiden ersten Kapiteln vom Grund der christlichen Kirche
ausgegangen, von der Zeit, die wir die der heilsgeschichtlichen Mitte
genannt haben, von der Zeit Jesu und seiner Apostel. Wir haben über
dieses Problem das Neue Testament selbst befragt, und es schien uns
dabei der Gedanke des Apostolats, oder besser gesagt: der Einzigkeil
des Apostolats, die dort gegebene Antwort zu fordern. Indem der
ganze Beweis vom Gedanken des apostolischen Amts her geführt
wurde, ist bisher als Schrift bloß das Neue Testament in Betracht ge-
zogen worden, d. h. das unmittelbare Zeugnis der Apostel über die
Grundtatsachen des Werks des fleischgewordenen Christus und über
ihre eigenen Taten.
Nunmehr wollen wir die Frage von der Geschichte der alten Kirche
her beleuchten und untersuchen, ob die bisherigen Ergebnisse hier
ihre Bestätigung finden. Wie wir im vorangehenden die Lösung un-
seres Problems in der Schrift gefunden haben, so wollen wir sie jetzt
sozusagen in der Tradition selbst suchen. Vor allem wird hervorzu-
heben sein, daß die werdende Kirche selbst apostolische Tradition von
kirchlicher unterschieden wissen wollte, indem sie die zweite deutlich
der ersten, d. h. sich selbst der apostolischen Tradition unterordnete.
Um die These von der überlegenheil der Schrift zu bekämpfen,
pflegt die katholische Theologie mit Nachdruck die zeitliche Priori-
tät der Tradition gegenüber der Schrift zu betonen. Diese Priorität
wird nun niemand leugnen, wenn es sich um diejenige der apostoli-
schen Tradition handelt. Doch wenn sich zeigen läßt, daß die Kirche
selbst durch die Kanonbildung einen Wesensunterschied zwischen
vor- und nachkanonischer Tradition anerkannte, so beweist der zeit-
liche Vorrang der mündlichen apostolischen Tradition vor ihrer
schriftlichen Niederlegung nichts für die Tradition an sich. Wir spre-
chen hier zunächst vom Ursprung der ersten christlichen Schriften,
dann von dem des Kanons.
In der Tat liegt die mündliche Tradition der Apostel zeitlich I vor
• Aus: 0. Cullrnmrn, Die Tradition als exegetisches, historisches und theologi-
sdles Problem, Zwingli-Verlag, Zürich 1954, S. 42-54.
(43/44] Festlegung des Kanons durch die Kirthe des 2. Jhs. 99

den ersten apostolischen Schriften und war sicher umfangreicher als


die schriftliche Tradition1• Was bedeutet aber die Tatsache, daß die
Apostel und ihre Wortführer diese mündliche Tradition zu einem ge-
wissen Zeitpunkte schriftlich festgelegt haben? Das ist ein für die
Heilsgeschichte höchst bedeutsames Geschehen. Sein Sinn kann nur
darin liegen, daß die mündliebe Tradition der Apostel fest umgrenzt
wurde, um in dieser Form zu einer endgültigen Norm für die Kirche
zu werden, zu einer Zeit, von der an die Kirche sich über die ganze
Welt verbreiten und bis zur Aufrichtung des Gottesreiches gebaut
werden sollte. Nimmt man an, daß die mündliche Tradition der Apo-
stel der Kirche als depositum anvertraut wurde, damit diese daraus
im Laufe der Zeiten gleichwertiges, normatives, in den apostolischen
Schriften nicht enthaltenes Gut gewinne, dann wird durch diese An-
nahme die Tatsache der Abfassung von Schriften durch Menschen,
welche die Kirche als "heilige Schriftsteller" bezeichnet, vollständig
entwertet. Die apostolischen Schriften werden in diesem Falle zu wohl
nützlichen, aber keineswegs mehr unentbehrlichen Werkzeugen her-
abgewürdigt. In Wirklichkeit ist die Theorie "geheimer", unge-
schriebener apostolischer Tradition, deren Gefährlichkeit die Kirche
selbst wahrgenommen hat, durch die Gnostiker geschaffen worden2 •
Wenn dagegen die schriftliche Niederlegung der apostolischen Bot-
schaft eine Grundtatsache der Inkarnation ist, haben wir das Recht
und die Pflicht, apostolische Tradition und die Schriften des Neuen
Testaments in eins zu sehen, beide dagegen von der nachaposto-
liscben, nachkanonischen Tradition zu scheiden. Wir !werden sehen,
daß die erst mündlieb überlieferteGlaubensregelnur darum als Norm
neben der Schrift angenommen wurde, weil man sie für apostolischen
Ursprungs hielt. Ob die apostolische Tradition mündlieb oder schrift-
lieb war, ist weniger gewichtig, als daß sie durch die Apostel festge-
legt wurde.
Hat nun die alte Kirche tatsächlich zwischen apostolischer und nach-
apostolischer Tradition unterschieden? Hier muß von der Einführung
1 Dies gebe ich G. Bavaud, &riture et Tradition selon M. Cullmann, Nova et
vetera 1953, S. 136, gerne zu, der hier an 2.Thess 2,15 ("Haltet die Oberlieferungen
fest, die ihr gelehrt worden seid, sei es durch ein Wort, sei es durch einen Brief")
erinnert und folgert, die Schrift sei nur ein Teil der Tradition.
1 G. Bavaud, op. cit., S. 137 f. erinnert mit Recht daran, daß die Aufgabe der
·Tradition nach katholischer Lehre nicht bloß in der Auslegung der Schrift besteht,
sondern auch in der Bestimmung dessen, was zum apostolischen depositum gehört,
das ja auch mündliche Oberlieferungen umfaßt (1.Tim 6,20; 2.Tim 1,14). Ich habe
diese Funktion der katholischen Tradition schon in meinem Aufsatz "1kriture et
Tradition", Dieu vivant Nr. 23, S. 47 ff. (58), berücksichtigt. Aber ich betone, daß
nur die Schrift und nicht die kirdillehe Tradition Norm sein kann bei der Fest-
stellung dessen, was apostolisches depositum ist (auch in Fragen von Riten und
Institutionen). Im Verständnis der Norm ist unser Gegensatz begründet.
100 OsKAR CULLMANN [44/45]

des Kanons durch die Kirche des 2. Jahrhunderts gesprochen werden.


Auch dies Ereignis ist von allergrößter Wichtigkeit für die Heilsge-
schichte. Ich bin durchaus einig mit der katholischen Theologie, daß
die Kirche selbst im Prinzip den Kanon geschaffen hat. Daraus ziehe
ich sogar das Hauptargument für meinen Beweis. Die Festlegung
des christlichen Schriftkanons zeigt an, daß die Kirche selbst zu be-
stimmter Zeit eine klare Scheidelinie zwischen der Zeit der Apostel
und der Zeit der Kirche, zwischen der Zeit der Grundlegung und der
Zeit des Aufbaus, zwischen der apostolischen Gemeinde und der
Kirdie der Bischöfe, kurz zwischen apostolischer und kirchlicher Tra-
dition gezogen hat. Dies Ereignis wäre sinnlos, wenn darin nicht die
Bedeutung der Kanonbildung läge.
Es ist gut, sich dazu die Lage zu vergegenwärtigen, in der die Kirdie
sidi gedrängt sah, den Kanonbegriff überhaupt zu denken. Wie wir
durch Papias erfahren, der ja eine Auslegung der Worte Jesu geschrie-
ben hat, besteht um das Jahr 150 noch eine mündliche Uberlieferung.
Er beruft sich selbst dabei auf die viva vox und schreibt ihr mehr Be-
deutung zu als den Schriften. Von Papias besitzen wir aber nicht nur
diese grundsätzliche Erklärung, sondern auch einige Beispiele für die
von ihm verwendete mündliche Uberlieferung, die uns deutlich zei-
gen, was wir von einer mündlichen Tradition um 150 zu halten ha-
ben! Sie ist durch und durch legendenhaft. Man kann sich bei der
Lektüre des Papiasfragmentes über Joseph Barsabbas, den nach Apg.
1,23 ff. nidit gewählten Kandidaten, davon überzeugen. Vor allem
aber sei erinnert an den obszönen und ganz legendären Bericht über
den Tod des Judas Ischariot.
Gegen 150 ist man eben trotz der noch verhältnismäßigen Nähe
zur apostolischen Zeit doch schon zu weit von ihr entfernt, als daß
die lebendige Tradition irgendwie Ursprünglichkeit gewährleisten I
konnte. Die mündlichen Uberlieferungen, die Papias wiedergibt, sind
in der Kirche geboren und wurden durch sie weitergegeben. Außer-
halb ihrer bestand ja kein Verlangen, die Strafe des Verräters in so
derben Farben zu schildern. Papias irrte also, wenn er die viva vox
wertmäßig über die geschriebenen Bücher stellte. Normativen Wert
hatte die mündliche Tradition zur Zeit der Apostel, der Augenzeugen,
nicht mehr aber um 150, nachdem sie von Mund zu Mund überliefert
worden war.
Die durch Papias erwähnten Oberlieferungen stehen nicht allein.
Aus der gleichen Zeit besitzen wir die ersten apokryphen Evangelien,
in denen andere mündliche Oberlieferungen verwertet sind. Es ge-
nügt, darin zu lesen, wie das Jesuskind lebendige Sperlinge erschuf,
Wasser in seiner Schürze trug, auf wunderhafte Art lästige Kamera-
den umbrachte, es genügt auch, in den zahlreichen apokryphen Apo-
[45/46] Festlegung des Kanons durch die Kirche des 2. Jhs. 101

steigeschichten zu blättern, um zu verstehen, daß die Tradition in der


Kirche die Wahrheit nicht mehr sichern konnte, auch wenn sie sich
auf eine Überlieferungskette stützte, auch wenn all diese Oberliefe-
rungendurch Ketten, die auf die Apostel zurückgehen sollten, gerecht-
fertigt wurden. Papias beruft sich ja ebenfalls darauf, wenn er er-
klärt, sich bei Männern erkundigt zu haben, die mit den Aposteln
noch in Berührung gestanden hatten. Das kirchliche Lehramt an sich
vermag die Reinheit des Evangeliums nicht zu wahren.
Durch die Einführung eines Kanonprinzips hat die Kirche aner-
kannt, daß von jetzt an die Tradition kein Wahrheitskriterium war.
Sie hat unter die apostolische Tradition einen Strich gesetzt und da-
mit erklärt, daß von jetzt an jede spätere Tradition durch die aposto-
lische überprüft werden müsse. Das besagt mit andern Worten: hier
ist die Tradition, welche die Kirche begründet und die sich ihr aufge-
drängt hat3 • Damit hat sie gewiß nicht der Fortentwicklung der Tra-
dition ein Ende setzen wollen. Aber sozusagen durch eine Tat der De-
mut hat sie jede aus ihr hervorgegangene spätere Tradition dem
Maßstab der in den Heiligen Schriften festgelegten apostolischen
Tradition unterstellt. Die Aufstellung eines Kanons kam der Er-
kenntnis gleich: I von nun an muß unsere kirchliche Tradition über-
wacht werden; dies wird sie- mit dem Beistand des Heiligen Geistes
-allein durch die schriftlich festgesetzte apostolische Tradition; denn
wir entfernen uns allmählich zu sehr von der Zeit der Apostel, um
über die Reinheit der Tradition ohne übergeordnete schriftliche Norm
wachen zu können; zu sehr, um zu vermeiden, daß leichte, legenden-
hafte und sonstige Entstellungen sich einschleichen, überliefert wer-
den und so an Umfang gewinnen. Doch dies bedeutete gleichzeitig
auch, daß die einzig als apostolisch geltende Tradition begrenzt wer-
den mußte; denn alle Gnostiker beriefen sich auf geheime, unge-
schriebene, angeblich apostolische Traditionen. Mit der Kanonbil-
dung war gesagt: wir verzichten von nun an darauf, die andern, von
den Aposteln nicht aufgeschriebenen Traditionen als Normen anzu-
erkennen; gewiß können andere ursprüngliche apostolische Tradi-
tionen bestehen, aber als apostolische Norm betrachten wir einzig,
was in diesen Büchern aufgeschrieben ist, da sich erwiesen hat, daß
mit der Aufnahme mündlicher, von den Aposteln nicht aufgeschrie-
bener Traditionen als Normen der Prüfstein dafür verloren geht, in-
wiefern zahlreiche verbreitete Traditionen mit Recht Apostolizität be-
anspruchen. Die Forderung, die im Kanon eingeschlossenen Schrif-
ten als Norm zu betrachten, schloß die Erkenntnis in sich, daß siege-
1 Dieser Punkt wird stark von K. Barth, Kirchliche Dogmatik I, 1, S. 109 ff., her·
vorgehoben, in seinem Gefolge auch von H. Diem, Das Problem des Schriftkanons,
Theol. Studien, Nr. 32, 1951.
102 OsJW\ CULI.MANN [40/47]

nügen. Das Lehramt der Kirche hat mit dem entscheidenden Akt der
Kanonbildung nicht abgedankt, hat aber seine zukünftige Tätigkeit
von dieser Norm abhängen lassen.
Die katholische Theologie gibt zwar zu, um einen Satz von J. Da-
nielou zu zitieren4 , "daß die Festlegung des Kanons den Ort bezeich-
net, wo die eigentliche Offenbarung aufhört, doch leugnet sie, daß
dies den Sitz der Autorität verlege und von der lebendigen Kirche auf
den geschriebenen Bumstaben übertrage". Wir werden aber auch
nicht behaupten, daß die Autorität von der Kirche auf den Buchstaben
übergegangen ist; denn vor der Kanonbildung gab es noch keine ei-
gentlime Lehrvollmacht, wie es das Wuchern apokrypher Traditio-
nen im Smoße der Kirdie beweist. Unter den zahlreichen christlimen
Schriften haben sich die den zukünftigen Kanon bildenden Bücher der
Kirche lediglich Idurch ihre innere apostolische Autorität aufgedrängt,
so wie sie sich noch heute uns aufdrängen, weil Christus, der Kyrios,
in ihnen spricht.
Indem die Kirche des 2. Jahrhunderts einen Kanon forderte (es
geht hier um das Prinzip, nicht um die endgültige Bildung des Ka-
nons), bat sie nicht nur im Blick auf die auftauchenden Gefahren, vor
allem gegenüber der Gnosis, Stellung genommen. Sie hat einen die
ganze Zukunft der Kirche verpflichtenden Entscheid getroffen. Sie hat
nicht für die andern, sondern für sich selbst eine Norm aufgestellt
und bat die Kirche aller Zeiten dieser Norm unterworfen. Ohne sich
ihres Lehramtes zu berauben, hat sie dieses klar umschrieben: wahres
Lehramt wird es nur insofern sein, als es seinen Ausgangspunkt in
einem Akt der Unterwerfung unter die kirchliche Norm des Kanons
nimmt. Aus dieser Unterwerfung allein gewinnt es seine Kraft. Der
Heilige Geist wirkt dann auch in dieser Unterwerfung. In diesem
Rahmen wird die Geisteingebung der Kirche immer gewährt werden.
Ist es jedoch erlaubt, der Bildung des Kanons solche Bedeutung für
die Heilsgeschichte zuzuschreiben? Wird damit nicht der Kirche des
2. Jahrhunderts, der ja der Kanongedanke entsprungen ist, eine
außergewöhnliche Würde beigelegt? Man wird anerkennen müssen,
daß dies ein für die Zeit der Kirche entscheidendes Geschehen war.
Um 150 war man einerseits noch nahe genug bei der Zeit der Apostel,
um mit Hilfe des Heiligen Geistes die mündlichen und schriftlichen
Oberlieferungen zu sichten. Anderseits hatte das erschreckende Wu-
chern gnostischer und legendärer Traditionen die Kirche für diese
Tat der Demut, für die Unterwerfung aller späteren Eingebung un-
ter eine Norm, reif gemacht. Zu keiner andern Zeit der Kirche hätte
die Kanonbildung vollzogen werden können. Damals hat Gott die
• J. Danielou, Reponse a Oscar Cullmann, Dieu vivant, Nr. 24, S. 107 ff. (109),
im folgenden zitiert: Dan.ielou, Rep.
[4-7/48] Fcstlegung des Kanons durch die Kirche des 2. Jhs. 103

Kirche dazu begnadigt, den Unterschied zwischen Inkarnationszeit


und Zeit der Kirche zu erkennen. Einzig die klare Unterscheidung
zwischen den beiden Zeiten kann der Kirche das hohe Bewußtsein
wahren, in der Heilsgeschichte ihren Ort, ihre Zeit zu haben. Sie hat
dies Bewußtsein insoweit, als sie erkennt, daß die Zeit Jesu und der
Apostel die Mitte aller Zeiten ist und allen Zeiten, auch der der Kir-
che, ihren eigentlichen Sinn gibt.
Durch die Schaffung einer Norm hat die Kirche verzichtet, ihre I
eigene Norm zu sein5 , da sie festgestellt hatte, daß ihr Lehramt ohne
eine überlegene schriftliche Norm die apostolische Tradition nicht rein
erhalten konnte. Ganz im Bewußtsein ihrer hohen Sendung, den Leib
Christi auf Erden in der Gegenwart darzustellen, also im Bewußtsein
der höchsten Sendung, hatte sie begriffen, daß sie ihr nur in der Un-
terwerfung unter die Norm des apostolischen Kanonstreu sein konnte.
Hätte die Kirche den Kanon mit der stillschweigenden Voraussetzung
geschaffen, daß ihm das Lehramt der Kirche, also die späteren Tra-
ditionen, als normative Autoritäten gleichgeordnet wären, dann hätte
die Bildung des Kanons keinen eigentlichen Sinn gehabt. Wenn das
Lehramt der Kirche nach wie vor der Schaffung des Kanons eine
gleichwertige, höhere Norm bliebe, könnte die Kirche selbst als letzte
Instanz stets aufs neue über die Obereinstimmung der Unterweisung
ihrer Lehrer mit der apostolischen Tradition urteilen. Die Kanonbil-
dung wäre somit überflüssig gewesen. Sie ist sinnvoll nur dann, wenn
die Kirche von da an in der Ausübung ihres Lehramtes sich dieser
übergeordneten Norm unterwirft und immer wieder zu ihr zurück-
kehrt. Ich wage sogar die paradoxe Behauptung, daß das Lehramt
der Kirche sich einer wirklichen Unfehlbarkeit wenigstens in dem
Maße nähert, als sie in der Unterwerfung unter den Kanon jeden An-
spruch auf Unfehlbarkeit aufgibt. Die durch die Kirche geschaffene
Tradition erhält für das Verständnis der göttlichen Offenbarung
einen wirklichen Wert in dem Maße, als sie sich nicht als unentbehr-
liches Transparent zwischen die Bibel und den Leser schiebt.
Der durch die Kirche des 2. Jahrhunderts gebildete Kanon umfaßt
nicht nur die Bücher der Apostel, sondern auch das Alte Testament.
Es konnte zunächst darum aufgenommen werden, weil man die Zeit
der Inkarnation als die Mitte der Zeiten erkannt hatte, als die Mitte
einer Heilsgeschidlte, die vor der Inkarnation beginnt und sich nach
ihr fortsetzt. Das Alte Testament ist in den Kanon aufgenommen
worden als Zeugnis für diejenige heilsgeschichtliche Zeit, die die
Fleischwerdung vorbereitet. So haben Jesus und die Apostel die Ge-
1 K. Barth, Kirchliche Dogmatik I, 1, S. 107, spricht dies auf seine Weise aus: "In
der ungeschriebenen Tradition ist die Kirche nicht angeredet, sondern im Gespräch
mit sich selbst begriffen."
104 ÜSKAR CULLMANN [48/50]

schichte Israels verstanden. Die I Kirche hat also damit den Aposteln
Treue bewiesen, daß sie dem Alten Testament in der apostolischen
Norm, im Kanon, einen Raum zugewiesen hat.
Damit drängt sich aber ein Einwand auf: wird die Geschichte des
alten Gottesvolkes normativ, wie sollte dies nicht auch für das neue
Gottesvolk, für die Kirche, zutreffen? Wird damit nicht die Zeit der
Vorbereitung auf die Fleischwerdung hin vor der Zeit ihrer Entfal-
tung, nämlich vor der Zeit der Kirche, bevorzugt?
Dieser Einwand ist in der Tat gegen mich erhoben worden8 • Da-
gegen ist daran zu erinnern, daß ja die Kanonbildung als Bestandteil
der Heilsgeschichte betrachtet werden muß. Die Festlegung dieser
Norm bedeutete gewiß nicht, entgegen der Ansicht vieler Protestan-
ten, die Heilsgeschichte stehe von nun an bis zur Wiederkehr Christi
still. Nein, das Volk des neuen Bundes ist im Gegenteil vor dem des
alten Bundes bevorzugt; denn es lebt bereits im neuen Aeon, obwohl
die Endvollendung noch aussteht. Der Heilige Geist, der sich im alten
Bunde nur in einigen Gottesmännem kundtat, ist von nun an allen
Gliedern der Kirche zugänglich; so wird in der Rede des Petrus (Apg.
2, 16 ff.) das Pfingstwunder durch die Joelweissagung ausgelegt: "In
den letzten Tagen werde ich ausgießen von meinem Geist über alles
Fleisch."
Damit ist ober noch nicht zugegeben, daß diese Zeit der Kirche
Norm wäre, trotz aller göttlichen Gnadengaben, die sie vor allem in
den Sakramenten besitzt. Dem oben erwähnten Einwand ist in erster
Linie entgegenzuhalten, daß die Voraussetzung, es habe im alten
Bunde ein unfehlbares Lehramt gegeben, nicht richtig ist. Man darf
Autorität des Alten Testamentes und unfehlbares Lehramt nicht ver-
wechseln1. Wohl gibt es schon im Volke Israel ein Wirken des Geistes,
aber kein unfehlbares Lehramt. Die Autorität des Alten Testaments,
das schon durch die Juden im wesentlichen als Kanon umgrenzt war,
hat sich der alten Kirche als ein Bestandteil der normativen Heilsge-
schichte in Christus aufgedrängt, ebenso wie sich ihr auch die Autori-
tät der einzelnen neutestamentlichen Bücher aufgedrängt hat. Die
Kirche hat dort die Gegenwart des Heiligen Geistes erkannt. Darum
betonen die alten I Glaubensbekenntnisse, daß er durch die Propheten
geredet hat. Das bedeutet mit anderen Worten: das Alte Testament
ist für die Kirche nur insoweit kanonisch, als es auf das Neue Testa-
ment hinzielt, d. h. als man annimmt, daß die Zeit der Inkarnation
auch für die ihr vorangehende normativ ist und so deren Auslegungs-
regel wird. Die apostolischen Schriften sind also nicht nur Norm für
• Durch J. Danielou, erst mündlich, dann in Rep., S. 111 ff.
7 Diese Verwechslung scheint mir Dan.ielous Einwand (Rep., S. 111 f.) zugnmde
zu liegen.
[50/51] Festlegung des Kanons durch die Kirche des 2. Jhs. 105
die nachapostolische, sondern auch für die vorapostolische Zeit. Be·
steht eine Entsprechung zwischen der kirchlichen Tradition und der
Schrift, dann nur zwischen der kirchlichen Tradition und dem Alten
Testament, die beide in den apostolischen Berichten des Neuen Testa·
mentes ihre Norm, ihren Kanon haben. Die Zeit der Kirche jedoch ist
nicht abgeschlossen, im Gegensatz zur Vorbereitung der Inkarnation
Christi in der Geschichte des Volkes Israel, die zur Zeit der Apostel
und der Kanonbildung abgeschlossen war.
Beweist dagegen nicht die Glaubensregel, daß die Tradition der
Kirche als Norm neben die Schrift tritt? Von Anfang an muß der Tat·
sachedie größte Beachtung geschenkt werden, daß zur gleichen Zeit,
nämlich gegen die Mitte des 2. Jahrhunderts, ilu wie dem Kanon nor·
mative Autorität zugeschrieben wurde. Durch irrige Vorstellungen
über die Tragweite gewisser Väteraussagen aus dem 2. Jahrhundert
verleitet, pflegen wir zu sehr, Glaubensregel und Kanon in Gegensatz
zu stellen, als ob die Glaubensregel die ununterbrochene Tradition
der Kirche bildete neben der abgeschlossenen Tradition, den Schrif·
ten der Apostel. In Wirklichkeit entsprach die endgültige Festlegung
der apostolischen Glaubensregel genau dem gleichen Bedürfnis wie
die Kanonisierung der apostolischen Schriften. Das Zeugnis der Apo·
stel ist nicht in ihr Credo und in ihre Schriften geschieden. Beides bil·
det ein Ganzes als apostolische Tradition im Gegensatz zur nachapo·
stolischen. Die apostolische Glaubensregel ist die Tradition, von der
die Väter des 2. Jahrhunderts reden8 • Ihre ursprüngliche Weitergabe
auf I mündlichem Wege ist weniger bedeutsam als die überzeugung,
daß ihr Wortlaut wie derjenige der kanonischen, neutestamentlichen
Schriften durch die Apostel festgelegt wurde. Nach der Oberzeugung
der Kirche des 2. Jahrhunderts handelt es sich nicht um eine geheime
Tradition, sondern um einen Text, der wie die neutestamentlichen
Bücher schon zur Zeit der Apostel feststand.
Dieses Credo war gleichermaßen eine apostolische Zusammenfas·
sung der neutestamentlichen Bücher, sozusagen eine apostolische
Auslegungsregel für alle unter sich so verschiedenen Bücher. Die Viel·
faltder apostolischen Schriften erforderte für die verschiedenen Be·
dürfnisse der Kirche9 eine kurze Zusammenfassung der ihnen ge·
meinsamen Wahrheiten. Um Auslegungsnorm zu sein, mußte dieses
1 Unter diesem Gesichtspunkte müßte man vor allem Irenäus studieren. übri-
gens müßte die vorliegende Arbeit durch eine Untersuchung über die Tradition in
der alten Dogmengeschichte ergänzt werden. Soeben ist das Problem in bezug auf
den Amtsgedanken im bedeutenden Werk von H. von Campenhausen, Kirchliches
Amt und geistliche Vollmacht in den ersten drei Jahrhunderten, 1953, S. 163 ff.,
behandelt worden.
1 Siehe 0. Cullmann, Die ersten christlichen Glaubensbekenntnisse, Aufl. 1949.
106 ÜSEAil CULLMANN (51/52]

Credo apostolisch sein. Wohl gab es hinsichtlich des genauenund end-


gültigen Wortlautes noch Schwankungen10, doch im großen waren
die verschiedenen Sätze schon in den Bekenntnissen aus der Mitte des
2. Jahrhunderts enthalten. Vor allem war damals das Prinzip einer
apostolischen Glaubensregel als Norm angenommen. Die Rückfüh-
rung eines jeden Satzes auf einen derZwölfeist eine Legende, drückt
aber die Wahrheit aus, daß den ältesten Bekenntnissen kürzere For-
meln zugrunde liegen, deren Text im apostolischen Zeitalter festge-
legt wurde und deren Spuren wir im Neuen Testament nachgewiesen
haben.
Ganz verschieden ist die Bedeutung der späteren kirchlichen Be-
kenntnisse, wie sie durch die Konzilien ausgearbeitet wurden. Diese
sind in dem Maße notwendig, als sie zu Fragen ihrer Zeit, Izu drohen-
den Häresien Stellung nehmen. Sie sind notwendig. Daher muß zu
jeder Zeit die Kirche ein Credo aufstellen. Nie jedoch können diese
späteren Bekenntnisse dem den Aposteln zugeschriebenen Bekenntnis
gleichgestellt werden; nie können sie für alle Zeiten gültige Normen
werden. Ich muß zwar auch hier wiederholen, was ich über die nach-
apostolischen Traditionen der Kirche gesagt habe. Sie haben ihre
große Bedeutung darin, daß sie unser Verständnis der apostolischen
Offenbarung leiten können, aber sie sind im Gegensatz zum soge-
nannten Apostolikum nicht wie dieses gleichsam eine letzte Seite, die
dem Neuen Testament angefügt werden könnte.
Ich komme also zur Folgerung, daß die von mir vollzogene Un-
terscheidung von apostolischer und nachapostolischer Tradition kei-
neswegs willkürlich ist, daß es vielmehr die Unterscheidung ist, welche
die Kirche im entscheidenden Augenblick, im 2. Jahrhundert, selbst
vollzogen hat, indem sie das Prinzip eines apostolischen Kanons und
einer apostolischen Zusammenfassung der Botschaft festgelegt hat.
"\!Vir könnten eine innere Bestätigung unserer bisherigen Darle-
gungen in der Entwicklung der Patristik fmden. Seit langem hat

11 Das habe ich schon in meinem Aufsatz in Dieu vivant, Nr. 23, S. 64, zugege-
ben, indem ich betonte, daß es nur um das Prinzip eines apostolischen Glaubensbe-
kenntnisses geht. Ich habe anderseits in meiner Arbeit über "die ersten christlichen
Glaubensbekenntnisse", 1949, die Beziehung zwischen den s<hon feststehenden
Formeln des Neuen Testamentes und dem zukünftigen Apostolikum näher be-
leuchtet. Deshalb kann ich den hier erhobenen Einwand Danielous, Rep., S. 115 f.
nicht recht begreifen. Selbstverständlich haben das Apostolikum und auch das alte
römische Symbol, aus dem jenes hervorgegangen ist, zur apostolischen Zeit noch
nicht bestanden. Doch sind ihr Prinzip und ihre wesentlichen Bestandteile schon in
den neutestamentlichen Formeln enthalten. Die Schwankungen gewisser Aussagen
besagen für unser Problem nicht mehr als die Jahrhunderte dauernde Auseinan-
dersetzung über die Aufnahme gewisser Bücher in den Kanon zur Zeit, da das Ka-
nonprinzip schon längst in Geltung stand.
[52/5~] Festlegung des Kanons durdt die Kin:he des 2. Jhs. 107
man festgestellt, daß mit Ausnahme der lgnatiusbriefe die Schriften
der sogenannten Apostolischen Väter (1. Klem.; 2. Klem.; Barnabas-
brief, Hirt des Hermas, Polykarpbrief), die nicht mehr dem aposto-
lischen Zeitalter, sondern dem beginnenden 2. Jahrhundert ange-
hören, trotz ihres theologischen Interesses sich vom Denken des Neuen
Testamentes beachtlich entfernen und in weitem Maße einem Mora-
lismus verfallen, der den für die apostolische Theologie so wichtigen
Begriff der Gnade, des erlösenden Todes Christi verkennt11 • Man hat
aum hervorgehoben, daß die Kirchenväter, die nach 150 geschrieben
haben, lrenäus und Tertullian, trotzihres zeitlim größeren Abstan-
des vom Neuen Testament den innem Gehalt des Evangeliums un-
vergleichlim besser erlaßt haben. Dieser smeinbar paradoxe Tatbe-
stand erklärt sim durchaus aus der für die Kirche so wichtigen Festle-
gung des Kanons als Norm aller Tradition. Die Apostolischen Väter
haben zu einer Zeit gesdtrieben, da die neutestamentlichen Schrif-
ten schon bestanden, Iaber noch nicht mit kanonischer Autorität verse-
hen, d. h. abgesondert waren. Sie verfügten demnach über keine Norm,
waren aber von der apostolischen Zeit zu weit entfernt, um unmittel-
bar aus der Quelle des Augenzeugnisses schöpfen zu können. Die Be-
gegnungen des Polykarp und des Papias mit apostolischen Persön-
lichkeiten konnten eine reine Obermittlung ursprünglicher Traditio-
nen nicht mehr gewährleisten: ihre literarische Hinterlassenschaft
beweist es.
Nach 150 war die Verbindung mit dem apostolischen Zeitalter
dank der Kanonbildung wieder hergestellt, dank der Ausscheidung
aller trüben, entstellenden Quellen. Es bestätigt sich hier, daß die
Kirche durch die Unterwerfung aller spätem Tradition unter den Ka-
non ein für allemal ihre apostolische Grundlage gerettet hat. Sie hat
es ihren Gliedern dadurch ermöglicht, stets aufs neue und zu allen
Zeiten das ursprüngliche apostolische Wort zu hören, ja noch mehr,
die Gegenwart Christi zu erfahren, ein Vorrecht, das keine durch
Polykarp oder Papias vermittelte mündliche Tradition ihr zusichern
konnte.
Wir haben gesehen, daß die Schrift ausgelegt werden muß. Die
Kirche soll sich für diese Auslegung verantwortlich fühlen. Sie muß
unter Umständen Stellung nehmen zu gewissen, von ihren Lebrem
oder von unabhängigen freien Forschern ihrer Zeit vorgeschlagenen
Bibelerklärungen. Dom ihre Verantwortlimkeit besteht in diesem
Falle darin, daß sie in der demütigen Unterwerfung unter die aposto-
lisme Norm des Kanons ein entscheidendes Wort spricht. Dies schließt
ein Doppeltes ein: daß sie erstens zukünftige Geschlemter nicht dazu
11 Siehe Th. F. Torrance, The Doctrine of Grace in the Apostolic Fathers, 1948.
108 ÜSJtAR Cuu.MANN [53/54)

anhält, für die Bibelauslegung vom Entscheid auszugehen, den sie


geben zu müssen glaubt, daß sie sich vielmehr an die überlegenheil
der Schrift als eines unmittelbaren Zeugnisses für die göttliche Offen-
barung erinnere als an eine Uberlegenheit über ihre eigene Ausle-
gung, die nur ein abgeleitetes, weil menschliches Zeugnis sein kann;
daß sie zweitens ihren Entscheid fälltangesichtsdes biblischen Textes
selbst und im Vertrauen auf das innere Zeugnis des Heiligen Gei-
stes, sich auf die Tradition bloß als auf eine untergeordnete Quelle,
als auf einen Wegweiser berufend, der uns insofern die Richtung
weisen I kann, als wir uns nicht über das apostolische Wort stellen und
als wir bereit bleiben, nötigenfalls auf ihn zu verzichten.
Empfinden wir es nicht immer wieder als eine Befreiung, wenn wir
nach dem Studium zahlreicher auch noch so vorzüglicher Kommen-
tare das biblische Wort selbst lesen, mit der gesunden Unbefangen-
heit des Katechumenen, der das erfahren will, was dieApostelgesehen
und gehört haben, und uns dabei bemühen, das in den Kommen-
taren Gelesene zu vergessen. Gewiß muß die Bibel ausgelegt werden;
denn ihre Urheber waren Kinder ihrer Zeit, und sie enthält deshalb
unvermeidliche, jeder menschlichen Rede, die göttliches Wort über-
setzen will, anhaftende Unvollkommenheiten. Aber ist es nicht Klein-
glaube, wegen des menschlichen Gepräges der durch die Apostel über-
lieferten Offenbarung w1d wegen unserer menschlichen Sd1wachheit,
die uns beim Lesen allen Irrtümern aussetzt, behaupten zu wollen,
wir könnten die apostolische Botschaft nur durch eine lange Vermitt-
lerkette hören, in der übrigens das Menschliche eine größere Rolle
spielt, da es sich nicht um Augenzeugen handelt? Zwar müssen wir
an das biblische Wort mit unseren philologischen Kenntnissen heran-
gehen und dem einfachen Leser, der nicht über sie verfügt, gewisse
Anleitungen geben. Aber damit der Exeget wie der einfache Leser
im 20. Jahrhundert die Stimme der Apostel und in ihr die des Kyrios
selbst hören können, müssen sie die Gewißheit haben (und sie weiter-
geben), daß die Augenzeugen auch in der Sprache ihrer Zeit zu uns
noch unmittelbar sprechen können, und zwar gerade wenn wir bereit
sind, uns vor ihr Wort zu stellen im Glauben an den Heiligen Geist,
der auf Vermittler verzichten kann.
HANs FRErnERR voN CAMPENHAUSEN

Die Entstehung des Neuen Testaments•

Der Gegenstand, den wir betrachten wollen, ist keinem ganz unbe-
kannt und manchem wohlvertraut: das Neue Testament. Ich möchte
davon reden, wie das Neue Testament zu einer grundlegenden und
maßgebenden Urkunde geworden ist, die neben und vor dem Alten
Testament von allen christlichen Kirchen als verbindlicher "Kanon",
d. h. als Richtschnur und Norm ihres Lebrens und Lebens anerkannt
ist. Nun ist die Geschichte der Entstehung der einzelnen neutesta-
men'tlichen Schriften, ihres Zusammenrückens und ihrer abschließen-
den Bestätigung im Rahmen unseres Neuen Testaments, aufs Ganze
gesehen, kein Problem mehr. Alle Einleitungen und Kanonsgeschich-
ten geben darüber Auskunft, und die noch offenen Fragen betreffen
fast nur Quisquilien, die für den Nicht-Fachmann ohne Interesse sind.
Ich werde diese Dinge hier also nach Möglichkeit beiseite lassen und
mich dort, wo ich sie berühren muß, auf das Allernotwendigste be-
schränken. Es ist eine andere Seite des Geschehens, die immer noch
zur Betrachtung reizt und, wie mir scheint, noch nicht zur Genüge er-
forscht ist: die Frage nach den Voraussetzungen und nach den in-
neren Gründen, den bewußten oder unbewußten Motiven und Ab-
sichten, die für das Zustandekommen des Neuen Testaments entschei-
dend wurden.
Wir wissen, daß heilige Bücher ein weit verbreitetes religionsge-
schichtliches Phänomen sind, und es liegt scheinbar nahe, auch das
Faktum unserer Bibel nach einem aUgemeinen Gesetz religiöser Ent-
wicklung zu verstehen, wonach auf die Zeit der ursprünglichen, sou-
veränen Bewegung des Glaubens die Zeit der ängstlichen Sicherung
und Erstarrung folgt, auf die Herrschaft des Geistes die Knechtschaft
des Buchstabens, auf die Führung durch schöpferische Persönlich-
keiten die Tyrannei der Schriftgelehrten und Theologen. Aber so ein-
fach liegen die Dinge in Wirklichkeit nicht. Der Aberglaube einer
allgemeingültigen Wirkung vermeintlicher historisch-psychologischer
Gesetzmäßigkeilen ist hier wie überall das sicherste Mittel, die Er-
kenntnis der wahren Zusammenhänge, des eigentlich geschimtlichen
• Vortrag bei der Jahresfeier der Universität Heidelberg am 22. November 1962,
erstmals veröffentlicht in: Heidelberger Jahrbücher VII, Springer-Verlag, Berlin-
Göttingen-Heidelberg 1963, S. 1-12.
110 HANs FJ\EIHEBR voN CAMPENHAUSEN [1/2]

Lebens einer Vergangenheit, die wir verstehen wollen, gerade zu ver-


decken. Wir wenden uns darum einfach und unmittelbar an die alten
Zeugnisse selbst: was hat die Begründung eines neutestamentlichen
Kanons nötig und möglich gemacht, und welch einen Sinn sahen die
Generationen, die ihn zustande brachten, in dieserneuen Schöpfung,
die bis auf diesen Tag gültig und wirksam geblieben ist? Ich be-
schränke mich allein auf die !bestimmenden Anfänge der Entwicklung
in der Überzeugung, daß die Gründe und Gedanken, die das Neue
Testament geschaffen haben, auch für seine weitere Geschichte und
für seine wirkliche Bedeutung nicht gleichgültig sein können, son-
dern maßgebend und bedeutsam bleiben.
Hätte man einen Christen um das Jahr Hundert gefragt, ob seine
Gemeinde ein heiliges und verbindliches Buch göttlicher Offenba-
rung besäße, so hätte er die Frage stolz und ohne Zögern bejaht: die
Kirche besaß solche Bücher, das "Gesetz und die Propheten", das
heute so genannte Alte Testament. Über hundert Jahre lang, noch um
die Mitte des zweiten Jahrhunderts bei Justin, erscheint das Alte Te-
stament als die einzige, maßgebende und völlig ausreichende heilige
Schrift der Kirche, auf die sich die Juden, die Christus ablehnen, dar-
um nur zu Unrecht berufen. Denn die Weissagungen dieses Buches
gehen auf diesen Herrn, Christus; er selbst redet klar und vernehm-
lich durch die alttestamentlichen Propheten und steht in der Flucht-
linie der ganzen bisherigen Heilsgeschichte, die er ans Ziel bringt.
Blickt man auf die allegorischen und rabbinisch-juristischen Ausle-
gungskünste des gleichzeitigen Judentums, so wirkt eine solche Be-
hauptung nicht mehr so abstrus, wie sie heute auf den ersten Blick
erscheinen mag; die Kurzschlüssigkeil des Beweisverfahrens entschei-
det jedenfalls noch nicht über das Recht des christlichen Anspruchs
gegenüber der Synagoge in der bis heute umkämpften Frage nach
der wahren geschichtlichen Kontinuität. Uns genügt hier die Feststel-
lung, daß damals kein Christ an dem erwiesenen Recht dieser christ-
lichen Anschauung auch nur im geringsten gezweifelt hat; daß zur
Sicherung über das Alte Testament hinaus weitere, schriftliche Ur-
kunden erwünscht oder erforderlich sein könnten, kam ihm nicht in
den Sinn.
Freilich, die selbstverständliche Voraussetzung war dabei, daß die
Geschichte Jesu, die sich, wie man sagte, in diesen Tagen und unter
uns, in aller Öffentlichkeit abgespielt hatte, nun auch bekannt gewor-
den und "aller Welt" zur Rettung verkündigt sei. Dies geschieht
durch die christliche Predigt, die jedermann hören kann und die für
jede einzelne Gemeinde im Mittelpunkt steht. Sie bewirkt als ein
unmittelbares, wesenhaft mündliches Zeugnis Umkehr und Verge-
bung und schafft im Namen und in der Vollmacht Jesu eine neue
[2/3) Die Entstehung des Neuen Testaments 111
Mensd:ilieit und Menschlichkeit im heiligen Geist der Kindschaft und
der Freiheit, der die Gegenwart des auferstandenen Herrn selber ist.
Der zeitliche Abstand, in dem man sich zu ihm als einer geschidlt-
lirhen Größe der Vergangenheit befmdet, wird dabei nidlt als we-
sentlich empfunden, da er durch die Botsdlaft und die "mitfolgenden
Zeidlen" seiner Herrschaft und Madlt durmaus überwunden ist. Es
ist dies eine Uberzeugung, die kein Jahrhundert der Kirdle aufgeben
kann, ohne sich selber aufzugeben; trotzdem steckt an dieser Stelle
ein Problem, das sich auf die Dauer nidlt übersehen läßt, sondern
ans Licht treten wird. Der Kanon des Neuen Testamentes ist schließ-
lich die Antwort auf die Fragen, die hier ihren Anfang nehmen.
Jesus Christus ist kein Mythos und keine bloße Idee; der Glaube
steht und fällt mit der Wirklichkeit seiner Geschichte und kann nur
von der Botschaft wahrhaft leben, die wirklidl ihn bezeugt und seine
unverwischbaren Züge trägt. Es ist aber eine unabänderlidle Gege-
benheit des geschidltlichen Lebens, daß es Traditionen, von denen
man zehrt, eben dadurch zugleich verwandelt und umbildet. Das
braucht weder Abfall noch Entfremdung zu bedeuten; aber weil es
dies, weil es Fälsdlung und Verirrung in der Kirchengeschichte sehr
wohl gibt, bleibt die Frage nach der inneren, sachlichen Oberemstim-
mung mit dem Ursprung wesentlich und im I Falle des Christusglau-
bens die lebenentscheidende Frage schlechthin. Wie soll sie sidl mit
Hilfe einer Oberlieferung beantworten lassen, die sich, selber nidlt
gesdlützt, mit der Kirche weiter und weiter von ihrem Ausgangs-
punkt entfernt, an dem sie doch gemessen werden soll? Es gibt da
nur ein Mittel: die unveränderte Bewahrung der Quellen, wie sie am
Anfang aus dem Geschehen selber geflossen sind. Der Glaube an eine
ewige Unmittelbarkeit des Vergangenen oder eine unfehlbare Be-
wahrung des Ursprungs wäre ohne sie nichts als eine hybride Utopie.
In den Anfängen der Kirdle lagen solche Erwägungen, wie gesagt,
noch fern; man erwartete ein baldiges Ende der Welt, man rechnete
noch nicht mit den Gefahren der zeitlichen Erstreckung und vertraute
sorglos auf die Kraft der lebendigen Wahrheit. Aber es wäre trotzdem
ein Irrtum zu meinen, daß man die Pflicht zur treuen und wörtlidlen
Bewahrung des Ursprünglichen gar nicht empfunden hätte. Damit
treten wir in die Vorgeschichte des christlidlen Kanons ein.
Zweifellos geht der Grundstock der Jesusworte und der Jesusge-
schichte, wie sie unsere Evangelien bieten, noch auf die Urgemeinde
und das frühe palästinensisdle Christentum zurück. Wieweit und mit
weidlern Maß von Treue und Zuverlässigkeit - darüber gehen die
Meinungen der Forsdler weit auseinander; denn wir sind hier ganz
auf Rückschlüsse und Kombinationen angewiesen. Sicher urteilen
können wir nur über den einen Mann der ersten Generation, von
112 HANs FnmERR voN CAMPENHAUSEN [3/4]

dem allein noch reiche und authentische Zeugnisse erhalten sind; das
ist der Apostel Paulus. Von Paulus wissen wir, daß er nach eigenem
Zeugnis bestimmte, geformte Texte über den Tod und die Aufer-
stehung Christi, über die Einsetzung des Abendmahls und vielleicht
noch weitere in seinem Sinne heilswesentliche Daten der Christus-
geschichte- obwohl selber Apostel- dennoch aus älterer Oberliefe-
rung "übernommen" und seinen Gemeinden förmlich weiter "über-
geben" hat, als festen, ökumenischen Besitz ursprünglich christlicher
Tradition. Diese Texte gelten ihrem sachlichen Gehalt nach als für
den Glauben grundlegend. Paulus fordert von seinen Gemeinden
ihre genaue Kenntnis und setzt sie auch außerhalb seines Missions-
bereiches als gegeben voraus. Er argumentiert mit ihnen, indem er sie
zitiert und von da aus weitergehende Folgerungen zieht, sei es prak-
tischer, sei es grundsätzlicher Art. Wir haben damit also schon das ty-
pische Verhältnis der sinngemäßen Anwendung und "Auslegung"
eines vorgegebenen, feststehenden Textes, der "kanonisch" ist. Aller-
dings ist der Text in diesem Falle noch kein schriftlicher Text- aber
dieser Unterschied spielt ja auch sonst grundsätzlich und praktisch
nicht die Rolle, die wir ihm heute zuzuschreiben gewohnt sind, und
gerade die christliche Oberlieferung ist gegen ihn so völlig gleichgül-
tig, daß wir den übergang von der mündlichen zur schriftlichen Uber-
lieferllllgsweise kawn jemals auch nur markiert finden. EnLscheidend
ist die feste Prägung, die geordnete Weitergabe und Kontrolle und
die unbestrittene, verpflichtende Autorität. Dazu käme noch das Mo-
ment der genauen Abgrenzung gegen weniger zuverlässige, "apo-
kryphe" Traditionen; aber Derartiges scheint Paulus noch nicht zu
kennen, und um so bedeutsamer ist der Nachdruck, den er dennoch
auf die Bewahrung der alten Traditionen legt. Wäre die Kirche in sei-
ner Bahn geblieben, so wäre sie wesentlich früher zu einem Kanon
der Christus-überlieferung gekommen, der wohl ärmer, dafür aber
im rein historischen Sinne zweifellos auch sicherer gewesen wäre als
unser heutiges Neues Testament.
Sie hat es nicht getan. Das zeigt nicht nur der Umstand, daß in der
Folgezeit alle ausdrücklichen Hinweise und Zitierungen, wie sie Pau-
lus bringt, völlig fehlen, sondern das beweist vor allem der Zustand,
in den die Überlieferung alsbald geraten ist und I in den apokryphen
wie in den später kanonisierten Evangelien heute noch vorliegt. Die
Abendmahlsberichte stimmen miteinander nicht mehr überein und
fehlen z. B. im Jobarmesevangelium vollständig, und gerade die Auf-
erstehung, auf deren ursprüngliche Bezeugung Paulus gepocht hatte,
erfährt unzählige, immer phantastischere Ausgestaltungen- von den
später einsetzenden Iegendarischen Geburtserzählungen nicht erst zu
reden. Derartiges wäre bei einer allgemeinen Normierung und text-
[4] Die Entstehung des Neuen Testaments 113

liehen Sicherung der Tradition niemals möglich gewesen. Aber der


Blick für die Gefahren dieser Entwicklung ist für das erste noch nicht
erwacht.
Die Ansätze zu einer Konsolidierung werden zunächst von einer
anderen Seite aufgenommen. Schon Paulus hatte einige Jesusworte
gekannt; er läßt sie in den erbaulich-mahnenden Partien seiner Briefe
einige Male - nicht sehr häufig - anklingen und beruft sich auf an-
dere als unbezweifelbare Autorität bei der Entscheidung moralisch-
rechtlicher Fragen. Aber sie enthalten für ihn offenbar nicht "das
Evangelium". Dieses ist für ihn, mit Luther zu reden, vielmehr "die
Historia von Christo, Gottes und Davids Sohn, gestorben und aufer-
standen und zum Herrn gesetzt". So hat Paulus die Jesusworte allem
Anschein nach auch nicht zur festen Überlieferung gezählt, in der er
seine Gemeinden unterweisen mußte, während er die großen Heils-
daten der Christusgeschichte mit solchem Nachdruck weitergibt und
gegebenenfalls wieder in Erinnerung ruft. Der spätere Katechume-
nenunterricht verfährt in dieser Hinsicht gerade umgekehrt. Er über-
läßt die Christuspredigt der freien Auslegung und Verkündigung;
aber die praktischen, das sittliche Leben der Gemeinde bestimmenden
Grundsätze macht er zum wesentlichen Inhalt der kirchlichen Unter-
weisung. Diese wird jetzt regelmäßig auch mit Jesusworten gestützt.
Auf die Dauer ist ein solcher Katechismus aber doch zu dürftig und
überdies auch nicht allgemein und nicht 1mveränderlich genug, um
sich als Ansgangspunkt einer kanonischen Entwicklung zu bewähren.
Darum bedeutete es einen gewaltigen Schritt vorwärts, als die Form
des Evangeliums gefunden war und schnell Verbreitung fand. Das
Markusevangelium faßt die beiden Ströme der Verkündigung, die
großen theologisch akzentuierten Hauptstücke des Lebens, Leidens
und der Auferstehung Jesu und eine Reihe seiner Worte und Erzäh·
Iungen zu einer neuen Einheit zusammen, die durchaus geeignet er-
scheint, die maßgebende, ein für alle Mal gültige Urkunde über die
Person und Geschichte des Herrn zu bleiben. Erst jetzt werden Jesu
Verkündigung und Jesu Schicksal als innere Einheit begriffen, so daß
sie sich gegenseitig auslegen und einer nur moralisierenden oder my-
thologisierenden Deutung entzogen sind.
Doch auch das Markusevangelium wird durchaus nicht allein maß-
gebend und "kanonisch", sondern die Entwicklung setzt sich unge-
hemmt weiter fort. Sowohl Matthäus wie Lukas gehen über Markus
alsbald hinaus, indem sie seinen Text überarbeiten und mit anderen,
teils gleichfalls alten, teils aber auch jüngeren Schriften oder überlie-
ferungskomplexen zusammenschließen und in ihrem Sinne interpre-
tieren. Das Johannesevangelium, das überhaupt auf anderen Grund-
lagen aufbaut und einen anderen Charakter trägt, betont sogar aus-
8 Käsemann, Kanon
114 liANs Fiumnuu\ voN CAMPENHAUSEN [4/5]
drücklieh nicht etwa die Endgültigkeit seiner Darstellung, sondern
vielmehr die Unerschöpflichkeit der Oberlieferung und gibt damit,
gewollt oder ungewollt, erst recht den Weg für neue Gestaltungen
und Umbildungen des überlieferten Gutes frei - die auch nicht aus-
bleiben.
Der einzige Evangelist, der sich über die Absicht und Bedeutung
seines Vorhabens selbst geäußert hat, ist Lukas, in der bekannten
Vorrede zu seinem Doppelwerk, mit der er das Evangelium eröffnet.
Es ist in unserem Zusammenhang nicht uninterlessant, daraus zu ent-
nehmen, wie er seine Aufgabe versteht. "Da sich nun schon viele da-
rangemacht haben", heißt es hier, "einen Bericht über die Dinge ab-
zufassen, die unter uns zur Erfüllung gekommen sind, entsprechend
dem, was uns die Männer überliefert haben, die von Beginn an Au-
genzeugen und Diener des Wortes waren, erschien es auch mir rich-
tig, von Anfang an allem sorgfältig nachzugehen und es genau und
zusammenhängend für dich, hochansehnlicher Theophilos, niederzu-
schreiben, damit du erkennst, daß die Lehre, in der du unterwiesen
bist, auf einem festen Grunde ruht."
Lukas hat also und kennt bereits Vorgänger; er unterläßt es, gegen
sie direkt zu polemisieren, aber sie haben ihn offenbar doch nicht recht
befriedigt. Er will etwas Vollständigeres und Besseres bieten als sie,
indem er weiter ausholt (sein Evangelium beginnt bekanntlich schon
mit der Gehurt Johannes des Täufers) und indem er die genau er-
mittelten Daten in die seiner Meinung nach zeitlich und sachlich rich-
tige Ordnung bringt. Erst so wird der gebildete, hochgestellte Adres-
sat deutlich erkennen können, daß der christliche Unterricht auf si-
cheren Grundlagen steht und volles Vertrauen verdient. Lukas gibt
sich also als kritisd:J.en Historiker, der die ältesten Nachrichten zusam-
menfaßt, wobei als Quelle in seinem Sinne vor allem an die "zwölf
Apostel" zu denken ist, die für ihn die berufenen Zeugen und Hü-
ter der ursprünglichen Christus-Tradition darstellen. Die betonte Bin-
dung an die älteste Uberlieferung, ohne die der Glaube haltlos und
"eitel" bliebe, erinnert an den Apostel Paulus; nur daß jetzt an die
Stelle der verpflichtenden "Ubernahme" und "Weitergabe" vielmehr
die methodische Prüfung und Sicherung durch historisches Erforschen
getreten sind. Und Lukas kann - anders als Paulus - für ein solches
nach eigener Initiative geschaffenes Werk natürlich auch keine sozu-
sagen kanonische Anerkennung beanspruchen, obschon er darin eine
die bisherigen Versuche überholende Leistung sieht und also wohl
auch hofft, daß sie sich durchsetzen und allgemeine Geltung erringen
werde.
Wie wenig dieses gelungen ist, wie weit von jeder kanonisd:J.en
Ordnung wir uns immer noch befmden, kann man beispielsweise aus
[5/6] Die Entstehung des Neuen Testaments 115

der kommentierenden Sammlung von Jesusworten und -geschichten


entnehmen, die schon im zweiten Jahrhundert ein gewisser Papias
veranstaltet hat. Auch Papias kennt natürlich evangelische Schriften;
aber weit davon entfernt, sich auf sie zu berufen, begibt er sich viel-
mehr aufs neue auf die Suche nach Jesus-Oberlieferungen, wobei er
gerade solchen den Vorzug gibt, die auf mündlichem Wege, sei es auf
die Apostel, sei es auf andere alte Zeugen, zurückgeführt werden.
"Ich werde mich's nicht verdrießen lassen", schreibt er in der Vor-
rede seines Werks, "dir mit den Auslegungen auch all das zusammen·
zustellen, was ich von den Alten gut gelernt und gut behalten habe,
und ich verbürge mich für dessen Wahrheit ... Denn das, was aus
Büchern stammt, scheint mir nicht so viel Nutzen zu bringen wie das,
was sich durch mündliche Rede lebendig erhalten hat"- ein Grund-
satz, dem wir auch sonst begegnen. Obgleich es also Evangelien gibt,
verschmäht man es, sie als bindendes Zeugnis zu benützen. Es ist
kein Zufall, daß man bis zu Irenäus, der um 180 nach Christus
schreibt, wohl Christusworten, aber keinem einzigen Zitat begegnet,
das eine bestimmte Schrift als solche ins Auge faßte. Kein Wunder,
wenn die Worte unter diesen Umständen schon bei Papias, wie Euse-
bios versichert, einigermaßen "mythologisch" wirkten und Zweifeln
an der Echtheit Raum gaben.
Wahrhaft gefährlich wird die Situation aber erst dort, wo man sich
nicht mehr damit begnügt, wirklich oder vermeintlich alte Oberlie-
ferungen zu sammeln und Iweiterzugeben, sondern wo man bei ihrer
Auswahl und Bearbeitung bewußt tendenziös verfährt und in theo-
logischer Absicht neue Oberlieferungen schafft. Solches konnte nicht
ausbleiben. Man führte die Texte dann gern auf "geheime" Beleh-
rungen zurück, die Jesus irgendeinem seiner Jünger- besonders nach
der Auferstehung - erteilt haben sollte, und die der kirchlichen
Offentliehkeil zunächst verborgen blieben. Schon Lukas scheint sich
gegen Derartiges zu kehren, wenn er Paulus in der Apostelgeschichte
Abschied nehmend erklären läßt, daß er bei seinem Verkündigen
nichts unterschlagen und seinen Gemeinden den "ganzen Ratschluß
Gottes" treulich dargeboten habe. Auch Papias sucht sich gegen die
fremden Lehren und Gebote abzugrenzen, die nicht "vom Herrn dem
Glauben gegeben sind noch von der Wahrheit selber herstammen".
Aber was war mit solchen allgemeinen Warnungen und Berufun-
gen auf die Uberlieferung, die alte Uberlieferung, die von Anfang an
und ein für allemal den Aposteln gegebene Oberlieferung zuletzt aus-
gerichtet, wenn diese selbst eine zwar nicht inhaltlose, aber doch
schwankende und nirgends klar begrenzte Größe blieb? Die Menge
der Lehrer und Irrlehrer, der Gruppen und Sekten zeigt, und die
immer lautere Klage der Polemiker bestätigt, daß die Lage gegen
116 HANs FREIHEI\R voN CAMPENHAUSEN [6/7]

Mitte des zweiten Jahrhunderts durchaus kritisch geworden war und


dringend nach Abhilfe verlangte, wenn der Name Christi noch etwas
bedeuten und das Christentum im religiösen Synkretismus der Zeit
nicht untergehen sollte. In dieser Situation kommt es zur Bildung
eines neutestamentlieben Kanons. Aber es ist ein weit verbreiteter
Irrtum zu meinen, er wäre darum aus den älteren Formen der Ver-
kündigung und Überlieferung allmählich wie von selber herausge-
wachsen. Am Anfang steht vielmehr die Tat eines bedeutenden Ein-
zelnen, eines lrrlehrers, der durch die Eigenart seiner Botschaft förm-
lich gezwungen war, ein solches "Instrument" zu suchen oder zu schaf-
fen: Markion; und erst im Gegenschlag gegen dessen Kanon und in
der Auseinandersetzung mit ihm entsteht dann auch in der Groß-
kirche verhältnismäßig schnell die Vorstellung und dann auch der
klare Umriß unseres heutigen "Neuen Testaments".
Wir haben gesehen, daß die Kirche bis dahin nur eine heilige
Schrift allgemein kannte und anerkannte, das waren "die Archive"
des Alten Testaments, wie es bei lgnatios von Antiocbien genannt
wird. Dies gilt nicht für die Großkirche allein, sondern auch für ihre
Sekten, nicht etwa nur die judenchristlichen, sondern - entgegen
einem immer noch verbreiteten Vorurteil- gerade auch für die soge-
nannten Gnostiker, nur daß diese im Alten Testament- fast wie die
"religionsgeschichtlich" eingestellten Theologen des neunzehnten
und zwanzigsten Jahrhunderts- verschiedene Stufen und Schichten
unterschieden, deren jeweiliges Recht von Christus her zu bestimmen
war. Markion war damals der einzige, der den für jene Zeit fast aben-
teuerlieben Mut fand, das Alte Testament radikal zu verwerfen.
Zwar hielt auch er es für ein göttliches Offenbarungsbuch; aber es war
der falsche, rachsüchtige Gott des Gesetzes und dieser Welt, der sieb
darin offenbart hatte, während der wahre, fremde und unbekannte
Gott der Sündenvergebung und Barmherzigkeit erst jetzt zur Welt
gekommen und in seinem Sohn bekannt geworden ist. Dieser besitzt
wieder nur einen einzigen echten Zeugen nnd Apostel, nämlich Pau-
lus, der sich selbst als solchen bezeichnet.
Damit stand Markion als Christ vor einer neuen, bis dahin uner-
hörten Situation: er hatte keine Bibel und er hatte auch keine verläß-
liche Überliefernng mehr; denn die christlichen Schriften, die er vor
sich hatte- bei Markion ist alles schriftlich, und eben darum konnte
er am allerwenigsten auf Urkunden verzichten- waren für I seine
Lehre nicht zu gebrauchen. Auch die Paulusbriefe und das pauli-
nische Evangelienbuch, das er hinter dem Lukasevangelium zu ent-
decken meinte, mußten also- dies war die Folgerung, die er zog-
von irgendwelchen Judaisten bösartig verfälscht sein, und er be-
schloß, sie von diesen Verfälschungen zu reinigen. Das geschah we-
(7] Die Entstehung des Neuen Testaments 117

sentli<h durch rücksichtslose Kürzung und Tilgung aller vermeint-


lichen Interpolationen, bis daß auf diese Weise ein Text zustande
kam, der der marcionitischen Theologie wenigstens annähernd ent-
sprach.
Dieses Verfahren wurde in einem besonderen Werk ausführlich
gerechtfertigt, und die so gewonnene Sammlung, ein grausam zuge-
richtetes Lukasevangelium und zehn nicht weniger verstümmelte
Paulusbriefe, wurde zum maßgebenden Kanon der marcionitiscben
Kirche erhoben, die schnell alle anderen Sekten überflügelte und
durd:t ihre äußere und innere Stärke die gefährlichste Rivalin gewor-
den ist, die der Großkirche im Lauf des gesamten Altertums erwach-
sen ist. In den Sekten des hohen Mittelalters hat sie noch darüber hin-
aus geistig nachgewirkt. Der wütendste Gegner des Alten Testa-
ments hat den ersten christlichen Kanon geschaffen, dessen Autorität
gerade darum so streng war, weil er unmittelbar an die Stelle der al-
ten Bibel trat, gleichzeitig aber auch alle älteren, freien christlichen
Oberlieferungen beiseite schob, von denen man gelebt und nach de-
nen man auch das Alte Testament bis dahin verstanden hatte.
Das Alte Testament und die freie Oberlieferung allein konnten
nun auch den rechtgläubigen Gemeinden nicht mehr genügen, wenn
es darum ging, die Behauptung zu widerlegen, daß das marcioni-
tiscbe Christentum das ursprüngliche Evangelium Jesu und Pauli
erneuert und urkundlich gesichert habe. Es kommt nun- in der zwei-
ten Hälfte des zweiten Jahrhunderts - zur fortschreitenden Konsoli-
dierung eines echten Neuen Testaments. Die einzelnen Etappen sei-
ner Ausformung sind hier nicht vorzuführen. Es genügt, die wesent-
lichen Züge hervorzuheben, durch die es von Markions Testament un-
terschieden und in der Unterscheidung zugleich doch auf eben dieses
feindliche Vorbild bezogen ist. Ich nehme um das Jahr 200, etwa
fünfzig Jahre nach Markion, meinen Standort ein, ohne die Quellen,
die nun reichlicher fließen, im einzelnen zu nennen und zu be-
spred:ten.
Schon der Name, der jetzt auftaucht, "das Neue Testament", ist
bezeichnend. Markions Kanon hatte natürlich so nichtheißen können;
denn er duldete ja kein Altes Testament. Aber die Zusammenfassung
der alten mit der neuen Schriftensammlung, die als solche selbst
schon ein kanonisches Prinzip der Kirche - xavoov lxxAT}OI.QO'tL~ -
genannt wird, bedeutet keine Vereinerleiung ihrer Aussagen. Beide
sind vielmehr als Weissagung und Erfüllung geschichtlich aufein-
ander bezogen, und so viele Fragen bei diesem dialektischen Verhält-
nis für das erste noch ungelöst bleiben mögen, das alte, mühselige
Verfahren, Christus allein auf Grund des Alten Testaments als Herrn
und Heiland zu erweisen, tritt jetzt zurück: man kann sich hierfür
118 HANs FREIHERR voN CAMPENHAUSEN (7/8)

unmittelbar und besser an das eindeutige Zeugnis des Neuen Testa-


mentes halten. Markion hatte aus dem Strom der überlieferten ur-
christlichen Zeugnisse ein einziges Evangelium herausgehoben und
willkürlich zugerichtet; die Kirdle stellte vielmehr vier ältere Evan-
gelien zusammen und erklärte sie zu gleichwertigen Zeugnissen der
ersten Verkündigung. Die Versuchung war freilich groß, nom einmal
den Weg des Lukas und Matthäus zu beschreiten und die verschie-
denen Schriften zu einem einzigen, umfassenden Evangelium zu ver-
einen. Wir hören aus dem zweiten Jahrhundert gleim von zwei Ver-
suchen dieser Art, und der eine, die Evangelienharmonie Tatians, hat
sich bei syrischen Christen bis ins fünfte Jahrhundert hinein als maß-
gebendes I Evangelium behauptet. Aber im ganzen konnte die Kirche
diesen Weg doch nicht mehr gehen: wie sollte sie den "Fälschungen"
Markions mit einer Urkunde begegnen, die sie ihrerseits erst erstellt
und neu eingeführt hatte? Markion hatte nur einen Apostel aner-
kannt und zum Garanten seines Bibelbuches erklärt, auf den er im
Kampf mit der gesamten sonstigen Oberlieferung unmöglich verzich-
ten konnte (es gibt vor Markion nicht den geringsten Ansatz zu einer
solchen Zusammenfügung evangelischer und apostolischer Schriften);
aber jetzt besitzt alsbald auch das katholische Neue Testament als
zweiten Teil eine Briefsammlung neben den Evangelien - nur daß
sie sich nicht auf Paulus allein beschränkt, sondern alles wnfaßt, was
an vermeintlich apostolischen Briefen noch irgend zu beschaffen war.
Wie Markions Sammlung soll auch diese jetzt im erweiterten Sinne
apostolisch, d. h. von Paulus und den zwölf Aposteln garantiert sein,
und zwischen Evangelium und Apostolos schiebt man die Apostelge-
schichte als willkommenes Verbindungsstück ein - die Geschichte
"aller" Apostel, wie sie bezeichnenderweise auch genannt wird.
Was diese neue Sammlung tatsächlich leistet, werden wir zum
Schluß noch kurz zu fragen haben. Zuvor müssen wir aber auf eine
letzte Schriftengruppe noch einen Blick werfen, die wir bis jetzt nicht
zu beachten brauchten: die ausgedehnte Gruppe der prophetisch-apo-
kalyptischen Literatur. Zwar schien die Kirche mit dem Erscheinen
und der Auferstehung Christi ans Ende der Zeiten gelangt zu sein,
und soweit sie in der Gegenwart der beginnenden Heilszeit und Er-
füllung steht, änderte darum auch die Prophetie ihren bisherigen
Charakter (wovon hier jetzt nicht zu reden ist); aber die letzte Erfül-
lung der Wiederkunft und des Gerichts Christi stand ja immer noch
aus, und im Blick auf diese Zukunft ist auch die Zukunftsweissagung
alten Stils in der Kirche lebendig geblieben.
Es gehört zum Wesen solcher Orakel, daß man sie wörtlich erhalten
muß, damit man die Zeichen der Zeit danach erkennen und die ein-
getretene Erfüllung sicher konstatieren kann. So ist die Offenbarung
[8/9] Die Entstehung des Neuen Testaments 119

Johannis mit ihren Zukunftsvisionen nicht zufällig das einzige Buch


im Neuen Testament, das als solches seine Beamtung und Bewahrung
fordert und jede Änderung seines heiligen Wortlauts mit schreck-
limen Flüchen bedroht. Trotzdem ist nichts verkehrter als die gele-
gentlich vertretene Meinung, von dieser Schrift und in dieser Gesin-
nung sei der Gedanke eines neutestamentlichen Kanons überhaupt
ausgegangen und auf die anderen Bücher übertragen worden. Pro-
phetisme Bücher stehen auf sich selber, und so weit man in den An-
fängen der Kirche sie überhaupt einzuordnen sucht, werden sie am
ehesten den alttestamentlichen Propheten angegliedert, deren Kreis
damals ja auch noch nimt fest geschlossen war und gerade von Chri-
sten vielfach interpoliert und erweitert wurde. Das konnte bei der
damaligen Schätzung des Alten Testamentes dem Ansehen der neuen
prophetischen Bücher natürlim durchaus keinen Abbrum tun. So wer-
den die Johannes-, die Hermas-, die Petrusapokalypse zunächst unbe-
denklich als Offenbarung genommen, in den Gemeinden vorgelesen
und geschätzt. Markion hatte in seinem Kanon nichts Derartiges ge-
boten, und eben darum war die Entwicklung nach dieser Seite hin
völlig offen geblieben.
Hier hat erst eine andere revolutionäre Bewegung, gleichfalls noch
im zweiten Jahrhundert, Wandel geschaffen - das war die "neue
Prophetie" des Phrygers Montanus, die die ganze Christenheit im
Namen einerneuen Geistesausgießung zu erwecken und zu reformie-
ren sumte. Die Montanisten selbst haben das Neue Testament der
Kirche alsbald übernommen und ihre eigenen Orakel gleichsam als
dritten I Teil daran angehängt. Die katholische Kirche aber hat den
Montanismus verworfen und mit der Verurteilung seines Enthu-
siasmus nunmehr alleneueren Weissagungen kritisch in Frage ge-
stellt. War ihr Kanon gegenüber Markion eine Erweiterung, so wirkte
der Montanismus vielmehr restriktiv. Einzig der Offenbarung Jo-
hannis, die nach Alter, Geist und Inhalt in der Tat eine Sonders~­
lung einnimmt, ist es am Ende doch noch gelungen, innerhalb des
Neuen Testamentes als "das prophetische Buch" einen Platz zu fin-
den -nach jahrhundertelangen Kämpfen und Auseinandersetzun-
gen und immer neuen Anfechtungen bis auf diesen Tag. Alle wei-
teren Apokalypsen werden nur gelegentlich zum Neuen Testament
gezählt und schließlich ausgeschieden, auch wenn sie nicht unbedingt
verurteilt sind und als ein geistlicher Lesestoff besonderer Art immer
wieder Freunde finden.
In dem Briefkanon gibt es bis ins vierte und fünfte Jahrhundert
hinein ebenfalls noch erhebtime Schwankungen und gelehrte Streitig-
keiten über die Zugehörigkeit, die durch den Humanismus und die
Reformation später z. T. wieder erweckt worden sind. Aberdiehaupt-
120 HANs FuiHEIU\ voN CAMPENHAUSEN [9/10]

sächlichen Entscheidungen sind doch alle schon gegen Ende des zwei-
ten und zu Beginn des dritten Jahrhunderts gefallen. Seitdem gibt es
die Idee und den wesentlichen Inhalt unseres Neuen Testaments. Wel-
ches ist nun der ursprüngliche Sinn dieser größten und zweifellos fol-
genreichsten Schöpfung- nicht des Urchristentums, aber der frühen
Kirchengeschichte und der Geschichte des Christentums überhaupt?
Das Neue Testament ist kein Buch, das die alte Kirche sich selbst
nach ihrem Bedürfnis gezimmert hätte. Es ist kein Gesetzbuch, kein
Katechismus und keine Dogmatik - das sind gewiß auch sehr nütz-
liche und mehr oder weniger unentbehrliche Dinge, die aber - nach
Umständen wechselnd - durchweg neben dem Neuen Testament
entstanden sind und es wohl voraussetzen, aber in dem, was es eigent-
lich ist, niemals ersetzen können. Das Neue Testament wollte ur-
sprünglich die Sammlung der echten und alten Zeugnisse sein, der
historischen wie der lehrhaften, aus denen man erfahren konnte, wer
und was der wirkliche und wahre Jesus Christus gewesen sei, so, wie
er gelebt und gelehrt hat, gekreuzigt und auferstanden ist, und so,
wie er als Gottes Tat zu glauben und im Glauben zu verstehen und zu
bewähren ist. Insofern ist dieses Buch im ernstesten Sinne historisch
gemeint. Aus diesem doppelten Anspruch, die historisch wie theolo-
gisch ursprüngliche Kenntnis und Erkenntnis Jesu zu vermitteln, er-
klärt sich ebenso die zeitliche Grenze wie die inhaltliche Weiträumig-
keit seiner Auswahl.
Erhebt das Neue Testament diesen Anspruch aber nun wirklich zu
Recht? Man muß die Antwort auf diese Frage differenzieren. Blickt
man auf die Absicht und die Möglichkeiten der Kirche, die das Neue
Testament sammelte und konstituierte, so kann man, wie mir scheint,
getrost versichern, daß eine bessere Auswahl nach Lage der Dinge
damals weder zu erwarten noch zu erreichen war. Es ist immer wieder
erstaunlich, mit wie sicherem Instinkt die Christen noch zu Beginn
des dritten Jahrhunderts das alte und wesentliche Material, soweit es
zu haben war, ergriffen und festgehalten haben. Es sieht nicht danach
aus, als wäre in jener Zeit irgendwie noch weiteres, altes Gut vorhan-
den gewesen, das die Kirche aus dogmatischen Gründen preisgegeben
und verschmäht hätte. Selbst den Galaterbrief, den vielleicht über-
haupt erst Markion wieder entdeckt und absichtsvoll an die Spitze
seiner paulinischen Briefsammlung gestellt hatte, hat sietrotzseines
im höchsten Maße unbequemen Inhalts nicht verworfen, sondern auf-
genommen und anerkannt.!
Das, was uns an apokryphen Evangelien und Briefen heute noch
erhalten ist, kann andererseits das Urteil über ihre tendenziöse
Fremdartigkeit und historische Minderwertigkeit, aufs Ganze gese-
hen, nur bestätigen. Man kann höchstens im entgegengesetzten Sinne
[10] Die Entstehung des Neuen Testaments 121

die Frage stellen, ob die antimarcionitische Kirche im Bestreben, in


ihrem Kanon eine möglichst breite Basis zu gewinnen, des Guten oder
vielmehr weniger Guten hier und da nicht zu viel getan und- durch
den Inhalt und durch apostolische Zuschreibungen getäuscht- Schrif-
ten aufgenommen hat, die besser draußen geblieben wären. Der
Zweite Petrushrief steht im Kanon, obgleich er eine sehr durchsich-
tige, bewußte Fälschung von zweifelhaftem Range darstellt, und die
schönen Sprüche und Lebensregeln des Jakobusbriefes haben selbst
den bloßen Namen Jesu so gut wie gar nicht erwähnt. Aber das sind
Randerscheinungen, über die sich im einzelnen streiten läßt, wie
schon die alte Kirche über solche Fragen gestritten hat. Für die Beur-
teilung des Neuen Testaments im Ganzen können sie nichtsdesto-
weniger beiseite bleiben.
Nun stößt man in kanongeschichtlichen Darstellungen freilich im-
mer wieder auf die Behauptung, die Aufnahme in den Kanon sei in
erster Linie gar nicht nach sachlichen Gesichtspunkten erfolgt, son-
dern entscheidend sei die vermeintliche - mit Ausnahme der paulini-
schen Briefe wohl durchweg nur vermeintliche - Abfassung durch
einen Apostel gewesen. Wenn das zuträfe, würde es unser Bild hin-
sichtlich des Ernsts und der Motive, die hier am Werke waren, erheb-
lich trüben. Aber diese gängige Vorstellung ist falsch, zum mindesten
sehr schief. Weder Markus noch Lukas waren Apostel - aber ihre
Evangelien stehen gleichwohl im Kanon mit unverkürzter Autorität.
Andererseits trugen das Petrusevangelium und die Petrusapokalypse
den Namen des vornehmsten Apostels; sie standen als Schriften des
Petrus z. T. bereits im kirchlichen Gebrauch- und wurden dennoch
verworfen. Der lange Streit um die Jobarmesoffenbarung oder um die
Kanonizität des Hebräerbriefes macht es vollends deutlich, wie wenig
in kritischen Fällen mit dem bloßen Namen eines Apostels entschie-
den war. Der apostolische Titel ist nicht die Voraussetzung, sondern
das Resultat einer Prüfung, die in erster Linie nicht nach formalen,
sondern nach sachlichen, sowohl historischen wie theologischen Ge-
sichtspunkten durchgeführt wurde - schlecht und recht mit den Mit-
teln, die die Wissenschaft von damals zu bieten hatte.
Eine wesentliche Rolle spielte bei diesen Entscheidungen vielfach
die Erwägung, ob eine Schrift schon seit langem in den Gemeinden
verbreitet war und gottesdienstlich verlesen wurde. Das ist kein blo-
ßes, übrigens unverächtliches Argument für das Alter eines solchen
Dokuments. Es liegt darin zugleich die Anerkennung seiner geistli-
chen Bewährung im praktischen Gebrauch, die gewiß nicht allein,
aber u. U. doch noch schwerer ins Gewicht fällt als die Vorliebe oder
die Antipathie gegenüber dieser oder jener theologischen Meinung,
Vorstellung oder Begrifflichkeit. Es liegt darin zugleich so etwas wie
122 HANs FJU!.IHEBR voN CAMPENHAUSEN [10/11]

eine ursprüngliche "Bestätigung" durch die Gemeinden selbst, wäh-


rend irgendwelche amtlichen Entscheidungen und Konzilsbeschlüsse,
wie sie seit dem vierten Jahrhundert gelegentlich vorkommen, für die
Entstehung des Kanons keine Rolle spielen. Das Wesentliche des Ka-
nons ist früher als seine abschließende Begrenzung durch das Kir-
chenrecht; seine einzelnen, durchaus nicht "kanonisch" gemeinten
Bücher sind früher als der Kanon selbst, und das ursprüngliche Chri-
stus-Zeugnis und Bekenntnis ist in gewissem Sinne sogar noch älter
als die Kirche, die dadurch geschaffen ist und die daraus lebt. I
Aber - und damit kommen wir zur zweiten wichtigeren und
schwierigeren Seite des Problems: kann der Kanon, so wie er nun vor-
liegt, das Ziel, das er sich gesteckt hat, wirklich erfüllen? Ist er eine
ausreichende Quelle, um die Geschichte, die Gestalt und die ursprüng-
liche Bedeutung Jesu, um die es ihm und uns geht, wahrhaft erkenn-
bar zu machen? Es braucht nach dem Gesagten nicht ausgeführt zu
werden, daß von einer exakten historischen Zuverlässigkeit der Da-
ten, Worte und Angaben in vielen Fällen keine Rede sein kann, und
auch die Anschauungen und Theologien, die das Neue Testament
enthält, sind keineswegs miteinander ohne weiteres identisch. Aber
dies versteht sich beinahe von selbst. Wie sollen überlieferungen, die
so lange sich selbst oder vielmehr dem intensiven Gebrauch verschie-
dener Gemeinden überlassen waren, welche mit und von ihnen leb-
ten, vor äußeren Erweiterungen, Verschiebungen und Verwandlun-
gen einfach bewahrt geblieben sein? Wie sollen Schriften, die im
Laufe eines Jahrhunderts in ganz verschiedener Blickrichtung und
Situation entstanden sind, die Akzente dennoch gleichmäßig setzen
und das Wesentliche ihres Christus-Glaubens in immer gleicher Wei-
se wiederholen? Wäre es so, so hätte der christliche Glaube damals
nicht gelebt oder die sauber zusammenstimmenden Berichte und Ge-
danken wären kein Zeichen der wahren Ursprünglichkeit, sondern
der nachträglichen Glättung und Redaktion, der ebenso wenig zu ent-
nehmen und zu trauen wäre wie den abgesprochenen Aussagen un-
redlicher Zeugen bei einem Verhör.
Die Frage nach der Glaubwürdigkeit des Neuen Testamentes muß
solange ohne befriedigende Antwort bleiben, wie man es nur als
Sammlung mehr oder weniger sicherer Daten und Lehrsätze ansieht
und nicht als das geschichtlich entfaltete Zeugnis von einer Person
und Wirklichkeit versteht, deren Worte und Taten zwar nicht mehr
einzeln zu rekonstruieren, deren Wille, Schicksal und Bedeutung aber
noch immer aus ihrer ersten Überlieferung, ihrer ursprünglichen
Wirkung und aus dem antwortenden Widerhall zu begreifen sind.
Die Frage, die sich verständigerweise allein stellen läßt, ist die, ob die
spannungsreiche Mannigfaltigkeit des Neuen Testaments eine Wirk-
[11/12] Die Entstehung des Neuen Testaments 123
lichkeit offenbart und einen Geist atmet, die dann- dieser Schluß ist
für mich unabweisbar- auf ein und denselben Ursprung und Herrn
zurückweisen, so daß er in dem, was er wirklich war, bedeutet und ist,
noch immer gehört, verstanden und bejaht werden kann.
Wenn die Schriften unseres Neuen Testaments diesen Dienst heute
noch leisten, braucht die Vielfältigkeit ihres Zeugnisses nicht mehr
zu erschrecken, sie wird vielmehr zu einem Reichtum, den der, der ihn
versteht, niemals missen möchte; denn es ist dann- um noch einmal
einem Christen unserer frühen Zeit das Wort zu geben- doch immer
nur "der eine anfängliche Geist, der in allen Evangelien alles verkün-
det". Aber diese geistige Einheit ist allerdings nicht ein für alle Mal
und nicht auf den ersten Blick zu haben; sie ist nicht mit einer be-
stimmten theologischen Formel oder einem Grundgedanken iden-
tisch, wie man ihn als "Kanon im Kanon" zu bezeichnen liebt. Diese
geschichtliche Einheit muß gesucht werden, soll sie sich finden lassen,
d. h. sie erfordert ganze Arbeit und ganze, immer neue Hingabe.
Es läßt sich, meine ich, nun nicht bestreiten, daß die Christen der
alten Kirche und aller Zeiten den einen Sinn im Neuen Testament
ernsthaft gesucht und daß sie ihn hier- je auf ihre Weise und gewiß
auch je in ihrenGrenzen-immerwiedergefundenhaben. UnsereZeit
und unsere Theologie haben darum gewiß keine Veranlassung, sich
hochmütig über sie und damit über ihre eigene Vergangenheit zu er-
heben. Aber es ist freilich ebenso klar, daß die ungezählten Probleme,
die das Neue Testament dem I Fragenden bietet, sich heute anders
stellen als vor grauen Zeiten und darum anders, d. h. nicht ohne die
Hilfe einer kritischen Wissenschaft, bewältigen lassen, die die ge-
schichtliche Besonderheit der Urkunden bewußt untersucht und be-
stimmt. Schließlich hat die alte Kirche selbst damit ja schon den An-
fang gemacht. Diese kritische Bemühung ist nicht bloß eine unum-
gängliche Forderung geistiger Wahrhaftigkeit; sie ist vielmehr selbst
eine Förderung auf dem Wege, den uns das Neue Testament weist,
zurück zum Ursprung unserer Geschichte und zum verborgenen
Herrn der Schrift, den sie allein für alle Zeiten bezeugt. Glaube und
Wissenschaft gehören an dieser Stelle also zusammen, und je ernster
sie sich verstehen, um so weniger sind sie zu scheiden. Gewiß, es wa-
ren nicht die geringsten Gelehrten und nicht die schlechtesten Gläu-
bigen, die Recht und Möglichkeit dieses Bundes bezweifelt haben,
und wer wollte bestreiten, daß Irrtümer und Verfehlungen ihnen auf
beiden Seiten oft genug recht zu geben scheinen! Aber daß dieser
Bund angesichts der Bibel trotzdem glaubhaft und wirklich bleibe -
dazu gibt es die theologische Wissenschaft, und das ist im Rahmen
unserer Universität die besondere Aufgabe einer evangelisch-theolo-
gischen Fakultät.
ERNST KÄSEMANN

Begründet der neutestamentliche Kanon


die Einheit der Kirche?*

Die Frage, ob der nt.liche Kanon die Einheit der Kirche begründe,
muß um der Variabilität der Verkündigung im NT willenvom Hi-
storiker verneint werden. Der Beweis für diese Behauptung kann im
Rahmen eines Vortrags nur entwurfartig, also unter Beschränkung
auf einfache Tatsachen und wenige Beispiele, geführt werden.
1. Es ist ein theologisches Problem, daß der Kanon uns vier Evange-
lien statt eines einzigen bietet und selbst die ersten drei in ihrer Ord-
nung, Auswahl und Darstellung erheblich divergieren. Natürlich
spielen die Verschiedenheit der jeweils benutzten Tradition und die
Eigenart der Evangelisten dabei eine Rolle. Doch kann nur allzu
vordergründige Betrachtungsweise, welche die Evangelien primär als
Tatsachenberichte versteht und ihren Verkündigungscharakter letzt-
lich ausschaltet, sich mit dieser Erklärung begnügen. Läßt sich doch
mit Sicherheit feststellen, daß kein Evangelist den historischen Jesus
selber gekannt hat. Für jeden von ihnen stand paradox ausgedrückt
der erhöhte und geglaubte Kyrios vor dem incarnatus auf dem Plan
und bestimmte den Aspekt, unter dem sie je auf ihre Weise den in-
camatus sahen. Dabei gehören alle der hellenistischen Gemeinde an.
Matthäus und Lukas setzen gemeinsam Markus und eine von uns
gewöhnlich als Logienquelle bezeichnete Vorlage, alle drei eine schon
vorhandene Passions-und Ostergeschichte voraus. Johannes benutzt I
zum mindesten eine verwilderte synoptische Überlieferung. Zeitlich
stehen sie alle nicht in solchem Abstand, daß erhebliche Differenzen
von da unvermeidbar würden. Gleichwohl folgen sie sämtlich einer
andem Tendenz. Schematisch formuliert: Zeigt Markus mit seinen
vielen Wundergeschichten die geheime Epiphanie dessen, der zu
Ostern seine volle Glorie erhält, so Matthäus den Bringer der messia-
nischen Thora, Johannes den Christus praesens, während Lukas hi-
storisierend und die Heilsgeschichte als Entwicklungsprozeß schil-
• Vortrag, gehalten am 20. Juni 1951 in der ökumenischen Vorlesungsreihe der
Theologischen Fakultät zu Göttingen, in: E. Käsemann, Exegetische Versuche und
Besinnungen I, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1960, S. 214-223 (Erstyeröf-
fentlichung in: EvTheol11, 1951/52, S. 13--21).
[215/216] Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche? 125

demd zum ersten Male ein sogenanntes Leben Jesu schreibt. Ein an-
deres Beispiel: Kein hellenistischer Christ hat je daran gezweifelt, daß
Jesus das Gottessohnprädikat in metaphysischem Sinn gebühre. Mar-
kus läßt in seiner Taufgeschichte zwar noch erkennen, daß eine äl-
tere Gemeindeanschauung wie in Röm. 1, 4; Apg. 2, 56; Hehr. 1, 5
eine adoptianische Christologie vertrat und die Taufe als Messias-
weihe verstand. Doch hat er selbst diese Anschauung bereits verwischt
und Jesus durchgängig in den Farben des hellenistischen theios an-
thropos gezeichnet. Die beiden andem Synoptiker sprechen schon
von der göttlichen Erzeugung Jesu, wobei Matthäus den Messias als
zweiten Moses und Retter des eschatologischen Gottesvolkes, Lukas
das göttliche Kind im Rückgriff auf den hellenistischen Mythos wie
die 4. Ekloge Vergils als Weltheiland darstellt. Im 4. Evangelium er-
scheint endlich auch das Motiv der Jungfrauengeburt für den unan-
gemessen, der als Logos vom Anfang an bei dem Vater und mit die-
sem eins ist, darum allein Offenbarer sein kann. Das allen gemein-
same Bekenntnis zur Gottessohnschaft Jesu wird also mit Hilfe einer
jeweils der Umwelt entnommenen Anschauung verschieden expliziert.
Ein theologischer Aspekt läßt in unsem Evangelien den incamatus
modifiziert verkündigen.
Weil es sich so verhält, können die Evangelisten einander auch
recht unbefangen kritisieren. Markus tat es schon der Quelle seiner
Taufgeschichte gegenüber, deren Christologie er nicht mehr tragbar
fand. Seine Nachfolger haben es nicht anders gehalten. Matthäus
nimmt z. B. Anstoß an der drastischen Weise, mit welcher Mk. 5, 27
ff. die Heilung der Blutflüssigen erzählte. Daß die Gewandung des
Wundermannes göttliche Kraft mitteilt, die bei Berührung über-
springt und zu heilen vermag, ist eine vulgär hellenistische Vorstel-
lung, die genauso im Bericht vom heilenden Petrussehatten und den
wunderwirkenden Schweißtüchlein des Paulus Apg. 5, 15; 19, 12 er-
scheint und später den Reliquenkult bestimmt. Matthäus korrigiert
diese grob magische Anschauung, indem er die Heilung nicht mehr
durch die Berührung des Gewandes als solche, sondern durch Jesu
Machtwort erfolgen läßt. Er reduziert überhaupt die breite Ausma-
lung der Wundergeschichten bei Markus, in der sich novellistische Er-
zählerfreude bekundet und selbst Motive profaner Erzählungstechnik
angeschlagen I werden, aufs äußerste, um die geheimnisvolle Hoheit
Jesu stärker herauszustellen. Zweifellos bewußt läßt Lukas die Ver-
wünschung des Petrus durch Jesus in Mk. 8, 33 aus, weil sie ihm un-
erträglich ist. Er hat ja anders als die übrigen Evangelien die Beru-
fung des Petrus zum Gegenstand einer eigenen Wundergeschichte
gemacht und dabei wie anderswo die weiteren Apostel in den Schat-
ten des Apostelfürsten gerückt, der für ihn der Repräsentant des kirch-
126 [216/217]

liehen Amtes ist. Ganz klar gestaltet Dogmatik den Aufriß des 4.
Evangeliums. Deshalb geht den beiden ersten Teilen in Kap. 2 und
15 eine symbolische Einleitung voraus. Die Hochzeit zu Kana und die
höchst eigenwillig an den Anfang gezogene Tempelreinigung charak-
terisieren Jesus als der Welt Heil und Krisis, die Fußwaschung illu-
striert, daß die vom Kosmos gehaßten Jünger in göttlicher Agape
stehen. So hat der Evangelist auch den aus den Synoptikern bekannten
Traditionsstoff durchweg als Anschauungsmaterial für die eigene
Verkündigung verwertet und ihm damit die Selbständigkeit genom-
men. Zeigt sich das bei den Wundergeschichten besonders deutlich,
so meldet sich dort zugleich am schärfsten johanneische Kritik gegen-
über traditionell kirchlicher Betrachtungsweise: Ihr gelten die Wun-
der Jesu als Symbole, die in 4, 48; 6, 26; 20, 29 ausdrücklich einer
christlich geläufigen Deutung als Glaubenslegitimation entzogen wer-
den. Solcher Nachweis läßt sich unabsehbar weiterführen und selbst
auf Stellen ausdehnen, in denen ein gleiches Wort durch einen andem
Zusammenhang eine andere Interpretation erfährt. Wir können aus
dem Gesagten bereits jetzt die Folgerung ziehen, daß die Differenzen
in unsem Evangelien und sogar die abweichende Auswahl des über-
lieferungsstoffessich weithin aus der verschiedenen theologisch-dog-
matischen Haltung der Evangelisten erklären.
2. Der Kanon erzeugt die gängige kirchliche und von theologischer
Systematik oft geförderte Meinung, daß das NT uns ein einiger-
maßen ausreichendes Bild von Geschichte und Verkündigung der Ur-
christenheit gewähre. Tatsächlich wissen wir davon unverhältnis-
mäßig mehr als von den meisten andem Dingen der Antike, weil die
Kirche ihre Tradition sorgfältig erhalten und weitergegeben hat. Doch
sollte uns das den fragmentarischen Charakter auch dieses Wissens
nicht vergessen lassen. Wir stoßen darauf besonders eindrücklich bei
dem Versuch, die authentische Jesusüberlieferung aus dem NT zu
eruieren. So gewiß man sagen darf, daß die große Masse dieser Ober-
lieferung uns nicht den historischen Jesus gewahren läßt, so erlauben
uns alle noch so vervollkommneten Methoden historischer Wissen-
schaft an diesem Punkte nur ein mehr oder minder zutreffendes
Wahrscheinlichkeitsurteil, wie man aus den vielen höchst disparaten
Darstellungen des Lebens und der Botschaft Jesu und der großartigen
Geschichte der Leben-Jesu-Forschung von A. Schweitzer erkennen
kann. Die notJwendige Rekonstruktion wird uns paradoxerweise gera-
de nicht dadurch erschwert, muß aber dadurch zuweilen fast aussichts-
los erscheinen, daß uns nicht zu wenig, sondern daß uns zu viel überlie-
fert wurde. Die urchristliche Gemeinde hat ja nicht wie wir zwischen
dem historischen und dem erhöhten Herrn unterschieden. Palästinische
wie hellenistische Prophetie sprachen im Namen des Erhöhten, was
[217/218] Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche? 127

die Jobarmesapokalypse uns noch zeigt. Diese zum großen Teil im


Ich-Stil gehaltenen Sprüche sind im Laufe der Tradition mit den
Worten des historischen Jesus vermengt und diesem zugeschrieben
worden, eben weil es der Urchristenheit nicht wie uns auf den Zeit-
punkt ihrer Entstehung, sondern auf den sich hier wie dort offen-
barenden Geist des Kyrios ankam. Wir können solchem Faktum nicht
gleich unbefangen gegenüberstehen, sondern müssen kritisch schei-
den. Denn die Inspiration des Propheten hebt ja nicht auf, daß er je-
weils in den Ausdrucksmöglichkeiten seiner Zeit und also auch in
ihren theologischen Vorstellungen sprach. Die uns erhaltene Jesus-
Uberlieferung läßt sich deshalb nicht auf einen einzigen Nenner brin-
gen. Die formgeschichtliche Arbeit hat gezeigt, daß es um den Er-
zählungsstoff nicht anders steht als um die Sprüche, und daß die
Rahmenstücke der Perikopen fast durchweg der Komposition der
Evangelisten angehören und der Einzeltradition gleichsam als Ge-
rippe Halt bieten. Nivellierung wird den historischen Sachverhalten
also nicht gerecht, so sehr der Kanon als solcher dazu verlockt. Exe-
gese vollzieht sich immer in der Nuancierung.
Mit dieser Erkenntnis verbindet sich sehr eng eine andere. Wir
meinen gewöhnlich und werden darin wieder durch die Kanonisie-
rung der nt.lichen Schriften, die gängige kirchliche Anschauung und
nicht selten durch die systematische Theologie bestärkt, daß wir im
NT in sich ruhende Aussagen vor uns hätten, so daß es als Summe
von dicta probantia verstanden werden könne. Damit wird dann der
Gesprächscharakter der meisten nt.lichen Aussagen verkannt. In
ihnen geht es ja um Antworten auf konkrete Fragen, Abwehr be-
stimmter Irrtümer, Mahnung und Tröstung konkreter Menschen, sie
setzen bestimmte Prämissen voraus und lassen mancherlei Konse-
quenzen zu. Die Exegese leidet nun darunter, daß wir im allgemeinen
den Gesprächspartner oder Gegner nur durch die Brille des Spre-
chenden zu Gesicht bekommen und dadurch zu einseitigen Urteilen
und voreiligen Schlüssen verführt werden. Einige Beispiele mögen
das wieder veranschaulichen: Hat Petrus auf die paulinischen An-
klagen in Antiochien nicht zu erwidern vermocht und ihnen recht ge-
geben oder sind die Kontrahenten in offenem Konflikt geschieden?
Welche Folgerungen hat der mitangeklagte Bamabas aus dem Streit
gezogen? Lukas weiß noch um das Problem, begründet und verdeckt
aber hier wie sonst sachliche Gegensätze mit persönJichen Meinungs-
lverschiedenheiten. Warum scheint Antiochien seit diesem Konflikt
für Paulus nicht mehr vorhanden zu sein? Was läßt die meisten pau-
linischen Gemeinden schon ein Menschenalter später in andere Füh-
rungsgewalt geraten? Was mag es um Apollos gewesen sein, auf den
die korinthischen Enthusiasten sich doch wohl berufen? Mit welchem
128 ERNST KÄsEMANN [218/219]

Recht konnten sie es tun? Wer sind die Neider, welche zur Abfas-
sungszeit des Philipperbriefes die Gefangenschaft des Paulus gegen
den Apostel ausnützen? Wie fragwürdig muß seine Autorität zu sei-
nen Lebzeiten gewesen sein, wenn man das wagen konnte! Wie kam
es zur Ablösung des Petrus durch Jakobus in der Urgemeinde, mit der
sich gleichzeitig das Ende des palästinischen Enthusiasmus und das
Aufkommen eines christlichen Rabbinates ereignet zu haben scheint?
Welche Lehrunterschiede trennten die Palästiner und Hellenisten,
von denen Apg. 6 berichtet? Nur Lehrunterschiede begründen doch,
daß die letzten sich in Jerusalem nicht halten konnten, während die
gesetzesstrenge Richtung zum mindesten 15 Jahre lang relativ unan-
gefochten blieb. Aus welchem Milieu erwächst die rätselhafte Erschei-
nung des 4. Evangeliums oder auch des Jakobusbriefes? Diese belie-
big zu vermehrende Fragenkette zeigt, daß das NT eine unabsehbare
Fülle von ungelösten und teilweise wohl unlösbaren historischen und
theologischen Problemen enthält. Aus ihm sprechen eben nur die-
jenigen zu uns, die zu schreiben vermochten und genötigt waren, und
deren Schreiben aus irgendwelchen Gründen die spätere Kirche zu
bewahren für gut befand. Aber sie bilden eine verschwindende Mi-
norität den vielen gegenüber, welche die Botschaft weitertrugen, ohne
einen schriftlichen Niederschlag und damit ein bleibendes Gedächtnis
zu hinterlassen. Was berechtigt uns zu der Annahme, daß diese vielen
nichts anderes zu sagen wußten und gesagt haben als die Schriftsteller
des NT? Gelegentlich gewahren wir aus einem Echo auf ihre Stimme
das Gegenteil, das doch schon aus der Mannigfaltigkeit des NT selber
wahrscheinlich wird. Das heißt jedoch, daß uns im Kanon nur Fetzen
des in der Urchristenheit geführten Gesprächs erhalten geblieben
sind und daß die Variabilität des urchristlichen Kerygmas noch sehr
viel größer gewesen sein muß, als die Beobachtung des im Kanon er-
haltenen Tatbestandes wahn1ehmen läßt.
3. SolcheVariabilität ist jedoch bereits im NT so groß, daß wir nicht
nur erhebliche Spannungen, sondern nicht selten auch unvereinbare
theologische Gegensätze zu konstatieren haben. Ein im allgemeinen
nicht recht ernst genommenes Faktum mag den Weg zu dieser Ein-
sicht öffnen. Der 4. Evangelist bedient sich bekanntlich des literari-
schen Mittels, ein ihm wichtiges Thema durch ein Mißverständnis
der Jünger zu unterstreichen. Wirft er damit nicht ein höchst überle-
genswertes theologisches Problem auf? Unsere Überjzeugung, daß die
älteste Christenheit ihren Herrn bzw. die Überlieferung von ihm
durchgängig richtig verstanden und weitergegeben habe, ist keines-
wegs von vornherein stichhaltig und in nicht wenigen Fällen nach-
weislich falsch. Wenn Jesus in Mk. 7, 15 ablehnt, daß der Mensch von
außen her verunreinigt werde, so verläßt er damit grundsätzlich den
[219/220] Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche? 129

Boden der gesamten jüdischen Kultgesetzgebung. Führt er seinerseits


alle Unreinheit auf des Menschen eigenes Herz zurück, so besagt das
zweifellos, daß der Mensch als solcher verdorben ist und Heil nur in
Vergebung erlangt. Kritische Analyse ergibt, daß die palästinische
wie die hellenistische Christenheit das Jesuswort im übrigen Kapitel
mit kommentierenden Zusätzen umgeben hat. Und zwar wird dem
Spruch einerseits nur die polemische Antithese gegen das Rabbinat
entnommen, welches den eigentlichen Gotteswillen mit seinen Son-
derauflagen und seiner Kasuistik verdeckt. Auf der andem Seite biegt
man den Spruch moralisierend um: Die wirkliche Unreinheit besteht
in der Lasterhaftigkeit. Beide Kommentare sind nicht in sich unrich-
tig, aber beide brechen der Radikalität Jesu die Spitze ab. Die Pointe
seines Wortes liegt gerade darin, daß es nicht zwischen göttlichem
Gebot und menschlicher Auflage unterscheidet. Eine solche Unter-
scheidung wäre vom Judentum auch nicht anerkannt worden, da man
dort die rabbinische Entscheidung als Entfaltung des göttlichen Ge-
botes versteht und ihr deshalb abgeleitete Offenbarungsautorität bei-
mißt. So wird weiter durch Jesu Wort nicht bloß die rabbinische Aus-
legung und Praxis, sondern das Kult- und Reinigkeitsgesetz selbst
getroffen: Jesus hat sich nicht gescheut, anzugreifen und außer Kraft
zu setzen, was dem Judentum als göttliches Gebot galt und es nach
dem Wortlaut des AT war. Dieser Einsicht entzieht sich jedoch die pa-
lästinische Gemeinde durch ihre Unterscheidung zwischen göttlichem
Gebot und menschlicher Auflage. Die hellenistische Christenheit
schwächt Jesu Wort ebenfalls ab: Sie zählt böse Taten auf, vor denen
man sich zu hüten hat und hüten kann, während Jesus unser Herz
schuldig spricht und für die Entstehung der Bosheit verantwortlich
macht. Die Aufdeckung unserer Verlorenheit wird also zur morali-
schen Warnung, der Richter zum Lehrer einer besseren Ethik. Ähn-
lich steht es, wenn das Jesuswort Mk. 2, 27, der Sabbat sei um des
Menschenwillen geschaffen, in V. 28 durch den Zusatz eingeschränkt
wird, der Menschensohn sei des Sabbats Herr. Ihrem Meister konnte
die Gemeinde zubilligen, was sie für sich selbst nicht in Anspruch zu
nehmen wagte. Ihr einschränkender Zusatz beweist, daß sie vor der
durch ihn gegebenen Freiheit erschrak und in ein christianisiertes Ju-
dentum zurückflüchtete. Mit ihrer Polemik gegen den Pharisäismus
als eine Heuchelei- man denke nur an Mt. 23!- hat sie umgekehrt
Jesu Angriff auf den Pharisäismus verflacht, der in Wahrheit ja das I
Trachten nach der eigenen Gerechtigkeit und deshalb jede Leistungs-
frömmigkeit und faktisch jeden Menschen trifft. Wo man den Pha-
risäer durchgängig zum Heuchler macht, gilt Jesu Kritik bloß noch
der Unmoral, ist die Bahn zur christlichen Leistungsfrömmigkeit frei-
gegeben, welche Jesu Angriff auf den wirklichen Pharisäismus ver-

9 Käscmann, Kanon
130 [220/221]

sperrt hatte. Das Zerrbild des Pharisäers als eines Heud:llers ist der
Kirche selbst teuer zu stehen gekommen. Auch diese Beispiele sind aus
einer Fülle von andern herausgegriffen. Sie sollen beweisen, daß die
Geschichte der Christenheit und ihrer Lehrtradition nicht bloß in der
Kontinuität zu Jesus gesehen und besmrieben werden darf. Sie ist
genauso eine Geschichte der Diastase von Herrn und Jüngern. Be-
reits die älteste Gemeinde ist teils verstehende, teils mißverstehende
Gemeinde. Die Hoheit ihres Herrn wird von ihr zugleich bezeugt und
verdunkelt. Auch ihr Glaube barg sich im tönernen Gefäß ihrer
Menschlichkeit, und ihre Rechtgläubigkeit war genauso zweifelhaft,
wie Orthodoxie es stets ist.
Wird das jedoch zugestanden, so kann man sich nicht mehr darüber
wundern,daß auch im übrigen NT Lehrgegensätze hart aufeinander-
prallen. Mir scheint Luther die theologische Unvereinbarkeit von pau-
linischer Rechtfertigungslehre und derjenigen des Jakobusbriefes zu-
treffend beurteilt zu haben. Die Aussagen der Apostelgeschichte über
das paulinische Apostolat setzen keineswegs polemisch, sondern ganz
selbstverständlich das voraus, was Gal. 1 mit höchster Leidenschaft
bestreitet. Es ist mir unbegreiflich, wie man die Eschatologie des
4. Evangeliums und der Offenbarung ausgleichen will. Daß die "ein
für alle Male überlieferte Glaubenslehre" von Jud. 3 und die "vor-
handene Wahrheit" von 2. Petr. 1, 12 die Vorfindliehkeil der kirch-
lichen Tradition gegen die vom Geist immer neu geoffenbarte Wahr-
heit der Gnostiker ausspielen will und vielleicht ausspielen muß, liegt
auf der Hand. Es fragt sich jedoch, was es um eine kirchliche Tra-
dition ist, welche wie in Jud. 9 ff. unbefangen jüdischer Legende vom
Kampf um den Mosesleichnam zwischen Michael und Satan kano-
nische Autorität einräumt und ebenso unbefangen den Christen nach
2. Petr. 1, 4 durch die Taufe Anteil an der göttlichen Physis gewinnen
läßt. Es fragt sich weiter, ob mit solcher Polemik nicht auch die ur-
christliche, von Paulus und Jobarmes bezeugte und faktisch durch Je-
sus selbst vertretene Geistlehre verurteilt wird. Hier wirkt der Geist
ja nicht mehr auch durch die Überlieferung, sondern hier geht er in
der Tradition auf, ist deshalb wie bereits in den Pastoralen und der
Apostelgeschichte das kirchliche Lehramt Besitzer des "Amtsgeistes",
kann wie geradezu klassisch in 2. Petr. 1, 20 jede nicht autorisierte
Exegese und Interpretation der Schrift verboten werden. Hier gilt die
Ordination als Index eines Legitimitäts- und Sukzessionsprinzips,
kurz: ist die Grenze des Urchristentums überschritten und der Früh-
katholizismus Ietabliert. Die Zeit, in der man die Schrift als ganze dem
Katholizismus entgegenhalten konnte, dürfte unwiederbringlich vor-
bei sein. Mit dem sogenannten Formalprinzip kann Protestantismus
heute nicht mehr arbeiten, ohne sich historischer Analyse unglaub-
[221/222] Begründet der neutestamentlime Kanon die Einheit der Kirche? 131

würdig zu machen. Der nt.liche Kanon steht nicht zwischen Juden-


tum und Frühkatholizismus, sondern gewährt in sich wie dem Ju-
dentum so auch dem Frühkatholizismus Raum und Basis.
4. Aus den drei aufgewiesenen Sachverhalten der Variabilität des
nt.lichen Kerygmas, der außerordentlichen und das NT übergreifen-
den Fülle theologischer Positionen in der Drehristenheil und ihrer
wenigstens teilweise zutage tretenden Unvereinbarkeit ist nun die
Folgerung für unser Thema zu ziehen. Sie kann nur lauten: Der nt.-
liche Kanon begründet als solcher nicht die Einheit der Kirche. Erbe-
gründet als solcher, d. h. in seiner dem Historiker zugänglichen Vor-
findlichkeit dagegen die Vielzahl der Konfessionen. Die Variabilität
des Kerygmas im NT ist Ausdruck des Tatbestandes, daß bereits in
der Urchristenheit eine Fülle verschiedener Konfessionen nebenein-
ander vorhanden war, aufeinander folgte, sich miteinander verband
und gegeneinander abgrenzte. Daß die gegenwärtigen Konfessionen
sich sämtlich auf den nt.lichen Kanon berufen, ist von da aus durch-
aus begreiflich. Der Exeget kann ihnen grundsätzlich weder das me-
thodische noch das sachlich fundierte Recht dazu bestreiten. Er muß
es ihnen im Gegenteil grundsätzlich bestätigen. Ist der Kanon als sol-
cher und im ganzen verbindlich, mögen die verschiedenen Konfes-
sionen größere oder kleinere Partien, bekanntere oder unbekanntere
Autoren des NT mit mehr oder weniger historischem Recht für sich
in Anspruch nehmen. Ihr Rechtsanspruch ist grundsätzlich unbestreit-
bar und im einzelnen beweisbar, die Einheit der Kirche umgekehrt
von solchem Ausgangspunkt her grundsätzlich unbeweisbar und je-
der konfessionelle Absolutheitsanspruch bestreitbar. Ist also Lessings
Fabel von den drei Ringen in Nathan dem Weisen auch unser letztes
Wort? Ich würde es allerdings meinen, wenn die exegetische Aufgabe
mit der historischen Feststellung endete. Wo man sich einzig auf das
"Es steht geschrieben" zu stützen versucht, muß nach meiner über-
zeugungund Einsicht kritische nt.liche Wissenschaft tatsächlich in der
Anerkennung von Lessings Fabel enden. Damit wäre jedoch über-
hört, daß das NT selbst neben die theologische Aussage, also auch ne-
ben die Aussagen des Kanons, die theologische Aufgabe der diakrisis
pneumatoon treten läßt. Anders gewandt: Man wird die Zusammen-
gehörigkeit und den Unterschied von Buchstaben und Geist zu beach-
ten haben. Was Paulus in 2. Kor. 3 dem AT gegenüber geltend macht,
darf nicht auf das AT beschränkt werden, sondern gilt genauso auch
für den nt.lichen Kanon. Im I Idealismus hat man die Antithese von
Buchstaben und Geist griechisch, nämlich in Analogie zu der von ln-
wendigem und Äußerem, Inhalt und Form verstanden. Das ist sicher
falsch. Paulus, der immer wieder die Leiblichkeit zum Herrschafts-
gebiet des Geistes macht, ist kein Kronzeuge für ein Drängen nam
132 ERNST KÄSEMANN

Innerlichkeit. So darf man Buchstaben und Geist auch nicht derart


voneinander trennen, daß man ihnen verschiedene Bezirke des Da-
seins zuordnete. Da beide für Paulus offensichtlich weltweite und
weltbewegende Mächte sind, ergäbe sich sonst die Anschauung eines
kosmologischen Dualismus, die dem Apostel fremd ist. Weiter hilft
hier die Erinnerung, daß nach Paulus Geist und Fleisch nicht etwas
an und für sich, sondern Existenzweisen des Gott gehorsamen oder
ungehorsamen Menschen sind. Die paulinische Lehre vom Gesetz be-
weist, daß es sich mit Geist und Buchstaben nicht anders verhält. Sie
ist ja dialektisch. Paulus hat sich nicht zum Antinomisten machen las-
sen, sondern daran festgehalten, daß das Gesetz als Gotteswille ge-
recht, heilig und gut sei. Von dem Gesetz als Gotteswillen unterschei-
det er jedoch jenes Gesetz, das vom frommen Menschen in die Forde-
rung nach der eigenen Gerechtigkeit verkehrt wird. Eben dieses zum
Mittel unserer Selbstgerechtigkeit verkehrte Gesetz nennt er in
2. Kor. 5 Buchstaben. Auf die Frage, worin der Mißbrauch des Gottes-
willens hier eigentlich bestehe, wird man antworten müssen: Darin,
daß Menschen Gottes Anspruch nicht mehr den Anspruch Gottes blei-
ben lassen, sondern Gott in seinem Anspruch gefangen wähnen, dar-
um das Gesetz nicht mehr als Bekundung des göttlichen Willens, son-
dern nur noch nach seiner Vorfindlichkeit beachten, es faktisch also
an Gottes Stelle treten lassen. Genauso wird aus der Schöpfung der
Kosmos und aus dem Geschöpf das Fleisch, wenn man die Relation
des Vorfindlichen zum Schöpfer übersieht und damit die Gabe vom
Geber isoliert, um sie zum Mittel menschlicher Willkür werden zu
lassen. Daß sich alle Gaben Gottes mißbrauchen lassen, zeigt sich in
Korinth, wenn die Enthusiasten das Herrenmahl zum Mahl der Se-
ligen und zum pharmakon athanasias machen. Auch sie gründen ihre
Sicherheit und Selbstbehauptung auf die göttliche Gabe wie der No-
mist auf das Gesetz. Paulus hat gegen beide angekämpft, indem er
die Gabe als Vergegenwärtigung des Gebers, nicht als seinen Ersatz
verstehen lehrte. Man hat Gott eben nie dingfest in seiner Hand, weil
er dann aufhört, Gott und unser Herr zu sein. Man hat ihn nur, wenn
und solange er uns hat.
Das bedeutet auf unser Problem übertragen: Man hat Gott auch
nicht im nt.lichen Kanon dingfest. Weil die Juden das dem Gesetz
gegenüber meinen, spricht Paulus vom alttestamentlichen Kanon als
dem Buchstaben, der tötet. Sofern wir das NT nicht anders verstehen,
verhält es sich bei ihm nicht anders. In seiner bloßen Vorlfindlichkeit
ist der Kanon eben nicht mehr Gotteswort. Das kann er nur werden
und sein, wo man nicht Gott in ihm dingfest zu haben meint und da-
mit den Kanon zum Ersatz des sprechenden und uns ansprechenden
Gottes macht. Daß die Kirche stets die Neigung gehabt hat, Gott im
[223] Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche? 153
Kanon dingfest zu machen, beweist bereits die Redewendung von der
"vorhandenen Wahrheit" in 2. Petr. 1, 12. Wird die kirchliche Tra-
dition mit der Wahrheit identifiziert, so wird von dem Geist abstra-
hiert, der nach Job. 16, 13 immer neu und gegenwärtig in alle Wahr-
heit führt, wird vom anredenden und sich gegenwärtig manifestie-
renden Gott abstrahiert. Das heißt nun freilich nicht, daß man um
des Geistes willen von der Tradition absehen könnte und dürfte.
Dann würde ja geleugnet, daß Gott schon stets vor uns auf dem Plan
stand und sich offenbart hat, der Geist nach dem gleichen Johannes-
wort eben nicht von sich selbst reden wird, sondern, an Jesu Wort
erinnernd, das, was er gehört hat. Der Glaube steht nach Hehr. 11
immer in der Kontinuität göttlichen Handelns, aus weldler Ge-
schichte sich nur Schwärmerturn zu lösen versucht. Aber zwischen die-
ser Kontinuität göttlichen Handeins und menschlicher, also auch kirch-
licher Uberlieferung, gilt es zu unterscheiden. Beides ist nicht iden-
tisch. So dürfen die Väter, auf welche sich im 4. Evangelium die Ju-
den berufen, eben nicht dem Christus praesens gegenüber ausge-
spielt werden. Sie sind nur dessen Zeugen und sind es wie die Wolke
von Zeugen in Hehr. 11, sofern sie von Gott bzw. dem Christus Zeug-
nis empfangen, also in der Kontinuität der praesentia dei stehen. Wir
enden in einer unaufhebbaren Dialektik: Der Geist widerstreitet
nicht dem "Es steht geschrieben", sondern manifestiert sich in der
Schrift. Aber die Schrift kann jederzeit zum Buchstaben werden und
wird es, wenn sie nicht mehr vom Geist autorisiert wird, sondern in
ihrer Vorfmdlichkeit Autorität sein und den Geist ersetzen soll. Die
Spannung von Geist und Schrift ist konstitutiv. Das heißt, daß der
Kanon nicht einfach mit dem Evangelium identisch und Gottes Wort
nur insofern ist, als er Evangelium ist und wird. Insofern begründet
dann auch er Einheit der Kirche. Denn allein das Evangelium begrün-
det die eine Kirche in allen Zeiten und an allen Orten.
Die Frage jedoch, was das Evangelium sei, kann nicht mehr der
Historiker durch eine Feststellung beantworten, sondern nur der
Glaubende, vom Geist überführt und auf die Schrift hörend, ent-
scheiden, so daß es auch die Einheit der Kirche nie vorfmdlidl und
immer nur für den Glauben gibt. Die Einheit der Kirche wird wie das
Evangelium nicht von den beati possidentes, sondern von den Unge-
simerten und Angefochtenen in und trotz den Konfessionen, mit und
gegenüber auch dem nt.lichen Kanon bekannt, sofern sie die das Evan-
gelium Hörenden und Glaubenden sind.
KuRT ALAND

Das Problem des neutestamentlichen Kanons*


Das Problem des neutestamentlichen Kanons ist so alt wie die kri-
tische Erforschung des Neuen Testaments. Ja man kann sagen, daß
es so alt ist wie das Neue Testament selbst, oder wenigstens so alt wie
die jüngsten Bestandteile in ihm. Dennoch gibt es immer wieder Zei-
ten, denen die Frage des Kanons, speziell die des neutestamentlichen
Kanons, auf besondere Weise zum Problem geworden ist. Das war
im 19. Jahrhundert so und dasistheute wiederder Fall. Vor25 Jahren
erscholl der erste Alarmruf: "Die Krisis des Kanons der Kirche" (H.
Strathmann). Hier wurde von der "schleichenden Krankheit" gespro-
chen, welche die Kanonsfrage bedeute. Zahlreich sind seitdem die
Untersuchungen geworden, die sich mit ihr befassen. Es genügt viel-
leicht, einige ihrer Titel zu nennen, damit die Reichweite, aber auch
die mögliche Sprengkraft dieser Diskussion wenigstens in ersten Um-
rissen sichtbar wird: "Hebt die heutige neutestamentliche Forschung
den Kanon auf?" (H. Braun), "Begründet der neutestamentliche Ka-
non die Einheit der Kirche?" (E. Käsemann). "Das Problem des
Schriftkanons" (H. Diem). "Notwendigkeit und Grenze des neu-
testamentlichen Kanons" (W. Kümmel) ist heute nicht nur durch die
Frage bezeichnet:" Which Books belong in the Bible?" (F. V. Filson),
es enthält mehr. Es bringt nicht nur die "Kontingenz der Offenba-
rung oder {und?) Kontingenz des Kanons" (W. Marxen) ins Spiel,
sondern auch "die Tradition als exegetisches, historisches und theolo-
gisches Problem" (0. Cullmann), "Grundfragen der biblischen Her-
meneutik" (H. Diem) also ebenso wie die entscheidende Frage nach
der "Autorität der Bibel heute" (A. Richardson/W. Schweitzer).
Mit einer solchen Zusammenstellung von Buch- und Aufsatztiteln
könnte man fortfahren und mit ihr die heutige Problemlage beleuch-
ten. Aber das ist wohl nicht erforderlich. Eine Bemerkung jedoch ist

• Deutsche, überarbeitete Fassung eines Vortrages auf dem Second International


Congress on New Testament Studies zu Oxford im September 1961, in der Neuen
Zeitschrift für Systematische Theologie 4, 1962, 220-242, mit Genehmigung des
Verlages A. R. Mobray/London veröffentlicht (hier ist 1962 die englische Fassung
des Vortrags: The Problem of the NewTestamentCanon, als selbständige Publika-
tion erschienen). Wieder abgedruckt in: K. Aland, Studien zur Oberlieferung des
Neuen Testaments und seines Textes (Arbeiten zur neutestamentlichen Textfor-
schung 2), de Gruyter, Berlin 1967, 1-23.
[1/2] Das Problem des neutcstamcntlid1cn Kanons 135

nötig. Das Problem des Kanons ist nicht nur, wie mancher vielleicht
zu meinen geneigt sein könnte, ein Problem der protestantischen
Theologie oder der Kirchen außerhalb des römisch-katholischen und
orthodoxen Bereichs. Jener vorhin zitierte Aufsatz von vor 25 Jahren,
welcher von der Krisis des Kanons sprach, meinte, es handle sich hier
um "eine schleichende Krankheit der evangelischen Theologie und
damit der evangelischen IKirche". Das ist zwar richtig, aber eben nicht
nur sie, sondern alle Theologien aller Kirchen sind von dieser "Krank-
heit", wenn man so reden will, betroffen; sie alle geht, um es neu-
traler auszudrücken, die mit dem Kanon gegebene Problematik an,
wie sich im einzelnen noch ergeben wird.
Es ist, der gebotenen Kürze und Ubersichtlichkeit halber, vielleicht
zweckmäßig, unser Thema an Hand von Leitsätzen zu behandeln.
Einige (wenige) können ohne Kommentar stehen, die meisten benö-
tigen einer mehr oder weniger ausführlichen Erläuterung -, alle
Leitsätze zusammen mit dem Kommentar zu ihnen bedürfen der
Nachsicht, es handelt sich bei dem, was hier ausgeführt werden soll,
nur um einen V ersuch, das große Thema zu behandeln. Eine Polemik
gegen andere Auffassungen soll dabei nach Möglichkeit unterbleiben.

1. Wenn wir dem Problem des Kanons gerecht werden wollen,


dürfen zwei methodische Gesichtspunkte nidlt außer acht gelassen
werden:
a) Der neutestamentliche Kanon existiert nicht für sich allein, son-
dern nur als Bestandteil des Kanons der ganzen Schrift. Dieser ist
ebenso eine unteilbare Einheit, wie die Schrift selbst. Deshalb darf
der neutestamentliche Kanon nicht isoliert betrachtet und diskutiert
werden, sondern nur unter steter Berücksichtigung des alttestament-
lichen Kanons. Gewiß bietet das Alte Testament ebenso wie sein Ka-
non besondere Probleme. Es geht aber nicht an, wie bisher meist ge-
schehen, den Kanon zu teilen. Erst in seiner Ganz/zeit bekommt man
seine Problematik voll ins Blickfeld.
b) Der Kanon ist eine geschichtlidl gewordene Größe. So ist zu er-
warten, daß eine Betrachtung seines Werdens uns die Gesetze zeigt,
nach denen er entstanden ist, und daß diese uns wieder Maßstäbe für
seine Beurteilung geben. Ohne eine Berücksichtigung der Kanonsge-
schichte schwebt eine rein grundsätzlich, dogmatisdl orientierte Be-
trachtung des Kanons in der Luft.

Für das Neue Testament selbst wie für die Kirche der Frühzeit bis
zur Ausbildung der Anfänge des neutestamentlichen Kanons ist
yQa<pi) = Altes Testament. Neben die Autorität dieser yQacpi) tritt das
Herrenwort, sowie in der ersten Zeit die unmittelbare Offenbarung
136 KURTAI..um [2/3]

durch den Herrn, wobei die Bezugnahme auf das Alte Testament et-
wa bei den Schriften der Apostolischen Väter unvergleichlich viel häu-
figer und umfangreicher ist als die auf Herrenworte.
Daß das Alte Testament von den Anfängen der Kirche, von Jesus
selbst an, heilige Schrift ist, bedarf keines Beweises. Man kann sogar
zugespitzt sagen, daß für die Frühzeit das Alte Testament an der-
selben Stelle stand wie für uns heute das Neue Testament. Das Alte
Testament ist für die junge Christenheit Bericht und Zeugnis vom
KUQLO~ 'll)ooü~ XQLOTO~. Daß diese heilige Schrift aber keine festum-
rissene und absolut festjstehende Größe war, d. h. daß es für die Ur-
kirche keinen feststehenden alttestamentlichen Kanon gab, scheint
ebenso simer. Anderslautende Behauptungen hätten nicht aufgestellt
werden dürfen. Die in den Evangelien von Jesus selbst gebrauchten
bzw. ihm in den Mund gelegten Zitate aus dem Alten Testament hal-
ten sich zwar im Rahmen des jüdischen Kanons, erlauben aber keinen
Rückschluß auf dessen damalige Existenz oder gar seine Gestalt im
einzelnen. Wenn im Judasbrief alttestamentliche Pseudepigraphen
zitiert werden, wenn Paulus nach dem glaubwürdigen Zeugnis des
Origenes dasselbe tut, wenn sich die Apostolischen Väter ebenfalls auf
Pseudepigraphen berufen, so ist das bereits der deutlichste Hinweis
darauf, daß die heilige Schrift des Alten Testaments für die Urzeit
noch nicht in einem festen Kanon existierte. Dazu kommt das reime
Material an Zitaten aus den Schriften des Alten Testaments, die nach
jüdischer Anschauung zu den Apokryphen zu rechnen sind. Die
Urzeit kannte ebensowenig einen festen Kanon des Alten Testa-
ments wie es einen festen Kanon für die Schriften gab, die sich diesem
Alten Testament in einem allmählichen Prozeß an die Seite zu stellen
begannen.
2. Sobald der Kanon als Ganzes gesehen wird, zeigt sich seine ma-
teriale Verschiedenheit. Die Bestimmung dessen, was im Alten Testa-
ment zum Kanon zu rechnen ist und was nicht, ist in den Kirchen von
heute durchaus unterschiedlich. Diese modernen Differenzen dürfen
uns jedoch nicht erschrecken; in ihnen spiegelt sich nur die Unter-
schiedlichkeit, welche in den frühen Jahrhunderten bis zum Ausgang
der alten Kirche in der Festlegung des alttestamentlichen Kanons
bestand.
Fragen wir nach dem Bestand des alttestamentlüften Kanons in
den wichtigsten Kirchen von heute, so ist die Antwort für eine Reihe
von ihnen leicht zu ermitteln. Für die katholische Kirche hat das Kon-
zil von Trient in seiner 4. Sitzung vom 8. April 1546 ein Kanonsver-
zeichnis festgelegt, welches über den jüdischen Kanon hinaus Tobias,
Judith, die Weisheit Salomos, Jesus Sirach sowie zwei Makkabäer-
[3/4] Das Problem des neutestamentlichen Kanons 137
bücherzum vollgültigen Bestandteil des Alten Testaments erklärte.
Die reformierten Kirchen haben mit eben derselben Eindeutigkeit in
der Confessio Gallicana von 1559 wie in der Confessio Belgica von
1561 (so eindeutig nach Artikel IV/V; Artikel VI gibt den Apokry-
phen zwar eine begrenzte Verwendungsmöglichkeit, hält sie aber
dennoch außerhalb des eigentlichen Kanons) übereinstimmend einen
Kanon des Alten Testaments festgelegt, welcher eben diese Apokry-
phen aus ihm ausschließt. Die Bekenntnisschriften der lutherischen
Kirchen, und zwar bis hin zur Formula Concordiae, enthalten ein sol-
ches Kanonsverzeichnis nicht; praktisch sind die lutherischen Kirchen
einen Mittelweg gegangen. Sie trennten die alttestamentlichen Apo-
kryphen zwar deutlich von den übrigen Schriften des Alten Testa-
ments ab, ließen ihnen aber einen Ort im Anhang der Bibel! ausgaben.
Die Church of England geht ebenfalls einen Mittelweg, wenn auch
auf andere Weise. In Artikel6 der 39 Artikel von 1571 heißt es in be-
zugauf die alttestamentlichen Apokryphen: "The Church doth read
(these other books) for example of life and instruction of manners;
but yet doth it not apply them to establish any doctrine." Die ortho-
doxe Kirche schließlich bietet eine noch andere Lösung. Die vom hl.
Synod der griechischen Kirche autorisierte Ausgabe des Alten Testa-
ments von 1950 enthält sämtliche Apokryphen, außerdem aber 2. Esra
und 3. Makkabäer; das 4. Buch der Makkabäer ist in einen Anhang
gestellt. Die 1956 in Moskau erschienene russische Bibel hat denselben
Bestand wie die Bibel der griechischen Kirche, fügt ihm jedoch 3. Esra
hinzu und streicht das 4. Makkabäerbuch.
Bereits aus dieser ganz kurzen übersieht wird deutlich, daß und wie
der alttestamentliche Kanon heute eine sehr variable Größe ist. Dem-
gegenüber scheinen manche Aussagen mancher Alttestamentler über
den alttestamentlichen Kanon von vornherein fragwürdig. Welchen
Kanon meinen sie, wenn sie Ausführungen über seine Gültigkeit
machen? Sie werden - wahrscheinlich - antworten, daß ihre Re-
flexionen und theologischen Uberlegungen sich auf den jüdischen
Kanon bezögen, daß sie sich also auf einem Gebiet aufhielten, das
von den Unterschieden der Auffassung des Kanons in den verschie-
denen Kirchen nicht berührt werde. Dem wäre zu antworten, daß die-
ser jüdische Kanon in der christlichen Kirche der Frühzeit zwar er-
hebliches Ansehen, aber faktisch keine Gültigkeit besessen hat. Er
kommt erst in der Reformationszeit zur Geltung und auch da nur im
reformierten Gebiet unverändert, wenigstens in der Theorie. Die
Praxis sieht selbst hier anders aus, wovon noch zu sprechen sein wird.
Versuche, ihn in der alten Kirche durchzusetzen, wie etwa der des
Hieronymus, blieben Episode und ohne Aussicht auf dauernden Er-
folg. Die christliche Kirche hat (von ihren allerersten Anfängen abge-
158 KuRTALAND (4/5]

sehen) in ihrer Frühzeit stets die LXX benutzt. Die Tatsache des Ge-
brauchs der LXX durch die Christen ist sogar offensichtlich einer der
Gründe für die Juden gewesen, sich von der griechischen Bibel auf
den normierten Text der hebräischen Bibel zurückzuziehen. Diese von
der alten Kirche gebrauchte LXX ist von der hebräischen Bibel nicht
nur im Gesamtumfang und im Aufbau ihrer Schriftengruppen unter-
schieden, sondern in einigen Büchern aum in bezug auf den Te:rtbe-
stand, ganz abgesehen von der Fülle der Differenzen zwischen dem
griechismen und dem hebräischen Text im einzelnen, die sich über
das ganze Alte Testament hin finden.
Vor allen Dingen aber ist der Kanon des griedtischen Alten Testa-
ments im 2. Jahrhundert offensichtlich noch eine variable Größe. Daß
er nicht dem hebräischen Kanon entspricht, beweisen bereits die Zi-
tate aus den alttestamentlichen Apokryphen und Pseudepigraphen,
die wir vom Neuen Testament an bei den Kirchenvätern des zweiten
und der folgenden Jahrhunderte in reicher Fülle fmden. Dabei wech-
selt der anerkannte Bestand I von Apokryphen bzw. Pseudepigraphen
offensichtlich von Fall zu Fall, soweit wir aus den überlieferten Zi-
taten Schlüsse zu ziehen in der Lage sind. Denn eine gewisse Zu-
fälligkeit hat offensichtlich bei diesen Zitaten stets gewaltet, keiner
der Väter beabsichtigt, dem Leser alle für ihn als heilig, als yQa«pi}
geltenden Schriften des Alten Testaments vorzuführen. Aber auch die
uns erhaltenen Kanonsverzeidtnisse bieten dasselbe wechselvolle Bild.
Selbst wenn wir den Bogen ganz weit spannen: von Melito und Ori-
genes über die großen Bibelhandschriften auf der griechischen Seite
bis hin zu Nikephorus, von Hilarius bis zum Codex Claromontanus
auf der lateinischen Seite, und die hier gebotenen Listen des alttesta-
mentlichen Kanons miteinander vergleimen, so ergibt sich, daß ei-
gentlich keines dieser Kanonsverzeimnisse des Alten Testaments dem
anderen genau gleich ist. Das gilt nicht nur für die Reihenfolge der
Aufzählung, sondern auch für den Bestand. Und keines der Kanons-
verzeidtnisse ist mit dem hebräischen Kanon identisch! Selbst wenn
man einmal glaubt, den hebräischen Kanon wiedergefunden zu ha-
ben, dann fehlt das BuchEsther oder ist doch ein Apokryphon (meist
Baruch oder die 'EmatoÄ~ des Jeremia) eingeschoben.
Das beginnt gleich beim ältesten Kanonsverzeichnis, dem des Me-
lito aus der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts (Euseb, h. e. IV, 26).
Was Melito - und zwar als Resultat von sorgfältigen Forschungen
anläßlich einer Reise in den Orient- aufzählt, entspricht zwar dem
jüdismen Kanon - aber es fehlt Esther, 1md zwar ganz offensichtlich
nicht aus Versehen. Denn oft genug, bis hin zu Grcgor von Nazianz
und Leontius (die beide sonst ebenfalls den hebräischen Kanon ha-
ben), wiederholt sim dieses Fehlen des Estherbuches. Das Kanonsver-
[5/6] Das Problem des neutestamentlichen Kanons 139
zeichnis des Origenes, das uns ebenfalls Euseb überliefert (h. e. VI, 25),
ist oft mißverstanden worden. Es handelt sich hier gar nicht um den
von Origenes selbst vertretenen Kanon; was er uns hier bei der Aus-
legung von Psalm 1 bietet, soll vielmehr ein Bericht über den hebräi-
schen Kanon sein (25, 2 vgl. 25, 1). Aber wie sieht diese Aufzählung
des jüdischen Kanons aus? Bei Jeremia erscheint mit offensichtlicher
Selbstverständlichkeit die ·EmaToA.~, und am Schluß wird hinzuge-
fügt: [~oo bE Toimov laTi. Ta MaxxaßaiY.a (25, 2).
Daß der jüdische Kanon, insbesondere bei gelehrten Theologen,
eine starke Beachtung fand und erheblichen Einfluß auf die Kanons-
verzeichnisse geübt hat, soll nicht geleugnet werden. Aber er war nie
stark genug, um die kirchliche Praxis, die ebenso wie die kirchliche
Tradition in andere Richtung ging, zu durchbrechen, auch bei Hie-
ronymus nicht. Die sog. Synode von Laodicea in der 2. Hälfte des
4. Jahrhunderts lehnte sich streng an den jüdischen Kanon an (auch
das BuchEsther ist hier aufgenommen). Aber bei Jeremia heißt es:
xat Bapoux, ßpfjvoL Y.at bnaToA.al (!). Der 39. Festbrief des Athana-
sius, dem eine besondere Bedeutung zukommt, steht ebenfalls stark
unter dem Einfluß des jüdischen Kanons. Er führt die Sapientia Sa-
lomonis, Jesus Sirach, Judith und Tobit zusammen I mit der Didache
und dem Hirten des Hermas als vom Kanon zu trennende Lesebücher
für Katechumenen an (die Makkabäerbücher u. a. m. werden über-
haupt nicht genannt). Aber auch das BuchEsther erscheint unter die-
ser Gruppe, und unter den kanonischen Schriften werden bei Jeremia
ebenso Baruch wie die 'EmaToA.~ aufgeführt. Wie die Praxis des
4. Jahrhunderts aussah, zeigen uns die großen Bibelhandschriften:
Der Codex Vaticanus enthält außer Baruch und der ·EmaToA.~ so-
wohl die Sapientia Salomonis wie Sirach, Judith und Tobit (nicht da-
gegen die Makkabäerbücher), der Codex Sinaiticus alle vier, zusätz-
lich aber noch das 1. und 4. Makkabäerbuch (über Baruch und die
•ExuJToA.~ ist keine Aussage möglich; nach den Klageliedern be-
ginnt eine Lücke). Und diese Schriften stehen nicht etwa in einem
Anhang, sondern mitten unter den anderen Büchern des Alten Te-
staments. Auf dieser Linie ist die Entwicklung weitergegangen.

J. Der Kanon des Neuen Testaments hat dagegen heute in allen


Kirchen dieselbe Gestalt. Diese heutige Gemeinsamkeit unter den
Konfessionen darf jedoch nicht vergessen lassen, daß eine solche Ein-
heitlichkeit in der alten Kirche nicht bestand. Sie ist erst am Ausgang
des 4. Jahrhunderts als Resultat eines langwierigen und komplizier-
ten Prozesses in einer Reihe von Kirchenprovinzen erreicht worden,
hat aber danach noch Jahrhunderte gebraucht, bis sie sich überall
durchgesetzt hat.
140 KURTALAND [6/7]

Es ist hier verständlicherweise nimt möglich, aum nur einen Abriß


der Geschichte des neutestamentlimen Kanons zu geben. Nur die
Hauptpunkte der Entwicklung können berührt werden, deren Kennt-
nis für eine Beurteilung des Kanonproblems unumgänglich erforder-
lich ist. Nicht weniger als sieben Stufen hat der neutestamentliche
Kanon durchgemacht, bis die heutige Einheitlichkeit erreicht war.
über die erste Stufe der Entwicklung haben wir schon gesprochen,
sie reicht von Paulus über Johannes bis zur älteren Schicht der Apo-
stolischen Väter. Hier steht neben dem Alten Testament das Herren-
wort. Es läuft mündlich um, ist aber auch schon in geschriebenen
Spruchsammlungen zusammengefaßt, aus denen zitiert wird. Gegen
Abschluß dieser Epoche existieren auch die Paulusbriefe bereits als
geschlossene Sammlung, ebenso wie die Evangelien. Aus ihnen wird
ebenfalls bereits zitiert, sie werden auch in den Gottesdiensten ver-
lesen, ohne daß sie jedoch dem Alten Testament gleichgestellt wer-
den.
Die zweite Etappe der Entwicklung wird durch die Spätschicht
der Apostolischen Väter und Justin bezeichnet. Neben die bisherigen
Autoritäten des Alten Testaments und der Herrenworte ist jetzt die
Gruppe der 12 Apostel getreten (in die Paulus automatisch mitein-
geschlossen wird); man beruft sich auf die Apostel und deren Weisun-
gen. Allmählich bekommen die ersten neutestamentlichen Schriften
eine dem Alten Testament angenäherte Autoritätsstellung; voran
gehen dabei die Evangelien, die Paulusbriefe folgen. Um 150 be-
ginnt dann die dritte Entwicklungsstufe, mit I welcher die Kanons-
bildung im eigentlichen Sinne einsetzt. Alles, was sich bisher ab-
spielte, bedeutet lediglich eine Vorstufe dazu. Der Vierevangelien-
kanon bildet sich jetzt aus, die Briefe erlangen eine grundsätzliche
(nicht praktische) Gleichstellung. Um 200 ist mit lrenaeus, Tertul-
lian und Klemens von Alexandrien die vierte Etappe erreicht: der
Vierevangelienkanon ist voll anerkannt; neben ihm steht als zweite
Gruppe die der Apostelschriften. Den Kern dieser Apostelschriften
geben die paulinischen Briefe ab; ihnen haben sich die ersten anderen
apostolischen Briefe (und im Westen die Apokalypse) angegliedert.
Die Lesung einer Schrift im Gottesdienst wird jetzt zur Anerkennung
ihrer kanonischen Gültigkeit. Das führt automatisch zu der Forde-
rung: alles, was diese kanonische Gültigkeit nicht besitzt, ist von der
Lesung im Gottesdienst auszuschließen. Damit beginnt etwas Neues.
Bisher galt diese Grenzziehung nicht, vielmehr konnten Scluiften im
Gottesdienst verlesen werden, auch wenn ihnen allgemeine Verbind-
lichkeit nicht zuerkannt wurde.
Das ganze dritte Jahrhundert hindurch bis in den Anfang des vier-
ten hinein dauert dann die fünfte Entwicklungsstufe. Eine feste, all-
[7/8] Das Problem des neutestamentlichen Kanons 141

gemein anerkannte Stellung neben den vier Evangelien und den


Paulusbriefen haben sich jetzt der 1. Petr. und 1. Joh. erworben; der
2. Petr., 2. und 3. Joh., Jak. und Judas ringen um diese Anerkennung
mit verschiedenem Erfolg. Bei ihnen sind Ost und West auf gleiche
Weise gespalten, was Anerkennung und Verwerfung angeht. In be-
zug auf Hehr. und Apok. gehen die beiden Kirchengebiete jedoch aus-
einander: der Osten rezipiert den Hehr. und verwirft die Apok., der
Westen macht es genau umgekehrt, und zwar beide jeweils mit er-
staunlicher Einhelligkeit. Erst gegen Mitte des 4. Jahrhunderts bahnt
sich ein Ausgleich an. Die sechste Etappe der Entwicklung des neu-
testamentlichen Kanons, die bedeutungsvollste, setzt ein. Sie bringt
die ersten offiziellen Bischofsentscheidungen mit autoritärem An-
spruch für ganze Kirchenprovinzen, die ersten Synodaldekrete mit
amtlicher Festsetzung des neutestamentlichen Kanons. Etwa 350 be-
ginnt diese sechste Etappe und dauert bis in den Anfang des 5. Jahr-
hunderts. Im sog. 60. Kanon der Synode von Laodicea (2. Hälfte des
4. Jahrhunderts) heißt es: .,Oaa ÖEL ßtßÄlat civaytvroaxEa-Dat. Zunächst
werden die alttestamentlichen Schriften aufgeführt (TIW.aLCi~ öw-
aiJxll~), dann folgen die neutestamentlichen (tci ÖE 'rii~ xatvi)~ ÖtaaiJxll~
taüta): die 4 Evangelien, die Apostelgeschichte, 7 katholische Briefe
(also Jak., 2 Petrusbriefe, 3 Johannesbriefe, Judas) und 14 Paulus-
briefe (einschließlich Hehr.). Die Apokalypse wird nicht genannt.
Genau dieselbe Aufzählung findet sich bei Cyrill von Jerusalem (Cat.
IV, 36) und Gregor von Nazianz (vgl. Zahn II, 1, 216 f.). In seinem
39. Festbrief von 367 dagegen führt Athanasius neben den genannten
26 Büchern auch die Apokalypse als kanonisch auf. Auch die Apoka-
lypse ist jetzt im Osten also rezipiert; der Kanon des Neuen Testa-
ments, wie wir ihn kennen, ist fertig, oder scheint wenigstens fertig
zu sein. I
Daß Athanasius zu dieser Anerkennung der Apokalypse durch
seinen Zwangsaufenthalt im Westen während der arianischen Strei-
tigkeiten veranlaßt worden ist, scheint sicher. Hier hatte er die Wert-
schätzung dieses Buches in der westlichen Kirche kennengelernt und
war vielleicht auch zu einer Art von Verständnis und innerer Beja-
hung der Apokalypse gelangt; daß sie von seinen theologischen Geg-
nern bekämpft und verworfen wurde, erleichterte ihm wahrscheinlich
den Entschluß zu ihrer Aufnahme in den Kanon. Der Westen folgt
in der Abgrenzung des Kanons dem Beispiel des Athanasius, der ihm
in den arianischen Auseinandersetzungen zum Wortführer der Recht-
gläubigkeit geworden ist. Auch hier vollzieht sich - diesmal durch
Aufnahme des Hebräerbriefs-inder zweiten Hälfte des 4. Jahrhun-
derts die Entwicklung zum 27 Schriften-Kanon. Hieronymus und vor
allen Dingen Augustin kommt dafür eine maßgebende Bedeutung
142 KURTALAND [8/9]

zu. Eine Synode zu Hippo Regius von 593 wie Synoden zu Karthago
597 und 419 defmieren den Kanon des Neuen Testaments ebenso wie
Athanasius; lnnocenz I. erklärt dasselbe 405 in einer Verlautbarung
an den Bischof von Toulouse (ep. VI, 7), Pelagius kann schon 417 von
diesem Kanon als für die Gesamtkirche feststehende Tatsache reden
(libellus fidei 8). Nach langem Schwanken scheinen die Kirche des
Ostens wie des Westens in raschem Anlauf eine einheitliche Form des
neutestamentlichen Kanons erreicht zu haben, der nun durch die
Jahrhunderte bis auf den heutigen Tag Bestand hat.
Doch dieses schöne Bild täuscht. Vielmehr dauert es noch lange, bis
dieser feste Bestand überall erreicht ist, selbst in der lateinischen
Kirche, die ihrer ganzen Anlage nach zu festen Ordnungen strebt.
Daß Augustin sich mit einem Presbyter auseinandersetzen muß, der
in seinen Gottesdiensten nicht in den Kanon aufgenommene Schrif-
ten verlesen läßt (ep. 64, 5), mag noch angehen. Aber daß bei Augu-
stin selbst in seiner späteren schriftstellerischen Wirksamkeit eine
deutliche Zurückhaltung gegenüber dem Hebräerbrief spürbar ist,
gibt schon mehr zu denken. Jene Beschlüsse um 400 hatten den Hehr.
zwar in den Kanon hineinbringen können, aber damit war er noch
lange nicht in der abendländischen Kirche wirklich angenommen.
Daß Gassiodor noch um 550 keinen westlichen Kommentar zu Hehr.
ausfindig machen kann und deshalb den des Chrysostomus übersetzen
läßt, beleuchtet die tatsächliche Situation. Daneben darf nicht über-
sehen werden: daß man in manchen Teilen der Kirche bis ins 7. Jahr-
hundert hinein entweder einen verkürzten Kanon hatte (spanische
Synoden bekämpfen nach 600 noch Gegner der Apokalypse) oder
aber einen durch Aufnahme apokrypher Schriften erweiterten Kanon
anerkannte (selbst Gregor d. Gr. duldet den Laodicenerbrief), be-
weist, daß selbst im Westen auf die entscheidende sechste Etappe der
Rezeption des 27 Schriften-Kanons noch eine siebente folgte, in wel-
cher dieser Kanon erst Allgemeingut wird.
Noch deutlicher tritt diese siebente, abschließende Epoche in Er-
scheinung, wenn wir uns der griechischen Kirche zuwenden. Hier
kommt der I Autorität des Athanasius zwar eine ähnliche Bedeutung
zu wie der Augustins im Westen. Trotzdem aber ist viel Mühe und
Zeit erforderlich, bis der 27 Schriften-Kanon allgemein anerkannt ist.
Die antiochenische Theologenschule kennt damals überhaupt nur
zwei katholische Briefe und verwirft die Apokalypse nach wie vor.
Langsam setzt sich neben dem 1.Petr. und 1.Joh. dann der Jakobus-
brief durch, aber erst von 451 ab nimmt der Widerstand gegen die
Kanonizität von 2. Petr., 2. und 5. Joh. und Judas langsam ab. Die
Apokalypse braucht noch länger, um sich durchzusetzen. Erst um
500 beginnt das; aber noch das dem Patriarchen Nikephorus zuge-
[9/10] Das Problem des neutestamentlichen Kanons 143
schriebene Kanonsverzeichnis aus dem 9. Jahrhundert nennt die Apo-
kalypse in einem Atemzug mit der Apokalypse des Petrus, dem Bar-
nabasbrief und dem Hebräerevangelium unter den Antilegomena.
Und noch negativer ist das Bild in der syrischen Kirche. Hier ent-
hält der Kanon bis 400 das Diatessaron, nicht die vier Evangelien; es
fehlen außerdem sämtliche katholischen Briefe, es fehlt die Apoka-
lypse. Ja selbst die Paulusbriefe bieten ein anderes als das gewohnte
Bild: der Philemonbrief fehlt, dafür ist ein Schreiben der korinthi-
schen Gemeinde mit dem sog. 3. Korintherbrief als Antwort einge-
fügt. Dazu kommen schließlich Apokryphen verschiedenster Gattung.
Erst nach und nach wandelt sich die Situation in dieser Kirche, die ja
nicht gleichgültig ist, sondern von den ersten Anfängen an bis ins
5. Jahrhundert zu den Kerngebieten des Christentums gehört hat.
Allmählich muß das Diatessaron weichen. Der J akobusbrief, 1. Petr.
und 1. Joh. werden rezipiert. Aber noch fehlen die 4 kleineren katho-
lischen Briefe, noch fehlt die Apokalypse. In der westsyrischen Kirche
setzen sie sich vom 6. Jahrhundert ab langsam durch, aber viele Gene-
rationen sind dafür nötig; die ostsyrische, nestorianische Kirche
bleibt überhaupt bei einem Kanon ohne Judasbrief und Apokalypse.
So sieht in großen Zügen der Werdegang des neutestamentlichen
Kanons aus. Und diesen Werdegang muß man in Erinnerung haben,
wenn man grundsätzliche Aussagen über den neutestamentlichen Ka-
non machen will.
4. Weiterhin darf nicht übersehen werden, daß neben den sich in
der allgemeinen Schätzung als kanonisch durchsetzenden neutesta-
mentlichen Schriften lange Zeit hindurch, wenn auch in den verschie-
denen Kirchengebieten und Gemeinden in verschiedenartiger Zu-
sammensetzung, eine ganze Reihe von schließlich verworfenen Schrif-
ten volles oder teilweise kanonisches Ansehen besaß.
Darauf brauchen wir hier im einzelnen nicht einzugehen. Es ge-
nügt wohl, um die Situation zu beleuchten, auf die bekannte Tat-
sache hinzuweisen, daß der Codex Sinaiticus den Barnabasbrief und
den Hirten des Hermas enthält, der Codex Alexandrinus den 1. und
den 2. Clemensbrief. Der Codex Sinaiticus stammt aus dem 4., der
Codex Alexandrinus sogar I aus dem 5. Jahrhundert. Damals werden
diese Schriften in bestimmten Gebieten noch im Gottesdienst verlesen,
erfreuten sich also dort kanonischen Ansehens.
Einige grundsätzliche Bemerkungen sind jedoch erforderlich:
5. Der neutestamentliche Kanon nimmt seinen Anfang in einer Zeit
und als Zeichen einer Zeit, welche jene Unmittelbarkeit zum Herrn
zu verlieren sich bewußt war, die sich in steter neuer Geistoffenba-
144 KURTAL.um [10111]

rung und der durch sie geübten direkten Leitung der Kirche durch
den Herrn kundtat. Daß man im Kanon eine Schranke zwischen ech-
ter und unechter Offenbarung aufrichtet, wird außerdem befördert
durch die Erscheinungen des Montanismus und der Gnosis mit ihrem
Anspruch auf ein Mehr an göttlicher Offenbarung und Offenbarungs-
schriften auf der einen Seite und durch Mareion mit seinen Schülern
auf der anderen Seite mit ihrem V erlangen nach einem Weniger, als
die Kirche des zweiten Jahrhunderts ihrem Glaubensbesitz ent-
sprechen sah.
Dieses Gesetz, nach dem der neutestamentliche Kanon entstanden
ist, darf nicht übersehen werden. Und weiter:
6. Es kann nidzt bestritten werden, daß die von der alten Kirche
angewandten äußeren Maßstäbe für die Kanonisierung der neutesta-
mentlichen Schriften, von den modernen wissenschaftlichen Erkennt-
nissen aus betrachtet, unzureichend, nicht selten sogar falsch waren.
Die heutige Einleitungswissenschaft urteilt in vielen Fällen über Ver-
fasser und Entstehungszeit der neutestamentlichen Schriften anders
als die alte Kirche.
Ich brauche das hier im einzelnen nicht darzulegen. Wenn man die
äußeren Prinzipien, welche bei der Auswahl der kanonischen Schrif-
ten eine Rolle gespielt haben, in eine Formel zusammenfassen will,
kann man eigentlich nur vom "Prinzip der Prinzipienlosigkeit" spre-
chen. Man kann es etwa am Canon Muratori schön studieren, wie je-
des sichtbar werdende Prinzip für die hier getroffene Auswahl so-
gleich mit ausdrücklichen Worten wieder aufgehoben wird. Apostel
sollen die Verfasser der kanonischen Schriften sein: Lukas und Mar-
kus aber sind keine Apostel, Lukas nicht einmal Augenzeuge (6 ff.).
Es gibt Fälschungen von Apostelschriften (64 ff.), sie werden selbst-
verständlich verworfen; aber auch Schriften, an deren apostolischer
Abfassung nicht gezweifelt wird (wie die Apokalypse des Petrus),
werden von einigen nicht angenommen (72 f.). Die Sapientia Salo-
monis schließlich, die im neutestamentlichen Zusammenhang auf-
taucht, durchbricht den Zusammenhang völlig, ist sie doch nicht ein-
mal von Salomo selbst, sondern "von Freunden zu seiner Ehre" ge-
schrieben (69 ff.). An die ganze Kirche müssen die Schriften gerichtet
sein: aber Paulus schreibt doch nicht nur an einzelne Gemeinden (was
sich noch in das j Schema einfügen läßt, 55ff.), sondern sogar an ein-
zelne Personen (59 ff.). Einheitlich muß die Botschaft sein: aber die
principia ( = Anfänge oder = Grundsätze?) der Evangelien sind
doch verschieden (16 ff.). Alt müssen kanonische Bücher sein (73 ff.)
- das ist schließlich der einzige Grundsatz, der durchgehalten wird
- er wieder ist durch Irrtümer in der zeitlichen Ansetzung durch-
[11/12] Das Problem des neutestamentlichen Kanons 145
löchert. Bei allen andem Kanonsverzeichnissen würde ohne Zweifel
derselbe Tatbestand sichtbar werden, wären sie nicht so kurz ge-
halten.
Immerhin wird, sobald die Väter- und das gilt bis hin ins 4. Jahr-
hundert zu Euseb - sich ausführlicher über neutestamentliche Schrif-
ten äußern, ein Tatbestand deutlich, der wenigstens am Rande fest-
gestellt werden soll:

7. Es ist nicht zu übersehen, daß den verfaßten Kirdz.en von heute


weithin die Freiheit verlorengegangen ist, mit welcher die Väter der
alten Zeit (aber auch die Reformatoren) über Zugehörigkeit oder
Nichtzugehörigkeit einer Sdzrift zum Kanon urteilten.

Man muß nur einmal lesen, wie Dionys von Alexandrien sich über
die Apokalypse äußert (Euseb, h. e. VII, 25), um den Abstand zu er-
messen, in dem die offiziellen kirchlichen Verlautbarungen, aber
auch die Äußerungen nicht weniger Theologen (Neutestamentler ein-
geschlossen) von heute sich zu jener Zeit vor 1700 Jahren befinden.
Hier werden die johanneischen Schriften, vom Evangelium bis hin zu
den Briefen, miteinander verglichen: in ihrem Sprachschatz usw. wie
in ihren theologischen Aussagen, unter Heranziehung aller sonstigen
Nachrichten und Hilfsmittel und vor allem mit einer Objektivität
und voraussetzungslosen Freiheit, daß nicht nur die Resultate ganz
modern klingen, sondern die Gesamthaltung in unsere Tage zu ge-
hören scheint- nicht wie sie sind, sondern wie sie sein sollten.
Aber kehren wir nach dieser Abschweifung zum 2. Jahrhundert
zurück. Man kann sich angesichts des Tatbestandes, den man hier
vorfmdet, des Eindrucks beinahe nicht erwehren, daß die hier ihr er-
stes entscheidendes Stadium erreichende Kanonbildung ein super-
additum darstellt, dessen das ausgehende 2. Jahrhundert eigentlich
nicht bedurft hätte. Denn fragen wir nach der letzten theologischen
und kirchlichen Instanz dieser Zeit, so ist das nicht die Schrift, son-
dern die regula fidei, die regula veritatis, der Kavoov tli~ tiÄT}'6Ela~.
Diese regula veritatis, dieser Kavrov stellt die Norm dar, an der alles
gemessen wird - auch die Bücher des sich bildenden Neuen Testa-
ments, sofern noch irgendwelche Zweifel an ihrer Allgemeingültig-
keit bestehen. Ob eine Schrift unter dem Namen eines Apostels wirk-
lich von der Kirche angenommen werden kann, entscheidet sich letzt-
lich daran, ob ihr Inhalt mit diesem Kanon übereinstimmt. Abfas-
sung durch einen Apostel, Alter und was dergleichen Gesichtspunkte
mehr sind, bedeuten demgegenüber nur Vorläufigkeiten. Die Ge-
schichte, die uns vom IBischof Serapion von Antiochien (ca. 190-211)
erzählt wird (Euseb, h. e. VI, 12), ist ganz charakteristisch. In Rhossus,

10 Käscmann, Kanon
146 [12]

einer Gemeinde nahe bei Antiochien, pflegte man das Petrusevange-


lium (im Gottesdienst) zu lesen. Bei einem Aufenthalt dort wird Se-
rapion deswegen befragt; er stimmt der Lesung zu. Nach Haus zu-
rückgekehrt, beschafft er sich das Petrusevangelium (das er offen-
siebtlieh bisher nicht kennt!), liestes-und schreibt sofort einen Brief
nach Rhossus. Denn er hat jetzt festgestellt, daß im Petrusevangelium
'ta IJ.EV 1CÄElova 'toii bQ-Doii A.Oyou 'toü ac.oti}Qo;, 'tLva öt nQOOÖLEa'taAj.l!va
(VI, 12, 6). Eine Liste der Irrtümer fügt er seinem Schreiben bei, um
die Gemeinde davon zu überzeugen. Damit ist die Frage nach der
Lesung des Petrusevangeliums (im Gottesdienst), d. h. seiner Kanoni-
zität, negativ beantwortet. Zusätzlich kündigt Serapion seinen baldi-
gen Besuch in Rhossus an, offensichtlich um den Irrtum mit der Wur-
zel auszurotten.
Dieser Kanon, die regula fidei, steht nun selbstverständlich in en-
ger Beziehung zur Schrift. Die regula ist aus ihr - soweit sie damals
rezipiert ist- herausgewachsen als Zusammenfassung des Glaubens-
besitzes der Kirche. Aber es ist doch nun nicht so, daß die regula nur
ein Kompendium, eine kurze Zusammenfassung des Schriftinhaltes
darstellte. Das hat das ausgehende zweite Jahrhundert zwar gemeint;
dennoch aber ist unverkennbar, daß diese regula bis in die Zeiten
mündlieber Tradition zurückgeht, daß sie zwar durch die Schrift -
etwa die Briefe des Paulus- beeinflußt ist, ihrerseits umgekehrt aber
wieder auf die Schrift und ihren Lehrinhalt- etwa die späteren ka-
tholischen Briefe - eingewirkt hat. Sie stellt den Niederschlag des
sieb fortbildenden Glaubensbesitzes der Gemeinde dar. Auch wenn
ihr Wortlaut (im Bekenntnis) für längere Zeit oder überhaupt kon-
stant bleibt, verändert sich dennoch ihr Inhalt. Denn die Formel ge-
winnt Leben, ja Existenz überhaupt, nur bei der Interpretation, sie
setzt ein Vorverständnis voraus. Und beide entwickeln sich ständig
fort, parallel zur allgemeinen theologischen und kirchlichen Entwick-
lung mit ihren wachsenden und wechselnden Anforderungen. Die
regula ist außerdem nur eine der Normienmgsinstanzen, in welchen
die Kirche des 2. Jahrhunderts die Garantie für die reine Lehre sieht:
neben ihr steht die vielfache, ununterbrochene Kette der bischöf-
lichen Amtsträger, welche theoretisch bis auf die Zeiten der Apostel
zurückgeht und so die- wieder theoretisch- unveränderte Weiter-
gabe des ererbten Glaubens und der ererbten Lehre von der einen
Generation auf die nächste sichert. Man kann, wenn man will, die
Reihenfolge als symptomatisch bezeichnen, in welcher das Wort
"Kanon" gebraucht wird: Zuerst bedeutet es die regula fidei, dann
die Entscheidungen der Synoden und zuletzt erst, vom 4. Jahrhun-
dert ab, die Liste der Bücher der heiligen Schrift, welche für den kirch-
lichen Gebrauch zugelassen sind.
[12/13] Das Problem des neutestamentlichen Kanons 147

Welche Rolle hat nun die Kirche bei der Entstehung des Kanons
gespielt? Wir brauchen nur das Fazit aus unserem Überblick über die
neutestamentliche Kanonsgeschichte zu ziehen: I
8. Die kirchlichen Instanzen des 2. und der folgenden Jahrhun-
derte vollzogen mit ihrer Festsetzung des Kanons die Entscheidungen
nach, welche bei den Gemeinden, genauer gesagt bei den einzelnen
Gläubigen, vorher vollzogen worden waren. Die verfaßte Kirche als
solche hat den Kanon nicht geschaffen, sie hat den geschaffenen Ka-
non anerkannt. Erst von der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts ab
setzt anläßlich des Abschlusses der Kanonsbildung eine Einwirkung
kirchlicher Instanzen ein.
Bei diesem Satz ist zu beachten, daß er von "kirchlichen Instanzen",
von "verfaßter Kirche" spricht, nicht von "Kirche". Natürlich hätte
auch dieses Wort gebraucht werden können; aber es hätte dann von
vornherein sichergestellt werden müssen, daß es hier in einem ver-
engten Sinne gemeint ist. Denn daß die Kirche= die Gesamtheit der
Gläubigen den Kanon geschaffen hat, versteht sich von selbst. Aber
dieser Kanon ist eben von unten her gewachsen, in den Gemeinden,
bei den Gläubigen, und dann erst von oben her amtlich legitimiert
worden, nicht umgekehrt, daß er von oben her, sei es von Bischöfen
oder von Synoden dekretiert und dann von den Gemeinden ange-
nommen worden sei.
Denken wir an die Anfänge der Kanonsbildung: Weder die Her-
renworte noch die Paulusbriefe noch die vier Evangelien erhalten
ihre Stellung durch den Spruch irgendeiner kirchlichen Instanz. Die
Herrenworte sind Autoritätkraft ihrer Herkunft, kraftihres vollmäch-
tigen Inhalts. Die Paulusbriefe werden von den Gemeinden ange-
nommen und anerkannt, an die sie gerichtet sind, im Normalfall
ohne weiteres, manchmal erst nach Schwierigkeiten (z. B. die Korin-
therbriefe). Wenn man sie ablehnt (mindestens bei einem Teil der
Empfänger des Galaterbriefes ist das der Fall gewesen), schließt man
sich damit aus dem Kreis der paulinischen Gemeinden aus und wird
zu einer Sondergemeinschaft, die anderen Autoritäten folgt. Man
hält die Briefe auch nach dem Tod des Paulus in Ehren und ist be-
müht, möglichst alle zu besitzen, um die Stimme des Paulus weiter
hören zu können. So entsteht das Corpus der Paulusbriefe.
Die vier Evangelien erwerben sich, jedes für sich allein, einen Kreis
von Lesern und Anhängern. Sie setzen sich gegenüber der erheb-
lichen Konkurrenz anderer Evangelien durch, weil sie sich den Gläu-
bigen als "wahr" erweisen, und zwar einer weit größeren Zahl von
Gläubigen und Gemeinden als die "Konkurrenzevangelien". Gno-
stische Evangelien und Briefe werden von denen, die in ihnen die

to•
148 KuRT .ALAND [13/14]

Wahrheit zu hören meinen, in die christlichen Gemeinden einzu-


führen versucht. Lehnen diese Gemeinden sie ab, verzichten die An-
hänger der gnostischen Schriften entweder auf sie oder sie scheiden
aus ihnen aus. Fällt die ganze Gemeinde den gnostischen Schriften
zu, tritt sie damit zur gnostischen "Gegenkirche" über. Ist das nur
zum Teil der Fall, kommt es zu Spaltungen. Natürlich kann es auch
zu Mischungen kommen - in vielen Gemeinden sind neben einem
oder mehreren der vier Evangelien sicher auch apokryphe Evange-
lien in Benutzung, I vielleicht sogar in offizieller Benutzung, gewesen.
Der Ausgangspunkt dürfte jedenfalls im allgemeinen bei einem
Evangelium gelegen haben, welches das Evangelium war; der Ge-
brauch mehrerer Evangelien nebeneinander (erst jetzt werden sie
durch Verfassernamen usw. voneinander geschieden) stellt eine spä-
tere Stufe dar. Bereits in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts ha-
ben die vier Evangelien aber alle anderen weit hinter sich gelassen-
nicht weil eine kirchliche Instanz, oder gar eine kirchliche Zentralin-
stanz (die es ja noch gar nicht gab}, so verfügt hätte, sondern weil
diese Evangelien den Gemeinden den "Beweis des Geistes und der
Kraft" (1. Kor. 2, 4) erbracht hatten. Natürlich haben in den einzel-
nen Gemeinden deren Sprecher und Führer, zunächst das Presbyte-
rium, dann die Bischöfe, eine maßgebende Rolle bei der Annahme
und Einführung der Schriften gespielt, aber doch nur als Vollstrecker
des Gemeindewillens.
Die sog. katholischen Briefe und die Apokalypse sind auf dieselbe
Weise von den Gemeinden angenommen worden. Jeder Brief und
auch die Apokalypse wird zunächst in einer oder in wenigen Ge-
meinden gelesen. Er breitet sich von ihnen aus; von Fall zu Fall ist
die Schnelligkeit wie die Reichweite dieser Verbreitung verschieden.
Die einen Gemeinden nehmen ihn auf, die anderen nicht. So kommt
es zu der bunten Mischung von "Kanonstypen", die wir bis tief ins
4. Jahrhundert in der ganzen Christenheit fmden. Dabei kann es zu
der Ausbildung von "Kanonstypen" für ganze Bezirke, Kirchenpro-
vinzen, ja einer Trennung nach Sprachgebieten (griechisch, lateinisch,
syrisch) kommen. Im Normalfall wird es so sein, daß die Schriften in
ihrem Entstehungsgebiet besondere Anerkennung und Verbreitung
finden. Es kann aber auch ganz anders zugehen: die Apokalypse ist
bestimmt nicht im lateinischen Westen entstanden und hat dennoch
hier ihre besondere Geltung. Hier spielt die besondere Geschichte
und die besondere Erfahrung der Kirchengebiete eine Rolle, nicht der
Spruch kirchlicher Instanzen. Wesentliche Bedeutung kommt dabei
der Stellungnahme der Theologen zu, die ja keineswegs immer Trä-
ger kirchlicher Ämter sind. Auch wo das der Fall ist, wirken ihre Ent-
scheidungen nichtkraftdes Amtes, sondern kraftder Persönlichkeit
(14/15] Das Problem des neutestamentlichen Kanons 149
derer, die sie treffen, und kraft ihres Sachgehaltes. Im Fall der Apo-
kalypse ist die Ablehnung durch den Osten wohl nur so zu erklären:
am Anfang steht ihre Ablehnung infolge des Kampfes gegen die
Montanisten, deren Anschauungen durch die Apokalypse gestützt zu
werden scheinen. Der Montanismus hat seine hauptsächlichen Wir-
kungen im Osten entfaltet, der eigentliche Westen wird von ihm
kaum berührt (Tertullian und Afrika sind die Ausnahme). So bleibt
die Bestreitung der Apokalypse auf den Osten beschränkt. Als hier
der Kampf gegen die Montanisten ausgestanden ist (Anfang des
3. Jahrhunderts), setzt der Einfluß der Theologie des Origenes ein,
dessen eschatologische Anschauungen denen einer wörtlich verstan-
denen Apokalypse absolut entgegengesetzt sind. So wird die ursprüng-
liche Zurückhaltung des Ostens gegenüber der Apokalypse zur end-
gültigen Ablehnung. Die Theo!logie des Origenes bleibt für lange Zeit
ohne Wirkung auf den Westen, so kann sich die Apokalypse hier un-
gehindert ausbreiten und ihren festen Platz im Kanon einnehmen.
Gleich, ob wir den Bericht des Origenes aus der ersten Hälfte des
3. Jahrhunderts oder den des Euseb aus der ersten Hälfte des 4. Jahr-
hunderts über den Kanon ihrer Zeit nehmen: in beiden Fällen finden
wir mehrfach einen Hinweis auf den Schwebezustand, in dem sich
die Anerkennung einer ganzen Reihe von neutestamentlichen Schrif-
ten befmdet. Hier wird nicht eine Statistik der Entscheidungen der
einzelnen Kirchenregimente, sondern ein Bericht über die Meinung
der ganzen Kirche gegeben. Sicher dürfte der Bischof oder die Synode
spätestens im 4. Jahrhundert maßgeblich die Meinung einer Ephorie
oder einer ganzen Kirchenprovinz bestimmt haben, aber sie darf nicht
vorschnell mit der Meinung der Kirche als solcher identifiziert wer-
den. Entscheidungen kirchlicher Instanzen mit verbindlichem Gel-
tungsanspruch fmden wir erst von der zweiten Hälfte des 4. Jahrhun-
derts ab. Was Athanasius in seinem 39. Festbrief verkündet, faßt er
als für .Ägypten verbindlich auf. Genauso ist die Entscheidung der
afrikanischen Synoden am Ende des 4. und am Anfang des 5. Jahr-
hunderts für Afrika zu verstehen. Der Westen folgt in seiner Hal-
tung dem Theologen Augustin, nicht dem Bischof von Hippo Regius,
der Osten dem Bischof Athanasius, soweit es sich um .Ägypten han-
delt, sonst jedoch ebenfalls dem Theologen Athanasius, dem gefeier-
ten Vorkämpfer der trinitarischen Rechtgläubigkeit. Aber ganze
Gruppen und Gebiete halten sich vom Urteil des Athanasius fern. Wo
die antiochenische Theologie dominiert, bleibt man ohnehin bei einer
anderen Abgrenzung des Kanons, wohin der Einfluß der drei großen
Kappadozier Basilius und der beiden Gregore reicht, da hält man sich
wenigstens von der Anerkennung der Apokalypse fern. Wie groß
diese Einflüsse der Theologenschulen sind (die ja durchaus über
150 KURTAL.um [15/16]

die Grenzen der damaligen kirchlichen Jurisdiktionsbezirke hinaus-


gehen), sehen wir daran, wie lange es dauert, bis der 27 Schriften-Ka-
non wirkliche Allgemeingültigkeit erlangt.
Ein Einfluß kirchlicher Instanzen auf die Bildung des neutesta-
mentlichen Kanons ist also erst in der sechsten Stufe der langdauern-
den Entwicklung, bei ihrem grundsätzlichen (nicht praktischen) Ab-
schluß, festzustellen. Hier wird in der Tat den Gemeinden und den
Theologen "von oben her" etwas anzunehmen zugemutet, was nicht
in freier Entwicklung "von unten her" entstanden ist. Das gilt vor
allem für den Westen. Allerdings ist der Umfang des Neuen nicht so
groß, wie man gelegentlich gemeint hat. Denn die Ausdehnung der
katholischen Briefe auf die Siebenzahl ist im Osten wie im Westen
damals schon weitgehend erfolgt; in bezugauf sie handelt es sich bei
den kirchlichen Entscheidungen nur um eine offizielle Feststellung
dessen, was sich praktisch schon im wesentlichen durchgesetzt hat. An-
ders ist es dagegen mit der Feststellung der Kanoniziltät des Hebräer-
briefes im Westen und der Kanonizität der Apokalypse im Osten.
Auch bei der Ausscheidung der Apokryphen wird offensichtlich man-
ches von oben her abgeschnitten, was in den verschiedenen Kirchen-
gebieten (wenn auch in verschiedener Zusammensetzung) damals
noch Gültigkeit hat. Aber auch hier hat man sich offensichtlich keines-
wegs überall an die offiziellen Entscheidungen gehalten und nach wie
vor die Grenze zwischen kanonischen und apokryphen Schriften nach
eigenem Ermessen gezogen, bis dann schließlich im Laufe der Ent-
wicklung die Mehrheit, welche diese Apokryphen sämtlich verwarf,
über die Minderheit siegte, welche - in sich vielfach gespalten und
uneinig - an dieser oder jener apokryphen Schrift festgehalten hatte.
Für die Beurteilung dieser Vorgänge ist weiterhin die Feststellung
wichtig, daß es sich bei ihnen nur um die Entscheidung über einen
Restbestand handelte. Über die Kanonizität des Hauptteiles des Neuen
Testaments (Hauptteil vor allem sachlich, aber auch umfangsmäßig:
566 von 657 Nestle-Seiten) gab es schon seit Generationen keinen
Streit mehr, weder in der griechischen noch in der lateinischen Kirche,
geschweige denn zwischen den beiden Kirchen. Der verbleibende Rest
(91 Nestle-Seiten) war praktisch auch schon (mit Ausnahme von Apk.
bzw. Hehr.) in seiner Kanonizität fast allgemein anerkannt. Für die
griechische Kirche ist das nach dem Zeugnis des Euseb bereits in der
ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts der Fall. Euseb schreibt über die
strittigen katholischen Briefe (h. e. II, 23, 25): Jakobus solle den ersten
von ihnen verfaßt haben. Er werde jedoch für unecht gehalten, weil
seiner wie des sog. Judasbriefes nur von wenigen der Alten gedacht
werde. "Wir wissen aber, daß auch diese beiden Briefe zusammen mit
den übrigen (katholischen Briefen) in den meisten Kirchen öffentlich
[16/17] Das Problem des neutestamentlieben Kanons 151

verlesen werden" (d. h. als kanonisch gelten). In diese Aussage sind


auch 2. Petr. (vgl. h. e. 111, 3, 1 und 111, 25, 3) sowie 2. und 3. Johan-
nes {vgl. h. e. 111, 25, 3) einzubeziehen. Für den Westen fehlt uns eine
ähnliche eindeutige Aussage (weil es dort bis zu Hieronymus eine
vergleichbare Parallele zu Euseb nicht gibt), aber viel anders als im
Osten dürfte die Situation dort auch nicht gewesen sein.
Athanasius, um mit ihm zu beginnen, zieht 367 nur die Schluß-
folgerung aus dieser Situation; wesentlich Neues verordnet er für die
ersten 26 Bücher des Neuen Testaments mit seinem 39. Festbrief
nicht. In bezugauf die Apokalypse liegen die Dinge etwas anders; es
war davon, aber auch von den Erfahrungen des Athanasius bei sei-
nem Aufenthalt im Westen, schon die Rede. Die Rezeption der Apo-
kalypse - die damals auch im Osten in ihrer Geltung wenigstens
Fortschritte gemacht haben dürfte- ist bei Athanasius wie in der
Zeit danach aus dem Bedürfnis nach dem Ausgleich mit dem Westen
zu erklären. Wir leben in der Zeit des ausgehenden arianischen Strei-
tes mit seinen (nicht nur durch die Verbannungen von Theologen des
Ostens nach dem Westen und umgekehrt, sondern auch aus sach-
lichen Gründen) sehr viel engeren Wechselbeziehungen zwischen
griechilscher und lateinischer Kirche als in vergangenen Zeiten. Hier
ist ein solcher Ausgleich das Gewiesene. Auch der Westen, der durch
Hieronymus (mit ihm haben wir eine Parallele zu Euseb im Westen)
und Rufm einen neuen Zugang zur Theologie des Ostens gewinnt,
ist an einem solchen Ausgleich interessiert. Unter dem besonderen
Einfluß des Hieronymus in Italien und Augustins in Mrika zieht der
Westen mit dem Osten in der abschließenden Feststellung des Ka-
nons gleich. Das einzige wesentliche Problem bedeutet für ihn der
Hebräerbrief, es kannangesichtsdes Inhaltes des Briefes verhältnis-
mäßig leicht gelöst werden.
Mehr ist damals in Ost und West nicht geschehen. Um es zu wie-
derholen: Die Tatsache, daß im ausgehenden 4. Jahrhundert der Ka-
non (im Grundsatz) endgültig abgeschlossen wurde, soll in ihrer Be-
deutung nicht verkleinert werden. Sie darf aber in ihrer Bedeutung
auch nicht überschätzt werden. Denn der Kanon des Neuen Testa-
ments, so wie ihn die Kirche am Ausgang des 4. Jahrhunderts fest-
stellt, ist um 200 bereits zu 6/e fertig und in der ganzen griechischen
und lateinischen Kirche bereits unbestritten angenommen. Und diese
6/e umfassen alle entscheidenden Schriften des Neuen Testaments.

9. Trotz aller Unvollkommenheiten und Fragwürdigkeiten, die wir


bei der Kanonsbildung beobachten, werden wir urteilen müssen, daß
die Entscheidung der alten Kirche über den neutestamentlichen Ka-
non nicht zu übertreffen ist, was seine Ausdehnung angeht. Von
152 KURT.Al.AND [17/18]

keiner der wz.s aus der Frühzeit der Kirche außerhalb des Neuen Te-
staments erhaltenen Schriften wird man urteilen können, daß sie
heute legitim dem Kanon hinzugefügt werden könnte; eine Revision
des neutestamentlichen Kanons wäre nur durch Abstriche an dem da-
mals für kanonisch Erklärten möglich, nicht durch Erweiterung, sei
es in welcher Richtung auch immer.

Der (formale) Abschluß der Kanonsbildung im ausgehenden


4. Jahrhundert bringt- wenn auch in engeren Grenzen, als oft ange-
nommen - die unmittelbare Einflußnahme der verfaßten Kirche auf
die Gestaltung des neutestamentlichen Kanons, und zwar offensicht-
lich nicht ohne taktische kirchenregimentliehe Überlegungen, welche
der Zeit vorher - zumindest doch in diesem Umfang und dieser Di-
rektheit- fremd sind. Dieser Vorgang ist dem parallel, was wir auf
anderen Gebieten auch beobachten; die Kirche, welche eine Macht in
der Welt geworden ist, erliegt Versuchungen und Einflüssen, vor
denen sie bewahrt blieb, solange sie Kirche unter der Verfolgung war.
Aber auch in der Zeit vorher ist mit Händen zu greifen, daß die
Kirche mit unzulänglichen äußeren Maßstäben arbeitet. Demgegen-
über kann das tatsächliche Resultat des Kanons den Betrachter nur
immer wieder aufs höchste erstaunen. Es bleibt unerklärbar, wenn
man nicht hinter dem Handeln der Menschen und ihren fragwürdi-
gen Maßstäben das Walten der providentia Dei voraussetzt, das Wir-
ken des heiligen Geistes. I
Gewiß ist uns nicht alles erhalten, was die alte Kirche an Schriften
besaß, die in Konkurrenz zu dem sich bildenden Neuen Testament
standen. Aber wir haben über das Verlorengegangene soviel Nach-
richten, meist besitzen wir sogar größere und kleinere Fragmente von
ihm, daß ein Urteil darüber möglich ist. Das Wesentliche von dem,
was in ernsthafter Konkurrenz mit dem Neuen Testament gestanden
hat, ist uns sogar vollständig erhalten. Beginnen wir mit den Evan-
gelien: gewiß finden wir unter den Logia Jesu hin und wieder Worte,
von denen wir wünschen möchten, daß sie im Neuen Testament stün-
den, weil sie in Vollmacht gesprochen und denen in den Evangelien
an Würde gleich scheinen. Aber ihre Zahl ist doch sehr gering, sehr
viel geringer jedenfalls, als es dem Außenstehenden oft scheint. Daran
vermag auch das Thomasevangelium nichts zu ändern. Das meiste
in den Logia Jesu trägt den Stempel späterer Empfindung, min-
destens aber ist es so "zersagt", daß es absolut sekundär erscheint. Es
ist charakteristisch, daß Papias, der sich in der ersten Hälfte des
2. Jahrhunderts bei seiner "Auslegung von Herrenworten" besonders
um die Ausschöpfung der mündlichen Oberlieferung bemühte, offen-
sichtlich nicht sehr viel an wesentlichem Stoff, über die vier Evange-
[18/19] Das Problem des neutestamentlichen Kanons 15.3

lien hinaus, zutage förderte - wenn wir dem Bericht des Euseb
(h. e. 111, 39) vertrauen können. Die Evangelienproduktion der Gno-
sis ist absolut unter dem Niveau der kanonischen Evangelien. Das
gleiche gilt von den Kindheitsevangelien. Wohin wir blicken, nir-
gendwo finden wir eine Evangelienschrift, die wir einem der vier ka-
nonischen Evangelien an die Seite stellen möchten, geschweige denn,
daß wir das Bedürfnis empfänden, sie an die Stelle eines der vier zu
setzen.
Was an Apostelakten und Apostelbriefen umläuft, ist im Normal-
fall auf den ersten Blick als reine Erfmdung gekennzeichnet, es war
als "christlicher Roman" dem Unterhaltungs- und Erbauungsbedürf-
nis des 2. Jahrhunderts interessant, mehr bedeutet es aber auch nicht.
Selbst die Apokalypse des Petrus steht weit hinter der kanonischen
Offenbarung zurück. Nehmen wir die Apostolischen Väter, von denen
der Barnabasbrief, die Klemensbriefe, die Didache, der Hirte des Her-
mas lange Zeit als kanonisch galten, so wird das Urteil ausnahmslos
dasselbe sein - und zwar ohne Rücksicht auf den theologischen
Standpunkt-, daß ihre Verwerfung zu Recht erfolgte. Die Didache
hat nach ihrer Wiederauffmdung im 19. Jahrhundert berechtigte
Sensation gemacht- aber lediglich als Dokument aus der Frühge-
schichte des Christentums; auf den Gedanken, daß sie dem Kanon
hinzugefügt werden müßte, ist selbst damals niemand gekommen,
genauso wie niemand ein Bedauern darüber zum Ausdruck brachte,
daß diese Schrift seinerzeit aus dem Kanon gestrichen worden ist. Die
einzige Gruppe in den Apostolischen Vätern, die nach Inhalt und
geistlicher Vollmacht weit über den Durchschnitt hinausragt, ist die
der lgnatiusbriefe. Gewiß -einen Vergleich mit den Paulusbriefen
können sie nicht aushalten, wohl auch nicht mit 1. Petr. und 1. Joh.
- aber Judas, I 2. 3. Joh. beispielsweise, auch 2. Petr. überragen sie
dodl offensichtlich. Weshalb die lgnatiusbriefe nicht in den Kanon
kamen, ist klar: die Angaben der Briefe ließen auch dem Leser, der
ihnen zum ersten Mal begegnete, keinen Zweifel darüber, daß es
sich bei ihrem Verfasser nicht um einen Apostel, sondern um einen
Mann späterer Zeit handelte. Zwar bestanden keine sachlichen Be-
denken gegen den Inhalt der Briefe, ihre nachdrückliche Empfehlung
des Bischofsamtes mußte sie etwa dem 2. Jahrhundert sogar beson-
ders empfehlen. Aber man kam eben wegen des offensichtlichen Man-
gels der Apostolizität gar nicht erst auf den Gedanken, die lgnatius-
briefe in den Kanon zu nehmen, während man beim Judasbrief (und
anderen) infolge der die tatsächliche Situation verhüllenden Verfas-
serangabe einen Apostel als Verfasser voraussetzte, so daß man den
Brief, da er inhaltlich keine Bedenken hervorrief, in den Bereich des
kanonischen Schrifttums aufrücken ließ. Ernsthaft wird jedoch auch
154 [19/20]

heute niemand für die lgnatiusbriefe die Aufnahme in den Kanon


beanspruchen wollen.
Es ist ganz charakteristisch: wenn heute Forderungen nach einer
Revision des Kanons auftauchen, so stets nur in Richtung seiner Ver-
minderung, nicht seiner Vermehrung. In einem Bezirk wird diese
Verminderung des Kanons ja auch schon längst nicht nur stillschwei-
gend, sondern mit unübersehbarer Deutlichkeit überall geübt, und
zwar ohne Unterschied der Konfession und der theologischen Hal-
tung:
10. In allen Konfessionen, gleich wie sie den formalen Bestand des
Kanons fassen, ergibt sich in bezugauf das Alte Testament eine solche
faktische Verengung des Kanons durch das in Jesus Christus und mit
seiner Botschaft gesetzte Neue. Von hier aus wird eine vollständige
und wörtliche Obernahme aller Schriften des Alten Testaments un-
möglich, der alttestamentliche Kanon als solcher also zwar nicht auf-
gehoben, aber doch entscheidend reduziert. Für alle Kirchen geht im
Alten Testament der tatsächliche Kanon mitten durch den formalen
Kanon, ja mitten durch einzelne Schriften dieses Kanons hindurch.
Diese Praxis datiert nicht erst seit der Neuzeit, sondern ist so alt
wie die christliche Kirche. Sie beginnt faktisch bei Jesus selbst, setzt
sich bei Paulus fort und dauert bis auf den heutigen Tag ununter-
brochen an. Damals wie in der gesamten Geschichte der Kirche und
noch heutzutage gilt, daß eine vollständige und wörtliche Übernahme
des Alten Testaments aus dem Christentum herausführt. In der Ur-
christenheit können wir das an den galatischen Gemeinden studieren,
in der Reformationszeit an den Schwärmen, in der Gegenwart an den
Adventisten. Und von diesem Grundsatz ist keine einzige Schrift des
Alten Testaments auszunehmen. Hier hilft keine Umdeutung, keine
Allegorese und keine sonstige theologische Kunst, mag auch der Ver-
such immer wieder locken.
Man muß sogar noch weiter gehen: I
11. Es läßt sich nicht leugnen, daß der neutestamentliche Kanon,
und zwar in der V ergangenheil wie in der Gegenwart, auch in den
Kirchen mit absolut feststehendem Kanon, auch bei den Theologen
aller Schulen und Richtungen, praktisch eine Verengung und V erkür-
zung erfährt. Es ist nur eine Teilwahrheit, wenn als Beleg dafür auf
die die Schriftaussage begrenzende und erläuternde, d. h. praktisch
verändernde, Funktion des kirchlichen Lehramtes in der katholischen
Kirche hingewiesen wird; denn in allen anderen Kirchen geschieht
- wenn auch auf andere Weise - dasselbe. Die Existenz der verschie-
denen Kirchen bereits ist Beweis für eine allseits geübte Verkürzung
des neutestamentlichen Kanons, welche die gleichmäßig als kanonisch
(20/21] Das Problem des neutestamentlichen Kanons 155
anerkannten Schriften des Neuen Testaments und ihre Aussagen in
der eigentlichen Exegese sowohl wie in Lehre, Predigt und allem
kirchlichen Tun, das direkt oder indirekt auf die Schrift zurückgeht,
verschieden wertet, verschieden benutzt und selbst bei gleicher Aus-
wahl ihre Aussagen verschieden akzentuiert und interpretiert. Gäbe
es diese - auf verschiedene Weise geübte - Verengung und V erkür-
zung des Kanons nicht, sondern einen wirklich allen gemeinsamen
und auf gleiche Weise verstandenen Kanon, gäbe es auch nicht ver-
schiedene Konfession_!n.
Offensichtlich existiert auch im Neuen Testament ein "Kanon im
Kanon", wird- ähnlich wie beim Alten Testament- nicht nur eine
Rangordnung innerhalb der Schriften dieses Kanons hergestellt, son-
dern geht der faktische Kanon mitten durch den formalen Kanon, ja
mitten durch einzelne Schriften des Kanons hindurch. Man vollzieht
aus ihm eine von Fall zu Fall wechselnde Auswahl und erhebt diese
Auswahl zum eigentlichen Kanon. Das Selbstverständnis der Kirchen
und theologischen Schulen bildet sich nicht am vollen, offiziell aner-
kannten Kanon, sondern dieser Kanon hat nur eine formale Bedeu-
tung, während der faktisch existente, wirksame Kanon - aus ganzen
Schriften sowohl wie aus ausgewählten Stücken anderer Schriften des
Neuen Testaments bestehend- nach dem eigenen Selbstverständnis
gebildet wird. Das geschieht nicht auf einmal, so daß das Selbstver-
ständnis den faktischen Kanon auf einen Schlag produzierte, sondern
so, daß das Selbstverständnis den vorgefundenen formalen Kanon
etappenweise wandelt und solange umformt, bis beides zur Deckung
gelangt ist.
Was ist nun in dieser Situation zu tun? Drei Möglichkeiten scheint
es für uns zu geben:
1. Wir nehmen die gegenwärtige Lage stillschweigend hin, so wie
sie ist.
2. Wir versuchen aus ihr dadurch herauszukommen, daß wir eine
Diskussion über die richtigen Auswahlprinzipien aus dem formalen
Kanon und über die Prinzipien der Auslegung seines Inhalts führen,
mit dem Ziel, zu einem gemeinsamen faktischen Kanon zu gelangen. I
3. Wir nehmen den offiziellen Kanon des Neuen Testaments nicht
als formale, sondern als faktische Größe.
Es gibt natürlich noch eine vierte Möglichkeit, nämlich die vorge-
tragene Sicht der Dinge für falsch zu erklären. Aber dieser Ausweg
existiert m. E. nur für den, der die Augen vor der Wirklichkeit ver-
schließt. Auch die dritte angeführte Möglichkeit, den offiziellen Ka-
non nicht nur als formal, sondern als praktisch gültig anzusehen,
scheint bei einigermaßen ausreichender Kenntnis der verschiedenen
Kirchen und theologischen Richtungen Illusion zu sein. Man kann
156 KuRTALAND [21/22)

nicht den formalen Kanon als tatsächlich existent nehmen, wenn man
sieht, wie unterschiedlich er faktisch behandelt wird, mag man ihn
auch nirgendwo mit ausdrücklichen Worten außer Kraft setzen.
Luther hat das zwar bis zu einem gewissen Grade getan. Er dokumen-
tierte seine Haltung dadurch, daß er in seiner Ubersetzung des Neuen
Testaments den Hebräerbrief, den Jakobusbrief, den Judasbrief und
die Apokalypse in den Anhang stellte, mit der ausdrücklichen Erklä-
rung, daß sie nicht zu den "rechten, gewissen Hauptbüchern des
Neuen Testaments" gehörten (WADB 7, 344). Aber die Generationen
nach ihm haben diesen Schritt erst halb, dann ganz zurück getan,
wenn die Erinnerung an Luthers Haltung bei ihnen auch nie ganz in
Vergessenheit geraten ist; daß die lutherischen Bekenntnisschriften
bis hin zur Konkordienformel kein verpflichtendes Kanonsverzeichnis
bringen, ist von hier aus zu erklären. Man könnte für Luthers Hal-
tung sogar anführen, daß sie praktisch derjenigen der alten Kirche
um das Jahr 200 entspricht, und von da her ihre Wiederaufnahme als
Ausweg zur Lösung unserer Schwierigkeiten empfehlen. Aber erstens
deckt sich der Kanon Luthers eben nicht genau mit dem um 200: da-
mals sind die von Luther rezipierten 2. Petr., 2. und 3. Joh. nom
außerhalb des gemeinkirchlichen Kanons. Und zweitens bleibt auch
bei einem so gefaßten Kanon das Hauptproblem ungelöst. Selbst die
verbleibenden Teile des Neuen Testaments: Evangelien, Apostelge-
schimte, Paulus-, Petrus- und Johannesbriefe werden in den in Be-
tracht kommenden Kirchen und theologischen Schulen keineswegs
einheitlich interpretiert; auch bei ihrer ausschließlichen Berücksichti-
gung fallen formaler und faktischer Kanon in ihnen nach wie vor
auseinander.
Auch die erste Möglichkeit: wir nehmen die gegenwärtige Situa-
tion stillschweigend so hin, wie sie ist, scheint nicht annehmbar. Sie
würde den gegenwärtigen Zustand verlängern, der doch untragbar
ist. Dieser gegenwärtige Zustand der Zerspaltung der Christenheit in
verschiedene Kirchen und theologische Schulen ist die Wunde an
ihrem Leibe- die Verschiedenheit des faktischen Kanons in ihren ver-
schiedenen Ausprägungen ist nicht nur das maßgebliche Symptom,
sondern gleichzeitig auch die eigentliche Ursache ihrer Krankheit.
Diese Krankheit - die in schreiendem Widerspruch zu der in ihrer
Existenz angelegten Einheit steht- kann nimt hingenommen wer-
den. I
So bleibt als einzige Möglichkeit die vorhin als zweite genannte
übrig:

12. Unsere Aufgabe ist die Diskussion der richtigen Prinzipien für
die Auswahl aus dem fonnalen Kanon und die Auslegung des so Ent-
[22/23] Das Problem des neutestamentlichen Kanons 157
standenen mit dem Ziel der Erlangung eines gemeinsamen fakti-
schen Kanons und einer in den Grundsätzen gemeinsamen Auslegung
seines Inhalts. Diese Diskussion wird nicht nur den gegenwärtigen
Zustand zu umfassen haben, sondern auch seine Vorgeschichte, nicht
nur die heute gültigen Grundsätze für die Auswahl und Auslegung,
sondern auch ihr Werden. Denn nur eine Durchleuchtung der ge-
schichtlidzen Entwicklung kann zum Erkennen der Motive führen,
welche die verschiedenen faktischen Kanonsbildungen und Grund-
sätze der Schriftauslegung verursacht haben, und damit zu den Vor-
aussetzungen für ihre Uberwindung. Auf diese Weise rückt die Ka-
nonsfrage allerdings in das Zentrum der theologischen und kirch-
lichen Auseinandersetzung: sie ist nicht nur den Neutestamentlern,
sondern allen Theologen gestellt. Dreierlei ist erforderlich, wenn sie
im Hinblick auf eine mögliche Lösung behandelt werden soll: Infrage-
stellung des eigenen faktischen Kanons, Ernstnehmen des faktischen
Kanons der anderen, Ernstnehmen des formalen Kanons.

Beginnen wir mit dem letzten: alle faktischen Kanonsbildungen


gehen vom formalen Kanon aus, sie entstehen aus ihm durch Reduk-
tion. Daß Zufügungen zu ihm nicht möglich sind, kann als von allen
Seiten zugestanden vorausgesetzt werden. Wenn man vom allgemein
offiziell als gültig anerkannten formalen Kanon zu einem vielfach
verschiedenen faktischen Kanon mit all seinen theologischen und
kirchlichen Konsequenzen gelangt, wie er uns allerorten entgegen-
tritt, so geschieht das auf dem Wege der versdliedenen Auswahl. Ja,
selbst da, wo Gemeinsames ausgewählt wird, akzentuiert und inter-
pretiert man es verschieden. Jeder von uns wird die Weise, wie er das
tut, wie seine Kirche und die theologische Schule, der er sich zuge-
hörig weiß, das tun, für die richtige halten und bereit sein, sie zu ver-
teidigen. Wenn wir aber dabei stehenbleiben, werden wir höchstens
zu einer Verschärfung der Polemik, aber nie aus der Sackgasse, in der
wir uns befmden, herauskommen. Nur wer bereit ist, sich selbst in
Frage zu stellen und den anderen ganz ernst zu nehmen, kann aus
dem circulus vitiosus herausfmden, in dem sich die Kanonsfrage heute
- und seit langer Zeit- bewegt.
Als erstes wäre also die eigene Auswahl aus dem formalen Kanon
wie die Prinzipien der Auslegung dieser Auswahl kritisch zu über-
prüfen unter gleichzeitiger voller Offenheit für die Auswahl und die
Prinzipien der anderen, mit der immer erneut gestellten Frage, ob
und wie weit diese andere Auswahl und diese anderen Prinzipien ihr
Recht und ihre Gültigkeit haben, welches Gewicht die Motive dafür
im Vergleich zu den eigenen besitzen, welche Legitimität der Vorge-
schichte dieser Motive zu!kommt. Wenn der gemeinsame offizielle Ka-
158 KURTALAND (23]

non den Ausgang für alles bildet, muß sich jeder schließlich die un-
ausweichliche Frage stellen, ob nicht dieser offizielle Kanon doch Be-
standteile enthält, die in der eigenen Kirche und Theologie zu Un-
recht vernachlässigt, übersehen, verworfen wurden, und die neu in
Kraft gesetzt werden müssen mit allen grundsätzlichen und prak-
tischen Konsequenzen, die sich daraus für diese Kirche und Theologie
ergeben.
Dieser Weg wird lang, mühsam und schmerzhaft sein. Aber er muß
gegangen werden, wenn die gegenwärtige Situation überwunden
werden soll. Das Ziel rechtfertigt alle Anstrengungen, alle Mühen
und alle Schmerzen. Denn wenn es uns gelingt, zu einem gemein-
samen faktischen Kanon zu kommen, bedeutet das die Erlangung der
Einheit des Glaubens, der Einheit der Kirche. Gewiß ist das ein fer-
nes Ziel, vielleicht ist es sogar utopisch, überhaupt davon zu sprechen.
Denn die Spaltung, in der wir leben, und die letztlich nichts anderes
als das Resultat des zwischen uns verschiedenen faktischen Kanons be-
deutet, dauert ja nicht seit gestern. Sie dauert auch nicht erst seit der
Reformation oder seit dem Schisma zwischen den Kirchen des Ostens
und des Westens von 1054, sie ist viel älter und geht in ihren Anfän-
gen bis in die alte Kirche, ja bis in die Tage zurück, als Urgemeinde,
paulinische Gemeinden und hellenistische Gemeinden auseinander-
traten. So werden wir uns mit Geduld wappnen und als erstes Ver-
ständnis und Duldung für den faktischen Kanon der anderen aufbrin-
gen müssen. Aber das ist nicht genug, sondern schafft nur die ersten
Voraussetzungen für Weiteres. Dafür allerdings brauchen wir nicht
nur alle Kraft, die uns zur Verfügung steht, sondern mehr. Der Apo-
stel Paulus hat davon gesprochen, daß wir den "Schatz in irdenen Ge-
fäßen" haben (2. Kor. 4, 7). Dieses Wort steht nicht nur über den
Schriften des Kanons, sondern auch über dem Kanon selbst, der diese
Schriften zusammenfaßt. Am Werden dieses Kanons hat ohne Zweifel
die confusio hominum mitgewirkt; seine Entstehungsgeschichte zeigt
uns das ebenso deutlich wie die Schicksale, die er nach seinem Ab-
schluß erlitten hat. Aber der Kanon ist eben nicht nur das Produkt der
confusio hominum, sondern zumindest in seinen entscheidenden Be-
standteilen ebenso Resultat des Wirkens der providentia Dei. Ange-
sichts der Größe und Bedeutung wie der langen Dauer des von der
confusio hominum angerichteten Schadens werden wir der Hilfe der
providentia Dei beim Versuch seiner Beseitigung unmöglich entraten
können. Deshalb muß die Anspannung aller unserer Kräfte begleitet
sein von dem Vertrauen auf die providentia Dei, von ihrer Unterstüt-
zung. Neben, ja vor unserem Bemühen muß das Gebet stehen: Veni,
creator spiritus. Nur der creator spiritus kann die Bewältigung un-
serer Aufgabe gelingen lassen.
Das Problem des Schriftk.anons*
Wir gehen von der Voraussetzung aus, daß uns der Kanon der Hei-
ligen Schrift immer nur im Zusammenhang mit dem Dasein und der
Verkündigung der Kirche gegeben ist. Man hat zwar gelegentlich für
den Gebrauch bei akademischen Diskussionen die Konstruktion eines
Bibellesers erfunden, dem die Bibel ohne die Verkündigung der Kirche
begegnet, etwa einen Neger, der an einer abgelegenen Stelle der afri-
kanischen Küste ein dort angeschwemmtes Exemplar der Bibel in die
Hand bekommt und es zufällig auch lesen kann, ohne von Kirche und
Mission je etwas gehört zu haben. Ob ein solcher Fall eintreten kann
und was dann geschehen würde, braucht uns nicht zu kümmern, da
wir jedenfalls nicht in dieser Lage sind. Außerdem werden wir sehen,
daß ein solcher Bibelleser im Neuen Testament gar nicht vorgesehen
ist und er darum nicht nur eine unnötige, sondern auch eine unsach-
gemäße Konstruktion ist.
Der Anspruch, der dem Bibelleser durch die Verkündigung der
Kirche in der Bibel begegnet, verlangt von ihm die Stellungnahme
zu einem historischen Geschehen, von dem behauptet wird, daß es ein
exklusives göttliches Offenbarungshandeln bedeute. Man wird ihm
nicht verbieten können, daß er von diesem Anspruch zunächst einmal
abzusehen versucht und die Bibel einfach als Historiker liest, für den
sie nichts anderes ist als eine Quellensammlung, aus der er jenes Ge-
schehen in seiner Tatsächlichkeil und in seiner Bedeutsamkeil zu re-
konstruieren versucht. Er wird dann seine erste Aufgabe darin sehen
müssen, die Entstehung jener Quellensammlung zu untersuchen und
dabei auch die Entstehung jenes Anspruchs historisch-genetisch auf-
zuklären. Ob und wie er auf diesem Weg dazu kommen kann, auch
zu dem Anspruch Stellung zu nehmen, den die Kirche mit der I Kano-
nisierung der Schrift erhebt, wird sich zeigen müssen. Jedenfalls kann
ihm die Kirche diese Untersuchung nicht verbieten wollen. Wenn sie
nicht behaupten will, daß der Kanon der Schrift als fertiges Buch vom
Himmel gefallen und damit jeder Diskussion über die Geschichte sei-
ner Entstehung entzogen sei, so ist diese auf der ganzen Linie und
ohne jeden Vorbehalt der historischen Untersuchung freizugeben.

• Vortrag, gehalten in Göttingen und Tübingen im Januar 1952, erstmals ver-


öffentlicht in: ThSt Heft 32, Evangelischer Verlag, Zollikon-Zürich 1952.
160 1-I.&RMANN DIEM (4/5]

Das Ergebnis dieser historischen Untersuchung kann man nach


dem heutigen Stand der Forschung kurz dahin zusammenfassen: Das
Kerygma der Apostel hat sich sehr früh in festformulierten Sätzen
niedergeschlagen, wobei wegen des Einflusses der religiösen Umwelt
die Nötigung entstand, die Einheit des Kerygma zu sichern. Diese
Aufgabe fiel der Theologie zu, welche die Legitimität jener, das
Kerygma fortbildenden Formeln prüft, indem sie dieselben am A.
T. mißt. Das A. T. wird in Gestalt der LXX als al yQaq>al vor-
ausgesetzt. Diese theologische Arbeit der Prüfung des Kerygma
auf seine Einheit in der Schriftengemäßheit führt zur schrift-
lichen Kommentierung und Erweiterung jener fixierten Stücke des
Kerygma. All das dient zunächst nur dem gottesdienstlichen Ge-
brauch, denn die Sammlung der Gemeinde durch das apostolische
Kerygma geschieht in dessen mündlichem Vollzug. Das wird auch
dadurch nicht grundsätzlich anders, daß das Evangelium, in Fortset-
zung jener theologischen Kommentierung des Kerygma immer mehr
auch literarisch ausgebildet wird. Auch die Briefe des Paulus und die
übrigen Schriften gehen in die Schriftlesungspraxis ein, wie sie in der
Fortsetzung des synagogalen Gottesdienstes in der Kirche geübt wird,
und die Rezeption von Evangelien nnd Briefen besteht letztlich eben
in der Aufnahme in den gottesdienstlichen Gebrauch.
Dieser Sammhmgs- und Ausscheidungsprozeß begann lange, bevor
eine zentrale kirchliche Autorität da war, die ihn hätte lenken können.
Trotzdem stand der Kanon in seinen Hauptschriften schon um die
Mitte des 2. Jahrhunderts ziemlich fest, während die Rezeption ein-
zelner Schriften an seinem Rande noch bis in die Mitte des 4. Jahr-
hunderts un1stritten blieb. Erst als der Streit auch um diese Sclniften
so ziemlich ausgetragen war und I Athanasius in seinem Osterbrief
367 zum ersten Mal die 27 Bücher des jetzigen N. T. als norma-
tive Sammlnng aufgestellt hatte, wurde dieser Kanon von einigen
Provinzialsynoden für ihr Gebiet bestätigt. Ein entsprechender Be-
schluß eines allgemeinen Konzils liegt nicht vor. Die römisch-katho-
lische Kirche hat den Kanon dann später im Florentinum und Triden-
tinum aus der Tradition in ihre Lehrentscheidungen aufgenommen.
Das Subjekt in diesem Rezcptionsprozeß ist also die Kirche. Han-
delnd in Erscheinung tritt sie dabei zunächst in einzelnen Gemeinden
und Gemeindeverbänden, und schließlich in ihrer Gesamtheit durch
dazu autorisierte Vertreter, welche den vorhandenen Consensus fi-
xieren und vollends durchsetzen.
Fragt man hinterher, nach was für Maßstäben die Kirche in diesem
Ausscheidnngsprozeß handelte, so lassen sich keine bestimmten Prin-
zipien feststellen, nach welchen die eine Schrift hätte rezipiert und die
andere ausgeschieden werden mii.ssen. Eine ganze Menge der umlau-
[5/6] Das Problem des &hriftkanons 161

fenden Literatur sind Christuslegenden der frommen Dimtung oder


gnostisme Traktate. Andere sind im Verhältnis zu den kanonism ge-
wordenen Schriften sekundäre Sammlungen, die zwar auch solmen
Oberlieferungsstoff enthalten, der in diesen nicht aufgenommen ist.
Dabei kann man aber auch nicht sagen, daß die Rezeption unter dem
Gesimtspunkt des historischen Quellenwertes zur Rekonstruktion der
Geschichte Jesu erfolgt wäre. Sonst hätte mindestens eine Harmoni-
sierung der vier Evangelien erfolgen müssen, zu der sim zwar immer
wieder Ansätze fmden und die zum Beispiel Tatian mit seinem Dia-
tessaron durchführte, das aber schließlich gerade nicht im Kanon ver-
blieb, obwohl es die syrische Kirche noch bis ins 5. Jahrhundert im
gottesdienstlichen Gebrauch behielt. Auch eine Harmonisierung der
theologischen Aussagen wurde wohl versucht, aber ebenfalls nimt
durchgehalten, wie zum Beispiel der Gegensatz von Lukas und Pau-
lus oder von Paulus und Jakobus und manche andere sehr tiefgehende
Gegensätze zeigen, welche die kanonisierende Kirche bestehen ließ.
Die Kanonsgeschichte zeigt jedenfalls nirgends den Sieg eines theo-
logischen Purismus irgendwelcher Art, sondern verrät im Gegenteil
eine I mitunter erstaunliche Weitherzigkeit, so daß sich innerhalb des
Kanons manche Stellen finden, die man heute vielleicht lieber in die
Apokryphen verwiesen sehen würde, während es umgekehrt manche
apokryphen Jesusworte gibt, die man sich ganz gut im Kanon denken
könnte. Ein bestimmtes theologisches Ausscheidungsprinzip läßt sich
also aus der Entstehungsgeschichte des Kanons nicht entnehmen. Wir
erfahren auch nicht, daß in den damaligen Auseinandersetzungen um
die Rezeption bestimmter Schriften mit einem solchen Prinzip argu-
mentiert worden wäre.
Dagegen wurde sehr früh mit einem historischen Gesichtspunkt,
nämlich mit der apostolischen Verfasserschaft als Norm, gearbeitet.
Aber auch dieser Gesichtspunkt ließ sich nicht rein durchführen, weil
die Verfasser der kanonisch gewordenen Schriften zum Teil über-
haupt nicht bekannt, zum Teil jedenfalls nicht als solche bekannt wa-
ren, die sonst im N. T. Apostel genannt werden. Man mußte sich mit
den Bemühungen begnügen, möglichst die früheste Uberlieferung zu
sammeln; und die historische Forschung kann hinterher mit einiger
Wahrscheinlichkeit feststellen, daß die in den Kanon aufgenommenen
Schriften tatsächlich auch die ältesten der noch vorhandenen Schriften
sind. Wenn man trotzdem nach dem Abschluß des Kanons die aposto-
lische Verfasserschaft seiner Schriften betonte, so ist das historisch
nicht zu rechtfertigen. "Apostel" kann dabei nicht mehr im Sinn von
Acta 1, 21 ff. der Augenzeuge der Auferstehung des Herrn sein, ob-
wohl doch gerade an dieser Historizität alles gelegen sein müßte: son-
dern über die apostolische Autorität des Verfassers entscheidet nun

11 Käsemann, Kanon
162 [6/7]
umgekehrt die Aufnahme in den Kanon: Um die Autorität des Ka-
nons zu sichern, wird dieser durch die angebliche apostolische Ver-
fasserschaft historisch begründet.
Das wären in Kürze die wichtigsten Ergebnisse, welche uns die hi-
storische Forschung über die Entstehungsgeschichte des Kanons lie-
fert. Besonders erstaunlich oder gar anstößig ist für den Historiker
an diesem Ergebnis eigentlich nichts. Was er feststellen kann, ist eine
Art von Wechselwirkung zwischen dem sich selbst durchsetzenden
Schriftkanon und der durch die Verlkündigung dieses Kanons kon-
stituierten und diesen umgekehrt wieder autorisierenden Kirche. Das
Ganze ließe sich religionspsychologisch und -soziologisch sehr wohl
erklären als ein Erstarrungsprozeß, bei welchem der ursprüngliche
Enthusiasmus durch schriftlich festgelegte Normen für die Verkündi-
gung abgelöst wurde, mit welchen die entstehende und immer mehr
anwachsende religiöse Gemeinschaft der christlichen Kirche ihren Be-
stand gegen alle Bedrohungen von innen und außen sicherte. Proble-
matisch wird die Sache erst dort, wo die Kirche für den Kanon den
offenkundig nicht gelingenden historischen Beweis der apostolischen
Verfasserschaft führen will.
Jener historische Beweis für die Gültigkeit des Kanons hat freilich
schon in der frühkatholischen Kirche und dann vollends im späteren
Katholizismus keine eigentlich tragende Bedeutung, sondern wir ha-
ben es hier mit einer eigenartigen Kombination von historischem und
dogmatischem Urteil zu tun. Machen wir uns das klar an dem be-
kannten Wort von Augustin: Ego vere Evangelio non crederem, nisi
me ecclesiae catholicae commoveret auctoritas. Das Wort könnte
seinen guten Sinn haben, wenn es nur auf jenen Zirkel zwischen
Kirche und Kanon hinweisen wollte, in welchem die im Ereignis ihrer
Verkündigung sich selbst durchsetzende Schrift sich selbst als kano-
nisch erwiesen hat und darum von der Kirche als kanonisch prokla-
miert wurde. Dann würde es nichts anderes sagen, als daß man dem
Zeugnis des Evangeliums nur glauben kann, indem man zugleich die
Kirche glaubt, welche von der Verkündigung dieses Wortes lebt und
durch ihr Dasein für dessen Gültigkeit zeugt. Das würde also heißen,
daß die Frage nach der Gültigkeit des Kanons außerhalb des Ereig-
nisses von Verkündigung und Glaube sachgemäß weder gestellt noch
beantwortet werden kann, daß also der nach dieser Gültigkeit Fra-
gende an die Verkündigung der Kirche in deren konkretem Vollzug
verwiesen werden muß, in der die Schrift sich selbst legitimiert. So
könnte Augustin selbst das Wort noch verstanden haben, denn ihm
war dabei noch nicht das Lehramt widttig, sondern die Verlängerung
der Stimme Christi in die Reihe der Zeugen hinein. In der katholi-
schen Kirche I bekommt das Wort dann aber den Sinn, daß man die
[8/9] Das Problem des Schriftkanons 163
unsichere Autorität der Schrift durch die sichere Autorität der Kirche
ersetzt und stärkt und die Auslegung der Schrift durch die Kirche ga-
rantiert. Damit hat sich ein scheinbar kleiner, aber äußerst folgen-
schwerer Bedeutungswandel vollzogen: Die Frage nach der Gültig-
keit der Schrift kann jetzt auch gestellt und beantwortet werden
außerhalb jenes Ereignisses von Verkündigung und Glaube. Der nach
jener Gültigkeit Fragende wird darum statt an den konkreten Ort der
Predigt jetzt an die Kirche als eine geschichtlich gewordene Institu-
tion verwiesen, die durch ihr Lehramt verbindlich redet. Für den Aus-
weis der Gültigkeit dieses Redens verläßt sich diese Kirche nicht mehr
darauf, daß ihr Wort sich durch den Heiligen Geist im Glauben des
Hörers selbst als wahr bekundet. Sie garantiert vielmehr vor und
außerhalb dieses Ereignisses die Wahrheit ihres Redens durch die
Vollmacht ihrer kirchenamtlichen Organe. Diese Vollmacht aber be-
gründet sie eben mit jener eigenartigen Vermischung von historischer
und dogmatischer Beweisführung: Die Heilige Schrift ist als die
summa veritatis ein Kompendium der Offenbarungswahrheit, in
welchem virtuell und implizit schon alles deponiert ist, was die Kirche
dann im Verlauf ihrer Geschichte aus der Schrift wie aus einem juri-
stischen Grundgesetz oder einer philosophischen Prinzipienlehre an
einzelnen Wahrheiten deduzieren wird. Da diese Wahrheit auf einer
übernatürlichen Offenbarung beruht, ist ihre Gültigkeit der Nach-
prüfung durch die Wahrheitskriterien der natürlichen Vernunft
grundsätzlich entzogen. Insofern ist sie eine dogmatische Wahrheit.
Da die Quelle der Schrift aber zugleich das historische Zeugnis der
Apostel ist, in welchem diese offenbarte Wahrheit ihre geschichtliche
Trägeringefunden hat, ist sie zugleich historisch legitimiert. Und die
Kirche, die selbst eine dogmatische und eine historische Größe zu-
gleich ist, verbindet diese doppelte Legitimierung der Schrift da-
durch, daß sie durch die dogmatischen Entscheidungen ihres Lehr-
amtes je und je die in diesem geschichtlichen Ausscheidungsprozeß
rezipierten Wahrheiten und ausgeschiedenen Irrtümer dogmatisiert
oder anathematisiert. Das gilt ebenso I für das Dogma des Schriftka-
nons als ganzem wie für die daraus gefolgerten Einzeldogmen. Dabei
kann es gar nicht störend wirken, daß dieser Dogmatisierungsakt in
bezugauf den Kanon erst tausend Jahre nach dessen tatsächlichem
Absd:lluß durch das ökumenische Konzil von Florenz (1458-1445) er-
folgte. Der Schriftkanon kann ja faktisch längst die Norm für die
Dogmen der Kirche gebildet haben, und die eines in gewissem Sinn
zufälligen Tages erfolgte Dogmatisienmg des Kanons ist nur die
nachträgliche Bestätigung dafür, daß das in der Tat geschehen ist und
weiterhin geschehen soll. Wie für jedes einzelne aus dem Kanon ab-
geleitete Dogma gilt ja auch für den Kanon selbst, daß die Kirche ihn


164 HERMANN DIEM [9/10]

nicht selbst geschaffen haben will, sondern nur eines Tages mit seiner
Feststellung das proklamierte, was die Kirdte von jeher virtuell und
implizit geglaubt hat.
Diese Kombination von historischer und dogmatischer Beweisfüh-
rung kann die Entstehungsgeschichte des Kanons ruhig der histori-
schen Forschung freigeben, ohne fürchten zu müssen, daß durch
deren Ergebnisse die Wahrheit des Kanons je in Frage gestellt wer-
den könnte. Dogmatisch "wahr" ist ja das in diesem geschichtlichen
Ausscheidungsprozeß Gewordene. Aber daß es so werden und gerade
diese Wahrheit sich eines Tages herauskristallisieren mußte und et-
was anderes gar nicht herauskommen konnte, das kann nidtt der Hi-
storiker feststellen, sondern nur die das Ergebnis dogmatisierende
K.irdte, die sich mitallihren Organen und Institutionen selbst als das
dogmatisdte Ergebnis dieses geschichtlichen Prozesses versteht und
ihn damit in seiner Gesamtheit als notwendig legitimiert. Daß dieser
Prozeß, der im Grunde einfach eine Fortsetzung und Verlängerung
der Offenbarung in die Gesdtichte der Kirche hinein bedeutet, so zu
verstehen ist, das kann durch keine einzelnen historischen Tatbe-
stände begründet oder in Frage gestellt werden, sondern das ist eine
Glaubensaussage über das Selbstverständnis der Kirche, die wiederum
nur geglaubt werden kann.
Diesem Glauben ist aber zugleich ein erkennbares historisches
Merkmal gegeben in der apostolischen Sukzession, welche die Identi-
tät der Kirche aller Zeiten mit der apostolischen Kirche I verbürgt und
als historisch aufweisbares Kriterium die Wahrheit und Unverfälscht-
heit der kirchlichen Lehren sichert. Steht diese apostolische Sukzes-
sion als Ganzes fest, dann kann die historische Frage nach der aposto-
lisd:ten Verfasserschaft der kanonischen Schriften im Einzelnen dog-
matisch irrelevant werden. Der Kanon ist im ganzen und in allen
seinen Teilen auf alle Fälle ein Moment in jenem Prozeß der Lehr-
offenbarung, die von Christus über die Apostel und ihre Schüler quasi
per manus tradiert und continua successione in der katholischen
Kirche konserviert wurde, wie das Tridentinum sagt (Denz. 783).
Dabei kann die Schrift für die Lehrverkündigung der Kirche wohl
eine relativ große, aber in keinem Sinn eine exklusive Bedeutung be-
kommen. Sie ist ein wesentlicher Bestandteil der Tradition, aber es
besteht unter den katholischen Voraussetzungen schlechterdings keine
Möglichkeit, sie zur Norm für die dogmatische Rezeption dieser Tra-
dition zu machen. Darum nimmt auch das Tridentinum die Rezeption
der Heiligen Schrift und der apostolischen Tradition ausdrücklich zu-
sammen, wenn es lehrt, daß die von Christus und den Aposteln ver-
kündigte Wahrheit enthalten sei in libris scriptis et sine scripto tra-
ditionibus, quae ab ipsius Christi ore ab Apostolis acceptae, aut ab
[10/11] Das Problem des Schriftkanons 165

ipsis Apostolis Spiritu Sancto dictante quasi per manus traditae ad nos
usque pervenerunt (Denz. 783). Man sollte deshalb auf evangelischer
Seite nicht so erstaunt sein, daß die römische Kirche die Begründung
für ein Dogma, wie zum Beispiel bei der leiblichen HimmeHahrt
Mariae, auch einmal nur der kirchlichen Tradition entnehmen und
auf den Schriftbeweis verzichten bzw. diesen nur in Form eines für
uns nichtssagenden Konnivenzbeweises führen kann.
Wo setzt nun der reformatorische Protest gegenüber diesem ge-
schlossenen katholischen System ein, das keine qualitative Unter-
scheidung von Schriftkanon und kirchlicher Tradition zuläßt? Das
geschieht überraschenderweise nicht, wie man vielleicht erwarten
könnte, mit einerneuen Schriftlehre, um jene dort unmöglich gewor-
dene Unterscheidung von Schrift und Tradition durchzuführen. Der
entscheidende Einwand gegen die römische I Kirche ist vielmehr der,
daß sie nicht mehr predigen kann. Die Stimme Christi ist durch die
Schrift und ununterscheidbar von dieser in die Tradition der Kirche
eingegangen, und sie kann jetzt bloß noch durch den Mund der Kirche,
aber nicht zu der Kirche reden. Die Verkündigung durch das kirch-
liche Lehramt, das Christus und den Heiligen Geist sich selbst einver-
leibt hat, kann nur noch von einem Selbstgespräch der Kirche mit
ihrer Tradition Zeugnis geben, aber dieses nicht durchbrechen. Dar-
um muß sich das ganze Interesse der Reformation darauf konzen-
trieren, durch die Predigt den echten Vorgang der Verkündigung wie-
der herzustellen. Die viva vox evangelii, welche die Stimme Christi
selbst ist, muß wieder in der Kirche gehört und von deren eigenem
Reden unterschieden werden können. Das geschieht aber nur im Er-
eignis der Predigt. Es ist vielleicht doch nicht zufällig, daß die Conf.
Aug., mit welcher auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung der
reformatorische Glaube bekannt wird, überhaupt keine Lehre von der
Schrift hat und nur in Art. V davon redet, daß das vom Predigtamt
verkündigte Wort des Evangeliums den Glauben schaffe. Es ging da-
bei primär um die Verkündigung als ein Ereignis, bei welchem das
Wort des Evangeliums als ein ZU hörendes verbum extemum dem
Menschen begegnet, der immer in der Versuchung des Schwärmers
ist, daß er "ohne das leiblich Wort des Evangelii den heiligen Geist
durch eigene Bereitung, Gedanken und Werk erlangen" will. Die
Front gegen die Schwärmer ist aber dieselbe wie gegen Rom. Es gilt,
jenes sachliche Gefälle wiederherzustellen, in welchem das der Kirche
vorgegebene Wort von deren eigenem Reden unverwischbar unter-
schieden bleibt. Ganz klar zeigt das wiederum der Art. VII De ecclesia,
wobei man nicht oft genug darauf hinweisen kann, daß dieser Artikel
von dem deutschen Text her verstanden werden muß, in dem es heißt,
die Kirche sei "die Versammlung aller Gläubigen, bei welchen das
166 [11/12/13]

Evangelium rein gepredigt" wird usw., während der lateinische Text


mit seinem pure docetur und consentire de doctrina evangelii nicht
nur dem späteren Mißverständnis der Kirche als einer Schule der rei-
nen Lehre ganz bedenklich Vorschub geleistet hat, sondern im Zu-
sam.lmenhang damit auch allerlei falschen Ansätzen in der Lehre von
der Schrift. An diesem Ereignis des gepredigten Wortes der Schrift
hängt für die Conf. Aug. schlechterdings alles, nicht nur der wahre
rechtfertigende Glaube, sondern auch das Stehen in der Einheit und
Kontinuität der Kirche Christi auf Erden.
Erst wo das verstanden ist, daß das Ereignis der Predigt die Kirche
schafft und erhält und wo weiterhin darüber Klarheit herrscht, daß es
sich dabei darum handelt, das Wort Gottes im Reden und zugleich
gegen das Reden der Kirche zu Gehör zu bringen, kann die theolo-
gische Aufgabe, vor welche die reformatorische Theologie in bezug
auf den Schriftkanon legitimerweise gestellt ist, richtig gesehen wer-
den. Die Predigt verkündigt die für uns geschehenen "großen Taten"
Gottes sowohl in ihrem Geschehensein als in ihrer Bedeutsamkeit.
Der Prediger ist dabei aber nicht mehr in derselben Lage wie der
Apostel, der als unmittelbarer Augen- und Ohrenzeuge dieser Taten
Gottes redet. Er braucht darum für seine Predigt einen Text. Ein sol-
cher Text kann eine bloße historische Quellenschrift nicht sein, denn
sie kann ihm für die Wahrheit des Bezeugten in dem doppelten Sinn
des Geschehenseins und der Bedeutsamkeil nicht einstehen. Das kann
der Text nur tun als ein Dokument, in welchem die Kirche aufgrund
dessen, daß sie der Verkündigung dieses Zeugnisses glaubte, es zu
weiterem Verkündigtwerden autorisierte. Nicht als historische Quelle,
sondern als dogmatisches Dokument der Kirche steht die Schrift als
Text dem Prediger für die Wahrheit seiner Verkündigung ein, und
so hat auch die kanonisierende Kirche die Schrift ursprünglid::t ver-
standen. Die Reformatoren haben sich deshalb auch nur sehr a.m
Rande, verleitet durch die humanistische Nachbarschaft und deren
Parole "ad fontes", gelegentlich auf das Argument der historischen
Priorität des Schriftkanons gegenüber der späteren Tradition der
Kirche berufen. Daß man mit dem bloßen Rückgang auf die Quellen
in der römismen Kirche immer noch besser bedient war, hat nicht
bloß ein Mann wie Erasmus sehr bald eingesehen. Als Text für die
Verkündigung mußte der Kanon etwas anderes sein und eine andere
Autorität haben als die bloße historische Priorität. I
Das zeigt sich aum in der auffallenden Tatsame, daß gerade auf
reformatorischer Seite die Grenzen des Kanons zunächst einmal ins
Smwimmen gerieten, indem man einen Teil der alttestamentlimen
Schriften als Apokryphen ausschied und auch innerhalb des N. T. be-
stimmte Schriften an den Rand des Kanons verwies. Dagegen war es
(13/14] Das Problem des Sduiftkanons 167

gerade die römische Kirche, welche daraufhin im Tridentinum die


traditionellen Grenzen des Kanons wieder neu einschärfte. Diese Frei-
heit gegenüber dem Kanon auf evangelischer Seite wäre unmöglich
gewesen, wenn man ihn bloß als historische Quelle bzw. als ein durch
ein dogmatisches Urteil ausgegliedertes und bevorzugtes Stück der
kirchlichen Tradition angesehen hätte. Diese Freiheit, die ja dann
schließlich doch nicht zur Ausscheidung jener umstrittenen Stücke aus
dem Kanon führte, läßt sich vielmehr gerade nur aus jener dokumen-
tarischen Bedeutung des Kanons als Predigttext begründen, so wider-
spruchsvoll das auf den ersten Blick erscheinen mag.
Wenn wir sagten, daß der Text dem Prediger für dieWahrheitseiner
Verkündigung einstehen muß, so kann das nicht heißen, daß die kano-
nisierende Kirche mit ihrer Autorität, etwa im Sinne jenes Augustin-
wortes, diese Wahrheit garantiert. Die Kirche hat ja den Kanon nicht
eigentlich geschaffen, sondern sie hat nur das, was sich selbst als kano-
nisch durchgesetzt hatte, nachträglich als kanonisch verkündigt. Des-
halb muß der Kanon auch weiterhin den Beweis für seine Kanonizität
selber führen, einfach indem er sich weiterhin predigen läßt und wei-
terhin die Zustimmung des Glaubens in der Antwort der Kirche findet.
Nun kann offenbar der Fall eintreten, daß jemand einen be-
stimmten Bibeltext nicht zum Reden bringen kann, wie es etwa
Luther mit dem Jakobusbrief oder Calvin mit der Jobarmesapoka-
lypse ergangen ist, und er deshalb diesen Text nicht auslegen und
über ihn nicht predigen kann. In dieser Lage wird dem Ausleger keine
Theorie von der Verbalinspiriertheit der ganzen Schrift etwas helfen,
weil der Glaube an sie den für ihn stummen Text nicht zum Reden
bringen kann. Und wenn der letzte Grund für die Kanonizität der
Schrift nur darin liegt, I daß sie sich predigen läßt, dann muß der die
Schrift auslegende Theologe die Freiheit haben, zu sagen, wo das je-
denfalls für ihn nicht der Fall ist. Die Frage wird nur sein, welche
Konsequenzen er daraus in bezug auf die Schrift ziehen soll und darf.
Der nächstliegende Weg wird in diesem Fall sein, daß der Ausleger
die für ihn dunklen Stellen der Schrift durch die hellen zu interpre-
tieren versucht und, um seiner Zurückstellung bestimmter Stellen
oder Bücher das subjektiv Willkürliche zu nehmen, sich um einen
objektiven Maßstab zur Feststellung eines "Kanons innerhalb des Ka-
nons" bemüht, so wie es etwa Luther getan hat, wenn er die Schrift
an dem zu messen versuchte, was in ihr "Christum treibt". Das würde
also heißen, wenn wir von dem Begriff des "Kanons" als Regel, Maß-
stab und Richtschnur ausgehen, daß man eine bestimmte Regel zur
richtigen Handhabung dieses Maßstabes zu gewinnen sucht. Luther
hat daraus aber aus guten Gründen nicht etwa ein Ausscheidungs-
prinzip zur Feststellung eines neuen Kanons des N. T. gemacht, son-
168 (14/15]

dem hat scliließlich doch den alten stehen lassen. Er hat aber auch
nicht aus dem solus Christus oder dem sola gratia als "Materialprin-
zip", so wie man das heute da und dort mit Berufung auf ihn ver-
sucht, ein "hermeneutisches Prinzip" gemacht, um mit Hilfe dessen den
Kanon oder vielmehr einen Kanon im Kanon zu begründen und damit
das "Formalprinzip" des sola scriptura zu ersetzen. Wir können die
überaus verwickelte Geschichte des Kanonsverständnisses und die da-
mit aufs engste zusammenhängende Geschichte der Hermeneutik in
der evangelischen Kirche seit der Reformation nicht in extenso behan-
deln, sondern beschränken uns auf die Frage, was es zu bedeuten hat,
daß die evangelische Theologie sowohl das Formalprinzip des sola
scriptura als auch das Materialprinzip des solus Christus und sola gra-
tia in ihrer Lehre von der Schrift festgehalten hat. Dabei wollen wir
nicht vergessen, daß sowohl das Formal- wie das Materialprinzip nur
in strenger Bezogenheil auf das Ereignis der Verkündigung der
Schrift durch die Kirche verstanden werden kann.
Für das sola scriptura ist damit jede Auffassung ausgeschlossen, I
welche die Schrift dogmatisch als ein Kompendium von Offenbarungs-
wahrheiten betrachtet, als das Grunddogma, aus welchem die einzel-
nen dogmatischen Wahrheiten analog deduziert werden können wie
philosophische Sätze aus einer Prinzipienlehre. Dabei ist es gleich-
gültig, ob das in der Weise der römischen Theologie oder derjenigen
der altprotestantischen Scholastik geschieht, da auf beiden Seiten der
notwendige Weg über das Ereignis der Verkündigung ausfällt, und
Christus und der Heilige Geist in ein System von Wahrheiten einge-
gangen und darin gefangengencmmen worden ist. Ausgeschlossen
ist aber auch jene Auffassung des sola scriptura, welche die Schrift
historisch als die authentische Quellensammlung betrachtet, welche
wegen ihrer Ursprünglichkeit die Norm für die spätere Verkündi-
gung zu bilden hat. Auch das gilt gleicherweise gegenüber den ent-
sprechenden Versuchen der römischen Theologie wie denjenigen des
neueren Protestantismus. Auch hier fällt der Umweg über die Ver-
kündigung aus und wird, so wie im ersten Fall, durch ein dogmati-
sches, hier durch ein historisches Urteil ersetzt. Ausgeschlossen ist aber
auch die Kombination dieser beiden Möglichkeiten, wie sie in klassi-
scher Form in der römisch-katholischen Theologie, in manmerlei
Spielarten aber auch auf protestantischer Seite versucht wird.
Demgegenüber bedeutet das sola scriptura zunächst einmal das: Nur
diejenige Verkündigung der Kirche hat die Verheißung, daß durch sie
Christus selbst reden und durch den Heiligen Geist den Glauben wir-
ken will, welche das in dem Kanon der Schrift enthaltene Zeugnis wei-
terverkündigt. Positiv gewendet heißt diese Abgrenzung, daß der Ka-
non der Schrift die ganze Wahrheit von Christus enthält, wie das mit
[15/17] Das Problem des Schriftkanons 169

der Lehre von der sufficientia der Schrift zum Ausdruck gebracht wird.
Dafür gibt es keinen aus Prinzipien und keinen aus historischen Grün-
den zu führenden Beweis. Vielmehr ist die einzige Begründung da-
für das dogmatische Urteil der Kirche, das dafür einsteht, daß die
Kirdle exklusiv in diesen Zeugnissen das Wort Gottes gehört hat und
daß es durch diese Verkündigung weiter gehört werden kann, oder
anders ausgedrückt, daß die Kirche glaubt, daß diese I Schriften sich
deshalb als kanonisch durchgesetzt haben, weil sie kanonisch waren
und sind. Mehr kann dieses Formalprinzip des sola scriptura nicht
sagen wollen, denn jedes Mehr an prinzipieller oder historischer Be-
gründung wäre hier dogmatisch ein Weniger. Man wird also mit dem
sola scriptura nie eine prinzipielle, sondern immer nur eine faktische
Geschlossenheit des Kanons behaupten dürfen. Prinzipiell bestünde
darum immer die freilich wenig wahrscheinliche Möglichkeit, daß
die Kirche sich durch neue Schriftfunde veranlaßt sehen würde, ihren
Kanon zu erweitern. Dabei müßte diese Erweiterung auf genau die-
selbe Weise legitimiert werden wie der bisherige Kanon, und sie
dürfte ferner die sufficientia der Schrift in ihrem bisherigen Umfang
in keiner Weise in Frage stellen.
Schwieriger ist die Frage zu beantworten, die seit Luthers Minder-
bewertung einzelner biblischer Schriften gestellt ist, ob die Kirche
dann nichtgenauso eines Tages auch die Grenzen des Kanons ver-
engem könnte und bestimmte kanonische Schriften oder Teile von
diesen ausscheiden. Diese Frage ist durch die neuesten Ergebnisse der
neutestamentlichen Forschung, welche die großen theologischen Ge-
gensätze innerhalb des Kanons aufgezeigt haben, noch sehr viel drin-
gender geworden. Jene Zumutung ist zwar von diesen neutestament-
lichen Forschern noch kaum explizit gestellt worden; aber das könnte
ja auch nur darum unterlassen worden sein, weil sie jenes Formal-
prinzip des sola scriptura ohnehin für theologisch erledigt halten und
darum ihr ganzes Interesse nur noch auf das Materialprinzip des sola
gratia oder solus Christus konzentrieren. Auf diesem Punkt liegt
ohne Zweifel heute das Schwergewicht der theologischen Diskussion.
Fragen wir daher, was in jener von uns festzuhaltenden Bezogenheit
auf das Ereignis der Verkündigung unter jenem Materialprinzip ver-
standen werden soll.
Es kann dabei jedenfalls nicht primär darum gehen, einen Maß-
stab für die Ausscheidung des Kanons innerhalb des Kanons oder
weiterhin eine hermeneutische Regel für seine Auslegung zu gewin-
nen. Auch das mögen sekundär wichtige theologische Fragen sein.
Wo ihnen aber das primäre theologische Interesse I gilt, besteht die
Gefahr, daß das Materialprinzip an die Stelle des vermeintlich un-
haltbar gewordenen Formalprinzips tritt, und damit praktisch der
170 HElwANN DIEM [17/18}

Kanon selbst in seiner, wenn auch nur faktischen Geschlossenheit als


dogmatische Größe für die theologische Besinnung einfach ausfällt.
Demgegenüber ist zu beachten, daß es bei dem Formalprinzip wie bei
dem Materialprinzip um ein und dasselbe Interesse geht und beide
deshalb nicht getrennt oder gar gegeneinander ausgespielt werden
dürfen. Das sola gratia bedeutet nicht primär eine bestimmte Lehre
von der Rechtfertigung, die als theologisch gereinigte etwa von der
Lehre des Tridentinums zu unterscheiden und als solche zu glauben
wäre, sondern es will, genau so wie das Formalprinzip des sola scrip-
tura, den Verkündigungsvorgang dogmatisch defmieren. Die justi.fi-
catio impü perfidem sola gratia geschieht dadurch, daß dem Hörer
die Gerechtigkeit zugesagt wird, die nicht in seiner eigenen Gläubig-
keit, sondern in dem Christus extra nos liegt. Und die in dem Verkün-
digungsvorgang durch das Predigtamt gesicherte Externität des Wor-
tes schützt diese in dem Christus extra nos liegende Gerechtigkeit da-
vor, zu einem dem Menschen verfügbaren Habitus zu werden. Fiele
aber das sola scriptura als die der Verkündigung vorgegebene und
darum von dieser selbst zu unterscheidende Norm aus, oder kurz ge-
sagt: fiele damit der Text der Predigt aus, wie in der römischen
Kirche, so müßte auch das sola gratia in dem Verkündigungsvorgang
ausfallen. Damit könnte dann auch das solus Christus nicht mehr die
der Regie der Kirche entzogene Stimme Christi im Ereignis der Ver-
kündigung sein. Insofern gehören das Formal- und das Materialprin-
zip unlösbar zusammen.
Erst wenn dies alles als die primäre theologische Aufgabe in der
Besinnung auf den Schriftkanon anerkannt ist, kann dann auch als
sekundäre Aufgabe die theologische Besinnung auf das Materialprin-
zip, also die Bemühung um einen Kanon innerhalb des Kanons im
Blick auf die hermeneutische Frage in Angriff genommen werden.
Diese unumkehrbare Reihenfolge der Probleme ist sachlich, wie wir
sahen, darin begründet, daß das historische Gefälle von dem im Ka-
non vorliegenden Schriftjzeugnis über das verbum externum des Pre-
digtamtes der Kirche zu der von dem Hörer zu vernehmenden
Stimme Christi und damit dem Wort Gottes selbst nur so und nicht
anders theologisch zu entfalten ist.
Die theologische Entfaltung dieses historischen Gefälles wäre ver-
hältnismäßig einfach, wenn in dem Schriftkanon selbst jenes Formal-
und Materialprinzip in dem von uns gebrauchten Sinn explizit ent-
halten wäre. Das ist aber in dieser Eindeutigkeit kaum der Fall. Die für
uns so wünschenswerte exklusive Unterscheidung der Stimme Christi
von derjenigen der kirchlichen Tradition ist innerhalb des N. T. keines-
wegs rein durchgeführt. Wir haben es vielmehr schon innerhalb des
N. T. weithin mit einem beginnenden Kirchenturn zu tun, das geneigt
[18/19] Das Problem des Schriftkanons 171

ist, sich gegenüber den Imponderabilien der stets neuen Verkündi-


gung an die kirchliche Tradition als einen festen Halt zu klammem.
Und in bezug auf das Materialprinzip wird man sagen müssen, daß
es im N. T. genug Stellen gibt, aus denen man ohne weiteres jene Ha-
bituslehre herauslesen könnte, welche zu dem Glauben an die eigene
Gläubigkeit verführt und jener in Conf. Aug. V abgelehnten Recht-
fertigung "durch eigene Bereitung, Gedanken und Werke" Vorschub
leistet. Die Entwicklung zum Frühkatholizismus beginnt keineswegs
erst nach Abschluß des Kanons, wie man immer wieder gemeint hat.
Man könnte bereits aufgrunddes kanonischen Befundes feststellen,
daß die anima christiana offenbar schon naturaliter catholica ist.
Diesen historischen Tatbestand wird man vor allem einmal unvor-
eingenommen sehen und jeden Versuch vermeiden müssen, ihm aus-
zuweichen. Ein solcher Versuch wäre jenes Harmonisierungsstreben,
welches durch die Auslegung der Schrift nach der Konkordanzmethode
die Konturen der einzelnen biblischen Zeugnisse und Zeugen in ihrer
Konkretheit verwischt und nivelliert. Wo man das versucht, verkennt
man den historischen Charakter der Schrift als eines kirchlichen Do-
kumentes, macht aus der faktischen Abgeschlossenheit des Kanons
eine prinzipielle und ersetzt die Stimme Christi, welche durch diese
historischen Zeugen in ihrer Mannigfaltigkeit zu uns reden will,
durch ein I Wahrheitskompendium. Damit hätten wir die Schrift ge-
rade nicht sich selbst interpretieren lassen, wie wir es doch nach un-
serem Begriff des Schriftkanons unbedingt tun müssen. Die Fähigkeit
der Schrift, sich selbst zu interpretieren, liegt nicht in einem verbor-
genen und durch eine Synopse der einzelnen Stellen zu erhebenden
Einheitsprinzip, auf das alle ihre Aussagen als ihren Generalnenner
zurückgeführt werden könnten und müßten. Sie liegt vielmehr in der
Lebendigkeit des im Wort der Verkündigung gegenwärtigen Chri-
stus, den alle diese Zeugnisse bezeugen und dessen Stimme die Kirche
in diesen Zeugnissen zu hören glaubt. Dann ist aber das erste Erfor-
dernis der rechten Auslegung nicht die Gewinnung eines allgemein
gültigen hermeneutischen Prinzips, sondern die erste Aufgabe ist,
daß wir uns um eine möglichst profilierte Kenntnis dieser Zeugen und
dessen, was jeder von ihnen in seiner Besonderheit uns sagen will, be-
mühen. Wir können dann vielleicht mitunter erstaunt sein, daß die
kanonisierende Kirche eine solche Mannigfaltigkeit und auch theo-
logische Gegensätzlichkeit der Zeugen ertrug. Aber wir haben mit
der Tatsache zu rechnen, daß sie das tat, ohne die Zeugnisse zu har-
monisieren, und also auch uns dasselbe zumuten zu können glaubte.
Das hat eine mitunter polemische Auseinandersetzung der einzelnen
Zeugen untereinander schon innerhalb des N. T. nicht ausgeschlossen.
Dieser Polemik ist durch das "Formalprinzip" des Kanons insofern
172 HERMANN DIEM [19/20)

eine Grenze gesetzt, als jeder dieser Zeugen von dem andem aner-
kennt, daß sich diesem das Geheimnis der Offenbarung Gottes durch
den Heiligen Geist so erschlossen hat, daß er davon reden kann, was
im neutestamentlichen Sinn bedeutet, daß er als ein "Inspirierter"
geredet hat, und darum sein Zeugnis in seiner konkreten Einmalig-
keit und Besonderheit als ein die Verkündigung der Kirche mitkonsti-
tuierendes Zeugnis zu respektieren ist. Die Auseinandersetzung zwi-
sd:ten den Zeugen und dann weiterhin zwischen den ihr Zeugnis aus-
legenden Theologen wird dann darin bestehen müssen, die einzelnen
Zeugnisse, die jeweils durch die historische Situation, die Begriffswelt
und die Individualität des Zeugen bestimmt sind, zu vergleichen, sie
auf ihre Ubertragungsfähigkeit I in andere Konkretionen kritisch zu
prüfen und auf diese Weise einen Maßstab für das Allgemeingültige
im Konkret-Einmaligen zu gewinnen.
Aber ebenso wie dieses Bemühen um den Kanon im Kanon nicht
durch harmonisierende Nivellierung der konkreten einzelnen Zeug-
nisse, sondern gerade umgekehrt nur durch deren möglichst scharfe
Erfassung in ihrer profilierten Konkretheil geschehen kann, so darf
aud:t der Ausleger nicht von seiner eigenen historischen Situation ab-
sehen wollen. Diese wird ihn ganz von selbst veranlassen, bestimmte
Zeugnisse in deren besonderer Gezieltheil zu bevorzugen und andere
zurückzustellen. Das kann in einer besonders polemisd:ten Situation,
wie etwa in der Reformationszeit, so weit gehen, daß er versucht ist,
gewisse Zeugnisse wegen ihrer aktuellen Gefährlichkeit sogar auszu-
scheiden bzw. seine Kirche zu veranlassen, das zu tun. Wenn diese recht
beraten ist, wird sie das aber unterlassen, denn mit dem Bemühen
um die rechte Auslegung und Verkündigung des Kanons der Schrift
bemüht sie sich zugleich in aller Freiheit um das Stehen in der Ein-
heit und Kontinuität mit der Kirche Christi auf Erden an allen Orten
und zu allen Zeiten. Diese Einheit, die ihr vorgegeben ist in dem ei-
nen Christus, kann freilich nicht durch den Schriftkanon begründet
und in dem Sinne garantiert werden, daß sich durch den Rückgang
auf die Schrift die Einheit der Kirche von selbst realisieren müßte.
Aber umgekehrt wird man jedenfalls sagen müssen, daß eine Kirche,
welche die ganze Mannigfaltigkeit des biblischen Kanons nicht mehr
ertragen könnte und ihn, vielleicht durchaus im Wissen um die Mitte
der Schrift und aus der Sorge um deren rechte Bezeugung, vielleicht
aber auch nur aus einem gewissen theologischen Purismus heraus ver-
engern würde, damit die rechteFreiheil zu demRingen um die Einheit
der Kirche verloren hätte und so, möglicherweise aus den theologisch
respektabelsten Gründen, bereits auf dem Weg zur Sekte wäre.
Man wird darum auf alle Fälle den Kanon selbst stehen lassen müs-
sen und sich damit begnügen, daß bei unserer Aufgabe, in seiner
[21/22) Das Problem des Schriftkanons 173
Auslegung die Stimme Christi gegenüber der kirchlichen I Tradition
zu Gehör zu bringen, je nach unserer kirchlichen Situation und unse-
rer theologischen Erkenntnis die Akzente anders gesetzt werden müs-
sen. Es gibt keinen für alle Zeiten gültigen Maßstab für die Feststel-
lung des Kanons im Kanon, und wenn es der Gesichtspunkt wäre,
"was Christum treibt". Denn die Frage, wo in der Schrift Christus
getrieben wird oder wo der fromme Mensch sein eigenes Wesen
treibt, ist für die Auslegung nicht nur immer wieder neu, sondern
aud:l immer wieder ganz anders gestellt und erfordert darum eine im-
mer neue Antwort durch die immer bessere Erkenntnis der Zeugnisse
in ihrer konkreten Textgestalt, durch die sie zu uns reden, und gewiß
auch ein immer neues Bemühen um das Verständnis des Hörers in
seiner jeweiligen kirchlichen und menschlichen Situation.
Damit ist bereits auch das Wesentliche zu dem heute so vielverhan-
delten hermeneutischen Problem gesagt. Wir sahen, daß es keinen
bestimmten und für alle Zeiten gültigen Maßstab zur Feststellung
des Kanons im Kanon gibt, sondern daß sich aus unsem Bemühungen
um das rechte Hören der Stimme Christi in der Schrift immer wieder
neu ein Maßstab für die rechte Auslegung des Kanons ergeben wird.
Darum mußten wir uns auch eine Verengerung des Schriftkanons
nach den Maßstäben einer bestimmten Erkenntnis von dem ihm im-
manenten Kanon verboten sein lassen. Nur so konnten wir die Frei-
heit der Schrift, sich selbst zu interpretieren, respektieren. Hätten
wir dagegen versucht, durch einen solchen Kanon im Kanon das rech-
te Verständnis sicherzustellen, so hätten wir damit gerade die Freiheit
des Redens Christi durch die Schrift und damit deren Freiheit, sich
selbst zu interpretieren, durchkreuzt und unterbunden. Und wir hät-
ten damit zugleich uns selbst der Freiheit begeben, die ganze Schrift,
auch in deren uns vielleicht jetzt noch dunklen Teilen zu hören. Das
schließt nicht aus, daß wir uns immer wieder um die bestmögliche
hermeneutische Methode bemühen müssen. Im Gegenteil: diese Auf-
gabe wird für jede Zeit immer wieder neu gestellt sein. Aber auch
hier wird immer wieder die Gefahr bestehen, daß man sich mit Hilfe
eines unfehlbaren hermeneutischen Prinzips der Stimme Christi zu I
bemächtigen und die rechte Auslegung sicherzustellen sucht. Weil es
schon wegen der Mannigfaltigkeit der biblischen Zeugnisse einen sol-
chen "Hauptschlüssel", der das Verständnis aller Stellen gleicher-
weise ausschließt, nicht gibt, ist man gezwungen, ihn zunächst dort
anzuwenden, wo er zu passen scheint, und erhält so einen kritischen
Maßstab zur Auslegung der übrigen Zeugnisse. In gewisser Weise
wird das jeder Ausleger tun, da der Zugang zur Schrift für ihn im-
mer über die schon hellen zu den noch dunklen Stellen geht. Aber er
wird sehen müssen, daß er dabei stets in Gefahr ist, die einzelnen bib-
174 HERMANN DmM [22/23]

lischen Zeugnisse gerade nicht mehr in ihrer historischen Mannig-


faltigkeit reden zu lassen, sondern sie durch ein bestimmtes Ausle-
gungsprinzip zu vergewaltigen.
Vor eben dieser Gefahr aber will ihn die Kirche durch die Kanoni..
sierung der Schrift schützen. Es ist für den Ausleger bei seinen Be-
mühungen um das rechte hermeneutische Verfahren geradezu der ent-
scheidende Prüfstein, ob er sich in dieser Weise durch den Kanon vor
der Gefahr der eigenmächtigen Sicherung mit Hilfe eines hermeneuti-
tischen Prinzips geschützt weiß und sich sichern lassen will. Wenn auch
die Konkordanzmethode für die Auslegung der Schrift nichts taugt, so
gibt es doch eine Art von notwendigem Konkordanzhören, das heißt
ein Mithören der ganzen Schrift bei der Auslegung der einzelnen Bü-
cher und Zeugnisse. Lehnt der Ausleger diese ihm im Kanon gegebene
Hilfe und diesen Schutz gegen seine Eigenmächtigkeit ab und sieht
er dagegen im Kanon nur eine mehr oder weniger fatale Hemmung
für die Freiheit seiner Auslegung, mit der er nur dadurch fertig wer-
den kann, daß er sie ignoriert, dann ist er mit dieser Auslegung sicher
auf einem falschen Weg. Er wird dann, auch wenn sein Auslegungs-
prinzip das sola gratia selbst wäre, das wirkliche Geschehen des sola
gratia an uns handelnden Christus in doktrinärer und darum un-
menschlicher und humorloser Weise einengen und verkürzen müssen.
Denn nach dem Zeugnis der Kirche, das sie uns mit dem Kanon der
Schrift gegeben hat, will dieses Handeln Christi in der ganzen Weite
und Fülle, aber auch in der ganzen Menschlichkeit der Verkündigung
aufgrund der ganzen Schrift an uns geschehen. I
Mit all dem wird deutlich geworden sein, daß ich eine prinzipielle
Begründung für den Schriftkanon nicht gegeben habe und nicht
geben konnte. Ich habe vielmehr nur jenes historische Gefälle der
Verkündigung theologisch zu entfalten versucht. Dabei sind wir aber
doch auf eine Begründung des Schriftkanons gestoßen, nämlich auf
die Selbstevidenz der Heiligen Schrift im Ereignis ihres Verkündigt-
werdens. Diese letzte Begründung, mit der die Heilige Schrift selbst
ihre Autorität begründet, dadurch, daß sie sich predigen läßt, hat
die Kirche mit dem Dogma von dem Kanon der Heiligen Schrift
zum Ausdruck bringen wollen. Sie muß dabei wissen, daß sie mit
jedem Versuch, diese Autorität auch ihrerseits noch zusätzlich zu be-
gründen, dieselbe nur in Frage stellen kann. Hat der Theologe dies,
in Erfüllung seiner wissenschaftlichen Aufgabe klargestellt, dann
kann er darüber hinaus nur noch bezeugen, daß ein stetes Über-
schießen der Helligkeit der Schrift über ihre dunklen Stellen die
Kirche bisher am Leben und beim Glauben erhalten hat. Aber das
kann er dann nicht mehr theologisch begründen, sondern nur noch
als Prediger des Evangeliums und als Glied der Kirche bezeugen.
HANsKÜNG

Der Frühkatholizismus im Neuen Testament


als kontroverstheologisches Problem•
Es gab eine Zeit, da die katholische Theologie- durch eine radikal
von der Schrift her denkende evangelische Theologie vielfach in die
Enge getrieben - sich in entscheidenden Punkten hinter die Schutz-
wälle kirchlicher Tradition meinte zurückziehen zu müssen. Diese Zeit
ist vorbei. Nicht nur, weil die heutige katholische Theologie - die
Dogmatik etwas langsam und zaghaft, aber bei allem vorsichtigen
Abstandhalten doch entschlossen ihrer (in allen äußeren und inneren
Schwierigkeiten) mutigeren Schwester, der Exegese, folgend - wie-
der neu in der Heiligen Schrift heimisch wird und manche evangeli-
schen Forderungen heute ebenso entschieden vertritt wie die evange-
lische Theologie1• Nicht nur weil die heutige evangelische Theologie
-und keineswegs nur die Dogmatik, sondern auch und gerade die
durch die Formgeschichte gegangene Exegese- sich der Bedeutung
der Uberlieferung in neuer und ungeahnter Weise bewußt geworden
ist2 und auch die kirchengeschichtliche Forschung die Vorzeit der re-
forma torisehen Kirche und Theologie wieder mehr als deren eigene
Zeit ernstzunehmen gewillt ist3 • Sondern auch und vor allem, weil ge-
• Aus: H. Küng, Kirche im Konzil (Herder-Bücherei 140), ~.• erw. Aufl., Verlag
Herder, Freiburg i. Br. 1964, S. 125-155 (Erstveröffentlichung in: ThQ 142, 1962,
5.~24).
1 Man vergleiche - um nur ein Symptom zu nennen - die Artikel zu zentralen
theologischen Begriffen in der zweiten Auflage des Lexikons für Theologie und
Kirche (Freiburg i. Br. 1957 ff.) mit denen der ersten Auflage (1930 ff.).
1 Vgl. P. Lengsfeld, Oberlieferung. Tradition und Schrift in der evangelischen
und katholischen Theologie der Gegenwart (Paderbom 1960).
• Bei der nicht so ganz selbstverständlichen Gedenkfeier, die das Evangelische
Stift zur Gründung des Tübinger Augustiner-Eremiten-Klosters vor 700 Jahren
veranstaltete, hat der Tübinger Reformationshistoriker H. Rückert in seinem Fest-
vortrag: Das evangelische Geschichtsbewußtsein und das Mittelalter, in: Mittelal-
terliches Erbe - Evangelische Verantwortung (Tübingen 1962) 13-23, eindringlich
von der "historischen Kontinuität" zwischen Reformation und mittelalterlicher
Kirche (den "Vätern", 13) gesprochen: Das evangelische Bekenntnis zum Mittelalter
könne gewiß nicht unkritisch, "vorbehaltlos", "ungebrochen" katholisch (17) sein,
müsse aber mit den Reformatoren davon ausgehen, "daß es niemals eine Zeit ge-
geben hat, in der die Kirche Christi nicht in der Welt war" (20). Auch mit der mit-
telalterlichen Kirche stehe die Reformation "in einem ununterbrochenen Tradi-
tionszusammenhang" (21). Daraus ergibt sich die Aufgabe evangelischer Theolo-
gie: "Daß sich der Protestantismus des 16. und der folgenden Jahrhunderte vom
176 HANS KüNG [125/126]

rade die heutige I evangelische Theologie - jedenfalls die Exegese,


auf deren oft unbequeme Befunde die evangelische Dogmatik wird
eingehen müssen - die katholische Theologie in überraschender
Weise unterstützt, insofern sie- wie die katholische Theologie schon
immer - den "Katholizismus" im Neuen Testament selbst entdeckt
hat. Die kontroverstheologische Diskussion ist gerade dadurch nicht
leichter, sondern schwieriger und gerade so erregender geworden.
Es ist auffällig, wie die evangelische Theologie unter dem Druck
der Ergebnisse der historischen Forschung gezwungen war, den Be-
ginn des "Katholizismus" (verstanden als "katholische Dekadenz",
als Abfall vom ursprünglichen evangelischen Christentum) immer
weiter zurückzuverschieben. Die Reformatoren fühlten sich noch eins
mit der alten Kirche des ersten Jahrtausends, der "Katholizismus" in
der Kirche beginnt für sie- entscheidend wenigstens - mit dem Mit-
telalter. Der spätere Protestantismus fühlt sich nur noch eins mit der
Kirche der ersten Jahrhunderte, der "Katholizismus" fängt für ihn
schon nach dem "consensus quinquesaecularis" oder, noch früher,
nach der konstantinischen Wende an. Zu Beginn unseres Jahrhun-
derts läßt A. von Harnack die apostolische Kirche mit dem ersten
Jahrhundert enden, der "Katholizismus" ist im zweiten Jahrhundert
mit dem Einströmen des griechischen Geistes in das ursprüngliche
apostolische Christentum gegeben: "Das Einströmen des Griechen-
tums, des griechischen Geistes, und die Verbindung des Evangeliums
mit ihm ist die größte Tatsache in der Kirchengeschichte des zweiten
Jahrhunderts, und sie setzte sich, grundlegend vollzogen, I in den fol-
Humanismus - nicht von der Reformation - dasjenige Geschichtsbild hat auf-
drängen lassen, das im Schema der Wiederankniipfung an die Antike eine mittel-
alterliche Zwischenzeit entgottet und als ein kirchliches Vakuum wertet, das ist ein
schon längst bei uns passierter Verlust an evangelischer Substanz, genauso schlimm
wie jener andere, den wir vorhin als die drohende Gefahr für die evangelische
Kirche bezeichneten und der eintreten würde, ·wenn wir die Kritik der Reformation
am Mittelalter entschärften. Hier gilt es, verlorenes Terrain wiederzugewinnen, die
Verbundenheit mit der Kirche des Mittelalters wiederherzustellen, unser Ge-
schichtsbewußtsein davon durchdringen zu lassen, daß wir ebensosehr Söhne und
Brüder der mittelalterlichen Christen sind wie die Glieder der heutigen katholi-
schen Kirche. Ob das gelingen wird, davon wird viel abhängen. Es gibt eine posi-
tive reformatorische, eine evangelische Deutung der mittelalterlichen Epoche der
Kirchengeschichte, die ebensoviel Berechtigung hat wie die katholische; denn in
dieser mittelalterlichen Epoche ist als eine ungeschiedene Einheit von Möglichkei-
ten noch beides drin, was nachher in den beiden Konfessionskirchen auseinander-
getreten ist. Eine solche Betrachtung des Mittelalters ist eine Aufgabe für die
evangelische Theologie, die noch kaum in Angriff genommen ist und von der noch
niemand sagen kann, wie ihre Lösung im ganzen und im einzelnen wird aussehen
müssen. Sie wird, wie gesagt, kritisch-reformatorische Schärfe und katholiache
Weite in sich vereinigen müssen" (22 f.). - Von katholischer Seite her wäre anzu-
merken, daß auch das katholische Verhältnis zur mittelalterlichen Kirche keines-
wegs "unkritisch", "vorbehaltlos", "ungebrochen" sein kann.
[127/128] Der Frühkatholizismus im NT als kontroverstheolog. Problem ti7

genden Jahrhunderten fort."' Im zweiten Jahrhundert also schon stel-


len wir fest: "Die christliche Religion in ihrer Entwicklung zum Ka-
tholizismus. " 5 Von daher wird denn jetzt und in den folgenden Jahr-
zehnten viel geredet von diesem hellenistisch-katholischen Sünden-
fall, der nach der apostolischen Periode den "Frühkatholizismus" ein-
leitet. In diese frühkatholische Periode fällt auch die Entstehung des
typisch katholischen Amtsverständnisses: "Der Kampf mit dem Gno-
stizismus hat die Kirche genötigt, ihre Lehre, ihren Kultus und ihre
Disziplin in feste Formen und Gesetze zu fassen und jeden auszu-
schließen, der ihnen nicht Gehorsam leistete ... Bezeichnet man unter
,katholisch' die Lehr- und Gesetzeskirche, so ist sie damals, im Kampf
mit dem Gnostizismus, entstanden. " 8
War man aber mit dieser weiteren Vorverschiebung des "Katholi-
zismus" nicht faktisch bereits beim Neuen Testament angelangt?
Waren nicht schon für Hamack die Grenzen zwischen den neutesta-
mentlichen und den nach-neutestamentlichen Schriften fließend ge-
worden? Es ist das Verdienst insbesondere der Bultmannschul~, das
hier vorliegende Problem - unter Bestätigung mancher Ergebnisse
der liberalen Exegese- in aller wünschenswerten Deutlichkeit aus-
gesprochen zu haben: der "Katholizismus" beginnt schon früher: der
"Frühkatholizismus" findet sich schon im Neuen Testament selbst.
Um den Fortschritt zu ermessen, vergleiche man nur die Beurteilung
der Kirchenordnung der Pastoralbriefe in der "Theologie des Neuen
Testaments" von Paul Feine7 und in der "Theologie des Neuen Te-
staments" von Rudolf Bultmann8 •
Der "Frühkatholizismus" im Neuen Testament stellt die evange-
lische Theologie vor schwere Entscheidungen. Die katholische Theo-
logie muß diese neue Problemlage, die ja zugleich ihre eigene ist, ge-
nau sichten. Wir haben dies bereits bei anderer Gelegenheit versucht9 •
Dieselbe Problematik soll hier aufgerollt werden in einer etwas an-
deren Perspektive. Man möge mir während dieses ökumenisch ausge-
richteten zweiten Vatikanischen Konzils gestatten, in besonderer
Weise aus dem Blickwinkel jener theologischen Fakultät zu sprechen,
in der mit Johann Adam Möhler und seinen Kollegen zum ersten
Mal von katholischer Seite her konstruktive ökumenische Theologie I
getrieben wurde. Die Problematik möge in Auseinandersetzung mit
• A. von Hamack, Das Wesen des Christentums (Leipzig 1920) 125.
1 A. von Hamack, aaO 119. • A. von Hamack, aaO 129.
7 P. Feine, Theologie des Neuen Testaments (Leipzig 7 1936) 319-325.
1 R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments (Tübingen 11958) ..02-463;
vgl. W. Schmitluili, Art. Pastoralbriefe, in: Die Religion in Geschichte und Gegen-
wart (Tübingen 11961) V, 144-148.
1 Vgl. H. Küng, Strukturen der Kirche. Quaestiones disputatae 17 (Freiburg- Ba-

sel-Wien 1962) Kap. VI, 3b.

12 Käscmann, Kanon
178 HANs KüNG [128/129]

zwei repräsentativen evangelischen Tübinger Kollegen geschehen,


von denen der erste aus der Schule Rudolf Bultmanns und der zweite
aus der Schule Karl Barths kommt. Doch sei nicht verschwiegen, daß
dabei nicht wenig zur Sprache gebracht wird, was zum Verständnis
der glücklich unterbrochenen Konzilsdebatte über die Offenbarung
wie erst recht zum Verständnis der Debatte "de Ecclesia" von höch-
ster Bedeutung ist. Es wäre schon viel erreicht, wenn man sich in der
katholisd::ten Theologie und auf dem Konzil der ungeheuren Smwie-
rigkeiten gerade der neutestamentlichen Problematik voll bewußt
würde und von dort her den Mut aufbrächte zu Zurückhaltung und
Bescheidenheit in allen lehramtliehen theologischen Äußerungen.
Wir möchten in einem ersten Abschnitt einsetzen mit der Frage:

Begründet der neutestamentliche Kanon


die Einheit der Kirche?

Mit Schärfe hat diese Frage ausdrücklich gestellt der evangelische


Tübinger Neutestamentler Ernst Käsemann; mit gleicher Sd::tärfe hat
er sie verneint10 . Welches sind seine Gründe? Käsemann führt drei
an, die er mit zahlreichen Beispielen, die wir nur andeuten können,
belegt:
1. Die Variabilität des neutestamentlichen Kerygmas selbst: Das
offensichtlid::tste Zeichen dieser Variabilität ist nach Käsemann die
Tatsache, daß der neutestamentliche Kanon nicht ein Evangelium,
sondern vier Evangelien bietet, die alle "in ihrer Ordnung, Auswahl
und Darstellung erheblich divergieren" 11 • Und zwar nicht nur wegen
der versd::tiedenen Eigenart der Evangelisten, nicht nur wegen der
versd::tiedenen jeweils benützten Tradition, sondern insbesondere we-
gen der "verschiedenen theologisd::t-dogmatischen Haltung der Evan-
gelisten"12. So wird Jesus vom erhöhten und geglaubten Kyrios her
verschieden gesehen13 ; ebenso wird auch das gemeinsame Bekenntnis
zur Gottessohnschaft Jesu je nach theologischer Tendenz verlschieden
interpretiert14 . Auf Grund dieses Tatbestandes können die Evange-
listen einander auch unbefangen kritisieren 15•
10 E. Käsemann, Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche?,
Exegetische Versuche und Besinnungen I, 1960, S. 214-223.
11 AaO 214. 11 AaO 216.
11 AaO 215: "Schematisch formuliert: Zeigt Markus mit seinen vielen Wunder-
geschichten die geheime Epiphanie dessen, der zu Ostern seine volle Glorie erhält,
so Matthäus den Bringer der messianischen Thora, Johannes den Christus praesens,
während Lukas historisierend und die Heilsgeschichte als Entwicklungsprozeß
schildernd zum ersten Male ein sogenanntes Leben Jesu schreibt."
1• AaO 215.
[129/130] Der Frühkatholizismus im NT als kontroverstheolog. Problem 179

2. Die außerordentliche und das Neue Testament übergreifende


Fülle theologischer Positionen in der Urchristenheit: Die Schriften
des neutestamentlichen Kanons geben uns "eine unabsehbare Fülle
von ungelösten und teilweise wohl unlösbaren historischen und theo-
logischen Problemen" 18 auf. Das liegt einerseits am "fragmentari-
schen Charakter" 17 unseres Wissens von der Geschichte und Verkün-
digung der Urchristenheit: Gerade durch die große Masse der ver-
schiedenen Überlieferungen wird es uns z. B. außerordentlich er-
schwert, die authentische Jesusüberlieferung aus dem Neuen Testa-
ment zu eruieren 18 • Das liegt andererseits am "Gesprächscharakter" 11
der meisten neutestamentlichen Aussagen: Sie konstituieren keine
Summe von dicta probantia, sondern wollen Antwort auf konkrete
Fragen, wollen Mahnungen und Tröstungen konkreter Menschen,
wollen Abwehr konkreter Irrtümer sein; sie setzen so bestimmte Prä-
missen voraus und lassen mancherlei Konsequenzen offen. Die Stim-
men, die im neutestamentlichen Kanon zu Worte kommen, bilden
"eine verschwindende Minorität den vielen gegenüber, welche die
Botschaft weitertrugen, ohne einen schriftlichen Niederschlag und da-
mit ein bleibendes Gedächtnis zu hinterlassen. Was berechtigt uns zur
Annahme, daß die vielen nichts anderes zu sagen wußten und gesagt
haben als die Schriftsteller des NT?" 20 Der neutestamentliche Kanon
gibt uns "nur Fetzen des in der Urchristenheit geführten Gespräches"
wieder 1.l
J. Die teilweise zutage tretende Unvereinbarkeit der theologischen
Positionen im Neuen Testament: Die Variabilität ist im Neuen Te-
stament so groß, "daß wir nicht nur erhebliche Spannungen, sondern
11 AaO 215 f.: "Matthäus nimmt z. B. Anstoß an der drastischen Weise, mit wel-
cher Mk. 5,27 ff. die Heilung der Blutflüssigen erzählte. Daß die Gewandung des
Wundermannes göttliche Kraft mitteilt, die bei Berührung überspringt und zu hei-
len vermag, ist eine vulgär hellenistische Vorstellung, die genauso im Bericht vom
heilenden Petrussehatten und den wunderwirkenden Schweißtüchlein des Paulus
Apg 5,15; 19,12 erscheint und später den Reliquienkult bestimmt. Matthäus
korrigiert diese grob magische Anschauung, indem er die Heilung nicht mehr
durch die Berührung des Gewandes als solche, sondern durch Jesu Machtwort
erfolgen läßt. Er reduziert überhaupt die breite Ausmalung der Wundergeschich-
ten bei Markus, in der sich novellistische Erzählerfreude bekundet und selbst
Motive profaner Erzählungstechnik angeschlagen werden, aufs äußerste, um die
geheimnisvolle Hoheit J esu stärker herauszustellen."
11 AaO 218. 17 AaO 216.
11 AaO 216: "So gewiß man sagen darf, daß die große Masse dieser Oberliefe-
rung uns nicht den historischen Jesus gewahren läßt, so erlauben uns alle noch so
vervollkommneten Methoden historischer Wissenschaft an diesem Punkt nur ein
mehr oder minder zutreffendes Wahrscheinlichkeitsurteil, wie man aus den vielen
höchst disparaten Darstellungen des Lebens und der Botschaft Jesu und der groß-
artigen Geschichte der Leben-Jesu-Forschung von A. Schweitzer erkennen kann."
1• AaO 217. 18 AaO 218. 11 AaO 218.

u•
180 HANs KüNo [130/151]

nimt selten aum unvereinbare theologische Gegensätze zu konsta-


tieren haben" 22 • Dies gilt smon für die Evangelien23 und erst recht
für die übrigen neutestamentlichen Schriften24 • Schon die Evangelien
zeigen nicht nur eine Kontinuität, sondern ebenso eine Diastase von
Jesus und Jüngern: "Bereits die älteste Gemeinde ist teils verstehende,
teils mißverstehende Gemeinde. Die Hoheit ihres Herrn wird von ihr
zugleich bezeugt und verdunkelt. Auch ihr Glaube barg sich im tö-
nernen Gefäß ihrer Menschlichkeit, und ihre Rechtgläubigkeit war
genau so zweifelhaft, wie Orthodoxie es stets ist. " 25
Was folgt für Käsemann aus den drei aufgewiesenen Sachverhal-
ten? Unmißverständlich zieht Käsemann die Konsequenzen: "Der
neutestamentliche Kanon begründet als solcher nicht die Einheit der
Kirche. Er begründet als solcher, d. h. in seiner dem Historiker zu-
gänglichen Vorfmdlichkeit dagegen die Vielzahl der Konfessionen." 28
Die gegenwärtigen verschiedenen Konfessionen berufen sich alle auf
den neutestamentlichen Kanon- mit Recht; denn schon in der Ur-
christenheit gab es eine Fülle verschiedener Konfessionen nebenein-
ander, miteinander, gegeneinander.
Vertritt also Käsemann einen aufklärerischen Indifferentismus?
Das Gegenteil: die Unterscheidung der Geister! "Man wird die Zu-
sammengehörigkeit und den Unterschied von Buchstaben und Geist
zu beachten haben. Was Paulus in 2Kor 3 dem AT gegenüber geltend
macht, darf nicht auf das AT beschränkt werden, sondern gilt genau-
so für den neutestamentllichen Kanon. " 27 Denn auch im neutesta-
mentlichen Kanon hat man Gott nicht dingfest; in seiner bloßen Vor-
findlichkeit, als tötender Bumstabe genommen, ist der neutestament-
liche Kanon nicht mehr Gotteswort. Dies wird und ist er nur, wenn
durch den Bumstaben hindurch (den man ebensowenig schwärme-
~~ AaO 218. 11 AaO 219 f.
1' AaO 220 f.: z. B. Gegensatz zwischen paulinischer und jakobeischer Rechtfer-
gungslehre, Urteil über das paulinische Apostolat in Apg und in Gal, Eschatologie
von Joh und Apk usw.
II AaO 219 f. Als Beispiel führt Käsemann u. a. an, daß ndas Jesuswort Mk 2,27,
der Sabbat sei um des Menschen willen geschaffen, in V. 28 durch den Zusatz ein-
geschränkt wird, der Menschensohn sei des Sabbats Herr. Ihrem Meister konnte
die Gemeinde zubilligen, was sie für sich selbst nicht in Anspruch zu nehmen
wagte. Ihr einschränkender Zusatz beweist, daß sie vor der durch ihn gegebenen
Freiheit erschrak und in ein christianisiertes Judentum zurückflüchtete. Mit ihrer
Polemik gegen den Pharisäismus als eine Heuchelei- man denke nur an Mt 231-
hat sie umgekehrt Jesu Angriff auf den Pharisäismus verflacht, der in Wahrheit ja
das Trachten nach der eigenen Gerechtigkeit und deshalb jede Leistungsfrömmig-
keit und faktisch jeden Menschen trifft. Wo man den Pharisäer durchgängig zum
Heuchler macht, gilt Jesu Kritik noch der Unmoral, ist die Bahn zur christlichen
Leistungsfrömmigkeit freigegeben, welche Jesu Angriff auf den wirklichen Phari-
säismus versperrt hatte." (AaO 219 f.)
11 AaO 221. 11 AaO 221.
[131/132] Der Frühkatholizismus im NT als kontroverstheolog. Problem 181

risch auflösen darf) der Geist sich manifestiert und immer neu und
gegenwärtig in alle Wahrheit führt. Nur in dem nach dem Geist ver-
standenen Kanon redet Gott an und manifestiert er sich gegenwärtig.
Das bedeutet, "daß der Kanon nicltt einfaclt mit dem Evangelium
identisch und Gottes Wort nur insofern ist, als er Evangelium ist und
wird. Insofern begründet dann auch er Einheit der Kirclte. Denn allein
das Evangelium begründet die eine Kirche in allen Zeiten und an
allen Orten" 28 •
Dies also bedeutet die Unterscheidung der Geister: Verstehen der
Schrift von ihrer sachlichen Mitte her, von der Botscltaft her, deren
Niederschlag sie ist29 • Also kritisches Verstehen der Schrift vom "Evan-
gelium" her, das weder von der Schrift getrennt noclt mit ihr einfach
identifiziert werden darf. Es gilt, von dieser Mitte her den reforma-
torischen Weg der Mitte zu gehen zwischen dem schwärmerischen
Enthusiasmus links (zu dem auch die protestantische Aufklärung ge-
rechnet werden muß), der sich des Evangeliums über die Schrift hin-
weg zu bemächtigen versucht, und dem katholischen Traditionalismus
rechts (zu dem auch weithin die protestantische Orthodoxie gehört),
der das Evangelium einfach in der Schrift vorfmdbar und verfügbar
wähnt, ohne die Schrift immer wieder an der kritisclten Instanz des
Evangeliums zu messen. Schrift und Evangelium, Kanon und Evan-
gelium stehen in einer dialektischen Spannung, die für die evange-
lisclte Theologie eine dauernde Aufgabe bedeutet: als stete Neube-
sinnung auf das Evangelium in der Schrift, das dieser Schrift, die an
skh nur eine ehrwürdige historische Urkunde ist, die Autorität für
den Glaubenden verleiht30 .1
Was ist nach Käsemann das "Evangelium"? Diese Frage kann
nach ihm nicht der Historiker allein beantworten, sondern nur der
18 Aa0223.
11 Vgl E. Käsemann, Zum Thema der Nichtobjektivierbarkeit, in: E:~:egetisc:he
Versuche und Besinnungen I (Göttingen 1960) 224-236, bes. 229-232.
• Vgl. auch W. G. Kümmel, Notwendigkeit und Grenze des neutestamentlichen
Kanons, ZThK 47 (1950), S. 311 f. [ = o. S. 96): "Die eigentliche Grenze des Kanons
läuft also durch den Kanon mitten hindurch, und nur wo dieser Sachverhalt wirk-
lidl erkannt und anerkannt wird, kann die Berufung katholischer oder sektiereri-
scher Lehren auf bestimmte Einzelstellen des Kanons mit wirklich begründeten
Argrunenten abgewehrt werden." H. Braun, Hebt die heutige neutestamentlich-
cJ:egetische Forsdlung den Kanon auf?, Fuldaer Hefte 12 (1960), S. 23 [ = u.
S. 231]: "Die E:~:egese, die auf die Botschaft merkt, paralysiert die Sdllak-
ken im Kanon und macht die Begrenzung des Kanons, was das Einzelne anlangt,
fraglich. Sie sagt also nicht Ja zum Kanon als ganzen, nicht Ja, weil es der Kanon
ist. Sie nimmt ihn kritisch, aber unter Verwendung jenes Sadlkriteriums, das dem
Neuen Testament selber entstammt. Und darum hängt sie am Kanon, was seine
Mitte, was das neutestamentliche Grundphänomen betrifft. Sie hat dies ja nur im
Kanon, später doch schon gar nimt; wenn auch im Kanon nicht rein und unver-
mischt."
182 HANsKüNo [132]

Glaubende, sofern er vom Geist überführt auf die Schrift hört. Der
Glaubende vernimmt das Evangelium, das sich ihm kundtut, ihn trifft
als Rechtfertigung des Sünders. Die Rechtfertigung des Sünders ist
die Mitte der Schrift: "Die Bibel ist weder Gottes Wort im objektiven
Sinn noch das System einer Glaubenslehre, sondern Niederschlag der
Geschichte und Verkündigung der Urchristenheit. Die Kirche, welche
sie kanonisierte, behauptet jedoch, daß sie eben auf diese Weise Trä-
gerin des Evangeliums sei. Sie behauptet das, weil sie die hier festge-
haltene und sich bekundende Geschichte unter den Aspekt der Recht-
fertigung des Sünders gestellt sieht, und kann es nur insofern be-
haupten. Da ihre Behauptung jedoch Zeugnis und Bekenntnis ist, ruft
sie zugleich damit auf, uns selber mit unserer eigenen Gesdlichte
ebenfalls unter das Geschehen der Rechtfertigung des Sünders zu
stellen. Damit werden wir in eine Entscheidung nicht nur darüber ge-
führt, ob wir dies letzte annehmen wollen oder nicht, sondern ebenso
darüber, ob mit solchem Bekenntnis die Mitte der Schrift richtig er-
faßt sei. " 31
Das also ist Käsemanns Antwort auf die Frage "Begründet der neu-
testamentliche Kanon die Einheit der Kirche?" Eine Antwort, die für
den tiefen Ernst und die radikale Ehrlichkeit dieses Exegeten zeugt.
Es wäre falsch und ungerecht, wenn man bei ihm das in die Augen
springende Kritisch-Destruktive als das eigentliche Anliegen ansähe,
wie dies inquisitorische Glaubensbrüder (es gibt auch eine Inquisition
von unten!) getan haben. Sich-betroffen-sein-Lassen vom Evange-
lium ist das zentrale Anliegen dieses Theologen, der seinen evangeli-
schen Glauben nicht nur im vieljährigen Pfarrdienst, sondern auch in
der Verfolgung bewährt hat. Von seinen Erfahrungen in der Be-
kennenden Kirche her dürfte es kommen, daß Käsemann in der Bult-
mannschule sich durch ein besonderes Interesse an der Ek.klesiologie
auszeichnet31 • Dabei ist sein I theologisches Anliegen nimt etwa die
II AaO 232; vgl. die beiden AufsätzeE. Käsemanns: Zum Verständnis von Römer
3,2+-26, ebd. I, ~100; und: Gottes Geredttigkeit bei Paulus, in: Zeitschrift für
Theologie und Kirche 58 (1961) 367-378. Gerade dieser letzte Aufsatz, ein Kurz-
vortrag auf dem Oxforder Kongreß über "The New Testament to-day" am 14. 9.
1961, kommt einem vertieften katholischen Verständnis der Rechtfertigung des
Sünders außerordentlich nahe.
11 Daß Käsemann die Leistungen der neueren katholischen Exegese zur Kennt-

nis genommen hat, sei hier nur am Rande vermerkt. Vgl. E. Käsemann, Neutesta-
mentliche Fragen von heute, in: Zeitsdtrift für Theologie und Kirche 54 (1957) 2:
.,Gerechtigkeit verpflichtet uns zuzugeben, daß die moderne katholische Exegese
zum mindesten in Deutsdtland und seiner näheren Umgebung ebenfalls ein Ni-
veau erreicht hat, das dem der protestantischen Arbeit im allgemeinen nicht mehr
nachsteht, sie an Sorgfalt sogar nicht selten übertrifft. Dieser Vorgang beweist, daß
die historisch-kritische Methode grundsätzlich Allgemeingut geworden isL Sie
kennzeichnet nicht mehr ein theologisches Lager der Exegese, sondern sdteidet fak-
[1M] Der Frühkatholizismus im NT als kontroverstheolog. Problem 183

Vielheit der Konfessionen, sondern die Einheit der Kirche. Allerdings


die Einheit der Kirche, die auf dem Evangelium ruht und die es als
solche nie vorfmdlich, sondern immer nur für den Glauben gibt: "Die
Einheit der Kirche wird wie das Evangelium nicht von den beati pos-
sidentes, sondern von den Ungesicherten und Angefochtenen in und
trotz den Konfessionen, mit und gegenüber auch dem neutestament-
lichen Kanon bekannt, sofern sie die das Evangelium Hörenden und
Glaubenden sind. " 33
Doch kann uns Käsemanns Antwort befriedigen? Auch von ernst·
zunehmender evangelischer Seite wird Widerspruch angemeldet.
"Die Einheit der Schrift": unter diesem Titel hat der evangelische
Tübinger Dogmatiker Hennann Diem nicht nur einen wichtigen Pa·
ragraphen seiner Dogmatik zusammengefaßt, sondern auch eine Aus·
einandersetzung mit Käsemann angestrebt34 •

Die Einheit der Schrift

H. Diem hat Verständnis für die Fragestellung seines Kollegen im


Neuen Testament. Er bejaht auch zu einem großen Teil Käsemanns
Antwort. Denn dies ist für Diem sicher: Die im neutestamentlichen
Kanon zusammengefaßten Schriften bilden keine "Lehreinheit" 35 •
Nicht die Reformatoren, erst die lutherischen und reformierten Kon-
fessionskirchen haben eine Lehreinheit der Schrift, ein aus der ganzen
Schrift- sei es auf mehr biblizistische, sei es auf mehr dogmatische
Weise - abgelesenes Lehrsystem der Schriftaussagen gelehrt, die
Schrift statt als Predigttext als "Prinzip" und "Summe" der Theo-
logie verstanden und konsequenterweise die Verbalinspiration und
Göttlichkeit der Schrift behauptet. Erst sie haben sich so nicht mehr
mit dem faktischen Gegebensein des Schriftkanons begnügt, sondern
seine prinzipielle Geschlossenheit gelehrt. Predigt und Glauben haben
darunter Schaden gelitten38 .j
tisch nur noch Wissensmaft von Spekulation oder PrimitivitäL Die Angleichung
der verschiedenen Fronten ist vielleicht das charakteristische Merkmal unserer
Epoche."
aa E. Kiisemann, Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kir-
che?, aaO 223.
14 H. Diem, Theologie als kirchliche Wissenschaft. Bd. li: Dogmatik. Ihr Weg
zwischen Historismus und Existentialismus (München 1955, 1 1957) 196-208.
11 AaO 197 f.
• AaO 198 f: "Mit dieser Schriftlehre bat sich die evangelische Kirche aber vor
allem ihr eigentliches Fundament, nämlich die Predigt verdorben: Aus der Ver-
kündigung der Schrift als einem bezeugenden Weitergeben ihrer Zeugnisse im
konkreten Vorgang der Predigt wurde ein dozierendes Explizieren und Andemon-
strieren ihrer Aussagen als Wahrheiten und Tatsachen. Darüber mußte sich auch
184 HANs KüNG [154/135]

Es ist von daher nach Diem durchaus zu begrüßen, daß die histo-
risch-kritische Wissenschaft Kirche und Theologie gezwungen hat,
ihre Schriftlehre zu überprüfen. Für das heutige Stadium der Diskus-
sion "ist bedeutsam, daß die in dieser Sache heute besonders aktiv ge-
wordenen neutestamentlichen Historiker nicht so leicht als von außen
kommende Eindringlinge in die Theologie angesehen werden kön-
nen, wie das früher vielleicht gelegentlich nahelag. Das liegt einmal
daran, daß die neutestamentliche Wissenschaft heute auf Grund ihrer
Forschungsergebnisse allgemein den Verkündigungscharakter der
neutestamentlichen Schriften betont und damit bei den Reformato-
ren steht und deren Schriftgebrauch bestätigt. Dazu kommt, daß ihr
Haupteinwand gegen den herrschenden Schriftgebrauch die dogma-
tische Bevormundung der Schriftauslegung ist, also gerade an dem
Punkt einsetzt, wo wir den Abfall der Reformation zur altprotestan-
tischen Dogmatik feststellten. Man wird daher jedenfalls prüfen müs-
sen, ob hier der reformatorische Schriftgebrauch nicht besser gewahrt
wird als von den nachreformatorischen Dogmatikem" 37 •
Aber so entschieden Diem die These vertritt: "Kein einheitliches
neutestamentliches Lehrsystem!", so entschieden die andere: "Kein
Kanon im Kanon!" Hier bricht der Konflikt Diems mit Käsemann auf,
bzw. hier wird der Konflikt von neuem sichtbar, der den Kirchen der
Reformation immanent ist und in jeder Phase ihrer Geschichte beob-
achtet werden kann.
"Käsemann hat hier in prägnanter Weise auf den Begriff gebracht,
was heute vielen Neutestamentlern in der Abwehr jener nachreforma-
torischen Dogmatiker als die neue Lösung der Kanonsfrage vor-
schwebt: die Gewinnung eines Kanons im Kanon mit Hilfe der Recht-
fertigung als hermeneutischem Maßstab. Damit will man aber im
Grunde nichts Neues bringen, sondern beruft sich auf Luther, der die
Schrift daran gemessen haben wollte, was in ihr ,Christum treibt',
womit er letztlich ja auch das sola gratia und sola fide verstanden hat.
Man meint also, zu dem reformatorischen Schriftgebrauch vor dessen
Entartung durch die altprotestantische Dogmatik zurückgekehrt zu
sein. Ist das richtig?" 38 NachDiemist das nicht richtig. Gewiß ist I die
Rechtfertigung des Sünders keine Lehre, sondern ein Geschehen, in
welchem der Hörer durch die Verkündigung des Evangeliums die Ge-
rechtigkeit in Christus zugesprochen wird. Wenn Käsemann aber for-

der Glaube im Verhältnis zur Schrift wandeln: Es wurde nicht mehr auf Grwul
der verkündigten Schrift dem von ihr bezeugten Geschehen in seiner Heilsbedeu-
tung geglaubt, sondern es mußte primär in einem Akt des Glaubens als fides quae
creditur an die Göttlichkeit der Schrift und alle daraus sich ergebenden oder dazu
für notwendig gehaltenen Prädikate der Schrift geglaubt werden."
n AaO 199. 18 AaO 202.
[135/136] Der Frühkatholizismus im NT als kontroverstheolog. Problem 185

dert, daß wir uns selber mit unserer eigenen Geschichte unter das Ge-
schehen der Rechtfertigung des Sünders stellen, so ist Diems Frage,
"ob er (Käsemann) sich denn eigentlich dieser Verkündigungsge-
schichte tatsächlich noch stellt und stellen kann, oder ob er dieses in
der Verkündigung der Schrüt auf ihn zukommende Geschehen nicht
in seinem ihn verpflichtenden Geschehensein dadurch paralysiert und
paralysieren muß, daß er es erst durch seine Zustimmung in kritischer
Sichtung zu einer für ihn verbindlichen Geschichte macht" 39 •
Die Verkündigungsgeschichte muß als verpflichtendes Geschehen
ernstgenommen werden, gerade dadurch, daß die von der Kirche an-
erkannte faktische Grenze des Kanons beachtet wird: "Dieses uns ver-
pflichtende Geschehen der Verkündigungsgeschichte besteht darin,
daß die Kirche exklusiv in der Verkündigung dieser Zeugnisse das
Wort Gottes gehört hat und wir es darum ebenfalls exklusiv durch
diese Zeugnisse weiterverkündigen und hören sollen. Dieses Faktum
kann man nur anerkennen, aber auf keine Weise prinzipiell recht-
fertigen. Die einzige hier mögliche theologische Rechtfertigung be-
steht darin, daß man von dem Schriftkanon sachgemäßen Gebrauch
macht, indem man ihn im Vertrauen auf seine Selbstevidenz predigt.
In diesem faktischen Gebrauch der Schrift liegt auch ihre theologisch
einzig mögliche Abgrenzung gegen die kirchliche Tradition. Damit
stehen wir wieder bei der Reformation. uco
Nur auf diesem Hintergrund läßt sich nach Diem die Einheit der
Schrift richtig sehen. Diese liegt nicht in einer einheitlichen Lehrge-
stalt, sondern in der Selbstevidenz der verkündigten Schrift, in deren
Zeugnissen Jesus Christus sich selbst verkündigt und als solcher von
der Kirche gehört wirdu. Gewiß sind die Unterschiede der einzelnen
Zeugnisse innerhalb der Einheit der neutestamentlichen Verkündi-
gung beträchtlich. Diese Unterschiede ergeben sich aus der je verschie-
denen Verkündigungssituation: die neutestamentlichen Zeugnisse
sind Zeugnisse bestimmter Menschen in bestimmten Situationen mit
bestimmten Zielrichtungen42 • Eine Um-, Weiter- und Neubildung
der Botlschaft drängte sich damals ebenso auf, wie sich heute eine je
neu vollzogene Ubersetzung dieser Zeugnisse in die heutige Verkün-
digungssituation hinein aufdrängt. Die konkrete Verkündigungssi-
tuation kann erfordern, daß in einer bestimmten Situation bestimmte
Zeugnisse bevorzugt und andere zurückgestellt werden, wobei jedoch

• AaO 205 f.; zu Diems Begriff der "Verkündigungsgeschichte", nach welchem


in der Verkündigung der Gemeinde die Geschichte des sich selbst verkündigenden
Juus Christus als eine geschehene und immer neu geschehende Geschichte verkün-
digt wird und gerade so die verkündigte iustificatio impii per fidem sola gratia ge-
sdlleht, vgl. bes. aaO 102-151.
•• AaO 204. •• AaO 204 f. •• Vgl. aaO 128 f.
186 HANs KÜNG [136/137]

die Grenze des Kanons zu beachten ist, die auch den von uns zurück-
gestellten Zeugen als echten Zeugen der Botschaft Christi anerkennen
läßt: "Es wird hier eben alles darauf ankommen, daß jene situations-
bedingte Wertung nicht zu einer prinzipiellen wird, daß also der Ka-
non der Schrift der Text ist, der auf alle Fälle stehen bleiben muß,
und alle unsere Auslegungsversuche dagegen nur Kommentare sind,
die sich mit ihren stets wechselnden Ergebnissen nicht an die Stelle
des Textes setzen können."" Gerade so hat der Kanon nicht nur eine
prohibitive, sondern zuerst eine positive Bedeutung: er schützt den
Ausleger vor dessen eigener subjektiver Willkür".
Diem wendet sich also mit Käsemann gegen die Schrift als einheit-
liches Lehrsystem, hält a her gegen Käsemann an der Einheit der ver-
kündigten Schrift fest, um von daher - gegen alle Willkür des ein-
zelnen Auslegers - die Einheit der Kirche zu verstehen. Es muß aner-
kannt werden, daß sich Diem durch sein ganzes dogmatisches Werk
hindurch eine für einen Systematiker keineswegs gewöhnliche Mühe
gibt, sich mit den Problemstellungen der heutigen Exegese ausein-
anderzusetzen. Er tut dies nicht vorwiegend apologetisch, sondern un-
ter Verwertung mancher Ergebnisse der Exegese durchaus konstruk-
tiv. Die Uberbrückung der gegenwärtigen Kluft zwischen Exegese
und Dogmatik ist eines seiner zentralen theologischen Anliegen.
Doch Diems und Käsemanns theologische Grundansätze stehen sich
-oder täuschen wir uns?- unversöhnlich gegenüber: Wie für Käse-
mann Diems "Kanon" nie zum "Evangelium" werden wird, so für
Diem Käsemanns "Evangelium" nie zum "Kanon". Auch der katho-
lische Kollege vermag kaum zu ihrer Versöhnung beizutragen, viel-
leicht aber zur Klärung der Standpunkte. Dies, und nur dies, soll jetzt
- auf knappem Raum - versucht werden.

Die Katholizität in der Interpretation des Neuen Testaments

1. Eingrenzung des Diskussionsfeldes: Worin kann der katholische


Theologe, wenn er am exegetischen Befund nicht einfach I vorbeigeht,
mit E. Käsemann übereinstimmen? Er kann zustimmen: a) bezüglich
des Faktums der Uneinheitlichkeit des neutestamentlichen Kanons;
b) bezüglich der Faktoren, die diese Uneinheitlichkeit bestimmen:
eine Variabilität des neutestamentlichen Kerygmas selbst, die nicht
nur in der Eigenart der Evangelisten und der benutzten Traditionen,
sondern in der verschiedenen theologischen Haltung der Evangelisten
begründet ist; eine über das Neue Testament hinausgreifende Fülle
theologischer Positionen in der Urchristenheit, die unser dicsbezüg-
43 AaO 205. u AaO 206.
[137/138] Der Frühkatholizismus im NT als kontroverstheolog. Problem 187

liebes Wissen (gerade auch im Hinblick auf den Gesprächscharakter


der meisten neutestamentlichen Zeugnisse) höchst fragmentarisch er-
scheinen läßt; eine teilweise zutage tretende Unterschiedenheil der
verschiedenen theologischen Positionen sowohl in den Evangelien wie
im übrigen Neuen Testament, die nicht einfach harmonisiert werden
kann; c) bezüglich des glaubenden Hörens des den Sünder rechtfer-
tigenden "Evangeliums" (nach dem Geist, nicht nach dem Buchsta-
ben, auf die Mitte hin, verstanden) innerhalb des uneinheitlichen neu-
testamentlichen Kanons.
Worin kann der katholische Theologe, wenn er gerade das eben
Käsemann Zugegebene berücksichtigt, mit H. Diem übereinstimmen?
Er kann zustimmen: a) bezüglich der Ablehnung eines neutestament-
lichen Lehrsystems: Das Neue Testament ist keine intendierte summa
theologiae; deshalb ist eine Harmonisierung der Texte, welche die
Verschiedenheiten auf gewaltsame Weise auflöst, als dem Neuen Te-
stament unangemessen ebenso abzulehnen, wie das dozierende Ande-
monstierenvon dicta probantia statt des bezeugenden Weitergehens
der neutestamentlichen Zeugnisse in der Verkündigung; deshalb ist
der Glaube nicht einfach auf eine göttliche Schrift gerichtet, sondern
auf Grund der verkündigten Schrift auf den von ihr bezeugten Herrn
Jesus Christus und seinen Gott und Vater; b) bezüglich der Bedeu-
tung der Verkündigungssituation, und dies in zweifacher Hinsicht:
Die neutestamentlichen Zeugnisse stammen von verschiedenen Men-
schen in verschiedenen Situationen mit verschiedener theologisch-dog-
matischer Zielrichtung, und die neutestamentlichen Zeugnisse müs-
sen wieder für verschiedene Menschen mit verschiedenen Zielrichtun-
gen in verschiedene Situationen hineingesprochen und aus der dama-
ligen Verkündigungssituation in die neue Verkündigungssituation
übertragen werden: eine Ubersetzung des neutestamentlichen Keryg-
mas, bei der je verschiedene Zeugnisse und Aspekte im Vorder-
grund und andere im Hintergrund stehen können; c) bezüglich der
Faktizität des neutestamentlichen Kanons und seiner Einheit: Die
Einheit der Schrift kann nicht aus einer prinzipiellen, systematischen
Geschlossenheit abigeleitet werden, sondern sie ist eine faktische Ge-
gebenheit; die Kirche hat in der Verkündigung gerade dieser Zeug-
nisse des neutestamentlichen Kanons das Wort Gottes gehört, und
exklusiv gehört, und sie gibt diese Zeugnisse in ihrer Verkündigung
auch exklusiv als Wort Gottes weiter.
Erst wenn man im kontroverstheologischen Gespräch wagt, ohne
Angst verständnisvoll die Obereinstimmung mit dem Partner zu
sehen und nicht zu verleugnen (die Angst vor dem Konsensus ist bei
Theologen, wie bei Politikern, oft größer als die vor dem Dissensusl},
wird man fähig, die Diskussion auf die eigentlichen Kontroverspunkte
188 HANS KÜNG [138/139]

zu konzentrieren. Und diese liegen nicht in der Rechtfertigungslehre,


auch nicht- wie man künstlich zu konstruieren sucht - in Christo-
logie oder Pneumatologie, sondern in der Ekklesiologie. In der Lehre
von der Kirche und in ihr allein gehtes-vorläufig wenigstens- nom
hart auf hart. Und so ist es gerade hier Aufgabe ökumenisch denken-
der Theologie, nach neuen konstruktiven Lösungen zu suchen - auch
wenn es zunächst durch scharfe Konfrontation geschieht.
2. Der Grund der Vielzahlder Konfessionen: Derneutestamentliche
Kanon bildet die Voraussetzung für die Vielzahl der Konfessionen.
Dies muß Käsemann zugegeben werden; denn a) es gibt eine Ver-
schiedenheit christlicher Konfessionen; b) die verschiedenen christ-
lichen Konfessionen berufen sim auf den neutestamentlichen Kanon
und führen sich auf den neutestamentlichen Kanon zurück; c) diese
verschiedenen Berufungen auf den neutestamentlichen Kanon haben
ein fundamenturn in re, haben ein Fundament in der beschriebenen
Komplexität, Vielfalt und Gegensätzlichkeit theologischer Positionen
im neutestamentlich.en Kanon selbst. Insofern bildet also der neutesta-
mentliche Kanon die Voraussetzung für die Verschiedenheit der Kon-
fessionen.
Wie aber entsteht unter der Voraussetzung der Uneinheitlichkeit
des Kanons die Vielzahl der Konfessionen? Diese Frage ist mit dem
Hinweis auf die Uneinheitlichkeit des Kanons noch nicht beantwortet.
Denn bei aller Uneinheitlichkeit ist der neutestamentlich.e Kanon
doch einer und von der Kirche- in einer gewiß außerordentlich wech-
selhaften Geschich.te - offenkundig als einer rezipiert worden, wobei
man die verschiedenen Zeugnisse nicht nur etwa als lehrreiches nega-
tives Kontrastprogramm zum Evangelium, sondern als positiv ange-
messenen Ausdruck und Niederschlag des Evangeliums verstanden
hat. Die Frage also: Wie kommt es bei diesemtrotzaller Uneinheit-
lichkeit einen neutestamentlimen Kanon zur Vielzahl der Konfes-
sionen? I
Die Antwort ist nicht zu umgehen: durch Auswahl. Indem man
nämlim nimt den bei aller Uneinheitlichkeit einen Kanon des Neuen
Testament ernstnimmt und -bei allen entgegenstehenden Smwie-
rigkeiten - ein umfassendes Verständnis anstrebt. Sondern indem
man die Uneinheitlichkeit des einen Kanons benützt, um aus dem
einen Kanon eine Auswahl zu treffen. Dadurch erreimt man unter
Umständen eine imponierende Konzentration des Kerygmas, aber zu-
gleim eine Reduktion dieses Kerygmas, die auf Kosten des Neuen Te-
staments und der Einheit der Kirche, die hinter diesem Kanon steht,
geht.
Was bedeutet dieser grundsätzlich.e Verzicht auf ein umfassendes
Verständnis und Ernstnehmen des ganzen Neuen Testaments zu
[159/140] Der Frühkatholizismus im NT als kontroverstheolog. Problem 189

Gunsten einer konzentrierenden Auswahl? Nichts anderes als der


grundsätzliche Verzicht auf "Katholizität" im Schriftverständnis zu
Gunsten der "Hairesis". Genau gesehen muß man also sagen: Der
neutestamentliche Kanon ist in seiner Uneinheitlichkeit zwar eine
Voraussetzung, ein Anlaß der Vielzahl der Konfessionen, nicht aber
im strengen Sinn der Grund, die Ursache. Das brennbare Material,
das Gebälk des Hauses, das ein Haus trägt, kann zwar Voraussetzung,
Anlaß sein für den Brand des Hauses; Grund, Ursache des Brandes
ist aber der an das Holz Feuer legende Brandstifter. Die eigentliche
Ursache der Vielzahl der Konfessionen ist nicht der neutestamentliche
Kanon, der in seiner Einheit "katholisch" (kath·olou) verstanden, Vor-
aussetzung für die Einheit der Ekklesia ist, sondern die Hairesis, die
die Einheit der Ekklesia auflöst45 •
Auswahl in der Interpretation des Neuen Testaments ist auf zwei
Weisen möglich: als prinzipielle oder als faktische. I
J. Prinzipielle Auswahl: Das ist die Auswahl, die in der Interpre-
tation des Neuen Testaments ein formales Deutungsprinzip anwen-
det, das sich zugleich als materiales Selektionsprinzip erweist. Beispiel
für diese Art der Auswahl ist E. Käsemann. Selbstverständlich will
Käsemann nicht gewisse Texte oder gar Bücher aus dem neutesta-
mentlichen Kanon einfach eliminieren; sie sollen vielmehr im Kanon
bleiben und auf ihre Weise ernst genommen werden. In diesem Sinne
vertritt Käsemann keine Auswahl. Aber Käsemann will die Geister
" Vgl. H. Schlier, Art. utQtaL; im Theologischen Wörterbuch zum NT (Stuttgart
1955, 11957), I, 182: Der im Christentum von vomherein suspekte Begriff "verdankt
sein Dasein also nicht erst der Entwicklung einer Orthodoxie, sondern der Grund
für die Bildung des duistlichen Begriffes utQtOL!i liegt in der neuen Situation, die
durch das Auftreten der christlichen bxl.'lalu geschaffen wurde. ~XxA'lalu und
utQtaL; sind sachliche Gegensätze. Jene verträgt diese nicht, und diese schließt jene
aus. Das deutet sich schon in Gal 5,20 an, wo die utQtaL; zu den IQya 'rilli au{)X6;
neben IQL;, lxt(l(ll, t;.ijl.o;, hJ,Lol, IQLteiuL, lhxoatualuL gerechnet werden. u'tQeaL;
bat dabei, wie übrigens überhaupt im NT, noch nicht technischen Sinn. In t.Kor
11,18 f. tritt die Unmöglichkeit der ut(IEOL!i innerhalb des Christentums noch offe-
ner heraus. Paulus greift bei der Erwähnung der kultischen Versammlung, in der
die Gemeinde als bxl.'lalu zusammenkommt, zurück auf die axlaJ.UltU von t.Kor
1,10 ff. axlaJ.Latu sind die durch persönlich motivierte Streitigkeiten verursachten
Risse in der Gemeinde. Paulus glaubt einen Teil der Naduichten, die ihm von den
Spaltungen der Gemeinde bekannt wurden. Und zwar deshalb, weil ja sogar (xul)
u[QtaEL!i tv uJ.Liv sein müssen, damit die Erprobten offenbar werden (können).
Gleichgültig, ob Paulus hier ein apokryphes Herrenwort benützt (vgl. JusDial55,5;
Didask 118,35) oder nicht, es ist für ihn ein eschatologisch-dogmatischer Satz (vgl.
Mk 15,5 f. par; Apg 20,29 f.; 2.Petr2,1; t.Joh2,19), und ul(lem; ist, als eschatologi-
sche Größe verstanden. Dabei ist utQem; gegen axlaJ.Ul deutlich abgehoben und
bedeutet diesem gegenüber eine Steigerung. Die Steigerung besteht aber darin,
daß die alQtau; das Fundament der Kirche berühren, die Lehre (2.Petr. 2,1) und
zwar in so fundamentaler Weise, daß daraus eine neue Gemeinschaftsbildung ne-
ben der bxl.'lata entsteht."
190 HANsKüNo [14{)/141)

des Neuen Testamentes "unterscheiden". Er wendet die paulinische


"Unterscheidung der Geister" - die Paulus selbst nie auf den (alt-
testamentlichen) Kanon angewendet hat - auf den (neutestament-
lichen) Kanon an, um hier nicht zwischen den verschiedenen guten
Geistern, bzw. den (von der Kirche durch den Kanon anerkannten)
guten Zeugen, zu unterscheiden, sondern um auch im Neuen Testa-
ment - mit antidoketischer Berufung auf die Ungesichertheit und
Anfechtbarkeil alles Menschlichen- zwischen guten und bösen Gei-
stern zu unterscheiden. Von diesen als böse erklärten Geistern des
Neuen Testamentes her will Käsemann das "Evangelium" nicht hö-
ren. Nur in den von ihm als "gute Geister" anerkannten Zeugnissen
hört er das "Evangelium". In diesem Sinne vertritt Käsemann eine
Auswahl. So kommt es bei ihm zu einem mittleren Weg zwischen
Enthusiasmus und Frühkatholizismus. Er nimmt im Neuen Testa-
ment grundsätzlich nur die Zeugnisse positiv ernst, die "Evangelium"
werden können und sind, die "Rechtfertigung des Sünders" ankün-
den. Das bedeutet einen prinzipiellen - auch wenn man nicht von
"Prinzip" sprechen will- und von Käsemann bewußt als "evange-
lisch" akzeptierten Verzicht auf Katholizität im Schriftverständnis.
Doch hier wird der evangelische Exeget vom evangelischen Dog-
matiker desavouiert: H. Diem macht Käsemann den Vorwurf, daß er
das neutestamentliche Verkündigungsgeschehen "dadurch paraly-
siert und paralysieren muß, daß er es erst durch seine Zustimmung in
kritischer Sichtung zu einer für ihn verbindlichen Geschichte macht" 46 •
Gewiß geht es Käsemann nicht um die Rechtfertigungslehre (nicht
um einen "Glaubensgegenstand", ein "Grunddogma", ein theologi-
sches "Prinzip"), sondern um das Rechtfertigungsgeschehen; und die-
ses kann nicht nur in Röm oder Gal, sondern auch z. B. in einem Lo-
gion Jesu, in einer Seligpreisung usw. angekündigt werden; in jedem
neutestamentlichen Zeugnis, auf Grund dessen Rechtfertigung des I
Sünders geschieht, geht es um "Evangelium". Aber sicher ist, daß es
für Käsemann nicht im ganzen Neuen Testament um "Evangelium"
geht und daß er selberwissen kann, wo es nicht um Evangelium geht.
Demgegenüber gibt Diem zu bedenken, daß hinter dem neutesta-
mentlichen Kanon damals und heute die Kirche steht, "daß die Kirche
exklusiv in der Verkündigung dieser Zeugnisse das Wort Gottes ge-
hört hat und wir es darum ebenfalls exklusiv durch diese Zeugnisse
weiterverkünden und hören sollen" 47 : " ••• das Faktum des Kanons
bezeugt, daß die Kirche tatsächlich in diesen Zeugnissen einhellig die
Verkündigung von Jesus Christus gehört hat und wir sie darum hier
ebenfalls hören können und hören sollen " 48 • Gewiß dürfen und sollen

"AaO 203 f. 47 AaO 204. "AaO 204.


[141/142] Der Frühkatholizismus im NT als kontroverstheolog. Problem 191

bestimmte Zeugnisse des Neuen Testaments situationsbedingt gewer-


tet, die einen bevorzugt und andere zurückgestellt werden49 • "Aber
bei jeder solchen situationsbedingten Wertung der einzelnen Zeugen
ist die durch das Faktum des Kanons gesetzte Grenze zu beachten.
Diese verlangt die Anerkennung, daß auch jener von uns zurückge-
stellte Zeuge - in seiner historischen Bedingtheit, denn wie sollte er
es anders tun? - das Zeugnis von Christus ausgerichtet und darum
bei der Kirche Gehör gefunden hat, und d. h. daß er als ein vom Hei-
ligen Geist Inspirierter geredet hat. " 60 Ohne die Bindung an den Ka-
non verfällt der Exeget "seiner eigenen subjektiven Willkür, die ihn
stets in Gefahr bringt, daß er, anstatt die Texte in ihrer jeweiligen
konkreten Profiliertheitreden zu lassen, sie in ihrer historischen Ein-
maligkeit durch ein vorgefaßtes Auslegungsprinzip vergewaltigt und
eben dadurch auch in ihrem Zeugnischarakter als Predigttext ver-
fehlt"51.
Käsemann würde sich selbstverständlich gegen den Vorwurf der
subjektiven Willkür zur Wehr setzen. Er wählt ja nicht in eigener
Wahl, sondern betroffen vom "Evangelium" aus. Gegen die Bestim-
mung einer "Mitte" des Evangeliums ist nichts einzuwenden. Aber
gefragt werden darf: Woher begründet Käsemann, daß er nur von
diesen Texten und von anderen nicht betroffen ist, daß er nur diese
und andere Texte nicht als "Evangelium" zu hören vermag? Dies
läßt sich zweifellos nicht vom Neuen Testament her begründen; denn
das Neue Testament besagt auch nach Käsemann mehr als nur sein
"Evangelium". Auch nicl:J.t einfach vom "exegetisd:J.en Befund" her,
nad:J. welchem sich die "paulinistische Mitteljlinie" als "Evangelium"
aufdrängte. Das Problem wäre nur verschoben, wenn es eine anders
bestimmte "Mittellinie" wäre. Denn die Frage ist ja gerade die, war-
um Käsemann nur diese "Mittellinie" als "Evangelium" zu sehen
vermag. Kann sicl:J. da Käsemann auf mehr berufen als auf irgendein
(vielleicht durch philosophische Prämissen oder durch wenig glaub-
würdige Darstellung des Katholischen in Geschichte und Gegenwart
unbewußt verursachtes) protestantisches Vorverständnis? Oder, tie-
fer, auf irgendeine letzte Option, in der man sich vielleicht mehr vor-
findet {lutherische Tradition?), als in die man sich selber gestellt hat?
Also jedenfalls eine Entscl:J.eidung vor aller Exegese? Ist das nicl:J.t eine
Position, in der man auch kaum mehr Gründe angeben kann, die
einen anderen abhalten könnten, eine andere Option zu treffen und
auf Grund eines anderen traditionellen Vorverständnisses eine andere
Mitte und ein anderes Evangelium exegetisd:J. zu entdecken? Auf das
" Diem erläutert dies im Anschluß an G. Eichholz am Beispiel der Rechtferti-
gungslehre des Paulus und der des Jakobus: aaO 206-208.
11 AaO 205. 11 AaO 206.
192 HANS KüNG [14~/143)

Neue Testament als Ganzes kann man sich ja, nachdem man seine
Katholizität preisgegeben hat, nicht mehr berufen.
Was übrig bleibt, ist - gegen den Willen derer, die sie üben-
dodt die mehr oder weniger große subjektivistische Willkür: "Für
Luther war diese Mitte, von der her er alles beurteilte, wohl Paulus
oder, noch enger, dessen Rechtfertigungslehre. Andererseits war für
Luther das Johannesevangelium das einzige ,zarte rechte Hauptevan-
gelium'. Ebenso beurteilte und verteidigte F. Schleiermacher dieses
gleiche Evangelium ob seines geistigen Gehaltes als das wesentliche
Evangelium. In der historisch-kritischen Theologie zu Beginn unseres
Jahrhunderts waren die Herrenworte in der Synopse das Maß des
Echten. Für R. Bultmann ist wohl das Jobarmesevangelium das Zeug-
nis des gültigen Evangeliums als Evangelium des Wortes allein und
jetziger existentieller Entscheidung, wenn angebliche spätere kirch-
liche Zusätze über die Sakramente und die künftige Eschatologie aus-
geschieden werden. Müßte man nicht vielmehr, als das NT von einer
solchen Norm her zu messen, die kritische Norm am Reichtum des NT
messen und ihr darnach allenfalls ein relatives Recht zuerkennen ?" 52
Das kühne Programm "Kanon im Kanon" fordert nichts anderes
als: biblischer zu sein als die Bibel, neutestamentlicher als das Neue
Testament, evangelischer als das Evangelium und sogar paulinischer
als Paulus. Radikales Ernstmachen ist die Absicht, radikale Auflö-
sung die Folge. Im Gegensatz zu aller Hairesis, die in ihrer Selbstver-
absolutierung, ohne es zu wollen, zur Hybris wird, versucht katho-
lische Haltung, sich die volle Offenheit und Freiheit für das Ganze
des Neuen Testaments zu I bewahren. Das scheint oft weniger konse-
quent und imponierend zu sein als das kraftvoll-einseitige Heraus-
stellen einer Linie; Paulus allein kann ja unter Umständen konse-
quenter und imponierender wirken als das ganze recht vielfältige
Neue Testament, und der (von "Sakramentalismus" und "Mystizis·
mus" purifizierte) paulinistische Paulus unter Umständen wiederum
konsequenter und imponierender als der ganze Paulus. Aber der
wahre Paulus ist der ganze Paulus, und das wahre Neue Testament
das ganze Neue Testament.
4. Faktische Auswahl: Das ist die Auswahl, die in der Interpreta-
tion des neutestamentlichen Kanons ein formales Deutungsprinzip,
das sich als materiales Selektionsprinzip erweist, grundsätzlich ab-
lehnt, faktisch jedoch einzelne Zeugnisse des neutestamentlichen Ka-
nons (durch. übersehen oder Unterinterpretieren) nicht emstnimmt.
Beispiel für diese Art der Auswahl ist H. Diem. Diem geht durch seine
ganze Dogmatik hindurch zur Abgrenzung gegenüber der katholi-
61 K. H. Schelkle, Die Petrushriefe (Herders Theologischer Kommentar zum
Neuen Testament XIII, 2. Freiburg-Basel-Wien 1961) 245.
[143/144] Der Frühkatholizismus im NT als kontroverstheolog. Problem 193

sehen Kirche von der Voraussetzung aus, daß der Frühkatholizismus


mit seiner spezifischen Auffassung von kirchlichem Amt, insbesondere
Lehramt, und apostolischer Sukzession erst sehr viel nach dem Neuen
Testament seinen Ursprung habe: an jenem "Einschnitt in der Kir-
chengeschichte ... , welcher das nachapostolische Zeitalter absmließt
und allgemein als der Beginn der altkatholischen Kirche bezeichnet
wird" 53 • Hier erst fmden sich der spezifisch katholische "Episkopat"
und die "mit rechtlicher Vollmacht begabten Ämter" 54 ; hier erst ver-
sucht man, "die Autorität durch eine historische Kontinuität mit den
Aposteln und dadurch mit dem menschgewordenen Herrn zu sichern
durch die Einführung der mit der Bischofsweihe übertragenen ,apo-
stolischen Sukzession' als dem historisch äußeren Kennzeichen des
rechten Bischofs" 55 • Von daher kann Diem die "Entwicklung zum
Frühkatholizismus" ohne weiteres "als Abweg vom Neuen Testa-
ment" verstehen58 • Er setzt überall voraus, daß das Neue Testament
mit dem Frühkatholizismus nichts zu tun habe.
Doch hier wird der evangelische Dogmatiker vom evangelischen
Exegeten desavouiert: E. Käsemann stellt mit aller Nüchternheit fest:
"Die Zeit, in der man die Schrift als ganze I dem Katholizismus ent-
gegenhalten konnte, dürfte unwiederbringlich vorbei sein. Mit dem
sogenannten Formalprinzip kann Protestantismus heute nicht mehr
arbeiten, ohne sich historischer Analyse unglaubwürdig zu machen.
Der neutestamentliche Kanon steht nicht zwischen Judentum und
Frühkatholizismus, sondern gewährt in sich wie dem Judentum so
auch dem Frühkatholizismus Raum und eine Basis." 57 Was dies nach
Käsemann bedeutet, wird besonders klar aus seiner Abhandlung über
Amt und Gemeinde im Neuen Testament58 • Dort arbeitet er scharf
antithetisch die unterschiedliche Kirchenordnung in den paulinischen
Briefen einerseits und in den Pastoralen und bei Lukas (Apostelge-
schichte) andererseits heraus. Die Gemeindeordnung sowohl in den
Pastoralen ·wie bei Lukas ist im Gegensatz zu den charismatisch be-
stimmten paulinischen Gemeinden frühkatholisch bestimmt.

II H. Diem, Theologie als kirchliche Wissenschaft (München 1951) I 154; vgl.


den ganzen§ 15 über die Entstehung der altkatholischen Kirche.
"AaO 137.
11 AaO 138.
11 AaO 163; in Band II ist Diem auf das Problem des Frühkatholizismus im NT
an bestimmten Punkten aufmerksam geworden (vgl. 152-157), ohne es aber als
grundsätzliches Problem emstzuneh.men; der Beginn des Frühkatholizismus wird
bei Tertullian bzw. den Apologeten angesetzt (vgl. 296-314).
67 E. Käsemann, Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kir-

che?, aaO 221.


68 E. Käsemann, Amt und Gemeinde im Neuen Testament, in: Exegetische Ver-
suche und Besinnungen (Göttingen 1960) I, 109-154.

13 Käscmann, Kanon
194 HANs KüNG [144/145]

In den Pastoralen ist nach Käsemann die Gemeinde besonders durch


die gnostischen Häresien schwer in die Defensive gedrängt. Der Wi-
derstand wird geleitet von einem einzigen Zentrum aus: vom aposto-
lischen Delegaten und dem ihm verbundenen Presbyterium. Ein
Presbyterium wird in den paulinischen Briefen nie angeredet, obwohl
es zur Bekämpfung der Häresien das einzig Richtige gewesen wäre.
Es gab eben in den paulinischen Gemeinden ein solches Presbyterium,
wie es wahrscheinlich auch in den Gemeinden der Pastoralen einge-
richtet worden war, gar nicht. Aus juden-christlicher Tradition ist
vermutlich auch die Ordination (1 Tim 4, 14; 5, 22; 2 Tim 1, 6) in die
paulinischen Gemeinden gekommen. "Sie hat denn auch den glei-
chen Sinn wie im Judentum, ist nämlich Geistmitteilung und be-
vollmächtigt zur Verwaltung des depositum fidei von 1 Tim 6, 20,
worunter genauer die paulinische Lehrtradition verstanden werden
darf. Das besagt jedoch, daß ein der übrigen Gemeinde gegenüber-
stehendes Amt zum eigentlichen Geistträger geworden ist und die ur-
christliche Anschauung, wonach jeder Christ in der Taufe den Geist
empfängt, zurücktritt, ja faktisch verschwindet. Ebenso deutlich ist,
daß sich das nicht mehr mit der paulinischen Charismenlehre ver-
trägt. Jüdisches Erbe verdrängt das paulinische zum mindesten an
einer zentralen Stelle der Verkündigung. So erscheint das Wort Cha-
risma denn auch nur noch 1 Tim 4, 14 und 2 Tim 1, 16, also höchst
aufschlußreich im Zusammenhang von Aussagen über die Ordina-
tion. Bezeichnet wird damit der Ordinationsauftrag und die Bevoll-
mächtigung zur Verwaltung des I depositum fidei. Unschön, aber
völlig sachgemäß mag man vom Amtsgeist sprechen. "69
Im apostolischen Legaten (Titus, Timotheus) ist somit nach Käse-
mann faktisch niemand anders als der monarchische Bischof angere-
det. "Seine Aufgabe ist die Fortführung des apostolischen Amtes in
nachapostolischer Zeit. Er steht mit andem Worten in der apostoli-
schen Sukzession, genauso wie der Rabbi in der Sukzession des Moses
und Josua die Lehrtradition und Rechtsprechung erhält und jure di-
vino, nämlich durch die Geistmitteilung bei der Ordination bevoll-
mächtigt, handhabt. Damit ist jener Amtsbegriff gebildet, der die
Folgezeit bestimmen wird. Zum mindesten faktisch gibt es nun die
Unterscheidung von Klerikern und Laien. Ein Traditions- und Legi-
timationsprinzip sichert unausgesprochen, aber als unverkennbare
Grundlage der gesamten Gemeindeordnung die Autorität des insti-
tutionellen Amtes, das sich in Presbyterium, Diakonat und Witwen-
Institut mit ausführenden Organen umgibt. " 80 Diese ganze Um-
" AaO I, 128 f.
• AaO I, 129; vgl. auch zu 1 Tim 6,11-16 Käsemanns Aufsatz: Das Formular
einer neutestamentlichen Ordinationsparänese, aaO I, 101-108.
[146/146] Der Frühkatholizismus im NT als kontroverstheolog. Problem 195

wandlung war notwendig, weil nur so der ungeheuren Gefahr des


gnostischen Schwärmerturns die Stirne geboten werden konnte.
Ganz Ähnliches wie von den Pastoralen läßt sich von der Kirche der
Apostelgeschichte sagen. Auch hier überall Bischöfe, Presbyterien, Or-
dination sowie das Traditions- und Legitimationsprinzip. "Lukas hat
zum ersten Male, soweit wir zu sehen vermögen, die frühkatholische
Traditions- und Legitimitätstheorie propagiert. Auch er hat es zwei-
fellos nicht mutwillig, sondern in Abwehr der Kirclle drohender Ge-
fahren getan. Der Historiker kann nicht anders als zugeben, daß sich
die hier vorgetragene Theorie dem Enthusiasmus gegenüber als wirk-
samstes Kampfmittel erwiesen und das junge Christentum davor be-
schützt hat, im Schwärmerturn unterzugehen. Die Kanonisierung der
Apostelgeschichte ist insofern als Dank der Kirche verständlich und
verdient. " 81
Von daher verwundert es denn nicht mehr, daß auch die vermut-
lich späteste Schrift des neutestamentlichen Kanons, der zweite Petrus-
brief, wie Käsemann in einem anderen Artikel ausführt, frühkatho-
lisch geprägt ist: "Der zweite Petrushrief ist vom Anfang bis zum
Ende ein Dokument frühkatholischer Anschauung und wohl die frag-
würdigste Schrift des Kanons. " 82 Als bezeichnendste Aussage des gan-
zen Briefes darf 1, 20 angesehen werden, die bedeutet: "Persönlicll,
vom einzelnen vorlgenommene, vom kirchlichen Lehramt nicht auto-
risierte und vorgezeichnete Exegese ist nicht gestattet."" Oder wie
Käsemann schließlich in der Abhandlung: "Begründet der neutesta-
mentliche Kanon die Einheit der Kirche?" ausführt: "Hier (in 2 Pet)
wirkt der Geist ja nicht mehr auch durch die Uberlieferung, sondern
hier geht er in der Tradition auf, ist deshalb wie bereits in den Pasto-
ralen und der Apostelgeschichte das kirchliche Lehramt Besitzer des
,Amtsgeistes', kann, wie geradezu klassisch in 2 Pet 1, 20, jede nicht
autorisierte Exegese und Interpretation der Schrift verboten werden.
Hier gilt die Ordination als Index eines Legitimitäts- und Sukzes-
sionsprinzips, kurz: ist die Grenze des Urchristentums überschritten
und der Frühkatholizismus etabliert. " 84
Diem würde sich gegen manche Interpretationen Käsemanns zur
Wehr setzen85 • Andererseits wird sich der katholische Theologe kei-
neswegs mit jeder, oft recht überspitzt "frühkatholischen" Interpre-
tation Käsemanns identifizieren wollen86 • Aber was unbestreitbar sein
" AaO I, 152.
a E. Käsemann, Eine Apologie der un:hristlimen Eschatologie, aaO I, 155.
11 AaO I, 155 f.
N E. Käsemann, Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kir-
che?, aaO I, 220 f.
11 So in seiner Dogmatik 155-155 bezüglich 2 Pet 1, 20 f.
M So in: Amt und Gemeinde im Neuen Testament, aaO I, 109-127, bezüglich

lJ•
196 HANs KüNG [146/147]

dürfte: Das Katholische (im Verständnis des Amtes, der apostolischen


Sukzession, der Ordination, der Lehre usw. 87 ) findet sich bereits im
Neuen Testament88.
Daß wegen des Katholischen des Neuen Testaments die Position
eines evangelischen Theologen, der grundsätzlich das ganze Neue Te-
stament ernstnehmen und doch nicht katholisch werden möchte, recht
schwierig geworden ist, kann nicht verheimlicht werden. Im Ver-
gleich mit Diems Position erscheint diejenige Käsemanns klarer, kon-
sequenter, überzeugender. I Gegenüber dem Katholischen des Neuen
Testaments sind im Grunde nur zwei Haltungen letztlich überzeu-
gend: diejenige Käsemanns (mit seinen Freunden), der das Katho-
lische des Neuen Testaments konsequent durch "Unterscheidung der
Geister" für unevangelisch erklärt, oder dann die katholische, die das
Katholische des Neuen Testaments als evangelisch, als Ausdruck des
Evangeliums ernst zu nehmen versucht. Bei Diem spielt weder im er-
sten noch im zweiten Band seiner "Theologie" das Katholische {Epi-
skopenamt, Lehramt, Petrusamt, Ordination, Sakramente usw.) die
Rolle, die es nach dem Neuen Testament spielen sollte. Vor der
Schrift, die für das Katholische zeugt, bleibt auch Diem89 nur das zu
der rein charismatischen Gemeindeordnung der großen Paulinen sowie allgemein
bezüglich der scharfen Entgegensetzung Paulus-Lukas. Käsemanns forciert früh-
katholische Auslegung von !2 Pet vgl. mit der ausgeglichenen katholischen Ausle-
gung von K. H. Schellde, Die Petrushriefe (Freiburg-Basel-Wien 1961).
n Dies wäre auch bezüglich anderer Fragen zu überlegen, etwa bezüglich der
Gotteserkenntnis auf Grund der Schöpfung, die sehr wohl auch nicht im Sinne
autonomer, evidenter, unabhängig von Gottes Gnade gegebener "natürlicher Theo-
logie" verstanden werden kann. Auch bezüglich der Gotteserkenntnis auf Grund
der Schöpfung wäre die Frage nach dem "Frühkatholizismus" im Neuen Testa-
ment nicht nur in Apg, sondern auch in Röm- ohne falsche Voreingenommenheit
- zu stellen.
18 Vgl. zur Problematik des Frühkatholizismus im Neuen Testament neben den
Aufsätzen von Käsemann: Ph. Vielhauer, Der Paulinismus der Apostelgeschichte,
in: Evangelische Theologie 10 (1950/51) 1-15; G. Harbsmeier, Unsere Predigt im
Spiegel der Apostelgeschichte, in: Evangelische Theologie 10 (1950/51) 35!2--368;
H. Conzelmann, Die Mitte der Zeit. Studien zur Theologie des Lukas (Tübingen
1954, 1 1960); W. Mansen, Der ,.Frühkatholizismus" im Neuen Testament (Neu-
kirchen 1958); F. Mußner, "Frühkatholizismus", in: Trierer Theologische Zeit-
schrift 68 (1959) 237-!245; H. Braun, Hebt die heutige neutestamentlich-exegeti-
sche Forschung den Kanon auf?
18 Vgl. z. B. Theologie als kirchliche Wissenschaft I (München 1951) 11!2-116,

134-139. Zur Deutung des Petrusbekenntnisses vgl. von katholischer Seite: F. Ob-
rist, Echtheitsfragen und Deutung der Primatstelle Mt 16, 18 f. in der deutschen
protestantischen Theologie der letzten dreißig Jahre. Ntl. Abh. XXI, 3-4 (Mün-
ster/W. 1961). - Für Diems Vernachlässigung des kirchlichen Amtes ist seine Stel-
lung zur Entstehung des Kanons besonders aufschlußreich. V gl. Dogmatik (Mün-
chen 1955, 1 1957) 171-195, bes. 179. Gegen Diem macht f/. Braun, Hebt die heu-
tige neutestamentlich-exegetische Forschung den Kanon auf? (Fuldaer Hefte 1!2,
Berlin 1960, 11 [ = u. S. 221 ]) geltend, daß sich die Kanonabgrenzung nicht ein-
[147/148] Der Frühkatholizismus im NT alskontroverstheolog. Problem 197

tun übrig, was in der evangelischen Theologie oft getan wird: neute-
stamentlichen Sätzen die Spitze abzubrechen und das Katholische
des Neuen Testaments entweder zu übersehen70 oder unterzuinterpre-
tieren71. Das Katholische des Neuen Testaments kann nur der Katho-
lik ernst nehmen.
f. Das Protestantische und das Katholische: Käsemann und Diem
nehmen, so sahen wir, in der entscheidenden Frage des Katholischen
im Neuen Testament diametral entgegengesetzte Standpunkte ein.
Sie sind in einer gewissen, wenn auch verschiedenen Hinsicht- Käse-
mannbezüglich des "Frühkatholizismus" im Neuen Testament, Diem
bezüglich des verpflichtenden neutestamentlichen Kanons- dem Ka-
tholiken näher, als sie sich gegenseitig sind. Aber dieser Gegensatz
ist nicht zu dramatisieren. Wir machen uns keine Illusionen: Worin
stimmen Diem und Käsemann nun doch zutiefst überlein? Sie stim-
men darin überein, daß sie nicht gewillt sind, das Neue Testament
kath·olou zu verstehen. Es fehlt ihnen die volle Freiheit und Offen-
heit für das Ganze der neutestamentlichen Botschaft. Ihr stillschwei-
gendes, aber selbstverständliches Apriori ist - bei allem ernsten und
intensiven Bemühen um das Neue Testament - das Protestantische.
Und das heißt: Es gibt in ihrer Exegese und Theologie von vome-
herein keinen Weg nach "Rom". Viele und recht gegensätzliche Wege
sind einem Protestanten offen; eine Freiheit und Offenheit für einen
Weg nach "Rom" aber gibt es nicht. Was bleibt also zu tun übrig,
wenn man - was für einen Katholiken keine überraschung bedeutet

fach selbst in der Kirche durchgesetzt habe, sondern in den letzten Abgrenzungen
(Heb, ein Teil der katholischen Briefe und Apk) von der Kirche dekretiert wurde:
"Der definitive Charakter dieser Abgrenzung ist kirchliches Dekret."
" Ein bezeichnendes Beispiel liefert P. Feine, der die obengenannten drei klas-
sischen Stellen für die Ordination in den Pastoralbriefen durch seine ganze Theo-
logie des Neuen Testaments hindurch nicht nur nicht erklärt, sondern nicht einmal
erwähnt. Und bezüglich 2 Pet sagt E. Käseman.n: "So möchte man es fast sympto-
matisch nennen, daß, von der pflichtgemäßen Behandlung in den Kommentaren
abgesehen, über unsern Brief zumeist geschwiegen wird" (Eine Apologie der ur-
christlichen Eschatologie, aaO I, 135).
71 So bedeutet das Verbot der "eigenen Interpretation" in 1 Pet 1,20 für R. Krwpf
nur:"Mit Ehrfurcht, mit Zurückhaltung und Bescheidenheit sollen also die Chri-
sten an die Prophetien des AT gehen", und für G. Wahlenberg und A. Sc:hlatter:
die Weissagung erfährt ihre Auslegung und Erfüllung aus der Geschichte heraus
(nach E. Käsemann aaO I, 152). Ein Beispielliefert auch W. Fürst, Kirche oder
Gnosis? Heinrich Schliers Absage an den Protestantismus (München 1961) 36: "So
wird man etwa die Pastoralen nicht behaften bei ihrem zweifellos ,katholischen'
Amts- und Traditionsbegriff, sondern wird in ihnen hören auf den Anspruch des
Wortes, unter den eine in solchen Entwicklungen stehende und ruhende Christen-
heit gerufen wird." Zu W. Mar:rsens Unterinterpretation katholischer Texte im
Neuen Testament vgl. F. Mußner, "Frühkatholizismus", in: Trierer Theologische
Zeitschrift 68 (1959) 237-245.
198 HANs KüNG [148/149]

- feststellen muß, daß sogar im Neuen Testament alle Wege -


schließlich und endlich- nach "Rom" führen?
Diem, Käsemann und der katholische Theologe gehen vom seihen
Neuen Testament aus. Aber bei Käsemann sind für die Interpreta-
tion die Weichen- durch grundsätzlime Auswahl- von vomeherein
so gestellt, daß wichtigste neutestamentliche Linien nicht ernsthaft
in Betracht kommen, daß insbesondere der Weg des "Frühkatholi-
zismus", der unweigerlich zum "Spätkatholizismus" führen muß, von
vomeherein gesperrt ist und im Grunde nur noch in der einen (pau-
linistischen) Richtung gefahren werden kann. Bei Diem umgekehrt
sind die Weichen der Interpretation nicht von vomeherein gestellt.
Es besteht grundsätzlich die Freiheit, allen Linien des Neuen Testa-
ments nachzugehen. Doch dann, wenn beim "Frühkatholizismus",
von ferne wenigstens, "Rom" in Sicht kommt, dann leuchtet das rote
Licht auf (das bei Käsemann schon am Anfang des Weges warnte):
die Interpretation stockt, man weigert sich weiterzuinterpretieren.
Man bleibt- unter faktischer Auswahl- mit Protest auf der Strecke:
bis hierher und nicht weiter72 .1
Katholische Haltung ist es, grundsätzlich nach allen Richtungen
offen zu sein, die das Neue Testament freigibt, keine neutestament-
liche Linie grundsätzlich oder faktisch auszuschließen. Katholische
Haltung versucht, unvoreingenommen das Neue Testament nach allen
Seiten hin ernstzunehmen: katholisch zu sein, offen und frei zu sein
für die ganze, umfassende Wahrheit des Neuen Testaments. Man hat
die katholische Kirche oft eine complexio oppositorum genannt, in
keinem guten Sinn, insofern man der Kirche Unwesen (als der Kirche
aus Menschen, und sündigen Menschen) mit ihrem Wesen (als der im
Heiligen Geiste heiligen Kirche) verwechselte. Was aber oft als Vor-
wurf gedacht war, kann auch einen guten Sinn haben: Käsemann hat
aufgezeigt, daß das Neue Testament selbst eine complexio opposi-
torum ist; die katholische Kirche ist also neutestamentlich ausge-
richtet, wenn sie versucht, die opposita (nicht alle, sondern diejenigen,
die auch die des Neuen Testaments sind!) in einem guten Sinn zu um-
fassen und das ganze Neue Testament als Evangelium zu verstehen.
71 ., Wo bei der Auslegung der Schrift auch nur etwas übersehen wird, was eben
auch geschrieben steht, wo man genötigt ist, zur Durchführung seiner Auslegung
auch nur etwas, was auch geschrieben steht, abzusmwächen oder gar fallen zu las-
sen, da droht die Möglichkeit, daß die Auslegung das Eine, von dem die Schrift in
ihrer Ganzheit zeugt, auch da, wo sie es gefunden zu haben meint, in Wirklichkeit
verfehlt hat. Eine Auslegung ist in dem Maß vertrauenswürdig, als sie nicht nur
den gerade vorliegenden Text, sondern mindestens implizit auch alle anderen
Texte auslegt, in dem Maß als sie mindestens den Ausblick auf die Auslegung auch
aller anderen Texte eröffnet" (K. Barth, Kirchliche Dogmatik (Zürich 1 1948] 1/2,
537).
[149/150] Der Frühkatholizismus im NT als kontrm·erstheolog. Problem 199

Nimt das ist das Verhängnisvolle an der Theologie Käsemanns,


daß sie eine (wie immer des näheren zu bestimmende) "Mitte der
Schrift" annimmt, sondern daß sie die "Mitte" in protestantischer Ex-
klusivität das "Ganze" sein läßt und alles übrige durch "Untersmei-
dung der Geister" aussmeidet. Nimt das ist das Verhängnisvolle an
der Theologie Diems, daß sie je nam der konkreten Verkündigungs-
situation den einen oder anderen Zeugen zurücktreten läßt, sondern
daß sie gewisse Zeugen in protestantismer Exklusivität gar nimt aus-
reden läßt und sie in ihren Anliegen nicht genügend ernst nimmt.
Der Protest gegen den Frühkatholizismus ist Protest gegen das Ka-
tholisme überhaupt. Käsemann und Diem wären die letzten, die dies
bestritten. Dieser Protest- wahrhaftig nimt einfach unbegründet-
richtet sich gegen die katholische Kirche. Aber nicht nur gegen das
Unkatholische der katholischen Kirme; das wäre katholisch. Sondern
auch gegen das Katholische der katholischen Kirche; das ist protestan-
tism. Der Protest gegen die Katholizität der Kirche wird jedoch als
protestantischer Protest zwangsläufig zum Protest gegen die Katholi-
zität der Schrift, auf die er sich in seinem Protest gegen die Katholizi-
tät der Kirche ausschließlich stützen wollte. Der Protest wird aus dem
Korrektiv (so meinte es Luther ursprünglich) zum Konstitutiv (so
meint es der Protestantismus in seinen verschiedenen Ausprägun-
gen). Der Protest erstarrt in sim und hebt sim selber auf, indem er
das Fundament, auf das er sim stellte, selbst auflöst. Jede protestie-
rende Auswahl aus dem Neuen Testament widerlegt die je anderen
und wird von ihnen widerlegt. Das falsch verstandene sola scriptura
führt zu einem I sola pars scriptura und dies wiederum zu einem sola
pars Ecclesiae, kurz: zu einem verheerenden Chaos in Verkündigung
und Lehre und einer progressiven Aufsplitterung des Protestantis-
mus73.

73 Auch W. Fürst gesteht in seinem Versuch einer protestantischen Antwort an

Heinrich Schlier freimütig zu: "Unsere eigene Gespaltenheil dürfte der wunde
Punkt sein, an dem uns Schliers Anfrage als Infragestellung am empfindlichsten
trifft. Sind wir uns untereinander, wie wir es nach reformatorischem ,Prinzip' doch
sein müßten, wenigstens darin einig, worin wir mit Schlier, dem Anschein nach,
einig sein können: daß das Neue Testament für die Entscheidungen maßgebend
ist? Schlier glaubt uns nicht, daß das Hören auf die eine Schrift hinter den so ver-
sd:tiedenen Auskünften steht, die wir geben, und man kann ihm das kaum ver-
übeln. Hätte uns seine Konversion, die so bedrohlich an allen Grundlagen unserer
Tradition rüttelt, nicht längst nötigen müssen, die unter uns immer wieder aufge-
sdlobenen Bereinigungen schleunigst nachzuholen? Solange wir sie nicht angehen,
werden wir kaum in der Lage sein, Schliers Herausforderung erfolgreich zu parie-
ren. Der hier zu unternehmende Versuch steht unter der Last des Unerledigten
und muß sich seiner Vorläufigkeit auch in dieser Hinsicht bewußt sein" (Kirche
oder Gnosis? Heinrich Schliers Absage an den Protestantismus (München 1961] 7).
200 HANs KüNo [150/151]

6. Katholizität als Aufgabe: Bevor aber ein Katholik bei dieser Lage
der Dinge selbstbewußt und überheblich frohlockt, möge er beden-
ken: Gewiß, nur katholische Haltung vermag die protestantische Auf-
lösung vom Evangelium her zu überwinden. Gewiß, die Katholizität
in der Interpretation des Neuen Testaments ist ein großartiges Pro-
gramm. Aber ist sie mehr als ein Programm? Die Aussage: "Das Ka-
tholische ist das Evangelische", kann im Formelhaften stecken blei-
ben, kann in der kritischen Situation der gegenwärtigen Exegese und
Dogmatik als träge beschwichtigender Indikativ statt als die Ausfüh-
rung des Programms fordernder Imperativ verstanden werden. Un-
sere Darlegungen haben nicht den Zweck, die katholischen Theologen
vor der aufgebrochenen neutestamentlichen Problematik zu beruhi-
gen, sondern sie zur entschiedenen Inangriffnahme der katholischen
Aufgabe aufzurufen. Dadurch, daß man nur behauptet, das Katho-
lische sei das Evangelische, hat man die außerordentlich schwierigen
exegetischen und dogmatischen Probleme noch nicht gelöst, die uns
die gegenwärtige neutestamentliche Forschungslage aufgibt. Das ka-
tholische Programm hat sich in der gründlichen, ernsthaften, ehr-
lichen exegetischen wie dogmatischen Durchführung bis in die unge-
zählten Einzelprobleme hinein zu bewähren.
Man wird nicht behaupten können, daß wir Katholiken die Katho-
lizität in der Interpretation des Neuen Testaments genügend vorge-
lebt hätten. Wer von uns wagte zu behaupten, daß bei uns jene ka-
tholische Freiheit und Offenheit für das ganze Neue Testament den
anderen Christen glaubwürdig ad I oculos demonstriert worden sei?
Wäre es sonst möglich gewesen, daß sich die katholische Exegese der
letzten Jahrhunderte dauernd im Schlepptau der evangelischen Exe-
gese befunden hätte, daß sie sich im Grunde dauernd ihre Probleme,
Methoden und Lösungen von der evangelischen Exegese geben ließ,
daß grundlegende exegetische Werke wie das "Wörterbuch zum
Neuen Testament" meist Werke evangelischer Exegese sind? Man
wird sich hüten, den einzelnen katholischen Exegeten deswegen Vor-
würfe zu machen; wer käme auf die Idee, katholische Exegeten seien
weniger intelligent oder arbeitsfreudig. Sicher ist, daß unseren Exe-
geten die volle katholische Freiheit und Offenheit für das ganze Neue
Testament oft nicht gelassen wurde74 • Nicht in einer Atmosphäre der
7• Was viele leise sagen, spricht der Tübinger Alttestamentler H. Haag offen aus:
"Mit größter Besorgnis wird in Kreisen der Exegeten beobachtet, daß die Freiheit,
die das Rundschreiben ,Divino afflante Spiritu' der katholischen Bibelwissenschaft
einräumte, von neuem bedroht zu sein scheint. Wieder kommt es vor, wie es in den
letzten fünfzig Jahren nur zu oft vorgekommen ist, daß ein Exeget wegen Äuße-
rung einer Auffassung, die in Rom als irrig oder sehr oft auch nur als inopportun
angesehen wird, seines Amtes enthoben und mit Rede- und Schreibverbot belegt
wird, und dies ohne daß er in der Sache gehört worden wäre und auch ohne daß
[151/152] Der Frühkatholizismus im NT als kontroverstheolog. Problem 201

Angst, der totalitaristischen Uberwachung und der daraus folgenden


Heudtelei und Feigheit, nur in einer Atmosphäre der Freiheit, der
nüdttemen theologisdten Redlichkeit und der unerschrockenen Sach-
lichkeit und gerade so der loyalen Kirchlichkeit können Exegese und
Dogmatik ihre große katholische Aufgabe erfüllen.
Man wird audt nicht behaupten können, daß wir Katholiken die
Katholizität in der Interpretation gerade der neutestamentlichen
Ekklesiologie genügend glaubwürdig dargestellt hätten. Man kann
nicht bestreiten, daß die katholische Ekklesiologie schon des Mittel-
alters und besonders der gegenreformatorischen Zeit die Pastoral-
briefe (und die Apostelgeschichte) gerade gegenüber der mehr charis-
matisch strukturierten Gemeindeordnung der großen Paulinen stark
überbewertet hat und so faktisch aus der Ekklesiologie weitgehend
eine Hierarchologie gemacht hat. Noch heute tragen wir schwer an
diesem Erbe, und die zu lösenden Aufgaben sind zahlreich75 •
Es ist allerdings sehr viel schwieriger, das Ganze statt nur einen
Teil exegetisch emstzunehmen. Nicht nur weil jeder Theologe als
Mensch in Gefahr ist, im Neuen Testament gerade das nicht zu ver-
nehmen, was er vernehmen sollte, sondern weil auf diesem katholi-
schen Weg die hohe exegetische Kunst der Differenzierung und Nu-
ancierung in besonderem Maße erforldert ist. Also einerseits keine
Harmonisierung und Nivellierung der gegensätzlichen ekklesiologi-
schen Aussagen des Neuen Testaments aus systematischer Bequem-
lichkeit heraus, die zu träge ist, den verschiedenen Gegensätzen auf
den Grund zu gehen. Andererseits keine Dissozüerung und Reduzie-
rung dieser Aussagen aus einer rein statistisch sammelnden und ent-
gegensetzenden Hyperkritik heraus, die am Aufstöbern von Gegen-
sätzlichkeilen mehr Gefallen hat als am Aufspüren einer tieferen Ein-
heit im Gesamtkontext der Schriften, die doch schließlich alle in ir-
gendeiner Form von Jesus Christus und seinem Evangelium reden
wollen. Jedes Zeugnis des Neuen Testaments ist ein Niederschlag der
Verkündigungsgeschichte, in der Verkündigung und Taten Jesu auf
mannigfache Weise überliefert werden, damit Jesus als der Herr ge-
glaubt werde. Jedes ekklesiologische Zeugnis des Neuen Testaments
muß deshalb auf dem Hintergrund der gesamten Verkündigungsge-
schichte, muß aus seiner bestimmten Verkündigungssituation heraus
verstanden werden, in die es hineinsprechen will.
Besteht dann aber die Befürchtung Käsemanns nicht zu Recht, daß
die letzte Schrift dieser Verkündigungsgeschichte die gesamte voraus-
ihm mitgeteilt würde, worin er geirrt habe." (Was erwarten Sie vom Konzil? in:
Wort und Wahrheit 10 [1961] 600.)
76 Vgl. die Diskussion der Probleme bei H. Küng, Strukturen der Illidle (Frei-
burg-Basel-Wien 1962) 161-195.
202 HANs KüNG [152/153]

gegangene Geschichte als letztes Zeugnis interpretiert und somit ent-


scheidend bestimmt? Wohl muß in katholischer Sicht auch dieses
neutestamentliche Zeugnis ernstgenommen werden. Als frühkatho-
lisches vermittelt es gerade die für die spätere Kirche notwendige Kon-
tinuität zwischen der apostolischen Kirche des Neuen Testaments und
der Kirche der "apostolischen Väter" und der alten Kirche überhaupt.
Trotzdem kann dies nicht heißen, daß 2 Petdie Interpretation des ge-
samten Neuen Testaments als die entscheidende Schrift zu bestimmen
hat. Ist doch sehr wohl zu beachten, daß es bei 2 Petnicht einfach um
ein ursprüngliches, sondern um ein abgeleitetes Zeugnis innerhalb
des Neuen Testaments geht. Wie etwa Jud und Jak setzt auch 2 Pet
andere neutestamentliche Schriften voraus, und diese setzen unter
Umständen wieder andere, so dieses oder jenes Logion Jesu, voraus.
Die je neue Verkündigungssituation zwang zu steter Umbildung und
Neubildung der ursprünglichen Botschaft, in der auch die menschliche
und theologische Eigenart des je neuen Verkünders ihre große Rolle
spielte. Eine gegensätzliche Verschiedenheit war von daher innerhalb
des Neuen Testaments selbstverständlich gegeben, wie uns ja auch be-
zeichnenderweise nicht nur ein Evangelium oder eine Evangelienhar-
monie oder gar ein Leben-Jesu, sondern verschiedene, oft recht ge-
gensätzliche Evangelien überliefert wurden. Aber in dieser ganzen
komplexen (und nicht nur einlinigen) Entwicklung versteht es sich,
daß den ursprünglichen Zeugnissen vor den abgeleiteten ein Vor-
rang I zukommt. Geht es doch beim Neuen Testament nicht um einen
festschriftartigen Sammelband gleichberechtigter (wenn auch nicht
immer gleich wertvoller) Beiträge, geht es doch bei der Botschaft des
Neuen Testaments nicht um die Botschaft eines Schriftstellerkolle-
giums, zu der ein jeder seinen selbständigen Forschungsbeitrag lie-
fert, sondern um die Botschaft Jesu Christi, von der alle späteren
Zeugnisse nur Interpretationen sein können und wollen. So sehr also
auch die abgeleiteten Zeugnisse des Neuen Testaments ernstzuneh-
men sind, so sehr sind sie zugleich als abgeleitete und nicht als ur-
sprüngliche ernstzunehmen. Dabei hat nicht nur die äußere zeitliche
Nähe zur Botschaft J esu eine Bedeutung, sondern auch die innere
sachliche Nähe zur Mitte des Evangeliums. Über die zeitliche Nähe
hinaus darf Röm im Vergleich zu Jak auch eine größere sachliche
Nähe zugeschrieben werden. Je abgeleiteter ein Zeugnis ist, um so
mehr werden Exegeten wie Dogmatiker darauf zu achten haben, auf
welche Weise dieses Zeugnis vom Heilsgeschehen in Jesus Christus
handelt: welche Faktoren bei je verschiedenen Verkündern in der je
verschiedenen Verkündigungssituation mitspielen, fördernd oder
hemmend, bekräftigend oder abschwächend, verschärfend oder ver-
harmlosend. So muß jedes Zeugnis im Gesamt des Neuen Testaments
[153/154] Der Frühkatholizismus im NT als kontroventheolog. Problem 203

von der Botschaft J esu und den ursprünglichen Schwerpunkten her


verstanden werden. Es darf also nicht so sein, daß die späteren Zeug-
nisse die früheren, die Pastoralbriefe etwa die Bergpredigt oder die
Korintherbriefe überspielen.
Die Kirche als das neutestamentliche Gottesvolk ist es, die uns das
Neue Testament in einer gewiß wechselvollen Kanongeschichte, aber
eben doch das Neue Testament als Ganzes überliefert hat. Ohne die
Kirche gäbe es kein Neues Testament. Dabei war die Kirche durchaus
der Meinung, daß alle Teile des Neuen Testaments durchaus als po-
sitive Zeugnisse vom Christusgeschehen (und nicht nur als z. T. nega-
tive Kontrastprogramme) in den neutestamentlichen Kanon aufge-
nommen wurden. Gewiß, es war die frühkatholische Kirche, die uns
den Kanon überliefert hat. Aber ihre Katholizität bekundete diese
frühkatholische Kirche gerade dadurch, daß sie Paulus nicht aus-
schloß, wie es eine im Sinne evangelischer Exegeten konsequent früh-
katholische Kirche an sich hätte tun müssen. Sondern darin, daß sie
Paulus mit der Apostelgeschichte, Paulus mit dem Jakobusbrief, kurz,
daß sie das ganze Neue Testament zwn Kanon erhob. Dadurch hat sie
die Unterscheidung der Geister vollzogen. Katholische Theologie ist
der Meinung, daß sie sie gut vollzogen hat und wir sie heute nicht
besser vollziehen können. Der einzelne Exeget kann seine eigene Un-
terscheidung der Geister nicht besser treffen als im Vertrauen auf Idie
von der alten Kirche vollzogene und von der späteren Kirche weiter-
getragene Unterscheidung der Geister, die uns das Neue Testament
als solches überlieferte.
Das konkrete Verhältnis zur Kirche wird auch heute vielfach den
Ausschlag geben, ob ein Theologe das von der Kirche überlieferte und
verbürgte ganze Neue Testament vertrauensvoll und kritisch zugleich
anzunehmen vermag oder nicht. Wir Katholiken sind der Uberzeu-
gung, mit der alten Kirche gut daran zu tun, das Ganze des Neuen
Testaments als ein zutreffendes Zeugnis des Offenbarungsgeschehens
in Jesus Christus anzusehen und dabei jedes einzelne Zeugnis wahr-
haft, aber differenziert in seiner Ausrichtung auf dieses Heilsgesche-
hen in Christus gelten zu lassen und theologisch wie praktisch ernst-
zunehmen.
Ist es so ganz ein Zufall, daß in Tübingens katholischer Fakultät
das Wort des Systematikers vom Exegeten nicht desavouiert, sondern
bestätigt wird? "Katholische Theologie wird naturgemäß Zeugnisse
des Frühkatholizismus im NT grundsätzlich anders werten als prote-
stantische Theologie. Ist es möglich, die wahre ntl. Botschaft auf die
eine Stunde, ja den mathematischen Punkt etwa des Römerbriefes
oder des (entmythologisierten) Johannesevangeliums zu begrenzen?
In seiner Ganzheit ist das NT Zeugnis der umfassenden, d. h. katho-
HANs KüNG [154/155]

lischen, Wahrheit in der Fülle. Nur einen Teil gelten zu lassen, ist
Wahl, d. h. Häresie. Und wenn dieses NT in seinen späteren Teilen
zum Frühkatholizismus überleitet, dann wird katholische Exegese
sich bemühen, zu zeigen, bei wahrhaft geschichtlichem Verstehen ge-
schehe hier nicht Verkehrung des Ursprünglichen und Wahren, son-
dern echte und gültige Entwicklung. Das wird nicht hindern, das Spä-
tere mit dem Früheren zu vergleichen und jenes an diesem zu mes-
sen, so wie dies alle echt kritische Theologie- auch katholische- un-
ternimmt. " 78
Gibt es auch in der Ekklesiologie, wo alle Auseinandersetzungen
zwischen Katholiken und Evangelischen sich scharf zuspitzen und zu-
spitzen müssen, einen Weg zur Wiedervereinigung? Es gibt ihn. Er
besteht darin, daß die katholische Theologie das Neue Testament in
evangelischer Konzentration, die evangelische Theologie das Neue
Testament in katholischer Weite immer mehr ernstzunehmen ver-
suchen. In diesem Sinne können Katholiken, die oft von einem Zu-
viel belastet sind, und Evangelische, die oft unter einem Zuwenig
leiden, voneinander lernen und einander helfen. Ist es nicht das, was
im Grunde bei aller Kontroverse heute immer wieder geschieht I und
immer deutlicher geschieht? Ziel unserer Ausführungen und ihrer
deutlichen Konfrontation war nicht, eine Diskussion abzuschließen,
sondern auf die dahinterliegende große gemeinsame, ökumenische
Aufgabe so eindringlich als möglich aufmerksam zu machen. Und
ist es nicht ein hoffnungsvolles Zeichen, daß man in Tübingen, hat
man sich gründlich auseinandergesetzt, sich immer wieder friedfer-
tig, einträchtig und gut gelaunt zusammensetzt?

Postskriptum 1970
Seit 1962- vor dem Vatikanum II- ist viel Wasser nicht nur den Tiber,
sondern auch den Neckar hinuntergeflossen. Die katholische Polemik von
damals gegen - ebenfalls polemisch bestimmte - protestantische Einsei-
tigkeiten, Engführungen, Exklusivitäten war notwendig. Vieles wäre heute
anders zu sagen, einiges hat sich, von beiden Seiten her, erledigt. Wie indes-
sen die damals anvisierten Probleme nicht nur kritisch verschärft, sondern
positiv und konstruktiv gelöst werden können, versuchte ich nicht nur durch
ein erneutes Bedenken der hermeneutischen Grundfragen, sondern durch
eine vom Neuen Testament und seiner christologischen Mitte (!) her be-
gründete und durchgeführte ökumenische Ekklesiologie - gewiß "nur"
programmatisch- zu begründen; dabei wird die katholische Tradition nur
als nonna nonnata zur Geltung gebracht (vgl. Die Kirche 1967). Zum
Primat der Christologie vgl. neuerdings: Menschwerdung Gottes. Eine Ein-
führung in Hegels theologisches Denken als Prolegomena zu einer künfti-
gen Christologie (1970).
71 K. H. Schelhle, Die Petrushriefe (Freiburg-Basel-Wien 1961) 245.
PETER LENGSFELD

Katholische Sicht von Schrift, Kanon


und Tradition•
Ohne auch nur den Versuch einer nach allen Seiten abgerundeten
katholischen Darstellung zu machen, sollen nur die Gesichtspunkte
herausgestellt werden, die uns in der gegenwärtigen Kontroverse be-
sonders wichtig erscheinen. Zunächst soll die theologische Bedeutung
jenes Ereignisses erörtert werden, das wir unter dem Titel "Die
Schriftwerdung der neutestamentlichen Paradosis" (Kap. 111 § 1) be-
schrieben haben. Daraus I ergibt sich dann die Frage nach einer dog-
matischen Beurteilung der Entwicklung zum Kanon und nach den
Kriterien der Kanonizität und schließlich das Problem des formalen
und inhaltlichen Verhältnisses von kanonischer Schrift und Tradition.

1. Die theologische Bedeutung der Schriftlichkeil der Schrift


Obgleich katholischerseits immer wieder mit einem gewissen Recht
darauf hingewiesen wird, daß Christus seine Jünger ja nicht zum
Schreiben, sondern zur mündlichen Verkündigung ausgesandt hat
und daß viele Schriften des Neuen Testaments den Charakter von Ge-
legenheitsschriften haben1, daß also nur eine mündliche Weitergabe
der göttlich-apostolischen Paradosis für alle Zeiten durchaus hätte
möglich sein können, so muß doch der katholische Theologe mit Schee-

• Aus: P. Lengsfeld, Uberlieferung. Tradition und Schrift in der evangelischen


und katholischen Theologie der Gegenwart (Konfessionskundliche und kontrovers-
theologische Studien 3), Bonifacius-Druckerei, Paderbom 1960, S. 104-118.
1 Vgl. M. J. Scheeben, Handbuch der katholischen Dogmatik I. Theologische Er-
kenntnislehre (Gesammelte Schrüten 111), hg. von M. Grabmann, Freiburg 19481,
n. 290, 291; L. Lercher SJ, Institutiones Theologiae Dogmnticae I (ed. Schlagen-
haufen), Barcelona 19454 , 314; J. Franz.elin SJ, Tractatus de divina traditione et
scriptura, Romae 1896', 22; H. Schmidt, Brückenschlag zwischen den Konfessionen,
Paderbom 1951, 47-49; M. Schmaus, Katholische Dogmatik (5 Bde., 5. Aufl. Mün-
chen 1953 ff.) I, 107-109, der allerdings an der Beweiskraft dieses Arguments
für das kath. Traditionsprinzip Zweifel anmeldet, und zwar mit Recht; denn an
der Notwendigkeit und dem Vorrang mündlicher Weitergabe zweifelt protestanti-
scherseits niemand: vgl. Georg Prater in ELKZ 11 (1957), 389, oder P. Althaus,
Grundriß der Dogmatik, Gütersloh-Berlin 1952, 234--242, sowie H. Diem, Dog-
matik. Ihr Weg zwischen Historismus und Existentialismus, München 19571, 190
bis 192, und K. Barth, KD I, 1, 57 ff. u. a.
PETER LENGSFELD [105/106]

ben2 von einer "relativen Notwendigkeit" der scbriftlichen Fixierung


der Paradosis sprechen. Das läßt sich a priori feststellen und hat mit
dem nicht hoch genug zu schätzenden Wort-Gottes-Charakter der
Schrift noch nichts zu tun. Seheeben sieht die "relative Notwendig-
keit" der Schriftwerdung der Paradosis darin, daß "die Urkunde ...
überhaupt Vorteile bietet, welche die mündliche Überlieferung nicht
bieten kann, und die letztere selbst ohne urkundliche Basis und An-
halt nicht so natürlich, leicht und vollkommen sich forterhalten und
geltend machen könnte wie mit derselben". Abgesehen von der lnspi-
ration, besteht "der eigentümliche Wert" der Schrift darin, "daß sie
als urkundlicher Bericht über die ganze Geschichte der Offenbarung
durch die Details der diese selbst und ihren Inhalt berührenden Tat-
sachen und die reiche Entwicklung und mannigfache erhabene Dar-
stellung vieler Wahrheiten uns die Offenbarung konkreter und le-
bendiger vor Augen führt und uns inniger mit derselben vertraut
macht, als die mündliche Überlieferung es vermöchte" 3 • Man könnte
also sagen, daß die Schriftwerdung der Paradosis gerade um ihrer
selbst, um der reinen, konkreten und innig-lebendigen Überlieferung
willen notwendig ist, und zwar deshalb, weil es sich hier um eine
Oberlieferung handelt, I die nicht einfach im (gewiß defektiblen)
Glaubensbewußtsein der einzelnen Gläubigen aufgehen darf. Frei-
lich muß die göttlich-apostolische Paradosis in das Glaubensbewußt-
sein der Kirche eingehen, aber sie geht nicht ununterscheidbar darin
auf. Sonst könnte die Kirche immer nur auf sich selbst reflektieren
und nicht mehr auf die ihr gegebene, von einem anderen gegebene
Offenbarung. Söhngen unterscheidet mit Recht zwischen Inhalt und
Gegenstand der Überlieferung'. Dem Inhalt ( = Bild, Begriff und
Erzeugnis) eines intentionalen Aktes entspricht das kirchliche Glau-
bensbewußtsein, durch das etwas überliefert wird- die traditio ac-
tiva. Dem Gegenstand des intentionalen Aktes ( = der an sich seiende
Gegenstand, der dem Akte vorgegeben ist) entsprächen die gegen-
ständlichen Aussagen der göttlich-apostolischen Glaubenshinterlage,
des depositum fidei: das, was überliefert wird - die traditio passiva.
Jene Paradosis-Aussagen sind Gegenstand der Überlieferung und lö-
1 M. 1. Sc:heeben, Dogmatik I, n. 291, 292.
1 M. 1. Sc:heeben, Dogmatik I, n. 292 (Hervorhebung von uns).
• G. Söhngen, Oberlieferung und apostolische Verkündigung, in: ders., Einheit
in der Theologie, München 1952, 305 ff. (321). Weder Söhngen noch uns ist hier
daran gelegen, eine umfassende Darstellung des Verhältnisses von Überlieferung
und Glaubensbewußtsein sowie Inhalt und Gegenstand beider zu bieten. Uns ge-
nügt die Feststellung der Möglichkeit, daß in jenem (im Raum des menschlichen
- und nicht ohne den göttlichen Geist- sich ereignenden) Geschehen der Oberlie-
ferung das aus göttlichem Ursprung Oberlieferte grundsätzlich unterscheidbar ist
von dem Menschlichen, wodurch und womit es überliefert wird.
[106/107] Katholische Sicht von Schrift, Kanon und Tradition 007

sen sim "nicht einfach in das kirchlid:te Glaubensbewußtsein auf",


sondern bleiben der "an sid:t seiende Gegenstand, der als sold:ter (!)
den Inhalt des gläubigen Bewußtseins bildet (I) und mithin dem Be-
wußtsein gegenübersteht" (ebd.). Gerade die Gegenständlichkeit der
göttiim-apostolischen (Verbal-)Tradition im Raum der Kird:te, weld:te
ein formuliertes Aussprechen und Niederschreiben (sei es in der Hei-
ligen Schrift, sei es in den Schriften der Väter und der "Tradition")
möglich macht, gerade diese Gegenständlichkeit bewahrt die Kirdie
davor, im Blick auf ihre Schätze immer nur sich selbst zu sehen und
nicht ihren Ursprung aus Gott; diese Gegenüber-Ständlichkeit5 be-
wahrt sie davor (menschlid:t gesprochen), daß die Rück-Besinnung auf
ihren Ursprung nicht bloß (sie ist es auch) eine Innenschau in sich
selbst, sondern eine wirkliche Rück-Besinnung auf den nicht von I ihr
selbst hervorgebrachten Grund ihres Daseins und auf ihre nicht aus
Eigenem erzeugte Mitgift ist. Die göttlich-apostolische Tradition ist
zwar in das Leben der Kirche eingegangen - insofern umschließt die
kirchlid:te Tradition die Paradosis Christi, und die Kirche als solche
lebt ja ganz davon-, aber sie bleibt unterscheidbar von ihrem Eigen-
leben und muß möglichst sorgfältig gerade von jenen Mißbildungen
und Verkehrtheiten ihres Eigenlebens (die Schwäd:ten ihrer Glieder
sd:tmerzen niemanden mehr als die Kirche selbst) unterschieden wer-
den, die den zum Glauben Berufenen den Zugang zur göttlich-apo-
stolischen Paradosis ersd:tweren oder versperren könnten. Die göttiim-
apostolische Paradosis (und damit die göttlid:te Wesensbegründung
der Kirche) ist unterscheidbar und unterschieden Yon dem sich gewiß
auch sehr menschlich gestaltenden Eigenleben der Kird:te, genauer
von der menschlichen Seite des kirchlichen Eigenlebens mit all seinen
geschid:ttlichen oder anachronistischen, vernünftigen oder auch unver-
nünftigen Darstellungen. Für den einzelnen und im konkreten Fall
mag die Unterscheidung schwierig vorzunehmen sein, grundsätzlich
1 Vgl. H. Schüssler, Wahrheit und Oberlieferung zwischen den Konfessionen:
Festgabe Joseph Lortz I, hrsg. von E. lserloh und P. Manns, Baden-Baden 1958,
109-134 (111). -Darum wird auch eine Identifikation von Tradition und kirchli-
chem Lehramt, wie sie H. Dieckrnt~n.n SJ (De ecclesia Il, Freiburg 1925, n. 669 ff.)
und A. Deneffe SJ (Der Traditionsbegriff [Münstersche Beiträge zur Theologie 18],
Münster 1931, 160 f.) vertreten, von den meisten Theologen abgelehnt. Vgl T. Za-
pelena SJ, Oe ecclesia Christi II, Romae 19541, 275-283; ders., Problema theologi-
cu.m 111: Gregorianum 25 (1944), 38-73; J. Salaverri, De ecclesia Christi, Matriti
1950, n. 805; J. Filograssi SJ, De Sanctissima Eucharistia, Romae 19531, 19ff.;
ders., Traditio divino-apostolica et Assumptio B. Mariae Virginis: Gregorianum :30
(1949), 443-489 (453); ders., Tradizione divino-apostolica e magisterio della Chiesa:
Gregorianum 32 (1952), 135-167 (144-147); J. Temus SJ, Beiträge zum Problem
der Tradition: Divus Thomas 16 (1938), 31-56; 197-229; 0. Müller, Zum Begriff
der Tradition in der Theologie der letzten hundert Jahre: MThZ 4 (1953), 164 bis
186 (167 f.).
208 PETEI\ LENGSFELD [107/108]

aber ist sie allein schon auf Grund dessen gegeben, daß die göttiim-
apostolische Oberlieferung nicht erzeugter Inhalt (im Sinne Söhn-
gens), sondern Gegenstand des kirchlichen Glaubensbewußtseins ist.
Von daher muß die bei Möhler anscheinend ungebrochene Identi-
fikation von Kirche-Leib Christi und Offenbarung, wie sie sich im
folgenden Satz findet, kritisiert werden: "Die Kirche ist (!) der Leib
des Herrn, sie ist ( !) in ihrer Gesamtheit seine sichtbare Gestalt, seine
bleibende, ewig sich verjüngende Menschheit, seine ewige Offenba-
rung" (Symbolik S. 356). Gerade im Hinblick auf die "Tradition im
subjektiven Sinn des Wortes" wird man so nicht gut reden können,
da ja der "eigentümliche, in der Kirche vorhandene und durch die
kirchliche Erziehung sich fortpflanzende christliche Sinn" (357) nidtt
unbedingt immer den ganzen Gehalt der göttlich-apostolischen Para-
dosis zum Bewußtseinsinhalt hat. Wenn Möhler gerade hier von dem
"kirchlichen Bewußtsein" (356) spricht und in diesem Zusammen-
hang die Kirche als "sichtbare Gestalt" des Herrn und als "seine
ewige Offenbarung" bezeichnet, so kann das leicht zu dem Mißver-
ständnis führen, das Karl Barth zu seiner so ungeduldig und scharf
klingenden Kritik in KD I, 2, 624-628 herausgefordert hat8 •
In der seit Irenäus verfolgbaren Entwicklung des katholischen Tra-
ditionsprinzips (bis hin zu Möhler) sieht Karl Barth einen Prozeß,
der in I zunehmendem Maße alle ursprünglich der Kirche gegenüber-
stehende Autorität in Kirchenautorität verwandelt (KD I, 2, 629/630).
Im Blick auf Möhler glaubt er die katholische Theologie der "Gleich-
setzung der Kirche, ihres Glaubens und ihres Wortes mit der siebe-
gründenden Offenbarung" (627) anklagen zu können, wobei sich in
dieses kircheneigene Wort nicht nur menschliche Instanzen wie Ver-
nunft, Philosophie und Geschichte hinterrücks einschleichen, sondern
durch Möhler und das Vatikanum sogar noch auf den Thron gehoben
werden. Bereits im Tridentinum stand hinter der Definition der Tra-
dition jene verhängnisvolle "Identifikation von Schrift, überliefe-
rung, Kirche und Offenbarung" (KD I, 2, 613), welche die Gehorsams-
haltung der Kirche unter Gottes Wort aufhebt und die Kirche in
einem unkontrollierbaren, unfruchtbaren Selbstgespräch (KD I, 1,
107; I, 2, 651 u. öfter) befangen sein läßt. Nicht so sehr die Mündlich-
keil der Tradition bildet das Ziel der Barthschen Kritik, sondern dies,
daß eine derart mündlich-geistige Größe, die schließlich "das Ganze
1 Zum Verständnis Möhlcrs vgl. J. R. Geiselmann, Lebendiger Glaube aus ge-
heiligter überlieferung, Mainz 1942, 449-479, besonders 450, und ders., Der Ein-
fluß der Christologie des Konzils von Chalkedon auf die Theologie J. A. Möhlers:
Chalkedon 111, 341-420, vor allem 404 ff. -Mähler selbst schränkt bereits in sei-
ner Symbolik (Regensburg 1882 [dritter Abdruck], S. 300) die scheinbare Identifi-
kation ein, indem er sagt, daß die Kirche nur "von einer Seite betrad1tet, auf eine
abbildlim-lebendige Weise" Christus sei.
[108/109] Katholische Sicht von Schrift, Kanon und Tradition

des kirchlichen Lebens ... für mit Gottes Offenbarung identism er-
klärt" (KD I, 2, 607), nun nodl Kanon, Regel, Richtschnur und Maß-
stab des Glaubens eben dieserKirmesein könnte. "Man wird nicht
bestreiten können, daß es etwas Derartiges (sei. ungeschriebene pro-
phetisch-apostolische Tradition) in der Kirche außer dem wirklichen
Kanon gibt. Man wird aber sagen müssen: Sofern es Gott gefallen
hätte, diese ungesdlriebene geistig-mündliche Oberlieferung zum Ka-
non seiner Kirche zu machen, dann wäre der Kanon vom Leben der
Kirche selbst so wenig zu unterscheiden, wie wir etwa das in unseren
Adern rollende Blut unserer Väter von unserem eigenen Blut zu un-
terscheiden vermögen, d. h. aber, die Kirche wäre dann doch wieder
mit sich selbst allein und auf sich selber, auf ihre eigene Lebendigkeit
angewiesen" (KD I, 1, 107).
Dazu ist zunächst zu sagen, daß Barth den Einfluß Möhlers auf die
Theologie der Gesamtkirche und auf die Vorbereitung des Vatika-
nums und damit die repräsentative Bedeutung Möhlers wohl sehr
überschätzt (die Konzeption Scheebens als Schüler von Franzelin und
beider Einfluß auf die Gesamtkirche war sicherlich größer und re-
präsentativer und würde überdies dieses Mißverständnis bei Barth
nicht geweckt haben). Zweitens hat die Kirche sich niemals in dieser
Weise mit der Offenbarung identisch erklärt, deren Hüterio und Ver-
kündigerio, Bewahrerio und Auslegerio sie ja ist; das zeigt jede Dog-
matik in der Erklärung von "depositum fidei", Lehramt, Kirche und
Offenbarung sowie die Definition des Vatikanums (D 1836 "traditam
per Apostolos revelationem ... sancte custodire et fideliter exponere"
nicht "novam doctrinam patefacere" ist Aufgabe der Kirche). M.
Schmaus: "Die göttliche Seihstierschließung wird über Christus hin-
aus nicht verlängert; sie wird weder wiederholt noch fortgesetzt. " 7
Drittens bleibt die Kirche immer Werkzeug in der Hand Christi:
"Nur im Hinblick auf die lebendige Wahrheit zwischen Christus und
der Kirche, nicht aber im Sinne einer formalen Einheit, wie sie zwi-
schen Seele und Leib besteht, kann Christus als Seele der Kirche be-
zeichnet werden. Sonst würde man die Kirche direkt vergöttlichen.
Sie würde statt Werkzeug in der Hand Christi geradezu die Verkörpe-
rung Christi sein, so daß auch all ihr Tun unabhängig von einer po-
sitiven Anordnung des Herrn göttlichen Charakter haben müßte. " 8
Pius XII. drückt diesen Gedanken so aus, daß er vor einem falschen
Mystizismus warnt und das Bild der Kirche als mystischen ( = "trans-
lata tantummodo significatione") Leib Christi ergänzt wissen will
7M. Schmaus, Geschichtliches Ereignis und übergeschichtliche Wahrheit im
Christentum: Stud. Gen. 4 (1951), 558-364 (360).
8 So B. Paschmann in dem die dogmatischen Grundlagen darstellenden 1. Teil
seines Werkes "Die katholische Frömmigkeit", Wünburg 1949, 61.

14 Käsemann, Kanon
~10 PBTER LE.NosFELD [109/110]

durm jenes andere von der Kirme als Braut Christi: Hier ist das Ge-
genüber von Kirche und Christus deutlim ausgespromen. Paulus "al-
terum tarnen alteri, ut Sponsum Sponsae, opponit", cf. Eph 5,22-231.
Viertens: Wenn schon ein anthropologismer Vergleim herangezogen
werden soll, dann nimt der von der Ununtersmeidbarkeit des über-
kommenen zum eigenen in den Adern kreisenden Blut. Man könnte
sagen: Die göttlim-apostolisme Paradosis steht der Kirche "gegen-
über" ähnlim wie der Mensm, einmal als Mensch geboren, seinem
menschlimen Wesen gegenübersteht und darin die Norm für sein
Handeln vorgezeichnet findet; er kann sein Wesen verwirklichen10 -
oder aum nimt, während die Kirmeder ihr vorgegebenen Wesens-
konstitution stets entsprimt. Sie verwirklicht ihr Wesen "im wesent-
lichen" immer, kann gar nicht "unkirchlich" handeln (wie der Mensch
ja unmenschlim handeln kann, aber sein Wesen verleugnet dabei),
da eben gerade dazu ihr der göttliche Beistand gegeben ist, daß sie
ihrem- vorgegebenen!- Wesentreu bleibe. Der Vergleich gilt also
nur soweit, wie wir sagen, der einzelne Mensch "ist" nicht sein We-
sen, nimt seine Natur, sondern hat sie zu verwirklichen11 .1n diesem I
Sinne ist die Kirche nicht Offenbarung, Paradosis etc., sondern hat sie
in sich, trägt sie durch die Zeit, schützt sie, bewahrt sie und verkündet
sie. - Damit haben wir im Grunde nur einen anderen Vergleim her-
angezogen, der die gleime Konsequenz wie Söhngens Unterscheidung
zwischen Inhalt und Gegenstand eröffnet: Die Kirche kann der ihr
übergebenen Paradosis wirklich gehorsam sein, da diese ihr gegen-
übersteht und nimt unterschiedslos und ununterscheidbar in ihrem
Eigenleben aufgegangen ist.
In der grundsätzlichen Unterscheidbarkeit des kirchlich-mensch-
lichen Eigenbewußtseins (und Eigenlebens als soziologischem Ge-
bilde) von der ihr anvertrauten Paradosis zeigt sich bereits die Be-
deutung der Tatsache, daß die göttiim-apostolische Oberlieferung
• Enzyklika "Mystici corporis", n. 85.
11 Vgl. art. "Anfang" (A. Darlapp): LThK 11, 5~ ff., und art. "Anthropologie"
(1. ScJunid, A. Halder, K. Rahner), ebd., 604 ff.
11 Man könnte wohl auc:h sagen, daß Gott allein im strengen Sinne "ist". Der
Mensch "wird", indem er ständig darauf aus ist, sein Wesen zu verwirklic:hen. Erst
im Endzustand des Seins in Gott kann man sagen: Auc:h der Mensc:h "ist". Ahnli-
mes kann man von der Kirc:he sagen: Sie "ist" eigentlic:h noc:h nid:lt, sondern sie
streckt sic:h ständig darauf aus, einmal in Vollgestalt die zu "sein", die Christus
will als Braut ohne Fehl und Makel. Mensch und Kirche stehen unter dem Gesetz
des Werdens, da sie ihr vorgegebenes Wesen noc:h zu verwirklimen haben und es
noc:h nic:ht ohne Rest "sind". Damit ist nichts gegen die Göttlic:hkeit der Institution
oder gegen das schon jetzt (analog, aber wirklim) realisierte "Sein" der Kirc:he ge-
sagt: ein in der Zeit noc:h werdendes, aber auch sc:hon wirklimes Sein. Sie "ist"
Leib Christi, indem sie stets neu und immer mehr Leib Christi "wird", um (im
Telos) dann nur noc:h Leib Christi zu sein.
[110/111] Katholische Sicht von Schrift, Kanon und Tradition 211

nicht als ständig neu erzeugter Inhalt (im Sinne Söhngens) des in der
Kirche waltenden Glaubensbewußtseins weitergetragen wird, son-
dern als vorgegebener, stets anzueignender und bis zum Zeitenende
nie allseitig und völlig (bewußtseinsmäßig) angeeigneter Gegenstand
überliefert wird. Daraus ergibt sim als weitere Folge jene Funktion
der schriftgewordenen Paradosis gegenüber der mündlichen Tradi-
tion, die Söhngen so beschreibt: "Das apostolische Lehrwort (hier
gleich: die apostolische Verkündigung) als bewußtseinsunabhängiger
Gegenstand der kirchlichen Oberlieferung macht uns den tiefsten
Grund sichtbar, warum wir außer der mündlichen Oberlieferung
noch eine zweite und ebenfalls selbständige Quelle für unsere Er-
kenntnis der Offenbarung besitzen in der Heiligen Schrift. Ohne das
Schriftwort würde das Gegenübersein des apostolisd:ten Lehrwortes
in die reine Bewußtseinsgegebenheit der Oberlieferung aufgehen ...
Das Schriftwort ist vergegenständlid:ttes Apostelwort, objektiviertes,
nicht nur objektives wie das mündlid:t überlieferte ... Oberlieferung
bedarf der Vergegenständlid:tung durd:t Geschriebenes, damit die Ge-
genständlichkeit des überlieferten klar und deutlich werde. Was wäre
auch Oberlieferung ohne klare und deutliche Gegenständlid:tkeit?" 12
Was hier ein Bedürfnis der Oberlieferung genannt wird, meint den-
selben Sachverhalt wie Scheebens Rede von der relativen Notwendig-
keit der Schrift. Gerade um der Reinerhaltung der mündlichen Ober-
lieferung willen ist die Schrift nötig13 - I immer noch abgesehen von
11 G. Söhngen, Oberlieferung und apostolische Verkündigung: Einheit in der
Theologie, 322.
11 Eine aufschlußreiche Ansicht finden wir bei Job. Chrysostomus vertreten:
Einerseits legt er den Hörern seiner Predigten dringend ans Herz, doch die Heilige
Schrift zu lesen, nicht nur oberflächlich, sondern mit Eifer, ja als "Heilmittel für
eure Seele"; wenigstens das NT sollen sie sich anschaffen oder den Apostel, denn
die Schrift sei wie eine gute Hausapotheke, in der für die Seele Trost, Mut, Kraft,
Heilung und das wichtigste Hilfsmittel zum Oberstehen der Drangsal zu finden
ist (Kolosserkommentar, 9. Homilie; MG 62 [Chrys. XI], Sp. 359-361); "Die Hei-
lige Schrift macht den Sünder gerecht ... " (Zu Ps. 49; MG 55 [Chrys. V], Sp. 251,
zit. bei Soiron, Das hl. Buch, Freiburg 1928, S. 7), verscheucht seine Bosheit und
bringt die Tugend zur Reife etc. Andererseits sieht er die lD. Schrift nur als einen
Notbehelf an: Eigentlich müßte das von Gottes lD. Geist in unsere Herzen ge-
schriebene Gesetz genügen zu einem christlichen Leben. Ent als die Juden in den
Abgrund der Sünde gestürzt waren, "da gab Gott ihnen Schriften und Gesetztafeln
zur mahnenden Erinnerung". Auch die Apostel erhielten nichts Geschriebenes,
sondern die Gnade des lD. Geistes. "Nachdem aber die Christen im Laufe der Zeit
auf Abwege geraten waren, die einen in Glaubenssachen, die anderen in ihrem
Lebenswandel, da bedurfte es wiederum der Ermahnung durch das geschriebene
Wort" (Matth. Komm., 1. Homilie; MG 57 [Chrys. 7, 1], Sp. 1~14). So sieht also
ein Kirchenvater die "relative Notwendigkeit" der Schrift als Schrift begründet in
dem Faktum der Bosheit des menschlichen Herzens, das nicht, de facto nicht im-
stande ist, die göttliche Paradosis unverfälscht zu bewahren und rein und lauter
weiterzugeben: eine Mahnung für uns Katholiken, die Bedeutung der Trad. als
212 PETEil LENGSFELD [111/112]

ihrem inspirierten Charakter. Auf keine Weise kann besservor Augen


geführt werden, daß die Kirche im Gesamt ihrer Lebensvollzüge,
Verwirklichungen und (der in ihr webenden) Bewußtseinsinhalte
nicht einfach identisch ist mit der ihr vertrauten Paradosis als eben
durch die Tatsame, daß diese Paradosis in eine schriftliche Gestalt
eingegangen ist, die wegen ihrer Schriftlichkeit besonders deutlich
das Gegenübersein von Kirche und Paradosis manifestiert1'. Wir
sehen, wie unlösbar die schrift.lime Paradosis mit der mündlichen ver-
bunden ist, wie sehr einerseits die Selbständigkeit beider betont wer-
den mußU und wie sehr andererseits auch ihre Zusammengehörigkeit
zu berücksichtigen ist. Wie die Oberlieferung der Vergegenständli-
mung durm Geschriebenes bedarf, so bedarf auch die Schrift "der
Verlebendigung durm das gesprochene Wort der Uberlieferung, da-
mit der vergegenständlichte Geist des Schriftwortes gleid:l.sam. aus
seiner Vergegenständlichung heraustrete und wieder gegenwärtig re-
dender Geist werde. Denn was wäre die Schrift, wenn der ursprüng-
liche Geist ihrer Worte nicht mehr lebendig gemacht würde?" 1' -
Dies alles gilt unter vorläufigem Absehen von der Inspilration der
Schrift, allein auf Grund der inneren Zusammengehörigkeit von
Mündlichem und Schriftlichem, wenn es sich um Oberlieferung han-
delt. Was aber hat es nun zu bedeuten, daß jenes "Schriftliche" die
Gestalt eines Kanons angenommen hat?
selbständiger Glaubensquelle nicht so weit zu übertreiben, daß die Schrift dann
für uns keinerlei "Beweiskraft" zu tragen scheint, wie uns von H. Diem vorgewor-
fen wird (Dogm. 41, 187; Grundfragen der biblischen Hermeneutik [ThEx-NF 24],
München 1950, 5 ff.; Der irdische Jesus und der Christus des Glaubens, Tübingen
1957, 4). Die Paradosis wird in der Kirche weder bewahrt noch weitergeleitet ohne
die Schrift. Sie wird auch nicht ohne die Schrift erkannt als göttliche Paradosis.
Vgl art. Biblische Theologie: LThK 111, Abschn. m Biblische Theologie und Dog-
matik in ihrem wechselseitigen Verhältnis (K. Rahner).
lt Daß die Kirchetrotz allem mit Recht "Fortsetzung der Inkarnation" und sicht-
bare Darstellerin der Offenbarung, Leib Christi und Hort der Offenbarung ge-
nannt werden kann, ist damit nicht geleugnet, sondern gerade behauptet und dog-
matisch ermöglicht: Weil ihre eigenen Lebensvollzüge, die gewiß auch menschli-
cher Art sind, nicht mit der ihr anvertrauten Offenbarung identisch sind, ihre ei-
gene Tradition nicht schlechthin die göttlich-apostolische Paradosis ist, kann die
Kirche die Oberlieferung darstellen, verkörpern, Aussagen über sie machen, sie pre-
digen und Menschen durch sich selbst zu ihr hinführen. Sonst wäre die in ihr le-
bendige Paradosis nur ihre Tradition, die Tradition der Menschen, aus denen sie
sich zusammensetzt. So aber repräsentiert kirchliche Tradition die göttliche Para-
dosis und kann mit ihr in gewissem Sinn (indirekt) "identisch" genannt werden:
insofern sie jene repräsentiert und wirklich ausdrückt, "ist" sie die göttlich-aposto-
lische Tradition im dargestellten Sinn.
11 Das berühmte "et" des Tridentinums D 783, Zeile 12, findet hier eine dog-
matische Begründung: Es driickt das notwendige Gegenüber aus.
1• G. Söhngen, Oberlieferung und apost. Verkündigung: Einheit in der Theolo-
gie, 323.
[112/113] Katholisdle Sicht von Schrift, Kanon und Tradition 213

2. Der Kanon der Schrift und der Kirche


Die relative Notwendigkeit der schriftlichen Darstellung der gött-
lich-apostolischen Paradosis, zu deren Ausbreitung die Kirche sich ge-
gründet weiß, läßt - angesichts der Tatsache, daß ja auch Schriften
verfaßt werden konnten und wurden, die nicht jene Paradosis zum
Ausdruck bringen- die auf Leben und Tod zielende Frage entstehen,
ob und wie sich denn die Kirche gegen eine Verfälschung ihres vorge-
gebenen Wesens abzugrenzen vermag. Wie kann sie jene Schriften,
welche die ihr mit auf den Weg gegebene Paradosis rein darstellen,
eindeutig scheiden von anderen, welche pseudo-kirchliche und pseudo-
christliche Phänomene (wie sie bereits zu apostolischer Zeit etwa in
Karinth, Thessalonich, Kleinasien und Jerusalem auftauchen) pro-
pagieren wollen? Und vor allem: Wie kann die Kirche zur Erkenntnis
der in ihrem Raum maßgeblichen, ihre Paradosis rein darstellenden
und ihre Verkündigung für alle Zukunft bindenden Schriften über-
haupt kommen? Und wenn jenen Schriften der Charakter eines ver-
bindlichen Kanons, diesem Kanon folglich der Rang eines Dogmas
zukommen soll, auf welche Weise mag dann die Kirche erkennen, daß
auch dieses Dogma ihr von Gott geoffenbart worden ist? Was sich hi-
storisch ausmachen läßt, haben wir kurz zusammengefaßt (§ 2).
H. Diem drückt das so aus: "Man kann hier historisch nichts anderes
feststellen als eine Wechselwirkung zwischen dem sich selbst durch-
setzenden Schriftkanon und der durch die Verkündigung dieses Ka-
nons konstituierten und diese umgekehrt wieder autorisierenden
Kirche. " 17 Dogmatisch müssen wir etwas weiter ausholen: Gott offen-
bart sich den Menschen innerhalb einer bestimmten raumzeitlichen
Spanne und stiftet eine ebenso raumzeitlich greifbare Kirche zu dem
Zweck, diese einmalige Offenbarung allen Zeiten und allen Land-
strichen unverfälscht, rein, ohne Zutaten und Abstriche weiterzu-
geben. Dieses Handeln Gottes ist (heils-)geschichtlicher Art und bringt
bestimmte die Kirche konstituierende Verwirklichungen hervor, deren
letzter und eigentlicher Urheber er selbst ist, obgleich er dabei auch
Menschen in Dienst nimmt, die in jener Stiftungszeit leben. Dieses
Stiftungshandeln Gottes begründet "ein einmaliges, I qualitativ nicht
weitergehendes Verhältnis zur ersten Generation der Kirche, das er
(Gott) nicht im selben Sinn zu anderen Perioden hat (oder besser: nur
durch jene zu diesen)" 18 • "Der Akt derStiftungder Kirche ist also (ter-
minativ) qualitativ anders als der der Erhaltung" (ebd.). Späterhin
17 H. Di.em., Dogmatik, 180-181.
18 So Karl Rohner in: Ober die Sc:hriftinspiration: ZKTh 78 (1956), 153, siehe
dort auch die ausführlichere Begründung. Der Artikel erschien in erweiterter Form
als Heft 1 der Reihe "Quaestiones disputatae" (Freiburg 1958) und wird nun nach
dieser Ausgabe zitiert (obiges ZitatS. 51).
214 PETER LENGSFELD [113/114)

erhält Gott das, was er einmal gestiftet hat, und er erhält es darum,
weil er es einmal so und nicht anders stiften wollte. Von uns aus ge-
sehen: Die Urkirche (deren Stiftung selbstverständlim innerweltlim
nicht auf einmal, an einem Datum, geschah, sondern eine gewisse
"Zeit" beanspruchte; daher: Urkirche = Kirche im Werden, im Ent-
stehen ihrer konstitutiven Elemente) ist nicht nur die zeitlich erste
Periode der Kirchengeschichte, sondern jener allmählich (auctore
Deo) alle wesentlichen Elemente herausbildende Grund, jenes maß-
gebende Fundament, jener Maßstab ("Kanon"), auf dem alles Spä-
tere gründet und an dem es gemessen werden muß. "Zu den Kon-
stitutiven dieser Urkirche als des qualitativ einmaligen Werkes Gottes
und als des bleibenden ,kanonischen' Ursprungs für die spätere Kirclle
gehört nun auch die Scllrift. " 111 Diese Schrift, in der die göttlich-apo-
stolische Paradosis bleibend fixiert ist, gehört einerseits mit zu den
durch Gottes Urheberschaft gesetzten (Deus auctor!) VerwirklichUD-
gen seines Stiftungswillens (darin gründet die Tatsache der Inspira-
tion), und ist doch andererseits ein Lebensvorgang der Urkirche selbst,
die ihren Glauben, ihre Predigt, ihre mitgegebene Paradosis, ihre
(wenn auch noch so "zufälligen") Lebensäußerungen dorthinein aus-
drückt - und darum vermag die spätere Kirche jene Schriften der
Urkirche auch als ihren Kanon zu erkennen. "Indem die Kirche (ge-
meint ist die Urkirche) ihre Paradosis, ihren Glauben und ihren
Selbstvollzug schriftlich konkretisiert, also Schrift in sich bildet, wen-
det sie sich als die maßgebende Urkirche an ihre eigene Zukunft, und
umgekehrt: indem sie sich als das maßgebende Gesetz, nach dem alle
Zukunft der Kirche angetreten ist, für diese Zukunft konstituiert,
bildet sie Scllrift" (Rahner, ebd. 56-57). Da die Urkirche als solche
Maß, Richtsmnur und eben "Kanon" für alle künftige Kirche ist-
weil ja Gottes Handeln hier heilsgeschimtliche Konktretheiten ein für
allemal neu hervorbringt -,können überhaupt die sich damals her-
auskristallisierenden konstitutiven Elemente der Kirche jenen für
alle Zukunft maßgebenden, also kanonischen Charakter haben. Ne-
ben anderen Elementen (Sakramente, Prielstertum, Sukzession, Para-
dosis, Geistempfang, göttliches Recht, gesellschaftliche Struktur der
Kirche und Primat z. B.) gehört nun dazu "unbeschadet des Vorrangs
der mündlichen Paradosis in der noch werdenden Urkirche, welche
mündliche und doch autoritative, also unfehlbare Paradosis der Scluift
vorausgeht, nach dem freien, aber sachlim verstehbaren Willen Got-
tes auch die Schrift" (Rahner, ebd. 55). Weil es die Schrift der Urkirche
ist, diese Urkirche aber in besonderem Maß die Garantie der reinen
Selbstdarstellung und der reinen Darstellung ihrer Paradosis hatte,
darum ist diese Scluift Kanon schlechthin.
11 K. Ralmcr, über die Sduiftinspiration, 55.
[114/115] Katholisdle Sicht von Sduift, Kanon und Tradition 215

Uns bleibt die Frage, wie die spätere Kirche diesen Kanon erkennen
konnte. Denn die apostolischen Schriften, die um ihrer Verfasser wil-
len Geltung in der Kirche hatten, und die Schriften ihrer Schüler, die
um der inhaltlidlen Obereinstimmung mit der überlieferten Glau-
benspredigt in der Kirche Ansehen genossen, waren ja nicht von vom-
herein zum Kanon zusammengefaßt, noch war die Kanonizität der
einzelnen Schriften jederzeit unbestritten. Die Kirche konnte zur Er-
kenntnis der Kanonizität (und lnspiriertheit) dieser Schriften nur
durdl Offenbarung!O gelangen. Eine explizite, satzhafte Mitteilung
ist uns nicht bekannt21 , bleibt also nur eine implizite Offenbarung.
Daß diese vorliegen muß, dafür bürgt dem Katholiken das Lehramt,
das ja sonst den Kanon nicht hätte definieren könnenn. Aber wie ist
sie (historisch und dogmatisch) einsichtig zu machen? Nach Rahnen
These, der wir auch hier folgen wollen, können wir so sagen: "Diese
(ursprüngliche, noch nicht reflex satzhaft gewordene) Offenbarung
geschieht einfach dadurch, daß die betreffende Schrift als echter We-
sensvollzug der Urkirche entsteht ( ... ). Die sich selbst darlbietende
Tatsache (die durch ein übernatürliches heilsgeschichtliches Wirken
Gottes gesetzt ist) kann dann auch in nadlapostolischer Zeit noch re-
flex erfaßt und ausgesprochen werden, ohne daß dadurch eine neue
Offenbarung geschieht ( ... ). Die vom Geist erfüllte Kirche erlaßt
in "Konnaturalität" etwas unter den Schriften als das ihr Wesensge-
mäße. Ist es dann noch gleichzeitig "apostolisch", d. h. ein Stück des
Lebensvollzugs der Urkirche als solcher und als solches erlaßt, dann
ist es unter den in unserer Theorie gemachten Voraussetzungen eo
ipso inspiriert" und kanonisch (174 f.).
M Alle historisdlen Urteile und Kriterien, die protestantisdlerseits vorgetragen
werden- sei es ein Rechnen mit Generationen, sei es Rede von Ursprünglichkeit,
Originalität, zeitlicher Frühe etc. -, können ja doch nur eine hütorüche Vorord-
nung dieser Sduiften gegenüber später entstandenen herausbringen, nie aber eine
dogmo.tische, mit Absolutheitsanspruch Glauben fordernde und das Künftige reso-
lut beurteilende Kanonizität.
11 Zumal es "historisdl wahrscheinlich" ist, daß ein Apostel von seiner eigenen
Inspiriertheit, beim Philemonbrief etwa, nichts wußte; wie wäre eine Mitteilung
über einzelne Schriften und ihre Kanonizität zu denken, geschweige denn für den
ganzen Kanon? Vgl. Rahner, ebd. 55.
11 B. Brinkmann SJ meint, daß die kirchliche Kanonfeststellung nur die Konsta-
tienmg einer dogmatisdlen Tatsache (wie es etwa die Rechtmäßigkeit eines Kon-
zils aum ist) und kein Dogma sei, also gar nicht (auch nicht einsdllußweise) auf
Offenbarung zurückgeführt werden muß. Er unterscheidet die Zugehörigkeit einer
Sdlrift zum Kanon (darüber entsdleidet die Kirche kraft ihrer Unfehlbarkeit als
über eine dogmatische Tatsame = Kanonizität in actu secundo) und der Inspira-
tion und der (mit ihr) gegebenen Kanonizität (in actu primo): die Erkenntnis der
letzten Eigenschaften einer Sduift führt auch er auf Offenbarung zurück. Vgl.
B. Brinkmann SI, Inspiration und Kanonizität der ID. Schrift in ihrem Verhältnis
zur Kin:he: Scholastik 33 (1958), 208--233, bes. 214 f., 230 ff.
216 PETER LENGSFELD [115/116]

In unserer (in Kap. li § 6 dargestellten) Terminologie können wir


noch genauer bestimmen: Die Kirche hat zu der ihr mitgegebenen
und in ihr durch göttliche Setzung stets weitergetragenen Realtra-
dition, zum Gegenstand des in ihr dadurch lebendigen Glaubens,
einen unrefle:x:en oder bewußten, jedenfalls aber wirklichen Sach-
bezug23. Sie "hat" also in gewissem Sinn die Sache selbst, ihr Wesen
und ihre Paradosis. Sie hat dies alles gewiß auch durch die in ihr ge-
brauchten, gültigen Formulierungen der Verbaltradition (Glaubens-
formeln, regula fidei etc.), aber dadurch hat sie einen wirklichen Be-
zug zu dem, was wir Realtradition nannten. Und daraus vermag sie
zu erkennen, was diesem ihrem Wesen gemäß ist, was dieses ihr Sein
wahr, rein, lauter, ungetrübt und eben "sachgemäß" ausdrückt, was
ihrer "Natur" gleidtsam "konnatural" ist. Darum kann sie den Ka-
non als die ihrem gottgesetzten Wesen gemäße, ihre empfangene
und weiterzugebende Paradosis richtig darstellende Ausdrucksweise
erkennen, so wie sie sich selbst eben durch die in diesem Kanon darge-
stellte göttlich-apostolische Paradosis von Gott gegründet weiß. En-
digt damit die von Diem historisch und von uns nun audt dogmatisch
konstatierte Wechselwirkung zwischen Kirche und Kanon in einem
circulus vitiosus? Sind wir damit in einen ähnlichen Zirkel geraten,
den Karl Barth für seine Konzeption "die Bibel ist das Wort Gottes"
als eines analytischen Satzes zugegeben hat (KD I, 2 S. 595)? Nein;
denn es handelt sich ja nicht nur um eine Wechselwirkung zwischen
Kirche und Kanon allein, sondern zwischen Kirche, Kanon und dem
beide, eins durch und in dem anderen setzenden Gott. J. Görres hat
eine gute Formulierung dieses Problems gegeben: "So wäre daher
auch die katholische Kirche in einem falschen, logischen Schluß der
Art wirklich verstrickt, wenn sie sagte: Ich habe mich I gesetzt, um
durch mich die Schrift zu bewähren, und mich setzend, habe ich die
Schrift gesetzt, um an ihr meine Gewähr zu finden. Da sie nun aber
sagt: Gott hat mich gesetzt, und durch mich äußerlich die Schrift, in
der Schrift aber innerlich mich; so schwebt dies Wechselzeugnis kei-
neswegs grundlos im Leeren, in einem nichtigen Hin und Her Fri-
stung suchend, sondern es ist auf dem höchsten und obersten Erkennt-
nisgrundfest begründet, und die Kirche drückt damit die prinzipien-
hafte Natur ihres Wesens in treffendster Weise aus. " 2' Auf den Ka-
non bezogen: Gott ist es, der die Kirche gesetzt, und durch die Kirche

11 Vgl. K. Rahner, Schriften zur Theologie I, Einsiedeln 195+, 61. 64. - Der recht
gegenständlich-objekthafte Ausdruck sollte nicht vergessen lassen, daß es sich im
Gnmde um die Beziehung zu einer Person (Logos, Pneuma) handelt. Es ist aber
weniger die psychologische und reflexe Seite dieses Bezuges, sondern zuerst die
reale, ontische und - insofern "sachliche" - Seite anvisiert.
14 J. von Görres, Die Triarier, Regensburg 1838,69-70 (Hervorhebung von mir).
[116/117] Katholische Sicht von Schrift, Kanon und Tradition 217

setzt er äußerlich den Kanon25 , und in dem Kanon ist wieder das
Zeugnis der Urkirche über die Kirche enthalten, im Kanon setzt Gott
die Kirche. -Sobald diese Dreiheit (Gott-Kirche-Kanon) um ein Glied
verringert wird, muß ein logisch und dogmatisch verfänglicher Zir-
kelschluß herauskommen: Wird die Kirche (Urkirche und spätere
Kirche) ausgeschieden, dann erscheint die Schrift (dogmatisch- trotz
der historischen Mitwirkung von Menschen) als ein schier unversteh-
bar vom Himmel gefallenes und nun rein menschlicher Nutzung (und
Willkür) preisgegebenes "bonum derelictum." 28 Wird dagegen Got-
tes Kirche und Kanon durch- und ineinander setzende Funktion über-
sehen, dann müßte das "Wechselverhältnis" so gesehen werden, daß
die Kirche erst den Kanon hervorbringt und dann anerkennt, sich
selbst aber nur durch den von ihr erzeugten und mit Autorität ver-
sehenen Kanon beglaubigen und ausweisen kann27 • Nur die unge-
kürzte und (wie oben) differenzierte Dreiheit von Gott-Kanon-Kirche
(und Gott-Kirche-Kanon, gemäß der Görres'schen Unterscheidung
innerlicher und äußerlicher Setzung) scheint eine dogmatisch befrie-
digende Bestimmung der "Wechselwirkung" zu ermöglichen. - Ge-
rade daraus ist nun auch erklärlich, daß es sich bei der Aufstellung
des Kanons durch die I Kirche und ihrer Erkenntnis des Kanons ver-
mittels der ihr eingebildeten göttlich-apostolischen Tradition (Ver-
bal- und Realtradition) nicht um eine für den Kanon lebensgefähr-
liche Umklammerung durch kirchliche Tradition handeln kann. Was
tut die Kirche, wenn sie den Kanon aufstellt? Sie erlaßtreflexund
ausdrücklich, promulgiert und bekennt sich zu den unter Gottes Au-
torschaft in ihr entstandenen Schriften als zu dem ihre Paradosis gül-
tig aussprechenden Kanon. Sie registriert den von Gott (implizit
dmch die de-facto-Entstehung dieser Schriften in derbereits "Kanon"
seienden Urkirche) offenbarungsmäßig gegebenen Kanon als das von
11 Indem er Vertreter der Urkirche zu den menschlichen Verfassern seiner Schrift
mamt, die Kirche aber diese Schriften als ihre Wesensäußerungen und damit als
Kanon erkennen läßL
" Scheeben, Dogmatik I, n. 257; man kommt auch bei Barth nicht ganz um die-
senEindruck herum: Er übertreibt das Gegenüber so sehr, daß die Schrift nach
ihm zwar die Kirche "begründet", "begrenzt" und "konstituiert" (KD I, 2, 600),
aber gleichsam als ein der Kirche nur gegenüberstehendes, immer außerhalb ihrer
bleibendes Prinzip. Mit Bultmanns Worten müssen wir ihn fragen, wie er denn
den historischen Befund, daß die Bibel auch eine "original christliche Schöpfung"
(Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition, Göttingen 19571, 398) ist,
dogmatisch zu verwerten vermag.
17 Dann bestünde auch das von protestantischen Augen gesehene Zerrbild der
katholischen Position zu Recht, wonach die Kirche (mit ihrer Tradition) erst die
Schrift garantiert, um sich dann von der Schrift beglaubigen zu lassen - und um-
gekehrt; vgl. Barth, KD I, 2, 595 (Kleindruck); H. Rückert, Schrift, Tradition und
Kirche, Lüneburg 1951, 8; vgl. dagegen Scheeben, Dogm. I, n. 414, u. a.
218 PETEl\ LENGSFELD (117/118]

nun an auch explizit gültige Gesetz, nach dem sie für alle Zukunft
angetreten ist18• Und nochmals: Woher weiß die Kirche das? Wie ver-
mag sie das zu erkennen? Sie bezeugt und erkennt den Kanon als
ihren Kanon a) aus dem lebendigen Sachbezug, den sie zu der in
ihrem Schoß und mit ihr selbst geschehenen "Sache" der göttlich-
apostolischen Paradosis, der Realtradition, hat, und b) aus der in ihr
bis dahin bereits gültigen, normativen göttlich-apostolischen Verbal-
tradition (Glaubensformeln, regula fidei, Credo). In diesem Sinne ist
richtig, daß die Kanonfeststellung der Kirrhe ein (authentisches) Re-
gistrieren des sich aufdrängenden, sich imponierenden Kanons ist und
daß es sich dabei um ein "Glauhenszeugnis" der Kirche im "Glau-
bensgehorsam" gegenüber Gottes Wort handelt". So verstanden,
können wir auch E. Kinders Satz bejahen: "Die Umgrenzung des Ka-
nons ist eine Glaubensentscheidung der Kirche, ein Bekenntnisakt
der Kirche aus innerer Verbundenheit mit dem Sachgehalt der
Schrift. " 30 Auf unserem Hintergrund läßt sich auch Otto Weber ak-
zeptieren: Die Kirche "hat für das, was in der Fülle der überlieferten
Schriften ,original' war (wir: ihre ,origo' wesensgetreu wiedergibt),
ein eigentümlich sicheres Gemerk besessen31 ". Aber wohlgemerkt:
Jenes "eigentümlich sichere Gemerk" und jene "innere Verbunden-
heit mit dem Sachgehalt der Schrift", welche der den Kanon festle-
genden Kirche eigen ist, wird man auf protestantischer Seite wohl
nicht hinreichend erklären können ohne die Anerkennung einer nor-
mativen Glaubenstradition, auf welche die Kirche gleidlsam reflek-
tierend zurückgreifen kann, wenn sie sichangesichtsder (durm Jahr-
hunderte hindurch um Ansehen ringenden) Kanonizität begehrenden
Schriften vor die Frage nach ihrem Kanon, nach I ihrem Grundgesetz
gestellt sieht31• Wer die historische Entwicklung im Auge hat und
nicht von vornherein auf eine dogmatische Verbindlichkeit des Ka-
nons verzichten will, muß das wohl zugestehen.

II K. Rahner, Ober die Schriftinspiration, 57.


11 K. Barth, KD I, 2, 532 sowie 525; vgl. auch I, 1, 110.
11 E. Kinder, Ein Wort lutherischer Theologie zur Entmythologisierung, Mün-
chen 1952,42.
11 0. Weber, Grundlagen der Dogmatik I, Neukirchen 1955, 285.
11 Unserer Auffassung sehr nah scheint Peter Brunner zu stehen: Das NT "re-
präsentiert" die apostolische Quellgestalt des Evangeliums. Die Bildung der Schrif-
ten gesdlieht nicht "in einem verkündigungsleeren Raum". "Nur die Kirche, in
der das mündliche Zeugnis der Apostel tatsächlich weitergegeben wurde, konnte
ein Urteil über den kanonischen Charakter einer der in Frage stehenden Schriften
fällen." Kanon- und Dogmenbildung sind analoge Vorgänge: beide Male "wirkt
der Geist durch das Mittel des apostolischen Evangeliums"; Umrisse einer Lehre
v. d. Autorität der Hl. Schrift: ELKZ 9 (1955), 136.
liERBERT BRAUN

Hebt die heutige neutestamentlich-exegetische


Forschung den Kanon auf?•
I
Die Relativierung des Kanons zu Beginn unseres Jahrhunderts ging
nicht von der Exegese des Neuen Testaments, sondern von der Ka-
nonsgeschichte und von der Einleitungswissenschaft aus. Die damals
erarbeiteten und seither nicht wesentlich modifizierten Erkenntnisse
müssen mitbedacht werden und daher eingangs hier wenigstens lrun
zur Sprache kommen, wenn der heutige, speziell exegetische Aspekt
der Kanonsfrage nachher ausführlich behandelt werden soll.
Die Ergebnisse der Kanonsgeschichte sind folgende 1• Der Kanon
des Neuen Testamentes ist allmählich entstanden. Gegen Ende des
2. Jahrhunderts gelten unsere 4 Evangelien als Schrift; aber noch Cle-
mens Alexandrinus, behutsamer Origenes, benutzen auch apokryphe
Evangelientexte. Neben den 4 Evangelien steht um 200 p. mit gleicher
Autorität ein Corpus von Briefen, die hauptsächlich dem Paulus zuge-
schrieben werden und die als apostolisch gelten. Aber diese Autorität
ist jüngeren Datums als die der Evangelien, sie ist dem Briefcorpus
erst in der 2. Hälfte des 2. Jahrhunderts zugewachsen. Das zeigt sich
aum darin an, daß bei dieser zweiten Autorität die Zahl der Schriften
noch umstritten ist: der zweite Petrusbrief, der zweite und dritte Jo-
hannesbrief kommen erst allmählich, zwischen Clemens Alexandri-
nus und Origenes, bei den Antiochenern noch viel später, als Schrift
hinzu, und der syrische Kanon nimmt die katholischen Briefe zögernd
erst nach 400 p. auf. Die Apokalypse des Johannes verliert nach Ori-
genes, also seit der Mitte des 3. Jahrhunderts, im Osten ihr Ansehen I
und gewinnt es erst seit dem Ende des 4. Jahrhunderts schrittweise
zurück. Dem kirchlichen Westen dagegen gilt der Hebräerbrief, auch

• Aus: H. Braun, Gesammelte Studien zum Neuen Testament und seiner Um-
welt, J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1962, S. 310-324 (Erstveröffentli-
chung in: Fuldaer Hefte 12, 1960, 9-24).
1 Für die Kanonsgeschichte s. die diesbez. Arbeiten von Zahn, Harnack, Leipoldt
und Lietzm.ann sowie die kanonsgeschichtlichen Abschnitte in den Einleitungen;
instruktiv auch die historisdlen Rmunes in dem Aufsatz von W. G. K.üm.mel, Not-
wendigkeit und Grenze des neutestamentlichen Kanons, ZThK 47 (1950), S. '1:17
bis 313.
220 lhRBERT BRAUN [311/312]

wenn er gelegentlich bekannt ist, bis zum Ende des 4. Jahrhunderts


nicht als Schrift, weil man nicht Paulus als Verfasser annimmt; erst
Hieronymus und Augustin erklären den Hebräerbrief als paulinisch
und damit als Schrift. Der 39. Osterbrief des Athanasius aus dem
Jahre 367 p., der als erstes Kanonsverzeichnis alle unsere 27 neutesta-
mentlichen Bücher nennt, beschreibt also nicht den allgemeinen da-
maligen Status, sondern weist einen Weg, der in den nächsten Jahr-
zehnten erst allmählich begangen wird.
Die Kräfte, welche hinter diesem allmählichen Werden des Kanons
stehen, sind bekannt. Das Neue Testament selber kennt die Apostel
und Prediger als geistbegabt. Aber ihren schriftlichen Äußerungen
wird im Neuen Testament keine besondere Dignität zugeschrieben; sie
werden gesammelt und immer wieder verlesen, wie es auch mit den
Herrenworten geschieht, deren Form bis tief ins 2. Jahrhundert sehr
frei behandelt wird. Ehe Evangelien und apostolische Schriften kano-
nisch werden, sind sie also regelmäßig gebrauchte und beliebte Vor-
lesungstexte; natürlich nicht alle in allen Teilen der Kirche. Das gilt
auch von den apostolischen Briefen, die ihre Autorität neben den
Evangelien zwar zögernder, aber eben auch auf Grund des praktischen
Gebrauchs gewinnen. Mareions zweiteiliger Kanon hat die offizielle
kirchliche Entwicklung, d. h. die Autorität von Kyrios und Apostolos,
zwar beschleunigt, aber nicht überhaupt erst eingeleitet; hier ist Har-
nachs These zu modifizieren. Der allmähliche Übergang im Gebrauch
der neutestamentlichen Schriften von Vorlesungsbüchern zu kanoni-
schen, Schriftdignität besitzenden Büchern bringt eine Ausscheidung
mancher Texte mit sich, welche verlesen wurden, welche aber die hö-
here Dignität nicht erreichten. Dieser Übergang vollzieht sich in den
verschiedenen Gebieten in verschiedenem Tempo; noch der Sinaiticus,
in Ägypten in der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts geschrieben, ent-
hält hinter den 27 Büchern des Neuen Testaments den Barnabasbrief
und den Pastor Hermae. Das große Kriterium für jenen Ausschei-
dungsprozeß ist die apostolische Verfasserschaft einer Schrift; auch
wenn man in diese apostolische Verfasserschaft die Apostelschüler ein-
bezog, so war damit eine gewisse zeitliche Nähe zur ersten und zwei-
ten Generation für die Verfasser postuliert. Dieser Ausscheidungspro-
zeß gewinnt schließlich seine Dringlichkeit in den Auseinanderset-
zungen mit der häretischen Gnosis. I
Man wird also resumieren müssen: der Kanon ist in seinen Haupt-
blöcken, den Evangelien und dem Corpus Paulinum, altesVorlesungs-
gut, das schon im 2. Jahrhundert gottesdienstlich verwendet wurde;
hier hat die Kanonisierung seitens der Kirche Vorhandenes nur be-
stätigt. Das gilt aber nicht von den Randstücken, dem Hebräerbrief,
einem Teil der katholischen Briefe und der Apokalypse; hier hat die
[312/313) Hebtdieheutigeneutestamentl.-exeget.ForschungdenKanonauf? 221

Kirche im 4. und 5. Jahrhundert dekretiert, hier hat nicht, wie Diem2


in Anlehnung an Barth meint, die Kanonsabgrenzung sich selber
durchgesetzt.
Der Kanon ist also allmählich entstanden; seine Abgrenzung in den
Randstücken war bis ins 5. Jahrhundert umstritten; der definitive
Charakter dieser Abgrenzung ist kirchliches Dekret. Geradeangesichts
dieses unbestreitbaren Ergebnisses der Kanongeschichte meinte man,
einer Relativierung des Kanons in der Theologie zu Beginn unseres
Jahrhunderts nur wehren zu können, wenn man den leitenden Ge-
sichtspunkt, unter dem die Kirche seit dem zweiten Jahrhundert die
Schriften gesammelt, ausgeschieden, als Vorlesungsliteratur benutzt
und dann kanonisiert hat, um so stärker herausstellte: die apostolische
Verfasserschaft. Die Einleitungswissenschaft jenerJahrzehntesteuerte
dem Relativierungsprozeß, in den der Kanon hineingezogen war,
durch den Versuch des Nachweises, die 27 Bücher seien "echt", d. h.
sie stammten von den apostolischen Verfassern, deren Namen sie tra-
gen, und sie gehörten somit in die älteste Zeit. Th. Zahn z. B. hat sein
Werk in dieser Sicht getrieben. Man muß sich den Ernst dieser alten
Konservativen klarmachen. WaretwaJohannes als derZebedaideund
Augenzeuge nicht der Verfasser des vierten Evangeliums, so war, wie
Kähler, der diesen Standpunkt nicht teilt, mit Recht sagt, die Glau-
bensgrundlage beträchtlich getroffen. Von daher erklärt sich die Lei-
denschaft jener Generation in den Einleitungsfragen um die Echtheit;
so müssen in der Sicht jener Grundhaltung viertes Evangelium und
Apokalypse vom Zebedaiden, die Pastoralbriefe von Paulus stammen.
In der heutigen Beliebtheit der Sekretärshypothese etwa für die Pasto-
ralbriefe und den ersten Petrusbrief, in der Zuschreibung des J akobus-
briefes an den Herrenbruder wirkt jene damalige Grundposition im-
mer noch nach. Im Gegensatz zu dieser konservativen Grundhaltung I
hat die liberale Forschung alten Stils im wesentlichen die apostolische
Verfasserschaft der neutestamentlichen Schriften bestritten. Zwar
nicht in allen Punkten hat sie dabei recht behalten. So hat sich z. B.
die liberale Ansetzung des vierten Evangeliums in das erste Viertel
des 2. Jahrhunderts durch die Auffindung von P 52 (Roberts) und von
P Egerton als falsch erwiesen; das vierte Evangelium muß um 100 p.
schon vorhanden gewesen sein. Aber im großen und ganzen ist jener
konservative Versuch, die apostolische Herkunft aller Schriften des
Neuen Testamentes nachzuweisen, durchaus gescheitert. Niemand
mehr unternimmt ihn heute ernsthaft. Zwar ist damitnicht gesagt, daß
deswegen heute der Kanon grundsätzlich als bedeutungslos gilt; aber
I H. Diem, Theologie als kirdiliche Wissenschaft, n. Dogmatik, 1955,8.179.
1M. Kähler, Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche biblisc::he
Christus', 1896, S. 8.
HEBBur BRAuN [313/314)

auf die apostolische Herkunft der Schriften wird man sich heute bei
der Verteidigung des Kanons nidtt einmal mehr für die Evangelien,
gesdtweige denn für die katholische Briefliteratur ernsthaft beziehen
können. So nimmt denn audt ein so grundsätzlicher Befürworter des
streng abgegrenzten Kanons wie H. Diem die Kanonsgesdlichte ruhig
zur Kenntnis; nur läßt er im letzten Abschnitt mit dieser Gesdtichte,
im 4. und 5. Jahrhundert, die dekretierende Willkür der Kirdte in
den Hintergrund treten". Er kämpft auch nicht mehr- auf dem Bo-
den der Einleitungswissensdtaft - streng für die apostolische Her-
kunft der einzelnen Schriften, sondern er betont- für historisch-kri-
tische Argumente offen - bei der apostolischen Herkunft besonders
die Einbeziehung der Apostelschüler5; was historisch-kritisch freilidt
nur angeht, wenn man "Apostelschüler" sehr weit einfach als Glieder
der 2.-4. Generation der Kirche faßt. Er gibt schließlich - historisdt-
kritisch gesehen mit Recht - jenen Gesichtspunkt der Alten Kird:J.e
von der apostolischen Verfasserschaft grundsätzlich ganz auf, wenn er
- sachlich ridttig - erwägt, die Abfassungszeit einer Schrift lasse
sich als Kriterium für die Kanonizität überhaupt nicht verwenden,
weil ältere Schriften unkanonisch geblieben, jüngere kanonisch ge-
worden seien8 • Gerade die Argumentation dieses jüngsten Befürwor-
ters eines streng abgegrenzten Kanons macht deutlich: die Frage nadt
dem Kanon ist eine Frage nach dem Inhalt des Kanons und nadt der
Einheit dieses Inhalts geworden. Nicht mehr die Einleitungswissen-
sdtaft, die Exegese hat nun in Fragen des Kanons das erste Wort. Hier
stehen wir heute. I
II
War für jene eben behandelte liberale Generation der Kanon letzt-
lich deswegen unwesentlidt geworden, weil man den Gegensatz von
Geist und Buchstaben fälschlicherweise als den Gegensatz der Inner-
lichkeit, des Herzensglaubens und der Äußerlichkeit der religiösen
Autorität verstand und mit der ersten Seite das Rechte zu wählen
meinte, so brachte das Inführunggehen der Exegese ein erneutes Hö-
ren auf die Inhalte des Neuen Testaments und zerstörte die lllusion,
als lebte der Glaube vom Enthusiasmus des Herzens und nidtt von
der Botsdtaft. Dies erneute Wichtigwerden neutestamentlicher ln-
halte rückte für Jahrzehnte die formalen Fragen der Einleitung und
der Kanonsgeschichte an den Rand des allgemeinen Interesses. Und
doch ist das nur der täusdtende Außenaspekt der Lage. Das "Merken
auf das Wort" triebes-in der religionsgesdtichtlichen Vergleichung
und in der formgesdtichtlichen Analyse- im "Merken" nämlich so

• H. Diem, aaO, S. 179. 1 H. Diem, aaO, S. 175. • H. Diem, aaO, S. 175.


[314/315] Hebt die heutige neutestamentl.-exeget. Forschung den Kanon auf? 223

weit, daß das Neue Testament aus seiner Einheit sich in eine Vielheit
von Schichten und Aspekten zerlegte. Diese Schichten und Verschie-
denheiten betreffen gleichzeitig Schilderungen von Tatsächlichem wie
auch theologische Aussagen. Die einzelnen Dinge fügen sich aller-
meist nicht, wie Mosaiksteine, zu einem bereicherten Ganzen zusam-
men, sondern bergen Gegenstände untereinander, welche, wird jede
Seite für sich betrachtet, sich ausschließen. Das Neue Testament- so
stellt es sich heraus - hat in zentralsten Stücken weder eine Aussage-
Einheit hinsichtlich der tatsächlichen Vorgänge nom eine Lehr-Ein-
heit hinsichtlich der Artikel des Glaubens. Die Frage des Kanons ist
somit erneut aufgebrochen; diesmal nicht wie in der früheren Etappe
von außen her in den formalen Fragen nam Verfasser und Abfas-
sungszeit; sondern gefährlicher, von innen her, unter dem Gesimts-
punkt der nicht vorhandenen Einheit, der unvereinbaren Gegen-
sätze. Besteht die Behauptung der Uneinheitlichkeit des Neuen Testa-
mentes zu Recht? 7
Der Sinn dieser meiner Ausführungen kann hier nicht der sein, daß
ich nur eine Synopse über die Meinungen der heutigen Neutestament-
ler liefere. Hier kann nur jeder, den andern mithörend, in seinem Ver-
stehen des Neuen Testamentes den eigenen Weg zu gehen versumen.l
In den Ausführungen über das Gesetz, über die letzten Dinge, über
Kirme und Amt, über die Christologie und über die Sakramente
scheint es mir ausgeschlossen, eine wirkliche Einheit des Neuen Testa-
mentes zu behaupten. Die folgenden Zusammenfassungen können in
diesem Rahmen natürlich nur skizzieren, nicht detailliert beweisen.
Die Lehre vom Gesetz. Jesus von Nazareth hat die üblichen Tara-
forderungen verschärft. Einige dieser seiner Verschärfungen sprengen
den Rahmen des in der Tora Gebotenen: die Ablehnung jedes
Schwurs und der Wiedervergeltung, das Gebot der Feindesliebe, das
Verbot der Ehescheidung und der Besitzverzimt. Er hat die rituelle
Reinheit vergleichgültigt. Er hat herausfordernd den Mitmenschen
über den Kulttag gestellt; auch damit wird die Tora in ihren rituellen
Teilen von Grund auf getroffen. Das alles wird bei ihm freilich nicht
grundsätzlich als neues Lehrsystem proklamiert: die jüdische Kon-
zeption vom Taragehorsam als dem Wege zum Lebensmeint bei ihm
erhalten geblieben zu sein. Von innen her ist diese Konzeptiondom
entscheidend angetastet: wenn gerade die Tarakorrektheit dazu füh-
ren kann, Gottes nicht mehr zu bedürfen, wenn J esus als Freund von
Zöllnern und Sündern den religiös Deklassierten die Aufnahme ins
7 Hier ist vor allem zu verweisen auf die Arbeiten von E. Käsemann, Begründet
der neutestamentlühe Kanon die Einheit der Kirche?, EvTh 11, 1951/52, S. 13
bis 21; Eine Apologie der urchristlichen Eschatologie, ZThK 49, 1952, S. 272--296;
Zum Thema der Nichtobjektivierbarkeit, EvTh 12, 1952/53, S. 455--466.
HERBERT BRAUN [315/316]

Reich verspricht und den korrekten Pharisäern das Gericht ansagt, so


ist de facto die Toraals Heilsweg im innersten getroffen8 •
Paulus ist in seiner Rechtfertigungslehre vom historismen Jesus
nicht abhängig; denn er benutzt eine völlig andere theologisme No-
menklatur. Seine Re<htfertigungslehre schließt den Toraweg, auf
dem der Mensm durch sein Tun sich das Heil zu gewinnen meint und
daher sich gerade seines rechten Tuns rühmen und Ansprüche erheben
muß, als Fehlweg, als von der Christusoffenbarung verboten aus.
Dieser Ausschluß erfolgt nun grundsätzlich, liegt aber, was den Trend
anlangt, auf der gleichen Linie wie die Polemik Jesu gegen den An-
spruch des frommen Menschen. Das vierte Evangelium berührt die
Tarafrage so gut wie nicht, ordnet sich aber dieser Linie, wie später
deutlich werden soll, in eigenständiger Weise ein.
Diese Linie wird im Neuen Testament nicht im mindesten durchge-
halten. Die späteren Schichten der Synoptiker fangen die Polemik
Jesu gegen Ritus und Kulttag erheblich ab; schon die Vermehrung der
Makarismen bei Mt gegen Lk zeigt: neben die Polemik Jesu gegen
die Ansprüche des Tarafrommen tritt eine naiv moralisierende Emp-1
fehlung der Torafrömmigkeit. Ahnlieh ergeht es den paulinischen
Formeln: seine Taralehre erfährt mannigfache Modifizierungen. Der
Hebräerbrief wehrt nur die kultischen Inhalte der Tora, Priesterdienst
und Reinigungsriten, als Heilsweg ab. Die Apostelgeschimte vertritt
eine "komplementäre" (Hamack) Rechtfertigung: nicht Werke oder
Glaube als Heilsweg: sondern: wo man das Gesetz nicht halten kann,
da tritt der Glaube als rettend ein; die kritische Alternative bei Paulus
ist verkannt9 • Die Pastoralbriefe konservieren die paulinische Formel,
paralysieren sie aber durch einen die Formel ergänzenden Moralis-
mus und Glaubensrationalismus. Auch der Jakobusbrief knüpft an
die paulinische Formel an; mir ist nicht wahrscheinlich, daß er gegen
Paulus kämpfen will. Er will einen ihm gefährlich scheinenden Pau-
linismus treffen; er tut das aber so, daßerde factodenvon ihm nimt
verstandenen, vielleicht auch nicht gekannten Paulus verdirbt. Das
Neue Testament lehrt über die Tora als Heilsweg widersprüchlich.
Die Eschatologie. Jesus erwartet Endgericht und Ankunft des Men-
schensohnes, den Anbruch der Basileia, für seine Generation. Das
gleiche ist für die Urgemeinde zu vermuten, für Paulus bezeugt. Aber
für Paulus schiebt sich daneben das Heil, welches in der Annahme des
Sünders gegenwärtig ist: jetzt ist der Tag des Heils (II. Kor 6, 2). In
den paulinischen Gemeinden, auch noch in der Apokalypse, bereitet
8 S. H. Braun, Spätjüdisdl-häretisdler und frühchristlicher Radikalismus, 1957,
n, s. 5-61.
1 Zur Frage Paulus-Acta s. Ph. Vielhauer, Zum Paulinismus der Apostelge-
sdüchte, EvTh 10, 1950/51, S. 1-15.
[516/317] Hebt die heutige neutestamentl.-exeget. Forschung den Kanon auf? 225

das Nichteintreffen der Parusie nur erst anfängliche Sd:J.wierigkeiten;


später wird die erkannte Fehlrechnung Anlaß zu erheblichen Modi.fi-
zierungen. Diese erfolgen in zwei Richtungen. Der Termin wird in
ein ferneres Ende prolongiert: so in einzelnen synoptisd:J.en Worten,
besonders im Lukasevangelium, in der Apostelgesd:J.id:J.te und dann,
grundsätzlich formuliert, im zweiten Petrusbrief. Diese Linie ist in
der weiteren Entwicklung die offizielle geworden. Oder der Charak-
ter des zeitlich bevorstehenden wird ganz aufgegeben: jetzt, im Hören
des Wortes, geschieht Gerid:J.t und Auferstehung. So das vierte Evan-
gelium, in welchem aber ebenso wie im ersten Johannesbrief die zeit-
liche Linie in einigen Glossen nachgetragen und so das johanneisd:J.e
Corpus der offiziellen Esd:J.atologie notdürftig amalgamiert wird. Das
Neue Testament lehrt über die Eschatologie uneinheitlicb.
Kirche und Amt. J esus von N azareth hat weder die Gründung einer
Kirche und Gemeinde nod:J. deren Leitung durch Amtsträger im Auge
gehabt. In der ersten Gemeinde wie noch in den paulinischen Ge-
meinlden gab es natürlid:J. Mensd:J.en, die für die Ordnung sorgten.
Aber wenn aud:J. die zur Zwölferzahl dogmatisierten Begleiter Jesu in
Jerusalem eine persönliche Autorität genossen, so lag anfangs die
Zahl der Apostel nicht fest und war nicht gering, und ihre Funktion
stellte keine institutionelle Beamtung dar. Die Einheit des Paulus mit
dieser Jerusalemer Führung war spannungsgeladen. Das jüdisd:J.e
Verfassungsdenken führt, zumal seit der Herrenbruder Jakobus die
Leitung in Jerusalem übernommen hat, zur Institutionalisierung der
Kird:J.e. Diese lnstitutionalisierung wird nun in die ersten Jahrzehnte
und in die Zeit des Paulus- entgegen dem tatsächlichen Verlauf der
Dinge - zurückgeblendet: nun haben die Zwölf die Oberaufsid:J.t
(Apostelgesd:J.icbte), nun setzt Paulus Presbyter und Diakonen ein
(Apostelgesd:J.id:J.te; Pastoralbriefe), nun kommt die Rede von den
"heiligen Aposteln" als dem Grunde der Kird:J.e auf (Epheserbrief),
nun gleicl:lt die spätere Betrachtungsweise (Apostelgeschichte) die ur-
sprünglid:J.en Spannungen von Paulus und Drapostein aus. Die Lehre
des Neuen Testamentes von Kircl:le und Amt ist dadurch bestimmt,
daß die Leitung vom regulierenden zum konstituierenden Faktorl 0
wird.
Die drei bisher besprochenen Kreise haben gezeigt: der fromme
Anspruch erhebt wieder sein Haupt, die Naherwartung wird in die
Prolongierung der Eschatologie aufgelöst, die Kirche versteht sieb
am Ende des ersten Jahrhunderts institutionell. All diese Linien
schießen zusammen in einem Statischwerden von Glaubensinhalt und
Lehre: die "gesunde Lehre" der Pastoralbriefe, die "vorhandene

10 S. R. Bultmann, Die Theologie des Neuen Testaments, 1953, S. 443 f., 453.

15 Käscmann, Kanon
HERBEBT BRAUN [317/318]

Wahrheit" (II. Petrus 1, 12) und der "einmal überlieferte Glaube"


(Judas 3) bestimmen das Bild der frühkatholischen Schriften des
Neuen Testaments.
Die Christologie. Auch der Bogen, den die christologische Entwick-
lung bereits innerhalb des Neuen Testamentes durcbmißt, ist denkbar
weit gespannt11 • Die kritische Analyse der Synoptiker läßt es mir im-
mer noch als die wahrscheinlichste Annahme erscheinen, daß J esus
sich selber nicht als Messias proklamiert hat. Er verschärft die Tora
bis zur Aufhebung. Daneben verspricht er dem am ha aarez den Ein-
tritt ins Reich. Der Taraverschärfer-der Freund von Zöllnern und
Sündern: diese Paradoxie ist das eigentliche Grundphänomen des
Neuen Testaments. Die Bedeutung Jesu liegt also nicht bloß in seinem I
Lehren, sondern auch in seinem Tun. Mit dem Osterglauben wird
nun aber dies geltende, trotzder Kreuzeskatastrophe geltende Tun Je-
su zunehmend ausgedrückt durch das, was er ist. Jesus bekommt Ho-
heitstitel. Zunächst die üblichen jüdischen: Messias, Menschensohn,
vielleicht auch Gottessohn. Dann die hellenistischen: Kyrios, hellenisti-
scher Gottessohn, Soter und ähnliche. Mit dem Obergang der Bot-
schaft in die hellenistische Welt und mit der lngebrauchnahme der
hellenistischen Titel für Jesus erfolgt ein handgreiflicher Würdezu-
wachs. Das Auferstehungskerygma wird bereichert durch das leere
Grab und durch die dann zeitlich von der Auferstehung getrennte
Himmelfahrt. Die Würde Jesu wird in seine Vita zurückgeblendet,
bei Markus noch verdeckt, bei Matthäus und Lukas offener; im vier-
ten Evangelium bildet das "Ich bin" dann das einzige Thema. Die
Herkunft Jesu wird seltener mit der hellenistischen Parthenogenese
(Lukas, Matthäus), viel häufiger mit dem gnostisch-dualistischen
Präexistenzdenken der zeitgenössischen religiösen Strömungen be-
schrieben. Die Taufe Jesu gilt zunächst als Messiasweihe, dann als
Messiasproklamation. Mit alledem soll die alte Frage der Hamack-
schen Ära, deren Beantwortung in den letzten 50 Jahren ja nur auf-
geschoben wurde, von mir hier nicht verneinend beantwortet sein:
ob Jesus von Nazareth ins Evangelium gehöre oder nicht. Er gehört
hinein. Aber auch dann ist uns die Stellungnahme nicht erlassen zu
der Frage: wenn Jesu Bedeutung sich in seinem Lehren gerade nicht
erschöpft, liegt der Ton nun auf dem, was er tut, oder auf dem, was er
ist? Sind seine Würdetitel nicht doch nur aus der Entwicklung zu ver-
stehen, welche sein Tun zunehmend mit metaphysizierenden Seins-
kategorien beschrieb? Und dabei ist im Auge zu behalten: schon im
Neuen Testament beginnt, wie die moralisierenden Aussagen über
das Gesetz dartun, die Christologie als Lehre sich zu verselbständigen;
11 S. H. Brazm, Der Sinn der neutestamentlichen Christologie, ZThK 54, 1957,
S. 341-377; wieder abgedruckt in: Gesammelte Studien, aaO, S. 243-282.
[318/319] Hebt die heutige neutestamentl.-exeget. Forsdtung den Kanon auf? 227

schon im Neuen Testament hört sie auf, bloß Ausdruck für ein Ge-
schehen zu sein. Die Christologie des Neuen Testaments ist in sich
selber voller Spannungen.
Die Sakramente. Auf jüdischem Boden ist die Taufe wesentlich
Reinigungsbad zur Sündenvergebung, das Herrenmahl Tischgemein-
schaft im Blick auf den baldigst kommenden Messias. Auf hellenisti-
schem Boden wird die Taufemysterienhaft Anteilgabe an Tod und
Auferstehung Christi, das Herrenmahl zum cpQQJ.LaXOV atavaata;. Nur
ist Paulus, mit der hellenistisch-mysterienhaften Auffassung grund-
sätzlich einig, dabei bestrebt, das massiv-naturhafte Verstehen in
einen aus dem Rechtfertigungsglauben fließenden rechten Wandel zu
überlführen. Dazu kommt, daß das vierte Evangelium es wagt, auf
die Begründung des Herrenmahls durch die Kultlegende von einem
Stiftung werdenden letzten Mahle Jesu mit seinen Jüngern ganz zu
verzichten. Die Spannungen auch in der Sakramentslehre des Neuen
Testaments mögen damit wenigstens angedeutet sein.
Ich breche hier ab, obwohl hier noch vieles Einzelne zu ergänzen
wäre. Lassen sich diese bis in die ganz zentralen Aussagen des Neuen
Testaments hineinreichenden Spannungen auflösen? Ehe wir dieser
Frage nähertreten, mögen noch einige Antworten durchdacht werden,
die sich mit der Frage des disparaten Kanonsinhaltes beschäftigen.
Kümmel gelangt in seinem oben genannten Aufsatz letztlich zur
Forderung des Kanons im Kanon 12 ; das halte ich grundsätzlich für
richtig, zumal ich die Vehemenz der Spannungen innerhalb des Neuen
Testaments offenbar kräftiger empfinde als er1 3 • Unbeschadet dieser
Forderung meint er aber auch, eine gewisse zeitliche Nähe der neu-
testamentlichen Schriften zum Leben Jesu und zum Anfang der
Kirche sichere diesen Sduiften ihren Glauben begründenden, Garan-
tie gewährenden Charakter'. Das halte ich für abwegig; denn derbe-
endete Überblick stellte Spannungen heraus, die sich sämtlich in Tex-
ten bereits des ersten Jahrhunderts finden, ja die auch in Paulus sel-
ber, wohl aum sogar in einer kritisch rekonstruierten Verkündigung
Jesu enthalten sind. Aber letztlich kommt Kümmel dann ja dom auf
den Kanon im Kanon und sieht von der Abfassungszeit als einem
braumbaren Ausgrenzungsprinzip ab. Unverständlich dagegen bleibt
mir der Lösungsversum von Diem. Sympathism ist an ihm der kri-
tisme Verzicht darauf, die vorhandenen Gegensätze im Neuen Testa-
ment apologetism zu retuschieren15, rimtig simer auch die Betram-
tung der Kanonsgeschichte als der Geschimte des gepredigten Tex-
11 W. G. Kümmel, aaO, S. 308-313 [= o. S. 92-97].
sa W. G. Kümmel, aaO, S. 310 f. [= o. S. 95 f.].
u W. G. Kümmel, aaO, S. 296 f., 305 f. [ = o. S. 81 f., 90 f.].
11H. Diem, aaO, S. 205; ders., Die Einheit der Schrift, EvTh 13, 1953, S. 395.

u•
lb.aBEl\T BRAUN [319/320]

tes16, wofern Predigt und Lesung nicht unterschieden wird, was Diem
wohl auch konzedieren würde. Aber völlig ratlos stehe ich vor Diems
Erklärung, die lnbetrachtziehung der jeweiligen Verkündigungs-Si-
tuation gewinne dem Neuen Testament die auf dem Felde der Lehre
fehlende Einlheit zurückP. Meint Diem denn im Ernst, der Moralis-
mus, zu dem ich von Paulus kommend Nein sage, könne von mir be-
jaht werden, wenn ich etwa bestimmte Texte der Acta höre und wei-
tersage? Meint er denn, es würde ein sinnvolles Predigen, wenn der
Prediger heute paulinisch, am nächsten Sonntag nach Jak 2 von den
Werken und vom Glauben predigt? Muß nicht das von Diem für den
Exegeten und Prediger geforderte "Mithören" der andem Seite der
Schrift18 notwendigerweise zu jener Charakterlosigkeit der Predigt
führen, die Diem selber bestimmt gerade nicht will?! Die Kirche, die
im Kanon die heute vorliegende complexio oppositorum zusammen-
band, war doch die Kirche der Apologeten und des Irenäus, in der die
Weichenstellung auf den Moralismus und das Institutionelle hin be-
reits kräftig vollzogen wurde; jene Weichenstellung, an deren Aufhe-
bung den Reformatoren ebensovielliegt wie auch Diem selber. Und
der Entscheidung und dem Hören ;ener Kirche soll ich das von ihr als
Kanons-Einheit Benutzte und dann auch Dekretierte abnehmen kön-
nen? Im zweiten Jahrhundert und später, aber auch schon im ersten
legt sich nicht, wie Diem meint, der Kanonsinhalt, damit seine Ein-
heit dartuend, selber aus19, sondern bereits so früh wird ein genuiner
Ansatz im Laufe der weiteren Entwicklung von seiner Nivellierung
her ausgelegt.
111
Gibt es, inmittenallder dargestellten disparaten Lehren und ge-
geneinander abzuhebenden Schichten, eine Einheit im Neuen Testa-
ment, eine innere Mitte, von welcher her wenn auch nicht das Ganze,
so doch wesentliche Teile zu begreifen sind?
Ich meine, ja. Bei den drei großen Blöcken, in der Jesusverkündi-
gung, bei Paulus und im vierten Evangelium- hier grenze ich also
etwas anderes ab als Kümmef.2° - liegt die Einheit beschlossen in der
Art und Weise, wie der Mensch in seiner Lage vor Gott gesehen ist.
Der Mensch ist Übertreter und böse gerade auch in seinem frommen
11 H. Diem, Theologie als kirchl. Wissenschaft, II, S. 191; EvTh 13, 1953, S. 387
bis 391.
n H. Diem, Theologie als kinhl. Wissenschaft, II, S. 204-208; EvTh 13, 1953,
s. 394.
18 H. Diem, Theologie als kirchl. Wissenschaft, II, S. 207 f.; EvTh 13, 1953,
s. 403 f.
1' H. Diem, Theologie als kirchl. Wissenschaft, II, S. 196.
:!0 W. G. Kümmel, aaO, S. 310 [= o. S. 94 f.].
[321 /322] Hebt die heutige neutestamentl.-exegeL Forschung den Kanon auf? 229

Tun: dieser Ton geht durch die synoptische Jesuspredigt, er bestimmt I


die paulinische Rechtfertigungslehre und ist kennzeichnend für das
vierte Evangelium, dem zufolge der Mensch im jüdischen Glauben
oder in der Vorfindliehkeil der Welt sein Leben und Gott zu haben
wähnt. Dieser böse Mensch ist unbegreiflicherweise der gehaltene
Mensch, so meint es Jesus in seiner Predigt und seinem Tun, so meint
es Paulus mit der "Gerechtigkeit Gottes", so das vierte Evangelium,
demzufolge Gott die Welt liebt, wobei gerade im Ja des Menschen
zu Jesus als dem Heilsträger die Maßstäbe des Menschen über Gott,
Mensch und Welt zerbrochen werden. Der radikal geforderte und in
Frage gestellte als der im Jesusgeschehen radikal gehaltene Mensch,
und zwar nicht im Sinne einer Idee oder Lehre, sondern als Ereignis,
das ist das neutestamentliche Grundphänomen, der Kanon im Kanon,
von dem her rechte Kanonizität zu messen und zu beurteilen ist. Der
Test auf die richtige Beobachtung in der Feststellung dieses Grund-
phänomens läßt sich auch aufreligionsgeschichtlichem Wege machen.
Was an der Jesusverkündigung genuin ist, die radikale Taraverschär-
fung und die radikale Offenheit für den am ha aarez, ist antijüdisch
oder wenigstens unjüdisch. Damit ist nicht behauptet, daß Worte ty-
pisch jüdischen Niveaus aus der sekundären Schicht einer rejudaisie-
renden Gemeindebildung stammen müssen; sie können z. T. auch
von J esus selbst gesprochen sein. Aber typisch, charakteristisch für
ihn ist das bei ihm jüdisch nicht verrechenbare Traditionsgut. Das
gleiche gilt für Paulus und den vierten Evangelisten. Beide benutzten
z. B. in der Anthropologie die Ausdrucksweise des gleichzeitigen
religiösen stoischen Pantheismus und des Dualismus. Wenn sie glei<n-
wohl den Menschen nicht für göttlich erklären, weder den Myor;- ge-
leiteten Menschen, wie die Stoa es tut, noch den ekstatisch oder sakra-
mental typisch religiös gewordenen Menschen, wie die Hermetik oder
die Mithrasliturgie oder die Isisweihe bei Apuleius es meinen, wenn
sie den entscheidenden Defekt am Menschen nicht in seiner Verhaf-
tung an die Materie sehen, so springt damit das Typische und Cha-
rakteristische an der Betrachtungsweise des Paulus und des vierten
Evangeliums heraus. Wieder soll damit nicht behauptet sein, etwa
Paulus kenne schlechterdings keine sakramentale Magie; die Taufe
für die Toten in 1. Kor 15, die Krankheits- und Sterbestrafen für die
Unordnung beim Herrenmahl in 1. Kor 11 sprechen nur zu beredt
die Sprache dieser Magie. Aber typisch, charakteristisch für Paulus
ist gerade der breite, der hellenistisch-religionsgesclrichtlich nicht ver-
redlenbare Strom. Mit der Statuierung jenes Grundphänomens ist I
die Absage erteilt an alle Konzeptionen im Neuen Testament, die,
moralisierend und das lnstiutionelle in den Vordergrund schiebend,
dies Phänomen erweichen; hier wird die Exegese das letzte Wort ha-
lhRBERT BRAUN [322/323]

ben. Damit ist die Beweglichkeit gewonnen für die heute immer neu
zu findende Ausdrucksform, in welcher dies Grundphänomen zu sa-
gen und ins Geschehen zu überführen ist: Eschatologie in ihrer als
Fehlrechnung erwiesenen zeitlichen Fassung des Endes wie in ihrer
aktualen johanneischen Form drückt die Andringlichkeit der Forde-
rung und die Radikalität der Befreiung in der Freigabe der mensch-
lichen Zukunft aus. Die Christologie wie die Sakramente aber sind
die variable Verschlüsselung für das extra nos, für das transpsycholo-
gisdte Woher dieses Befreiungsgeschehens. Der Kanon im Kanon,
dies aus dem Zentrum des gepredigten Neuen Testamentes fließende
Grundgeschehen, ist also gegen das Neue Testament selber im of-
fenen und kritischen Hören zur Geltung zu bringen. Der hierin lie-
gende Zirkel- der Maßstab entspringt dem Neuen Testament und
wendet sich gegen das Neue Testament- ist unvermeidbar, weil der
Kanon die genannten Gegensätze in sich selber birgt.
Diems Insistieren auf der Kontingenz21 ist richtig, sofern die Kon-
tingenz sich auf dies Grundgeschehen bezieht; denn dies ist in der
Tat unbegründbar und unableitbar und muß es seinem Wesen nach
sein. Für den Kanon ist die von Diem behauptete Kontingenz nur
bedingt und partiell richtig, sofern in den großen drei genannten
Blöcken des Kanons dies kontingente Grundgeschehen einigermaßen
rein zum Ausdruck kommt. Für die moralisierenden Tendenzen im
Kanon, vor allem für die Schriften aus der Zeit des Frühkatholizismus
ist Diems Betonung der Kontingenz des Kanons falsch; diese Züge
und Teile des Kanons entspringen nicht jener Kontingenz, in welcher
der Vater dem heimkehrenden Sohne die Arme öffnet. Ich meine also
- gegen Diem -, man könne den Kanon des Neuen Testaments nur
dann richtig lesen, wenn man- durch das Neue Testament- vom
Kanon im Kanon weiß. Hier stimme ich mithin Kümmel wie Käse-
mann grundsätzlich zu. Nur kann ich ein Bedenken gegen Käsemann
nicht ganz unterdrücken. "Der neutestamentliche Kanon begründet
als solcher nicht die Einheit der Kirche. Er begründet als solcher, d. h.
in seiner dem Historiker zugänglichen Vorfindlichkeit, dagegen die
Vielzahl der Konfessionen. " 22 Das stimmt. Aber nun sieht I es, wenn
dann der Leser und Hörer von Käsemann zur Entscheidung für die
Rechtfertigung des Sünders gerufen wird 23 , fast so aus, als sei diese
Entscheidung ein willkürliches Herausgreifen der einen Seite im
Neuen Testament. Ich weiß nicht, ob Käsemann es so meint. Ich je-
denfalls könnte solche - wie ich zusammen mit Käsemann denke -
rechte Entscheidung für das neutestamentliche Grundphänomen nicht
11 H. Diem, Theologie als kirdll. Wissenschaft, li, S. 190-201.
11 E. K.äsemann, EvTh 11, 1951/52, S. 19 [= o. S. 131].
11 E. K.äsemann, EvTh 12, 1952/53, S. 463.
[323/324] Hebt die heutige neutestamentl.-exeget. Forschung den Kanon auf? 251

für eine willkürliche, sondern nur für eine begründete Entscheidung


halten. Begründet freilich nicht im Ganzen des Kanons; begründet aber
in der Grundtendenz, die in jenen drei Blöcken unverkennbar ist, die
freilich auch nicht dagegen geschützt ist, von den frühkatholischen
Tendenzen innerhalb des Kanons und von der späteren kirchlichen
Entwicklung her interpretiert zu werden. Um alle Mißverständnisse
auszuschließen, sei noch einmal ausdrücklich folgendes festgestellt.
Ich meine, auf exegetischem Wege, vor allem auch durch religions-
geschichtliche Vergleichung läßt sich erheben, inwiefern der histo-
rische Jesus, inwiefern Paulus und der vierte Evangelist Größen sui
generis sind. Ich meine ferner, dies je Spezifische läuft auf das hinaus,
was ich oben als das neutestamentliche Grundphänomen beschrieben
habe, in jedem der drei Kreise je sehr verschieden formuliert, aber im
Trend und im Effekt gleich: der radikal geforderte und in Frage ge-
stellte als der im Jesusgeschehen gehaltene Mensch. Ich meine nun
freilich nicht, der Beweisgang, der dies gleiche Grundphänomen in
allen drei Blöcken nachweist, wiese damit die Wahrheit und den Of-
fenbarungscharakter solcher Aussagen nach. Der Beweisgang bleibt
vielmehr auf dem Boden menschlicher Meinungen und religiös-an-
tiker Positionen, die in menschliche Worte gefaßt sind, da hat Diem24
ganz recht. Erst wenn diese Meinungen zu mir sprechen, mich mah-
nen und kritisieren und überwinden, erst wo ich diese Meinungen in-
haltlich weitergebe und zum Sprechen bringe, erst wo ich verkündige,
erst dann und dort gilt die Kategorie der Wahrheit und der Offenba-
rung. Und erst von ihr aus wird die in den Synoptikern, bei Paulus und
bei Johannes so verschieden ausgedrückte, aber auf das gleiche Fazit
hinauskommende Predigt von des Menschen Heil in seiner Verloren-
heil mir zum Kanon im Kanon.
Hebt die neutestamentliche Exegese den Kanon auf? Die Exegese,
die auf die Botschaft merkt, paralysiert die Schlacken im Kanon und
macht die Begrenzung des Kanons, was das Einzelne anlangt, frag-1
lieh. Sie sagt also nicht Ja zum Kanon als ganzen, nicht Ja, weil es
der Kanon ist. Sie nimmt ihn kritisch, aber unter Verwendung jenes
Sachkriteriums, das dem Neuen Testament selber entstammt. Und
darum hängt sie am Kanon, was seine Mitte, was das neutestament-
liche Grundphänomen betrifft. Sie hat dies ja nur im Kanon, später
doch schon gar nicht; wenn auch im Kanon nicht rein und nicht un-
vermischt. So paradox es klingt: sie respektiert den Kanon dann am
gründlichsten, am sachgemäßesten, wenn sie an ihm als Kanon, als
einer formalen Größe, als einer genau abgegrenzten Größe nur re-
lativ interessiert ist; wenn sie vielmehr ihre Leidenschaft völlig auf

14 H. Diem, EvTh 13, 1953, S. 393.


HERBEllT BRAUN [324]

die Mitte richtet, von der die Hauptteile des Kanons regiert werden,
auf jene Schriften, bei deren Abfassung an Kanonisierung noch kein
Gedanke war. Von jener Mitte, dem neutestamentlieben Grundge-
smehen, wird der Prozeß der Sammlung des Kanons ja doch kaum
nom bewegt. Bereits die Kirche des zweiten Jahrhunderts, die den
Kanon in seinen wesentlichen Stücken gesammelt hat, ahnte kaum
nom, welmes Dynamit siede facto in ihr Gepäck aufnahm. Ich glaube
an die Botsmaft nicht, weil sie im Kanon steht. leb respektiere den
Kanon, weil er- freilim nur: auch- die Botschaft enthält. Und darum
reicht mein Respekt so weit, wie ich die Botschaft im Kanon verneh-
men kann. Denn ein impliziter Glaube dürfte nimt geraten sein.
WILLI MAP.xsEN

Das Problem des neutestamentlichen Kanons


aus der Sicht des Exegeten•
In der Formulierung des Themas liegt eine beabsichtigte Begren-
zung. Ich frage nicht als Systematiker, sondern als Exeget. Es geht
mir also darum, zu prüfen, ob und wo ich als Exeget bei dem Ge-
schäft, das ich als Exeget zu treiben habe, dem Problem des Kanons
begegne.
Wenn man das Thema indes so versteht, könnte man mit der Frage
beginnen, ob für den Exegeten denn überhaupt ein solches Problem
vorliege. Man kann das doch mit guten Gründen bezweifeln. Ob ich
als Exeget die Bergpredigt, die Didache oder den Jakobusbrief aus-
zulegen habe, ob mir der 1. Korinther- oder der 1. Klemensbrief vor-
liegt, ist für den Vollzug meiner Exegese gleichgültig. Bei der Exegese
"kanonischer" Schriften gelten keine anderen Regeln, noch passiert
prinzipiell etwas anderes als bei der Exegese solcher Schriften, die
nicht zum neutestamentlichen Kanon gehören.
Damit wäre das Thema nun eigentlich schon erledigt, wenn nicht
eine Frage zurückbliebe (oder gerade nun erst neu entstünde), auf
die ich durch zwei Überlegungen hinführen möchte.
Zunächst: Exegese treibt man ja nicht um ihrer selbst willen. Sie
hat vielmehr einen bestimmten Platz im Rahmen einer komplexen
Arbeit. Diese selbst kann unterschiedlich sein. Ich kann exegesieren
etwa im Rahmen homiletischer oder katechetischer Arbeit. Ich kann
auch im Zusammenhang historischer Arbeit exegesieren. Ich muß also
Exegese als Teil eines Ganzen sehen.
Sodann: Wenn ich im Rahmen homiletischer oder katechetischer
Arbeit exegesiere, dann begegnet mir das Problem des Kanons min-
destens insofern, als eine Auswahl getroffen ist, einige Schriften für
diese Arbeit überhaupt nicht in Frage kommen.
Wenn also vielleicht auch im Vollzug der Exegese das Problem des
Kanons keine Rolle spielt, so begegnet es dem Exegeten doch in einer
anderen Weise, nämlich als Voroerständnis. Dann kann es aber dom
Gewimt bekommen, und zwar dadurch, daß durch dieses Vorverständ-
• Vortrag, gehalten auf einer Tagung theologisd:ler Assistenten am 14. 6. 1958
in Berlin, erstmals veröffentlicht in: NZsystTh 2, 1960, S. 137-150. Wieder abge-
druckt in: W. Mansen, Der Exeget als Theologe. Vorträge zum Neuen Testament,
Gütenloher Verlagshaus Gerd Mohn, 1968, S. 91-103.
WILLI MAusEN [91/92)

nis die komplexe Arbeit, in deren Rahmen die Exegese geschieht, mit
bestimmten Akzenten versehen wird.
Eben darum aber kann der Exeget diesem Vorverständnis nicht
gleichgültig gegenüberstehen. Er muß nach seiner Herkunft fragen
und bei diesem Fragen im Auge behalten, ob er selbst irgendwie be-
teiligt ist. I
Wir fragen nun also nach der Herkunft des Urteils "kanonisch"
bzw. "nichtkanonisch". Zwei Möglichkeiten sind zu unterscheiden.
a) Das Urteil ist nicht in den Schriften selbst angelegt, ist vielmehr
von außen an die Schriften herangetragen.
b) Das Urteil ist aus den Schriften gewonnen.
Bedenken wir zunächst die erste Möglichkeit. Ist das Urteil "kano-
nisch" von außen an die Schriften herangetragen, dann ist das Pro-
blem unseres Themas für den Exegeten wieder erledigt. Es existiert
für ihn höchstens als Gefahr, als Versuchung. In diesem Falle hätte ja
doch irgendeine Instanz (die Kirche, eine Synode, ein Bischof oder wer
auch immer) u. U. unter Einbeziehung bestimmter Voraussetzungen
oder Sicherungen (etwa: Beteiligung des heiligen Geistes) eine be-
stimmte Gruppe von Schriften für kanonisch erklärt. Diese Entschei-
dung wäre (eben weil sie nicht in den Schriften angelegt ist) auch
nicht an den Schriften kontrollierbar. Man könnte die anderen Vor-
aussetzungen überprüfen; aber das wäre keine Aufgabe des Exege-
ten als Exegeten.
Immerhin muß man aber sagen, daß in diesem Fall die Kanonizi-
tät der Schriften bereits Deuterokanonizität wäre. Wirklich kanonisch
wäre ja die Instanz, die die Kanonizität behauptet und festgelegt hat.
Es ist nur folgerichtig, daß dann gelegentlich auch auf die Schriften
verzichtet werden kann, denn Deuterokanonizität dieser Art ist tat-
sächlich Pseudokanonizität.
Den Exegeten brauchte das nicht zu tangieren - wenn er nun nicht
seinerseits in der Gefahr wäre, seine Exegese nicht vom Text, son-
dern von der Instanz abhängig zu machen, die die Kanonizität festge-
legt hat. Diese Instanz hat ja sicherlich nicht willkürlich irgendwelche
Schriften kanonisiert, sondern solche, von denen sie bereits ein be-
stimmtes Wissen oder Verständnis hatte oder zu haben meinte. Sie
will dann natürlich auch, daß die Exegese das ergibt, was sie selbst
voraussetzt. Das Vorverständnis würde in diesem Fall zum Vorurteil.
Das Vorurteil ist aber für die Exegese eine Gefahr. Der Exeget
muß sich darum davor hüten, durch das Vorverständnis als Vorurteil
in unsachgemäßer Weise die Methode seiner Arbeit beeinflussen oder
gar die Ergebnisse bestimmen zu lassen.
Das alles gilt, wie gesagt, unter der Voraussetzung, daß die Kanoni-
zität der Schriften nicht aus ihnen selbst abgeleitet ist, sondern als
[92/93] Das Problem des neutestamentlichen Kanons

Behauptung von außen an sie herangetragen wurde. Es ist möglich,


daß niemand diese Voraussetzung teilen will. Das schließt jedod:J.
nicht aus, daß diese Voraussetzung "praktiziert" wird. Wir mußten
jedenfalls im Rahmen unsererüberlegungendiese Möglichkeit (und
sei es wirklich nur als Möglichkeit) ins Auge fassen, weil für den Exe-
geten hier eine Grenze zu beadlten ist, an der eine Entsdleidung
fällt: das Desinteresse an solcher Kanonizität.
Im anderen Fall dagegen ist der Exeget betroffen. Hier ist vor-
ausgesetzt oder behauptet, daß die Kanonizität der Schriften in ihnen
selbst angelegt ist. Es ist dann mehr oder weniger gleidlgültig, von
wem die Kanonizität der Schriften irgendwann einmal ausgesprodlen
wurde. Wichtig aber ist, daß nun erst die Belhauptung dieser Kano-
nizität exegetisch nachprüfbar ist. Im Vollzug der Exegese würde
man ja irgendwann und irgendwie einmal darauf stoßen.
Das heißt aber (und darüber muß man sich nun ganz klar sein):
Die Exegese, die nach den üblichen Regeln durchgeführt wird, setzt
das V oroerständnis aufs Spiel! Es kann geschehen, daß der Exeget
die behauptete Kanonizität feststellt. Es kann aber auch geschehen,
daß er sie nicht entdeckt. Was aber dann? Jetzt entscheidet sich, ob
der Exeget ein Vorverständnis oder ein Vorurteil hatte. Ist letzteres
der Fall, dann ist damit wieder deutlich, daß der Exeget am Pro-
blem des Kanons desinteressiert ist, weil das Ergebnis der Exegese
irrelevant bleibt.
Wenn wir nun als Exegeten weiterfragen wollen, dann kann das
nadl den bisherigen überlegungen sinnvoll nur unter der Voraus-
setzung geschehen, daß die Kanonizität der Schriften in irgendeiner
Weise im Vollzug der Exegese nachprüfbar ist. Wir gehen daher nun
mit dem Voroerständnis ("kanonisch" oder nicht), aber ohne Vorur-
teil an die Exegese und achten dabei darauf, ob, wo und wie uns in
der Exegese das Moment des Kanonischen begegnet.
Dann muß nun aber endlich geklärt werden, was unter "kano-
nisch" verstanden werden soll. Der Begriff ist ja nicht völlig eindeu-
tig. Andererseits erscheint es nicht zweckmäßig, ihn durch eine klar
abgrenzende Definition jetzt sdlon festzulegen. Es könnte ja sein,
daß wir unseren Begriff nicht finden, aber einen ähnlichen sehr wohl
hätten finden können, wenn wir ihn nicht durch die Definition ausge-
schlossen hätten.- Die Exegese selbst wird also mit beizutragen ha-
ben zur Bestimmung des Begriffs.
Wir setzen daher sehr allgemein an und fragen zunächst einmal
nur nach dem Moment der Autorität. Es reicht sidler nidlt aus, den
Begriff des Kanonischen zu bestimmen, aber man darf doch wohl
einen Konsensus darüber voraussetzen, daß das Motiv der Autorität
auch dazugehört.
WILLI MAuSEN (93/94]

Freilich kommt man damit nun doch nicht sehr weit, denn es gibt
ja nahezu überhaupt keine Schriften, die nicht in irgendeiner Weise
(wenn auch gelegentlich nur mittelbar) den Anspruch erheben, für
die Leser Autorität (auf je ihrem Gebiet) zu besitzen. Das gilt für
eine moderne politische Erklärung nicht weniger als für Luthers
Schriften, das gilt für die Didache nicht weniger als für den 1. Kle-
mensbrief; ja, man wird sogar sagen müssen, daß der nichtkano-
nische 1. Klemensbrief seinen Charakter als autoritative Anrede un-
gleich stärker zum Ausdruck bringt, als es etwa der kanonische Phi-
Jemonbrief tut.
Aber es ist ja nun doch sofort klar, daß diese Autorität, die der Exe-
get hier feststellt, noch nicht das ist, was üblicherweise unter kanonisch
verstanden wird. Denn diese Autorität ist ja begrenzt auf den Leser-
bzw. Empfängerkreis der Dokumente. Die kanonische Autorität will
aber gerade über diese Begrenzung hinaus.
Wir können zunächst einmal so formulieren: Wenn wir nach der
K.anonizität fragen, dann haben wir es zu tun mit dem Problem der
Ubertragbarkeit der Autorität. I
Dieses Problem kommt bei einer Reihe von "kanonischen" Schrif-
ten (bei allen echten Briefen) noch gar nicht in den Blick. Der Ga-
laterbrief, der 1. Thessalonicher- und die Korintherbriefe meinen
immer eine ganz bestimmte Gemeinde in einer ganz bestimmten Si-
tuation. Man kann also geradezu sagen, daß sie sich der Ubertragung
der Autorität und damit der Kanonizität widersetzen.
Bei anderen Briefen ist dann der Empfängerkreis nicht mehr so
scharf abgegrenzt. Nennt z. B. der 1. Petrushrief (doch recht sum-
marisch) ganze Landsdlaften bzw. Provinzen, dann der 2. Petrus-,
der Judas- und der Jakobusbrief in verschiedenen Umschreibungen
die ganze Kirche. In anderen Schriften wie etwa der Didache (aber
man muß hier wohl aw::h die Evangelien nennen), wo kein beson-
derer Empfänger angegeben ist (der Lukasprolog meint wohl auch
keinen Empfänger im engeren Sinne), wird man auch an die Kirche
bzw. eine Kirchen"provinz" oder einen Kirchen"typ" zu denken
haben. - Bezeichnend ist also dieses Gefälle: Je mehr wir uns dem
Rande des neutestamentlichen Kanons nähern, um so weiter wird der
Empfängerkreis gefaßt, für einen um so größeren Kreis wird Autori-
tät beansprucht; anders formuliert: um so näher kommt die Autori-
tät der Kanonizität.
Man wird hier eine weitere Uberlegung einbeziehen müssen.
Wenn auch Briefe an einen begrenzten Empfängerkreis sich eigent-
lich der Kanonizität widersetzen, so implizieren sie doch auch eine
entgegengesetzte Tendenz. Wenn nämlich ein bestimmtes Problem
sehr konkret angesprochen wird, dann liegt (u. U. unausgesprochen)
[94/95) Das Problem des neutestamentlichen Kanons 237

die Meinung vor, daß, wenn an anderer Stelle dieselben Bedingun-


gen eintreten sollten, derselbe Brief mit gleicher Autorität auch dort
gelesen und benutzt werden könnte, -ja: müßte, da er ja doch die
sachgemäße Lösung der betreffenden Probleme bietet. (Beinahe aus-
gesprod:len ist das in der Bemerkung Kol4,16.)
Dann kann man noch auf einen Sonderfall hinweisen. Es kann
(vgl. dazu die Pastoralbriefe) geschehen, daß durch die fiktive Voraus-
setzung einer bestimmten Situation, eines einzelnen bestimmten
Empfängers, gerade etwas Typisches herausgestellt werden soll.
Solche Briefe sind dann geradezu angelegt auf Obertragung der Au-
torität.
Wir halten also fest: Autorität allein ist noch nicht ausreichend zur
Behauptung von Kanonizität, sondern erst da, wo diese Autorität
übertragen wird oder übertragbar ist, nähern wir uns der Kanonizität.
Aber nun muß sofort einschränkend gesagt werden: Es handelt sich
dabei ja wiederum keineswegs um eine Besonderheit der Schriften,
die nach unserem Vorverständnis zu den kanonischen gehören. Für
die nichtkanonischen gilt das alles nicht weniger. Auch sie tendieren
zu einer Ausweitung der Autorität hin in dieser eben skizzierten Rich-
tung. Ob man ihnen diese Autorität abnimmt, ist freilich eine andere
Frage. Wir werden darauf noch einzugehen haben, müssen dann
allerdings feststellen, daß auch bei den kanonischen Schriften diese
Prüfung eine noch offene Frage ist. I
Man braucht ja nur hinzuweisen auf den Komplex" Tradition" in
der römischen Kirche. Da wird doch die Ausweitung der Autorität
auch nichtkanonischer Schriften für den Traditionsbeweis praktiziert.
Umgekehrt kann man bei Luther, in der altprotestantischen Ortho-
doxie, schließlich auch in der Gegenwart so etwas wie eine Reduzie-
rung der Autorität erkennen, denn hier taucht die Frage auf, ob die
Ausweitung der Autorität von bestimmten (an sich "kanonischen")
Schriften rechtens ist. Man denke an Luthers Bemerkungen zum Ja-
kobus-, zum Hebräer- und Judasbrief, zur Apokalypse, man denke
an die altprotestantischen Unterscheidungen von kanonisch und apo-
kryph (Chemnitz), kanonisch erster und zweiter Ordnung (Joh. Ger-
hard), proto- und deuternkanonisch (Quenstedt), und man denke
schließlich an die gegenwärtige Diskussion um Lukasevangelium und
Apostelgeschichte, um den 2. Petrusbrief, die Pastoralbriefe, kurz: an
das Problem des Frühkatholizismus im Neuen Testament und die
Konsequenzen, die man daraus für den Kanon ziehen will.
Wir halten eben inne und überlegen uns, wo wir stehen. Wir ha-
ben- als Exegeten- nach der Kanonizität im Neuen Testament ge-
fragt. Es ist uns das Moment der Autorität begegnet, bei dem wir
dann allerdings feststellten, daß es erst dann zur Kanonizität hinten-
WILU MARxsEN [95/96)

diert, wenn diese Autorität ausgeweitet werden kann auf einen


größeren als den ursprünglich angenommenen Personenkreis. Wir
mußten dann aber noch feststellen, daß das ganz allgemein gilt, hier
also kein Unterschied besteht zwischen den Schriften, die nach un-
serem Vorverständnis kanonisch sind, und denen, die das nicht sind.
Wir müssen also, um weiterzukommen, über den Gesichtspunkt der
Ausweitung der Autorität auf einen größeren Personenkreis hinaus
noch einen weiteren Aspekt einbeziehen. Wir finden den, wenn wir
von der einfachen Feststellung ausgehen, daß spätere Schriften sich
auf ältere zurückbeziehen und sie als Autoritäten ansehen. Das kann
man aber nicht nur bei Luther oder bei den nachkanonischen Schrif-
ten feststellen, diese Beobachtung kann man schon im Neuen Testa-
ment machen.
Ich deute kurz an. Matthäus und Lukas schreiben das Markusevan-
gelium um, wobei sie auch andere Quellen ausschreiben. Johannes
formuliert zwar sein Evangelium weitgehend neu, benutzt aber
doch ältere Traditionen. Der Verfasser des 2. Petrushtiefes benutzt
den Judasbrief, der Verfasser des 1. Petrushtiefes wahrscheinlich eine
ältere Taufansprache.- Für den Verfasser der Pastoralbriefe ist be-
zeichnend, daß er außer der Übernahm.e von Material aus der Tra-
dition die Autorität des Paulus mit Beschlag belegt. Eine entspre-
chende Berufung auf apostolische Autoritäten liegt bei den Petrus-
briefen, dem Jakobus- und Judasbrief vor.
Ordnet man diese vielfältigen Beobachtungen, kann man sie viel-
leicht so zusammenfassen, daß man von einem Rückbezug der Autori-
tät spricht. Die späteren Sduiften sind nicht einfach für sich oder aus
sich heraus Autorität, sondern verstehen sich implizit oder explizit als
abgeleitete Autorität. I
Wenn man dann fragt, wo das Phänomen der abgeleiteten Autori-
tät beginnt, dann kann man ungefähr sagen (was gleich noch zu mo-
difizieren sein wird), daß das um die Wende von der ersten zur zwei-
ten Generation der Fall ist.
Es liegt hier also ein Problem der Zeit vor; und in der Tat muß man
ja sagen, daß es zum Verständnis von Kanonizität gehört, daß nicht
nur Autorität für einen erweiterten Personenkreis in der eigenen Ge-
neration gemeint ist, sondern darüber hinaus auch für die nachfol-
genden Zeiten. So handelt es sich beim Kanon um eine frühe Autori-
tät, auf die sich die nachfolgende Kirche beruft.
Nehmen wir darum nun einmal innerhalb des Neuen Testaments
vorläufig diese Unterscheidung vor: frühe Autorität - abgeleitete
Autorität, und beobachten wir das Verhältnis beider zueinander. Da-
bei fällt sofort auf, daß die frühe Autorität nicht in dem Sinne als
Grundlage benutzt wird, wie man es wohl heute versteht, wenn man
[96/97] Das Problem des neutestamentlichen Kanons

den Kanon als Grundlage bezeichnet. Die Autorität liegt nicht in der
Formulierung der Texte, nicht im Wortlaut (dann wäre ja nur eine
einfache Wiederholung des Wortlautes nötig), sondern diese Autori-
tät ist eine gleichsam potentielle. Die Grundlage bleibt erkennbar;
sie wird aber umgesprochen, wird neu gerahmt, wird kommentiert,
zum Teil auch geändert. In dieser Form begegnet sie dann als neue
Aussage mit dem Anspruch auf Autorität.
Wir sehen also, daß in der zweiten Generation ältere Dokumente
eine bedingte kanonische Bedeutung bekommen, indem sie als
Grundlage benutzt werden, von der aus durch Interpretation eine
Aussage mit Autorität neu geformt wird. Diese Interpretation aber
ist nötig, um die Grundlage für die neue Gegenwart wirksam zu
machen.
Die Autorität dieserneuen Schriften (die abgeleitete Autorität) be-
steht also darin, daß eine Grundlage (die frühere Autorität) durch
Interpretation in die neue Gegenwart hinein verlängert wird. Da
es sich hier um die Herstellung einer Beziehung handelt, nenne
ich diese Verlängerung von der früheren Autorität mit Hilfe der
Interpretation in die neue Gegenwart hinein kurz den Beziehungs-
bogen.
Ich sagte: In der zweiten Generation bekommen einige ältere
Schriften eine bedingte kanonische Bedeutung. Das ist eine Feststel-
lung, die wir bei der Exegese der jüngeren Schriften gemacht haben.
Zu fragen ist nun aber, ob und wie dieser Charakter bereits in den
älteren Schriften selbst angelegt ist. Es wiederholt sich nun also inner-
halb des Neuen Testaments das gleiche Problem, das wir vorher am
ganzen ("kanonischen") Neuen Testament erörterten: Woher kommt
das Vorverständnis, das einige Schriften als kanonisch bezeichnet; ist
es in ihnen angelegt oder von außen an sie herangetragen?
Wenn wir nun aber Kanonizität so sehen gelernt haben, daß eine
Autorität übertragbar war und übertragen wurde sowohl im Blick
auf einen erweiterten Personenkreis als auch im Blick auf spätere
Zeiten, dann taucht nun die Frage auf, ob diese zweite Perspektive,
nämlich die Ubertragung der Autorität in eine weitere Zukunft hin-
ein, überhaupt denkbar ist zu einer Zeit, in der man noch nicht mit
einer längeren Dauer der Kirche rechnet.!
Nun ist die Frage der Naherwartung der Parusie, ihrer Verzöge-
rung und der Aufgabe der Naherwartung heute ja sehr umstritten.
Ich selbst glaube nicht, daß man ihr leicht zuviel Bedeutung zumißt;
aber ich will hier dennoch vorsichtig sein. Bei aller Divergenz der
Meinungen wird man sich doch wohl darin verständigen können, daß
es eine Naherwartung der Parusie in der Urgemeinde gegeben hat,
daß Paulus (ich will vorsichtig sein: wenigstens einige Zeit) damit ge-
240 WILLI MARxsEN (97/98]

rechnet hat und daß einige synoptische Traditionsstücke das noch er-
kennen lassen.
Dann stehen wir aber vor einem eigenartigen Sachverhalt. Die
frühen Schriften, die für die spätere Kirche Autorität sein sollen, kön-
nen das noch gar nicht selbst sein wollen (wenigstens nicht nach der
Intention ihrer Verfasser), weil das Problem einer längeren Dauer der
Kirche noch nicht expliziert ist, da die Kirche die Zeit für sich noch
nicht als Dauer erfahren hat, damit dann auch noch gar nicht die Not-
wendigkeit einer für spätere Generationen verbindlichen Norm ge-
sehen werden kann.
Dann müssen wir aber doch wohl fragen, ob sich jetzt unsere Vor-
aussetzungen nicht aufheben. Wir stehen ja, daran sei noch einmal
erinnert, als Exegeten vor dem Problem des Kanons. Wenn die Exegese
es damit zu tun hat, die Aussage des Verfassers eines Dokumentes
nachzusprechen, dann wird sie gerade bei den Schriften, die poten-
tiell kanonisch benutzt werden, diese Kanonizität nicht erheben kön-
nen. Die Kanonizität ist ihnen in der Tat erst beigelegt worden, als
man sie potentiell kanonisch benutzte. Das geschah aber erst, als es
nötig wurde, weil die ältere Aussage in ihrer Formulierung nicht mehr
ausreichte in der neuen Situation.
Dann wäre die zweite Generation die Instanz, die eigentlich kano-
nische Bedeutung hat, weil sie Schriften, die das von Haus aus nicht
sein wollen, kanonisch benutzte. Wir sahen aber schon, daß man in
diesem Fall nicht mehr ernsthaft vPn der Kanonizität der Schriften
reden kann, es sich vielmehr um die Kanonizität einer "Institution"
handelt.- Wenn wir diesen Weg nicht gehen wollen (also: wenn wir
der Schrift keine Institution überordnen wollen), dann gibt es nun
m. E. keinen anderen Weg als den, das traditionelle Kanonsverständ-
nis gründliehst zu revidieren.
Die exegetische Fragestellung hat uns zwei miteinander zusam-
menhängende Ergebnisse gebracht:
a) Das Problem des Kanons ist (zunächst einmal grob formuliert)
ein Problem der ausgebliebenen Parusie, ein Problem also der Zeiter-
fahrung, ein Problem der zweiten Generation. Etwas präziser (wie
ich gleich noch zeigen will) wird man es ein Problem des zweiten
Gliedes nennen müssen, ein Problem des Traditionsbeginns.
b) Zugleich brachte die exegetische Frage eine Korrektur des Be-
griffs des Kanonischen. (Wir hatten ja auch damit von Anfang an in-
sofern gerechnet, als wir eine zu frühe Definition des Begriffs vermie-
den haben.) Die zweite Generation, das zweite Glied usw. benutzen
die ältere Autorität nicht in einem normativ-lautoritativen Sinn als
kanonisch, sondern (ich umschrieb es:) potentiell kanonisch. Poten-
tiell kanonisch, das heißt hier: die frühe Autorität enthält die Mög-
[98] Das Problem des neutestamentlichen Kanons 241

lic:hkeit (vorläufig noch genauer: sie ist dazu benutzt worden), mit
Hilfe eines Beziehungsbogens für eine spätere Zeit zu einer Aussage
mit Autorität zu werden.
An einem einfachen Beispiel sei das eben illustriert. Für Lukas ist
das Markusevangelium nicht in dem Sinne kanoniscll, daß es in einer
späteren Zeit unverändert Autorität besitzt, sondern die Autorität
kommt gerade erst dadurch zustande bzw. mit-zustande, daß das Mar-
kusevangelium einen Beziehungsbogen bekommt. Autorität hat also
für Lukas die Textvorlage zusammen mit dem Beziehungsbogen,
also: sein eigenes Werk! - Ganz allgemein ausgedrückt heißt das:
Autorität ist nicht der Text, sondern die Predigt mit diesem Text.
Eine dauernde Autorität ist gerade nicht vorhanden. Man kann
diesen Text, diese Grundlage nur insofern Kanon nennen, als er die
Möglichkeit enthält, mit einem Beziehungsbogen zusammen als Ver-
kündigung benutzt zu werden. In solcher Verkündigung ist dann der
Text auch noch in späterer Zeit wirksam.
Es scheint mir wichtig, darauf hinzuweisen, daß es sich hier um die
Darlegung eines Befundes handelt, dessen theologisclle Relevanz mit
der Konstatierung dieses Befundes aber noch keineswegs gesichert ist.
Andererseits scheint es mir von unseren Voraussetzungen aus nur
konsequent, daß sich die theologische Relevanz nicht außerhalb, son-
dern nur innerhalb des Befundes zeigen lassen kann.
So ergeben sich - nach den eben dargelegten Ergebnissen - nun
zwei Fragen:
a) Gibt es Kriterien dafür, zu bestimmen, ob die Grundlage, der
Text, die frühe Autorität (wenn auch nicht nach ihrer eigenen Ab-
sicht, so doch in der Praxis der späteren) zu Recht als solclle Grund-
lage benutzt wurde? Es könnte ja doch sein, daß man von einer fal-
schen bzw. nicht tragfähigen Grundlage ausging.
b) Gibt es Kriterien dafür, zu prüfen, ob der Beziehungsbogen von
dieser Grundlage aus als sachgemäß oder unsachgemäß zu bezeich-
nen ist?
Die erste Frage führt uns schließlich ganz an den Anfang zurück
- bis hin zur nicht mehr reduzierbaren Verkündigung. Denken wir
hier an die erste Generation, dann könnte man etwa sagen: Es han-
delt sich um die paulinischen Briefe und das frühe synoptische Tra-
ditionsgut. Aber das ist ja nur eine sehr ungenaue Angabe. Paulus
kann sicll, wenn er beansprucht, als Autorität gehört zu werden, auf
die unmittelbare Offenbarung durch den Kyrios berufen. Zugleich
zeigen aber seine Briefe, daß er auch ältere, vor ihm formulierte Tra-
ditionen weitergibt. So ist er beides: Als Apostel ist er erstes Glied
einer Traditionskette, als Tradent aber zweites Glied. Er ist Zeuge,
dessen Zeugnis nicht-reduzierbare Verkündigung ist; und er ist zu-

16 Kiscmann, Kanon
WILLI MAnsEN [98/99]

gleich Prediger auf Grund solchen ihm selbst überlieferten Zeug-


nisses. -Das frühe synoptische Traditionsgut andererseits ist ja keine
klar abgrenzbare Größe; vor allem muß es durch Literarkritik, Form-
geschichte usw. überhaupt erst erhoben werden. Das kann natürlich
nur mit relativer Sicherheit gelingen.
Bei dieser nicht-reduzierbaren Verkündigung durchdringen sich
zwei Momente: I ein stärker personales (man könnte sagen: aposto-
lisches) und ein stärker inhaltliches. Man kann beides nicht säuber-
lirh trennen.
Aber man kann erkennen, daß diese nicht-reduzierbare Verkündi-
gung hinter sich zurückweist auf den Kyrios, der den Apostel ermäch-
tigt zur Verkündigung und zugleich Inhalt dieser Verkündigung ist.
Das heißt aber: Auch bei dieser nicht-reduzierbaren Verkündigung
haben wir es zu tun mit einer Grundlage und einem Beziehungsbo-
gen. Diese Grundlage ist durrh keine noch so feine Methode losge-
löst vom Beziehungsbogen zu fassen. Sie bleibt unerreichbar. Sie ist
nur in, mit und unter dem Beziehungsbogen da. Aber sie ist nicht
identisch mit dem Beziehungsbogen. M. a. W.: Diese Grundlage be-
gegnet mir immer bereits als Verkündigung in einen bestimmten
Kreis hinein.
Da der Beziehungsbogen die Grundlage verbindet mit dem Hörer
in seiner je eigenen Situation, die Situationen aber dem geschicht-
lichen Wandel unterliegen, ist diese nicht-reduzierbare Verkündi-
gung nicht ein für allemal zu formulieren. Ich will einige Formulie-
rungen anbieten: Dadurch, daß Jesus die Offenbarung Gottes ist und
brachte, hat der neue Äon begonnen, hat Gott einen neuen Anfang
gesetzt, hat Gott die Sünde weggenommen, hat Gott den Tod über-
wunden, hat Gott die Liebe gebracht, hat Gott ein Leben aus der
Liebe heraus möglich gemacht, hat Gott die Hingabe als Sieg ausge-
wiesen usw. Das sind aber nun nicht im alten Sinne "kanonische"
Sätze, sondern das sind Verkündigungen an Leute im alten Äon, an
Sünder, an Lieblose, an Sterbende usw. Diese Aussagen sind nicht
ohne weiteres austauschbar. Ihre Formulierung ist bestimmt durch den
Beziehungsbogen zwischen dem Kyrios und den konkreten Hörern.
Man wird darum so formulieren müssen: Kanonisch im Sinne einer
nicht wandelbaren Norm ist allein der Kyrios, ist die Offenbarung
Gottes in Jesus Christus. Aber dieser Kanon begegnet mir immer nur
im Beziehungsbogen. Umgekehrt ist der Beziehungsbogen aber kei-
neswegs identisch mit der Offenbarung, mit dem Kyrios.
Mit dem Beziehungsbogen tritt die Offenbarung in einen greif-
baren, kontrollierbaren Bereich. Kontrollierbar ist jedoch nicht die
Offenbarung als Offenbarung, sondern nur die Gestalt der Verkündi-
gung, die sie angenommen hat.
(99/100] Das Problem des neutestamentlichen Kanons

Kontrollierbar ist dann ferner, daß diese Verkündigung sich als


wirksam erwiesen hat. Sie hat sich als wirksam erwiesen, indem sie
Gemeinde schuf, Menschen zusammenführte, die sich auf Grund die-
ser Verkündigung als gerechtfertigte Sünder wußten, die sich auf
Grund dieser Verkündigung als zur Liebe befähigt erfuhren.
Die Urgemeinde, die durch die Verkündigung des ersten Be-
ziehungsbogens entstand, ist das einzige Kriterium für die Legitima-
tion dieser nicht-reduzierbaren Verkündigung. Die Urgemeinde ist
nach ihrem eigenen Selbstverständnis die Wirkung dieser apostoli-
schen Predigt des Kyrios. Als solche wird sie dann potentiell zum Ka-
non für die Kirche, denn das, was ihr gesagt worden ist, sagt und ver-
kündigt sie weiter zusammen mit dem, was sie erfahren hat. I
Hier wird dann aber schon deutlich, warum der erste Beziehungs-
bogen nicht oder doch nur sehr unsicher zu fassen ist. Die Urgemeinde
hat ja nicht einfach das ihr Gesagte we.iterverkündigt, sondern sie hat
das ihr Gesagte, verbunden mit dem, was sie durch das Gesagte er-
fahren hat, hineingesprochen in einen anderen Kreis. Zuerst wurde
der Personenkreis ausgeweitet. Der jüdische Raum wurde überschrit-
ten. Später kam das Problem der Zeit dazu, das der zweiten Genera-
tion. Die Beziehungsbögen mußten nun nicht nur in den erweiterten
Kreis, sondern auch in eine neue Gegenwart hinein gerimtet werden.
Im Neuen Testament liegt uns (auf eine kurze Formel gebracht)
eine Anzahl solcher Beziehungsbögen aus verschiedenen Bereimen
und verschiedenen Zeiten vor. Teilweise gelingt es, aus ihnen frühere
Beziehungsbögen mit mehr oder weniger Sicherheit zu rekonstru-
ieren.
Diese neuen Beziehungsbögen waren nötig, weil andere Menschen
in anderen Zeiten erreicht werden sollten. Die nimt-reduzierbare Ver-
kündigung soll in Beziehung gesetzt werden zur neuen Gegenwart;
genauer: die Sache, die die nicht-reduzierbare Verkündigung aussagt,
soll in diese Beziehung zur neuen Gegenwart gebracht werden. Die
einmal an einem Ort gesmehene Offenbarung soll neu zur Anrede
werden.
Gibt es nun (so heißt unsere zweite Frage} Kriterien dafür, ob diese
Beziehungsbögen sachgemäß sind oder nicht? Ich denke, dieses sollte
deutlim sein: Man kann die Sachgemäßheil der späteren Verkündi-
gung nicht damit begründen, daß ihr Beziehungsbogen mit einem
früheren übereinstimmt. (Das Verlesen eines Bibeltextes ist keine Ver-
kündigung, wenn auch nicht bestritten werden soll, daß es, freilim
auf einem komplizierten Wege, zu einer Verkündigung werden
kann.)
Vielmehr ist der Beziehungsbogen sachgemäß, der die Sache in der
der neuen Situation gemäßen Weise ausdrückt oder die veränderte
244 WILLI MAusEN [100/101]

Sache wiederherstellt, zurechtrückt, korrigiert. In diesem letzten Fall


kann es durchaus sein, daß die nun entstehenden Sätze, gemessen an
den früheren Sätzen, Vereinseitigungen sind.- Die Sachgemäßheil
der Beziehungsbögen ist also niemals absolut zu bestimmen, sondern
immer nur in der Beziehung zu dem Hörer, den die Verkündigung
treffen soll.
Ich breche ab.- Ich wollte das Problem des neutestamentlichen Ka-
nons aus der Sicht des Exegeten behandeln. Bevor ich nun noch einige
zusammenfassende Überlegungen anstelle, möchte ich einem mög-
lichen Einwand begegnen. Es könnte nämlich sein, daß man mir den
Vorwurf macht, ich hätte (wie es heute ja offenbar modern ist) den
Kanon aufgelöst. - Dieser Vorwurf würde mich aber nicht treffen,
weil ich der Auffassung bin, daß der Kanon zu begründen ist bzw. be-
gründbar sein muß. Darum kann es auf gar keinen Fall eine theo-
logische Aufgabe sein, die Kanonizität von Schriften in einem be-
stimmten Umfang und einem bestimmten Verständnis zu verteidigen
oder gar zu "retten". Man kann den Kanon gar nicht auflösen. Man
kann höchstens sagen, er sei nicht ausreichend oder nicht umfassend
genug begründet. I
Was bedeuten nun unsere Oberlegungen etwa auch im Rahmen
der gegenwärtigen Diskussion?
Hier liegt das Interesse ja im allgemeinen bei zwei Punkten. Un-
verkennbar besteht zunächst eine starke Tendenz zur Reduzierung
des Kanons. Immer wieder werden Stimmen laut, die die Grenze en-
ger gezogen haben möchten. Ich nenne nur das Stichwort: Frühka-
tholizismus. - Zugleich aber offenbart sich eine (im allgemeinen ein-
gestandene) Ratlosigkeit darüber, was (u. U. in dem schon reduzier-
ten Kanon) die Behauptung der Kanonizität einer Schrift oder von
Schriften inhaltlich bedeutet.
Mir ist nun, offen gestanden, häufig nicht recht klar, wie man bei
der Ratlosigkeit im zweiten Fall zu einem Vorschlag im ersten Fall
kommen will oder kommen kann. Wenn ich schon den Kanon (aus
welchen Gründen immer) reduzieren will, dann muß ich mir doch
zuvor darüber klar sein, was denn "kanonism" bedeutet. Da hier aber
Unklarheit herrscht, ist die Frage des Umfanges so lange nicht zu be-
antworten, bis die Frage nach der Sache des Kanonischen geklärt ist.
Im übrigen kann man ja auch feststellen, daß beide Fragen in ent-
gegengesetzter Richtung erfolgen. Frage ich nach der Grenze, ist die
behauptete Kanonizität die vorher festgelegte Größe, die entweder
für die einzelne Schrift behauptet oder widerlegt werden muß. Frage
ich dagegen danach, was denn eigentlich kanonisch bedeutet, dann
kann ich, sobald das festliegt, bei bestimmten Schriften sagen, daß sie
diese Voraussetzungen erfüllen, andere (vielleicht) nicht.
[101/102] Das Problem des neutestamentlichen Kanons

Da nun, wie ich meine, der Kanon zu begründen ist, halte ich die
Diskussion über die Grenze (auch die dauernd wiederkehrende Beto-
nung, sie sei prinzipiell fließend) für bestenfalls sekundär, denn die
Differenz der Meinungen kann vielleicht an der Grenze deutlich wer-
den, liegt aber beim Begriff und der Vorstellung vom Kanonischen.
Da man nun unschwer zeigen kann, daß diese Beziehungsbögen
an der sogenannten Kanonsgrenze keineswegs aufhören, möchte ich
behaupten: Die Grenze einer Liste in der Kirche gültiger, zum Ge-
brauch zugelassener Schriften läßt sich theologisch nicht festlegen. Wo
man aufhört (wo man die Kanongrenze alter Art setzt), ist (mit einer
gleich noch zu besprechenden Ausnahme) eine Frage der Zweck-
mäßigkeit, die ihrerseits allein orientiert ist an der Frage, was man
mit einer solchen Liste erreichen will, - und was man mit ihr er-
reichen kann. Damit sind wir aber bei der Frage, was denn kanonisch
inhaltlich bedeutet.
Ich setze ganz innen an. Ich habe zu zeigen versucht, daß die Be-
ziehungsbögen die Offenbarung weiter wirken lassen sollen und wol-
len. Die Legitimität der ersten Beziehungsbögen liegt darin, daß sie
die Offenbarung so hinstellen, daß Gemeinde entsteht. Die Legitimi-
tät der weiteren Bögen liegt darin, daß sie die Sache der ersten Bö-
gen, also die Offenbarung, so weitersagen, daß die Sache in anderer
Umgebung, in späterer Zeit erhalten oder wiederhergestellt wird.
Alle Beziehungsbögen, die das nun sachlich richtig tun (und hier
liegt die Grenze) sind "legitim". Das gilt auch von den sogenannten
nachkanonischen Schriften, I von Predigten Augustins, Luthers und
solchen in der Gegenwart. Ihre "Mächtigkeit" macht diese Be-
ziehungsbögen "legitim", weil sie die Sache der Offenbarung brin-
gen, weil sie die Offenbarung "ereignen". Aufnahme in die Liste ver-
dienen also nicht etwa Schriften, die sich predigen lassen (Diem), die
also zu etwas gebraucht werden können, sondern, die zu etwas ge-
braw:ht worden sind: die sachgemäßen Predigten.
Die sachgemäßen! Das aber kann (abgesehen von ihrer Wirkung,
die nicht alleiniges Kriterium sein kann) nur geprüft werden an der
Korrespondenz (nicht: an der Identität) zu den ersten Beziehungs-
bögen.
Ich betone ausdrücklich: an der Korrespondenz, nicht an der Identi-
tät, denn ich habe den Eindruck, daß manche moderne Kanonskritik
dies übersieht oder durcheinanderwirft. Nicht erheblich ist, welche
Vorstellungen und Begriffe überhaupt benutzt werden (nicht erheb-
lid:t ist: "was geschrieben steht"), sondern es kommt darauf an, was
damit gesagt wird, erreicht werden soll, d. h. es kommt daraui an,
ob der Beziehungsbogen recht gesetzt wird, ob die Begegnung der
Verkündigung mit dem (konkreten) Hörer die red:tte Sache bringt.
246 WILU MARXsEN [102/103]

Es kann zu Zeiten durchaus etwas rechte Verkündigung sein, was,


mit denselben Worten vorgetragen, zu anderer Zeit massive Irrlehre
ist. - So kann ich also meine Liste nicht begrenzen, außer durch
solche Sachkritik, die die Korrespondenz mit der apostolischen, der
nicht-reduzierbaren Verkündigung prüft.
Aber nun will ich ja meine Liste auch benutzen. Dann aber ist eine
Abgrenzung zweckmäßig, wenigstens für homiletischen Gebrauch.
Für kirchenhistorischen Gebrauch ziehe ich natürlich keine Grenze,
da ich ja in diesen Verkündigungen meine Quellen habe.
Es ist nun nach dem Gesagten klar, daß ich das Neue Testament
nicht einfach als Predigttext bzw. als Summe von Predigttexten ver-
stehen und benutzen kann. Es handelt sich vielmehr um frühe Pre-
digten. Meine Verkündigung ist darum niemals Predigt über einen
Text, sondern Predigt mit einer Predigt. Die Predigtgrundlage
braucht aber nun keineswegs dem Neuen Testament entnommen zu
werden. Eine Luther-Predigt läßt sich mit dem gleichen theologischen
Recht weiter-predigen wie der Epheserbrief, der 1. Petrushrief oder
die Didache. Es bestehen da keine Differenzen der kanonischen Quali-
täten.
Nur - zur Sachkontrolle kann ich nicht verzichten und muß ich
immer wieder zurückgreifen auf die apostolische, die nicht-reduzier-
bare Erstverkündigung -, wobei ich mir zugleich darüber klar sein
muß, daß ich sie nicht exakt aus den neutestamentlichen Texten her-
ausarbeiten kann. Dennoch kommt es auf die Korrespondenz mit die-
ser Verkündigung an.
Und so muß ich sagen, daß unser Neues Testament in seinem Um-
fang und in seiner Abgrenzung schon eine recht brauchbare Grund-
lage für homiletische Zwecke bietet, - wenn es sachgemäß benutzt
wird. Ich habe in ihm die ersten Beziehungsbögen und die ersten Ab-
leitungen davon, darin dann paradigmatisch die ersten abgeleiteten
Verkündigungen. Diese ersten abgeleiteten Verkündigungen stehen I
sachlich, stehen "kanonisch" genau neben meiner Verkündigung heu-
te. Sie haben aber für mich Bedeutung als Paradigmen. Ich kann hier
lernen, was homiletisch möglich ist, was nicht. Ich kann hier schon
am Anfang die Notwendigkeit der Kritik erkennen, kann mich üben,
die späteren Verkündigungen an der nicht-reduzierbaren apostoli-
schen zu prüfen. Darum würde ich die Liste nicht ändern.
Vergrößere ich sie, wird das Buch unhandlich. Verkleinere ich sie,
verliere ich wertvolles Anschauungsmaterial gerade für die Kritik,
die ich lernen muß.
Aber warum soll man aus dem Umfang ein Problem machen? Die
Liste ist ja nicht kanonisch. Kanonisch ist vielmehr die geschehende
rechte Verkündigung.
CARL HEINZ RATSCHOW

Zur Frage der Begründung des neutestamentlichen


Kanons aus der
Sicht des systematischen Theologen•
Die Erörterung der Kanon-Frage ist in den letzten Jahren immer
erneut aufgenommen worden. W. Marxsen hat sie im Vorstehenden
als Exeget gestellt und zu beantworten versucht, wie das vor ihm
z. B. E. Käsemann, E. Dinkler, W. G. Kümmel und H. Braun getan
haben. Von systematisch-theologischer Seite ist das Problem in den
letzten Jahren viel seltener erörtert, und wo es geschah, da stand diese
Erörterung unter den von der Exegese gegebenen Fragestellungen.
Ja, man wird sagen dürfen, daß die systematische Theologie gegen-
über diesen in der Exegese angelegten Fragestellungen eigentlich
wenig Eigenes in die Debatte einzubringen wußte. Das ist typisch
für unsere theologische Gesamtlage, die einem ein Bild zeigt, in dem
die systematische Theologie weithin nur exegetische Linien auszieht,
in denen sie um hermeneutische Probleme kreist, und in denen sie
über das Exegetische hinaus eigentlich nicht viel Eigenes zu sagen
hat. Nun, es ist ja auch wohl sachgemäß, daß eine I systematische
Theologie fest auf exegetischen Fundamenten ruht1• Aber es läßt sich
dennoch fragen, ob es wirklieb so sei, daß die systematische Erörte-
rung eigentlich nichts anderes sei als eine Prolongation der exege-
tischen Einsiebten ins Schema der dogmatischen und ethischen Frage-
stellungen hinein. Wir erkennen es wohl in der Ausbildung, daß der
Student angesichts dieser Lage nur schwer zu begreifen vermag, daß
es ein Schritt von der Exegese in die systematische Theologie hinein
sein soll, daß Dogmatik etwas anderes sei als biblische Theologie und
daß bei der Entstehung einer Predigt zwischen der Exegese und dem
Predigt-Entwurf eine systematisch-theologische Reflektion stehen
müsse, die mehr und anderes sei, als nach Locis geordnete Wieder-
• Erstmals veröffentlicht in: NZsystTh 2, A. Töpelmann, Berlin 1960, S. 150 bis
160.
1 Was keine "Kategorie der Auslegung" beinhaltet, die G. Ebeling aus dem in-
neren Zusammenhang zwischen histor.-krit. Methode und reformatorischer Recht-
fertigungs-Lehre entnimmt. In: Die Bedeutung der histor.-krit. Methode, ZThK
1950, S. 25 f. Die Kritik, die W. Maurer (Luthers Verständnis des neutestamentli-
chen Kanons, Fuldaer Hefte 12, S. 74 ff.) an Ebelings Thesen übt, besteht wohl zu
Recht, wie gerade die Kanonfrage zeigen kann.
248 C.~RL HEINz RA.TScnow [151/152]

holung biblisch-theologischer Einsichten oder als die Traktation her-


meneutischer Probleme.
Die Kanon-Frage scheint sich besonders anzubieten, um an ihr das
Problem von exegetischer und systematischer Theologie aufzuzeigen,
denn mit dieser Frage nach dem Kanon ist ja scheinbar die gemein-
same Bezugs-Stelle von Exegese und systematischer Theologie anvi-
siert. Der Kanon umfaßt die Schriften, um die es der Exegese geht,
und dieser Schriftenkomplex ist, als Kanon gefaßt, ein systematisch-
theologischer Begriff. Jedoch, es scheint mm doch so zu sein, daß es
mit den Entstehungsgründen des Kanons andersartig bestellt ist. Der
Kanon wurde nicht auf Grund exegetischer Erwägungen zum Kanon
erklärt und zum Kanon führte keine systematisch-theologische Ein-
sicht oder Notwendigkeit. Der Kanon verdankt seine Feststellung viel-
mehr kirchlichen Notwendigkeiten, die man am ehesten praktisch
theologisch nennen könnte. Für die systematische wie für die exegeti-
sche Erwägung ist er ein Datum, dessen Entstehung jenseits ihrer me-
thodischen Ansätze und Folgerungen liegt. Daher ist der Kanon also
eine sehr andersartige theologische Größe als die Zwei-Naturen-Lehre
oder die Trinität, was die Dogmatik auch immer wieder bemerkt und
betont hat. Dogma de canone proprie loquendo non est articulus fidei,
stellt Johann Gerhard fest. Allerdings ist die Kanon-Entstehung aber
einerseits von vornherein eng mit spezifisch historisch exegetischer Be-
sinnung verbunden, denn seine Schriften sollen von Aposteln und
Apostelschülern stammen- eine Frage, an der sich historisches Fra-
gen in der Alten Kirche ebenso wie im Humanismus integrierte. Der
Kanon hat in seiner Entstehung aber auch andererseits spezifisch sy-
stematische Elemente, denn mit dem Apostolischen war das Geist-ge-
wirkte dieser Schriften bis hin zur Verbalinspiration impliziert2 • Es
ist also so, I daß ein exegetisch-historisches wie ein systematisch-theo-
logisches Moment mitschwangen, als ein spezifisch "praktisches",
gottesdienstliches Bedürfnis, wie zumal lange gottesdienstliche "Er-
fahrung", zur Feststellung des Kanons führten.
Wenn wir dabei den neutestamentlichen Kanon für sirh ins Auge
fassen, so ist die Berechtigung zu solcher Abstraktion vom alttesta-
mentlirhen Kanon zu erwägen3 • Es ist ja doch keine Frage, daß die
Tatsache des Alten Testamentes als "Schrift" bei der Sammlung der
neutestamentlichen Schriften Pate gestanden hat. Die Intention der
beiden Vorgänge ist auch nicht ganz verschieden. Die alttestament-
lichen Schriften wurden kanonisch gesammelt, weil der Geist nicht
1 W. Maurer, Luthen Verständnis des neutestamentlichen Kanons, in: Fuldaer

Hefte 12, S. 49-60.


a W. Staerk, Schrift und Kanon-Begriff der jüdischen Bibel, ZsystTh VI, 101 bis
119.
[152/153] Zur Frage der Begründung des neutestamentlichen Kanons 249

mehr redet. Dies geschieht gegen jene epigraphisch pseudonymen,


hoch begeisteten Henoche und Patriarchen, die trotz all ihrer geist-
haften Lebhaftigkeit zweifelhafte Zeugen zu sein schienen. Die neu-
testamentlichen Schriften wurden kanonisch gesammelt, weil der
Geist im apostolischen Zeugnis geredet hat und mit diesen Schriften
ist. Dies geschieht gegenüber begeisteten Skribenten, wie sie die Gno-
sis heckte. Beide Vorgänge geschehen auf der Folie raumzeitlich ge-
schehener und vergehender Heilstat. In beiden Vorgängen steckt
aber auch die Defensive gegenüber Kanon-puristischen Bewegungen
- z. B. den Samaritanern und Mareion- die diesen Vorgängen der
Kanonbildung mit Sach-Gesichtspunkten begegneten, die sekten-
hafte Verengung mit sich brachten. Wir sehen also die Kanon-Bildun-
gen - zeitlich fällt das Ende der alttestamentlichen Fixierung mit
dem Anfang der neutestamentlichen zusammen4 - zwischen ähn-
lichen Fronten: Dem grenzenlösenden freien Geist und seiner Offen-
barungs-Produktion wie der nach sachlichen GruppierungsschemateD
vorgehenden sektenartigen Reduktion.
Jedoch, so gewiß die alttestamentliche Schrift einen Anstoß für eine
Schriftensammlung gab, und so viel Analoges sich aus der Kanonbil-
dung dort und hier auf Grund analoger Gegebenheiten auch sagen
läßt, so ist die neutestamentliche Kanonbildung doch eigenständig
nach Prinzipien und Verlauf. Man wird den Unterschied zwar nicht
mit Luther darin ansetzen wollen, daß es nicht neutestamentisch sei,
Bücher zu schreiben. So viel Zutreffendes diese Beobachtung auch in
sich trägt, so wenig gilt sie für diesen Vergleich. Da die neutestament-
liche Kanonbildung vielmehr mit dem Komplex der Apostolizität nach
ganz eigenständigen Voraussetzungen und Prinzipien verfuhr, wird
man sie für sich ins Auge fassen können, obwohl die beiden Kanon-
bildungen doch wohl nur in Analogie I verhandelt und gesehen wer-
den können. Zumal war das christliche Selbst-Bewußtsein von dem
"Neuen" und abschließenden Offenbarungsgeschehen gegenüber der
"Schrift" in diesen ganzen Vorgängen so stark, daß es angemessen zu
sein scheint, die neutestamentliche Kanonbildung zunächst für sich
ins Auge zu fassen.
II.
Wenn wir versuchen, die Meinung der Exegeten zur Kanonfrage,
wie W. Marxsen sie darlegt, systematisch-theologisch zu erörtern, so
ist zunächst der Horizont der ganzen Fragestellung zu besprechen.
• Dabei braucht uns hier die Tatsache, daß die Alte Kirche nicht einfach den jü-
dischen Kanon übernahm, sondern den .,alt"-testamentlichen Kanon selbst formte,
nicht zu beschäftigen. Vgl. A. Jepsen, Kanon und Text des Alten Testamentes,
TbLZ 74, Sp. 65-74.
250 CARL lhiNz 1\ATScuow [153/154]

Dieser Fragehorizont ist offenbar in der Frage nach der auctoritas


scripturae sacrae gegeben. Von dieser Frage geht W. Marxsen auch
aus, und es scheint ja eindeutig zu sein, daß bei der Kanonizität des
Neuen Testaments die Autorität des Neuen Testaments in Frage
steht. Jedoch, wenn wir den Ausführungen Marxsens aufmerksam
folgen und sehen, wie sich die Autorität herausbildet, auf der dann
die "Kanonizität" stehen soll, so fragen wir uns, ob das eigentlich die
Autorität sei, auf die es beim Kanon ankomme? Die Autorität, von
der bei M arxsen gesprochen wird, und deren Specificum letztlich
Jesus von Nazareth ist, das ist die auetorilas der viva vox Dei oder des
eigentlichen verbum Dei. Die Autorität, die der Exeget hier ins Auge
faßt, ist die Autorität des sich am Menschen durchsetzenden Wortes
Gottes. Daher ist es angemessen, festzustellen, daß hinsichtlich dieser
Autorität eine Predigt Luthers z. B. dem li. Korinther-Briefe gleich
erachtet werden dürfe. Diese Gleichachtung entspricht auch durch-
aus der Überzeugung der Reformation, die dahingehend von Luther
ausgesagt wurde, daß der Prediger Mund Christi Mund sei. Der "Zu-
spruch des Wortes Gottes" geschieht in der Verkündigung mit der
ganzen auctoritas des verbum Dei bzw. der viva vox Dei. In und mit
der Predigt wird "Offenbarung ereignet" wie in und mit dem bibli-
schen Worte.
Man wird von dieser Grundlage aus sich der Konsequenz (S. 149
[= o. S. 246]) nicht entziehen können und wollen, daß also eine Pre-
digt "über" einen neutestamentlichen Text nicht eigentlich "Predigt
über einen Text, sondern Predigt mit einer Predigt" ist, und daß ergo
auch andere Predigten sich analog dazu weiterpredigen lassen müs-
sen. Dabei hat das Neue Testament seine Rolle immer noch nicht aus-
gespielt, denn als "Erstverkündigung" behält es "zur Sachkontrolle"
Bedeutung. Spätere Predigt ist darauf angewiesen- auf die aposto-
lische, die nicht reduzierbare "Erstverkündigung" (S. 149 [ = o.
S. 246]), zurückzugreifen. Die neutestamentlichen Texte haben dabei
also die "Bedeutung als Paradigma". Ihre Zahl oder ihr Umfang ist
damit aber gerade nicht festgelegt, denn offenbar ist diese Frage irre-
levant geworden- eine Frage der "Handlichkeit" des Buches (S. 150
[ = o. S. 246]). "Kanonisch ist vielmehr die geschehende rechte Verkün-
digung" I (ebd.). Was wir hier vor uns sehen, das ist die Auffmdung
einer der Schrift und dem Worte Gottes gemeinsamen Autorität. Aber
wir müssen uns fragen, ob das eigentlich möglich ist, die Autorität
des Wortes Gottes der kanonischen Autorität so zu unterlegen? Es hat
allerdings schon einmal eine theologische Situation gegeben, in der
Wort Gottes und Schrift unmittelbar identisch wurden und wo sich
daher auch die Folgerung nahelegte, die Autorität des Wortes Gottes
der Schrift zu unterlegen. Diese Situation war da gegeben, wo auf
[154/155] Zur Frage der Begründung des neutestamentlichen Kanons 251

Grund der Inspiration Wort und Schrift ineinanderfielen. Seriptura


materialiter aeeepta nihil aliud est quam Verbum Dei (Joh. Gerhard
II. 17 vgl. li. 427).
Wenn im 17. Jahrhundert die Inspiration das Tertium war, an
dem sich Schrift und Wort Gottes identifizieren ließen, so ist dies
Tertium heute das "Zeugnis" qua "Beziehungsbogen", das bei Pau-
lus und Luther gleicherweise die "Predigt" trägt und zum Worte
Gottes werden läßt.
Mit der Identität von seriptura und Verbum auf Grund der Inspi-
ration war auch im 17. Jahrhundert spezifische Autorität begründet,
und zwar nach dem Ansatz in doppelter Hinsicht. Was die Seite der
seriptura anbelangte, ging es um die Erhebung einer auetorilas ex-
tema des Buches und seiner Eigenarten. Was das Wort Gottes anbe-
traf, ging es um eine auetorilas intema, die eng mit dem testimonium
internum spiritus saneti gekoppelt war. Ganz analog wird auch eine
auetorilas eausativa, die den Vorgang der Glaubensbegründung be-
trifft und dem Wirken des Heiligen Geistes zukommt, von einer aue-
toritas normativa, die das Schriftwort zur Lehrentscheidung gebrau-
chen läßt, unterschieden. Was bei dieser ganzen Identifikation von
Wort und Schrift im 17. Jahrhundert aber in der Voraussetzung liegt,
das ist die Bindung an diese vorgegebene Schriftensammlung.
Diese Schriftensammlung selbst in ihrer Kanonizität wird nun aber
-und das ist auffällig- nicht einfach den bislang genannten aueto-
ritatibus subsumiert, sondern gesondert als auetorilas eanoniea be-
handelt. Offenbar empfmdet man immer noch, daß man es bei der
Kanonfrage doch noch mit einem Speeifieum zu tun hat, das mit jener
auetorilas seripturae nicht so ohne weiteres erledigt ist. So wird z. B.
bei Buddeus zu Beginn der Behandlung der affeetiones der inspi-
rierten Schrift von der auetorilas grundsätzlich gehandelt, danach
von effieaeia und suffieientia und hermeneutischen Fragen. Danach
aber heißt es: Ex auetoritate, qua seriptura saera pollet, divina, fluit
etiam auetorilas eanoniea seu normalis (§ 31). Das heißt, daß diese
kanonische Autorität zwar eine Folge jener in der Inspiration gege-
benen Grundautorität ist, aber daß sie dennoch eine Eigenart dar-
stellt. Diese Eigenart ist gegeben in dem Faktum: aeeedente ecclesiae
testimonio. Zwar hat dies kirchliche Zeugnis nichts über die auetori-
tas seripturae in se spectata zu besagen. Auch hat dies kirchliche Zeug-
nis keine Macht über die Glaubensbegründung, denn das wird, wie
Budeleus betont, vom Heiligen Geist bzw. auch durch die Sduift
selbst I besorgt. Diese eigentümlid:J.e autoritas normalis ruht vielmehr
-das ist ihr Kennzeichen- auf dem Zeugnis der Kirche und stellt
insofern einen Sonderfall dar. Er betont, daß es die Bücher seien, qui
in eeclesia publice praelegebantur, und daß diese Bücher schon in der
252 CARL HEINZ IUTSCBOW [155/156]

Alten Kirche als certa fidei et vitae regula et norma, ad quam omnis
alia doctrina, quae de ratione consequendi salutem proponitur, eri-
genda sit atque düudicanda. Buddeus erörtert einzelne Fragen der
Kanonbildung und kommt zu dem Urteil: Totius enim ecclesiae con-
sensu definitum esse, quinam. bibli canonici esse debeant, quinam
non, numquam probari potest. Die Kirche habe daher die kanonische
Autorität nicht gesetzt- das sei vielmehr durch die Inspiration ge-
schehen- aber sie habe sie festgestellt.
Obwohl also in der Orthodoxie Schrift und VVort Gottes auf dem
Grunde der Inspiration identifiziert wurden, wurde gleichwohl nach
dem Schema extemum und intemum, normativa und causativa -
auch nach materia und forma - die Unterscheidung von Schrift und
Wort distinctive nach wie vor markiert und damit zugleich in ihrer Zu-
sammengehörigkeit fixiert. Der Kanon aber wird in seiner Autorität
für sich behandelt. Er gründet zwar in jener General-Autorität des
Heiligen Geistes. Er ruht aber auf einem kirchlichen Votum, und wo
man von Kanon redet, reicht die Beziehung auf jene auetorilas verbi
divini zur Definition nicht aus.
Wir hätten von hier aus zu erwägen, ob die Reduktion der kanoni-
schen Autorität auf die Autorität des Wortes Gottes, wie sie von W.
Marxsen im Vorstehenden vorgenommen wurde, nicht ein "Kurz"-
Schluß ist, der dann die Folge hat, daß der Kanon nun in jedem "Be-
ziehungsbogen" angesetzt werden muß- auch in Predigten Luthers
und Augustins-soweit sie sich an der Erstverkündigung analogice
und nicht identice (S. 149 [ = o. S. 245]) messen lassen können.

111.
Gehen wir von unserer Beobachtung aus, so ist zunächst zu fragen,
ob denn ein Kanon überhaupt notwendig sei. Dies kann nicht geleug-
net werden, weil wir es bei dem Heilsereignis in und durch Jesus von
Nazareth mit einem Ereignis in Raum und Zeit zu tun haben, auf
dessen zeugnisweise Überlieferung wir als Christen nun einmal an-
gewiesen sind. Das Verbum extemum korrespondiert dem actus Dei
in Raum und Zeit. Wie jenes Ereignis Gottes in und durch Jesus von
Nazareth raumzeitlich war, so ist es diese Uberlieferung, die als Zeug-
nis geschieht. Zu dieser Oberlieferung aber gehört auch das Moment
der Abgeschlossenheit, dem die Alte Kirche durch den Charakter der
Apostolizität Ausdruck gab. Wie jenem Heilsereignisse selbst, so eig-
net den Aposteln "Einmaligkeit" in strengem Sinne. Nach dem Tode
der Apostel gab es keine neuen Apostel. Der Apostolizität eignet auch
Geisterfülltheit. Aber hier braucht uns zunächst nur dies Moment
ihrer Unwiederholbarkeit zu interessieren. Es I ist sachgemäß, wenn
[156] Zur Frage der Begründung des neutestamentlichen Kanons 255
W. G. Kümmel sowohl den Kanon selbst wie die Abgeschlossenheit
des Kanons als mit der Eigenart der Offenbarung in Raum und Zeit
gegeben ansieht5 • Es widerspricht offenbar der Stringenz dieser Ein-
maligkeit der Offenbarung, wo der Kanon nicht fixiert und die Ab-
geschlossenheit des Kanons nicht mehr postuliert wird.
Es ist keine Frage, daß dabei die Teile dieses Kanons nicht gleich-
wertig und nicht gleichgewichtig sind. Uns ist die Möglichkeit verlo-
ren, diese Schriften auf eine gemeinsame Basis, wie die Inspiration,
zu beziehen. Aber solche Beziehungen würden wir ja auch wohl gar
nicht wünschen dürfen, denn es soll sich in diesen Schriften um Ober-
lieferung handeln, die uns mit jenem Ereignis zeugnisweise in Ver-
bindung hält. Zeugnisweise bedeutet ja immer auch berichtweise,
denn es geht um jenen Jesus von Nazareth und nicht um geisthaft all-
gemeine Wahrheiten. Zeugnisweise, das bedeutet aber auch in ge-
wiesener Stellvertretung, denn das Ereignis selbst ist nicht zur Aus-
sage gekommen. Also es geht allerdings um einen "Beziehungsbo-
gen" als Zeugnis, d. h. Verweis an Jesus von Nazareth, als Bericht
und als Hinweis auf ihn. Aber dieser "Beziehungsbogen" ist für uns
da als Zeugnisbericht von Menschen, die ihr Verständnis ihrem Zeug-
nis unterlegten, und dies Verständnis ist ja weder gleichwertig
noch gleichgewichtig. Es ist daher sicher richtig, wenn Käsemann die
Variabilität im Kanon stark betont8 • Es ist auch wohl richtig, wenn
auch überspitzt formuliert, daß der Kanon nicht die Einheit der
Kirche, sondern die Vielzahl der Konfessionen begründet7 • Das kann
ja doch nicht anders sein, wenn man diese Schriften als das wertet,
was sie sind, nämlich als zeugnisweise Aussage über jenes Heilser-
eignis, wie Menschen der ersten Generationen sie taten, die verschie-
dener Herkunft und Bildungslage in verschiedenen Situationen und
aus verschiedenem Anlaß ihre Aussagen machten.
Muß nun also oder sollangesichtsdieser Variabilität der Schriften
des Kanons nach einer "sachlich" erhebbaren Einheit gesucht wer-
den? Die Alte Kirche hat, als sie den Kanon nach und nach fixierte,
offenbar nach "äußerlichen" Gesichtspunkten geurteilt, wobei erstens
jene Apostolizität und zweitens dann der kirchliche Gebrauch Grund-
lagen für das Urteil gaben. Sollen wir nach "inneren" Gründen su-
chen? Diese Frage muß gestellt werden, denn was nicht nach "inne-
ren" Gründen entstand, sondern von "innen" gesehen kontingent

• Notwendigkeit und Grenze des neutestamentlichen Kanons, ZThK 1950, S.


296 f. [= 0. s. 81f.].
1 Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche?, EvTh 1951/

1952, s. 16 ff. [= o. s. 127 ff.].


1 Ebd. S. 19 [= o. S. 131); vgl. meine Arbeit "Der angefochtene Glaube", 1957,
s. 187 ff.
C.UU.IhiNz RATSCHOW [156/157]

zusammenwuchs, kann das überhaupt so befragt werden? Die Er-


gebnisse der ganzen Suche nach sachlichen "inneren" Gründen sind
auch kaum ermutigend, denn sie sind auf der ganzen Linie negativ:
Der Kanon im Kanon ( !) oder die Grenze des I Kanonischen, die mit-
ten durch den Kanon geht ( 1), oder der in die Geschichte der Kirche
hinein offene Kanon(!). Sind das nicht Verlegenheiten einer falschen
Fragestellung?
Der Kanon erwächst einer kirchlichen Notwendigkeit und trägt die
Kennzeichen der raumzeitlichen Kontingenz an sich, die als Apostoli-
zität definiert wurde, die als kirchlicher Gebrauch dieser Schriften
durchgesetzt wurde und die einem kirchlichen Entscheid ihre End-
gültigkeit verdankt. Diese Kontingenz des Kanons gehört zur Kontin-
genz der Offenbarung. Die Kirche bedarf auch heute des Kanons.
Aber versuchen wir uns nicht um diese Kontingenz des Kanons her-
umzuarbeiten, indem wir so etwas wie eine erweisbare Autorität, die
wie jene Inspiration Schrift und Wort Gottes zu identifizieren er-
laubt, finden wollen? Wir suchen solche Frage heute nicht mehr mit
supranaturalen Postulaten wie der Verbalinspiration zu lösen, son-
dern wir versuchen es mit "inneren", sachlichen, historisw begründ-
baren Fakten. Aber die Intention ist doch wohl analog. Diese Inten-
tion aber muß angesichts der Kontingenz des Kanons fragwürdig
erscheinen.
Es geht im Kanon um den Zeugnisbericht von Jesus von Nazareth
als die Offenbarung Gottes. Es ist also völlig richtig, daß in den Ka-
non gehört, "was Christum treibet" 8 • Aber ist dieses Moment nun in-
haltlich und "innerlich" so aufzufüllen, daß man daran einen Maß-
stab gewinnt, was kanonisch sei? Wie soll man hier überhaupt ver-
fahren? Exegetisch sicher nicht, denn diesen Schriften kann es exege-
tisch ja wohl schwer anzusehen sein, ob sie hundert Jahre später-
aus "äußeren" Gründen der Apostolizität z. B. - für kanonisch er-
klärt wurden. Exegetisch kann man eine Wertungs-Größe so gewin-
nen, wie Marxsen es tat, indem man nämlich durch das Verbum ex-
ternum hindurch auf das Verbum Dei zuzugehen versucht. Diese
Größe ist dann an jedem späteren Zeugnis auch erhebbar. Aber da-
mit ist dann die Kanonizität des Kanons auch "nur noch" Erstverkün-
digung, deren Grenzen nicht festliegen. Ganz ähnlich geht es ja auch
anderen Bearbeitern dieser Frage. W. G. Kümmel stellt auch fest,
daß der Kanon Norm sei "auf Grund des uns aus dem Kanon selber
entgegentönenden und unseren Glauben weckenden Zeugnisses von
• Die Position Luthers ist von W. Maurer hinreichend erörterL Was dabei ent-
scheidend zu sein scheint, das ist Luthers dogmatischer Apostel-Begriff, der, der In-
spiration nahestehend, seine Position von der unseren trennt (Fuldaer Hefte 12,
s. 63--72).
[157/158] Zur Frage der Begründung des neutestamentlichen Kanons 255

Gottes Heilshandeln in Jesus Christus"'· Kümmel erhebt von da aus


die "innere Grenze des Kanons", die "sachlich immer von neuem zu
bestimmen" ist10• Kümmel reflektiert die Frage nicht, ob es außer-
halb des Neuen Testaments nicht auch "Glauben weckendes Zeu@lis
von Gottes Heilshandeln in Jesus Christus" gibt. Er müßte die Frage
wahrscheinlich auch bejahen I und somit die "innere Grenze des Ka-
nons" auch sehr weit nach außen verlegen, den neutestamentlichen
Schriften aber die Bedeutung von Erstverkündigung als Ridltschnur,
wie Marxsen es tut, zuschreiben, die dann keine streng "sachlidle"
Abgrenzung mehr zuläßt.
Das heißt also, daß wir der Fragestellung nach "sachlicher und
innerer" Begründung des Kanons gegenüber, wie sie in der Geschichte
der evangelischen Theologie von Luther an immer wieder gestellt
wurde, skeptisch sein zu müssen meinen. Der Kanon umschreibt die
Kontingenz der "ersten"- das werden wir mit Recht in Anführungs-
striche setzen- Zeugnisberichte von Jesus dem Heile Gottes für die
Welt. Er entspricht damit der Kontingenz dieser Offenbarung. Erbe-
kräftigt sie für die Kirche aller Zeiten und macht den Wunsch, eine
mit sich selbst identische Wahrheit an sich haben zu können, zu-
nichte11. Jedoch der Kanon ruht ja nicht nur auf diesem Autorenge-
sichtspunkt, sondern hinzukommt zweitens die experientia ecclesiae
im gottesdienstlichen Umgange mit diesen Schriften. Man wird die-
sem Moment große Bedeutung beimessen müssen, denn am Kanon
haben sich die grundlegenden dogmatischen Entscheidungen der er-
sten drei Jahrhunderte manifestiert. Die Ausscheidung des gnosti-
schen Momentes zumal ist dessen Zeuge. Daß dieser Vorgang sidl
nidlt als dogmatische Diskussion, sondern als praktisch-theologische
Experientia vollzog, scheint uns von Bedeutung zu sein. Es ist schon
so, daß man mit diesem zweiten Momente dem testimonium spiritus
sancti in ecclesia begegnet, und daß die Dogmatiker der Wahrheit
wohl nidlt so fern waren, die des Heiligen Geistes bei der Erörte-
rung der auctoritas canonica Erwähnung taten. Drittens aber ruht
der Kanon auf einer kirchlidlen Entscheidung. So ist es wohl nidlt
angemessen, angesichtsder Vorgänge nadl 360 zu sagen, diese Ent-
scheidung sei nur passive Rezeption gewesen. Obwohl der Begriff des
' AaO, S. 308 [= o. S. 92].
10 AaO, S. 312 [ = o. S. 96 f.].
11 Dabei kann man auch darauf verweisen, daß wir es bei den Zeugen mit Men-
schen als Sündern zu tun haben, wie H. Braun und W. Andersen (Fuldaer Hefte
12, S. 20 [= o. S. 228 f.]. 33) es tun. Aber dies Sünder-Sein läßt die Tatsache der
einfachen raumzeitlichen Kontingenz leicht zu stark übertheologisieren. Ganz an-
ders ist das mit Luthers Gedanken, der den Kanon in dieser Hinsicht der Niedrig-
keit des Gotteswortes einordnet und also im Zusammenhang seiner theologia
crucis erörtert. (Vgl. W. Maurer, Fuldaer Hefte 12, S. 70 f.).
CARt. HEINZ RA.TSCHOW [158/159]

recipere oder suscipere vorkommt12, so wird man die Entscheidung


doch als Entscheid gewichtig nehmen müssen, denn anderenfalls wäre
die Kirche gezwungen, den Kanon neu und neu in die Offenheit der
gottesdienstlichen Experientia hinein zu halten, und auf seine Ge-
schlossenheit grundsätzlich zu verzichten.

IV.
Drei Momente begründen den Kanon: ein kontingentes komplexes
Vielerlei menschlicher Zeugnisberichte, ein geistliches Erfahren in
der I gottesdienstlichen Übung der Kirche und ein kirchliches Ent-
scheiden auf diesem Boden! Das erste ganz äußerliche Moment der
Setzung nach Gesichtspunkten, die wir heute nicht mehr vertreten,
d. h. nach der Apostolizität, hat den Anstoß zur Kanonbildung gege-
ben. Die Auswahl geschah in jenem langen Prozeß der geistlichen Er-
fahrung. Die Fixierung aber war eine "kirchenamtliche" Setzung auf
jenem Boden von Erfahrung. Exegetisch überprüfbar ist hieran jenes
erste Moment als Einleitungsfrage. Jedoch mit der einsichtigen Fest-
stellung, daß jener Apostel- und Apostel-Schüler-Gesichtspunkt so
nicht durchzuhalten ist, wie man im zweiten Jahrhundert meinte, ist
ja gegen den Kanon nicht viel ausgerichtet. Damit fällt der Kanon
nicht. Es haben manche Schriften, wie wir wissen, in diesem "Geruch"
gestanden und sind gleichwohl abgetan. Das Schwergewicht des Ka-
nons liegt fraglos auf dem zweiten und dritten Momente. Diese aber
entziehen sich der exegetischen Beurteilung. Ob an Hand des Phile-
rnon-Briefes das Wort von der Erlösung "wirksam" verkündigt wer-
den könne, das entzieht sich der exegetischen Beurteilung. Zwar kann
und muß man exegetisch fragen, wie der Philernon-Brief im Grund-
zusammenhange der neutestamentlichen Botschaft vom Heil in Chri-
sto steht. Aber das besagt über jene experientia ecclesiastica nicht viel,
denn sie basiert auf dem wiederumkontingentenGeschehen des Gei-
stes bei dem Worte. Das dritte Moment aber ist als kirchliche Ent-
scheidung der exegetischen Uberprüfung entzogen. Diese Entschei-
dung hat den Kanon geschlossen. Sie hat das vollzogen, was implizit
im Anstoße des Ganzen im Apostolischen angelegt war. Die Exegese
wird daher den Kanon hinnehmen müssen, sofern der Exeget als
Glied einer evangelischen Kirche diese Schriften in ausgezeichnetem
kirchlichem Gebrauche fmdet. Jedoch der Exeget wird eine kano-
nische Schrift nicht nach anderen Maßstäben behandeln, als er es mit
außerkanonischen Schriften tut. Wenn er nach jener Autorität so
fragt, wie W. Marxsen das tut, so ist das eine fruchtbare und wohl
auch notwendige Fragestellung, aber wie man sieht, muß tmd kann
11 W. Eiert, Der christliche Glaube, 2. Aufl. 1941, S. 180.
[159/160] Zur Frage der Begründung des neutestamentlichen Kanons 257

diese Fragestellung auch an die apostolischen Väter etc. gestellt wer-


den. Im methodischen Verlauf exegetischer Arbeit läßt sich der Ka-
non nicht verifizieren. Der Exeget, der als Christ um diesen Kanon
weiß, wird zwar rein praktisch in der Ausbildung künftiger Pfarrer
zumal diese Schriften traktieren, aber inhaltlich ist die Grenze des
Kanons für ihn ein "Vorurteil", dem er in der Durchführung seiner
Aufgabe keine eingrenzende Bedeutung zuerkennen kann.
Die Dogmatik steht in bezugauf den Kanon anders da. Zwar kann
auch sie jene Momente, die zum Kanon führten, nicht überprüfen,
denn das erste Moment liegt als historische Fragestellung in der Ein-
leitungswissenschaft, das zweite Moment liegt für sie genau so wie
für die Exegese zunächst jenseits ihrer methodischen Einsicht, das
dritte Moment aber ist ihr insoweit verbindlich, insoweit sie ein Denk-
vorgang ist, der die kirchllichen Entscheide im Verhältnis zur Offen-
barung des Alten und Neuen Testamentes in bezugauf ihre kirchliche
Gegenwart auszusagen hat.
Der Kanon hat de facto eine hohe systematisch-theologische Bedeu-
tung, denn diese kanonischen Schriften sind es, an denen sich alle
Lehre dogmatischer wie ethischer Natur ausweisen lassen muß. Da-
bei geht es streng um methodische Erweisbarkeil an diesen Schriften
gemäß ihrer "Sach"-Aussagen. Dogmatik und Ethik weisen sich nicht
an der viva vox Dei aus, sondern an scriptura als Kanon! Sie tun dies
nicht, weil diese Schriften gestatteten, eine uniforme Wahrheit in und
mit ihnen zu handhaben. Sie tun dies um der kirchlichen Erfahrung
willen, daß in und mit diesen Scluiften das Wort Gottes als Wahrheit
geschehen ist und geschieht. Weil diese Schriften als solche der Kirche
immer wieder das Wort Gottes imponieren, darum hat sich Dogmatik
wie Ethik von ihnen her zu begründen und an ihnen Bekenntnis-
Verbindlichkeit wie alle Uberlieferung zu messen. Diese Feststellung
wäre ein Zirkel, und zwar ein circulus vitiosus, wenn die systema-
tische Theologie den Kanon als bloßes Stück der Tradition gemäß
kirchlichem Entscheid rezipierte, um an ihm alle Tradition zu mes-
sen. Diese Feststellung ist kein Zirkel, sobald die systematische Theo-
logie an diesen Schriften in die Offenheit vor dem Worte Gottes hin-
eintritt, dessen Geschehen zwar jenseits ihres Vollzuges Kirche er-
eignet, von dem her und auf das hin sie aber arbeitet. In dieser Weise
hat die Dogmatik und Ethik also in ihren Voraussetzungen ein ge-
wichtiges Moment -nämlich den Kanon- auf den sie ständig zu
rekurrieren hat. Sie ist in dieser Voraussetzung von der Exegese un-
terschieden.

17 Käsemann, Kanon
WILFIUED JoEST

Erwägungen zur kanonischen Bedeutung


des Neuen Testaments•
Walter Künneth zum 65. Geburtstag

In welchem Sinn das Neue Testament der Kanon christlicher Ver-


kündigung und Lehre sein kann, ist durch die Anwendung historisch-
kritischer Forschung auf die biblischen Schriften zu einer Frage ge-
worden, die mit einer Wiederholung der Inspirationslehre in ihrer
klassischen altprotestantischen Gestalt nicht mehr zu bewältigen ist.
Das ist eine allgemein bekannte Tatsache, und die folgenden Ausfüh-
rungen werden an Tatsachen zur Kanonsfrage auch nichts Neues bei-
zutragen haben. Sie werden vielleicht nicht einmal Gesichtspunkte
zur Deutung der Problemlage beisteuern können, die nicht auch sonst
schon in deren weitverzweigter Diskussion so oder ähnlich geäußert
sind. Sie versurhen aus dem, was uns als geistliche Wirklirhkeit und
Wirkung des Neuen Testamentes gegeben und nun eben zugleich als
sein "historisrhes" Aussehen vor die Füße gelegt ist, ein Fazit zu zie-
hen mehr in Gestalt einer Thesenreihe als in der des Ringreifens in die
laufenden Diskussionen. Ein solches Fazit muß ja jeder für sirh zu zie-
hen suchen, der sich jenem "historischen" Aussehen nicht verschließen
kann und will und der sich doch weiterhin in seiner Verkündigung
und Theologie an das neutestamentliche Zeugnis gebunden weiß. Die
Frage nach der kanonisrhen Bedeutung des Alten Testamentes für
die Christenheit sei dabei ausgeklammert, nicht weil sie verneint wird,
sondern weil sie ihre eigene Problematik hat, deren Erörterung den
Rahmen eines Aufsatzes sprengen würde. Die Besinnung soll sich zu-
nächst auf den Vorgang des Werdens des Neuen Testamentes als Ka-
non richten; sodann auf die Frage, in welchem Sinne dabei von In-
spiration gesprochen werden kann und in welrhem nicht; drittens auf
die Frage nach dem Verhältnis von historisch-kritischer Erforschung
und kanonisrher Wirksamkeit des Neuen Testamentes.

• Erstmals veröffentlicht in: Kerygma und Dogma 12, Vanr!enhoeck & Ruprecht,
Göttingen 1966, S. 27-47.
(27/28] Erwägungen zur kanonismen Bedeutung des NI' 259

I. Der Vorgang der Kanonsbildung


1. Wir rufen uns zunächst die bekannten Tatsachen des äußeren
Hergangs ins Gedächtnis.
Im Ursprung war der christlichen Gemeinde als Schrift nur das
Alte Testament gegeben. Sie rezipierte es freilich nicht einfach in sei-
nem jüdischen Verständnis; sie verstand es neu im Glauben an Jesus
als den Christus und als das Zeugnis der Geschichte Gottes mit Israel
auf Christus hin. Die Christusbotschaft ihrerseits, von der her das Alte
Testament nun verstanden wurde, war mündliche Predigt. Wo im
Neuen Testament selbst von graphe die Rede ist, ist I stets das Alte
Testament gemeint. Das Neue Testament spricht nicht über sich selbst
als kanonische Schrift (es wirkt als solche).
Beim Werden des Neuen Testamentes zur kanonischen Schrift sind
zwei Stufen zu unterscheiden:
a) Die Entstehung der neutestamentlichen Schriften. Wir wissen,
daß dies ein äußerst komplexer Vorgang war, der sich durch einen
längeren Zeitraum hinzog und bei dem nicht nur eine älteste Gene-
ration von Verfassern, geschweige denn ein irgendwie institutionell
abgegrenzter Personenkreis, vielmehr mannigfache Überlieferungs-
stränge, Bearbeitungen, Redaktoren usw. beteiligt waren. Immerhin
darf man sagen, daß wir im Neuen Testament die älteste schriftliche
Überlieferung der Geschichte Jesu und des Glaubens an ihn als den
Christus haben, und daß die Grundelemente dieser Uberlieferung in
die Zeit der ältesten Zeugengeneration, der Augenzeugen der Ge-
schichte Jesu und der Zeugen der Ostererlebnisse zurückreichen.
b) Die Sammlung dieser Schriften zum Corpus des Neuen Testa-
mentes, d. h. ihre Sammlung zum Kanon und Herausstellung als Ka-
non. Auch dies war ein komplexer und durch lange Zeit sich hin-
ziehender Vorgang- jedenfalls keineswegs der einheitliche Akt einer
gesamtkirchlichen Lehrautorität. Immerhin kann man sagen, daß die
Sammlung in ihrem wesentlichen Grundstock zwischen 150 und 200
sich herauskristallisierte, wenn auch hinsichtlich der Randgebiete
nom lange in verschiedenen Kirchengebieten verschiedene Abgren-
zungen vollzogen wurden, die sich erst allmählich auf einer einheit-
lichen Linie ausglichen. Den Anstoß zum Prozeß der Kanonsamm-
lung gab vor allem die gnostische Krise des 2. Jahrhunderts. Gegen-
über der Berufung gnostischer Gruppen auf apostolische Geheimüber-
lieferungen mußte die Frage nach dem Kriterium für die wahre apo-
stolische Überlieferung sich erheben. Der neutestamentliche Kanon
wurde zweifellos auch unter dem Gesichtspunkt gesammelt, daß man
in diesen Schriften das älteste, von Aposteln und Apostelschülern her-
kommende Traditionsgut habe. Außer diesem historischen Maßstab:
260 WILFRIED JoEST [28/29]

älteste, apostolische bzw. apostelnahe Verfasserschaft, spielte aber


nocl:t ein anderes Moment herein: die Schriften, die man unter diesem
Maßstab als kanonisch anerkannte, waren zugleich die gottesdienst-
lichen Vorleseschriften, die als solcl:te schon zuvor eine besondere
Wirksamkeit im kirchlichen Lebensvollzug erlangt hatten und durch
diese bereits herausgehoben waren. Man wählte als kanoniscl:J. die
gottesdienstlicl:J.en Vorleseschriften. Aber man wählte sie zugleich als
apostolische bzw. apostelnahe Schriften.
2. Soweit der äußere Hergang. Zunächst kann man nun sagen:
Was in diesem Werden des Neuen Testamentes zum Kanon geschah,
war ein Prozeß kirchlicher Selbsthilfe in einer Situation der Krisis; ein
Prozeß historischer Nachfrage und Feststellung, den Menschen, Sy-
noden, Theologen usw. in der Kirche vollzogen, weil sie für die Identi-
tät der kirchlichen Verkündigung und Lehre mit ihrem Ursprung sor-
gen wollten und mußten. Die gnostische Krise war gegeben- die Fra-
ge nach dem Kriterium der echten Oberlieferung war uniumgänglich
geworden- man beantwortete sie mit den Mitteln, die man hatte
und so gut man konnte, indem man das älteste Oberlieferungsgut
feststellte. Das Ergebnis war der kirchlich festgestellte und schließlich
definitiv in seinen Grenzen umschriebene Kanon des Neuen Testa-
mentes.
Man kann dann feststellen, daß der alten Kirche diese historisme
Nachfrage mehr oder weniger gut gelungen ist, so wie sie eben da-
mals gelingen konnte. Die Annahme der apostolischen oder mit dem
Apostelkreis durch unmittelbares Schülerverhältnis personell verbun-
denen Verfasserschaft hat sich ja mindestens für spätere Bestandteile
und Schichten der neutestamentlichen Oberlieferung als historisch
nid:tt gegeben erwiesen. Das neutestamentlime Schrifttum ist in einem
zu langen Zeitraum und auf zu komplizierte Weise zusammenge-
wachsen, als daß sich seine Autorschaft personell auf einen solchen
Kreis festlegen ließe. Auch ist es theologisch weit weniger einheitlich,
als man unter der früheren Annahme apostolischer Autorscl:taft er-
warten konnte.
Man könnte nun versucht sein zu folgern: da es hier um einen hi-
storischen Nachfrageakt der alten Kirche ging, und da diese historische
Nachfrage (als solche notwendig und berechtigt) in ihrem Ergebnis
problematisch blieb und mit den Mitteln jener Zeit bleiben mußte,
wir aber mit heutigen Mitteln historischer Nachfrage mindestens ge-
nauer das älteste Gut feststellen können, ist der kirchlichen Gegen-
wart der durch das kirchliche Altertum festgestellte Kanon sinngemäß
zur Korrektur und Reduktion aufgegeben. Maßgebend kann für uns
nur bleiben, was wir mit unseren Mitteln als älteste Überlieferung,
als echtes Jesuswort usw. feststellen können.
(29/30) Erwägungen zur kanonischen Bedeutung des NT 261
Nun ist die Feststellung, was im Kanonwerden des Neuen Testa-
mentes geschah, sei ein Prozeß historischer Nachfrage von Menschen
gewesen, die als solche durchaus verbesserungsfähig ist, zwar nicht
falsch. Sie ist aber als theologische Feststellung über jenes Geschehen
ungenügend, weil sie der geistlichen Erfahrung der Kirche mit der
Schrift, der eine theologische Feststellung über das Werden des Ka-
nons entsprechen sollte, nicht voll entspricht.
Denn erstens war das, was damals geschah, eben nicht nur die An-
nahme solcher Schriften, über deren apostolische Herkunft man sich
vergewissert hatte (und z. T. täuschte), sondern ineins damit die An-
erkennung derjenigen Schriften als kanonisch, die in den Gemeinden
als gottesdienstliche Vorleseschriften bereits in hervorgehobener Weise
wirksam geworden waren, mit denen man also bereits eine Geschichte
geistlicher Erfahrung hatte. Man hat nicht nur historische Feststel-
lung getroffen, sondern man hat zugleich diese geistliche Erfahrung
anerkannt.
Und zweitens hat die Kirche weiterhin mit dem zum Kanon gewor-
denen Neuen Testament eine besondere Geschichte gehabt. In die-
ser Geschichte hat das Neue Testament sich als Kanon bewährt, in-
dem durch seine Wirksamkeit immer wieder die Verkündigung bei
ihrer Sache gehalten und zu ihrer Sache zurückgebracht wurde. In
dieser Wirksamkeit geschahen Durchbrüche durch spekulative Ver-
fremdungen der Theologie, durch hierarchische, gesetzliche oder auch I
säkularistische Verfremdungen des kirchlichen Lebens. Das Neue Te-
stament wirkte erhaltend, erweckend und kritisch am Glauben und
Leben der Kirche. (Die Frage, ob dieses Wirken durch alle Momente
der neutestamentlichen Schrift geschah und geschieht, bleibe vorerst
dahingestellt, wir werden sie später aufnehmen. Jedenfalls wird man
nicht behaupten können, daß es nur durch diejenigen Elemente ge-
schah, die eine historische Untersuchung mit heutigen Mitteln als
älteste Überlieferungsschicht erweisen kann.)
Im Blick auf diese geistliche Erfahrung der Kirche mit den neute-
stamentlichen Schriften zur Kanonisierung hin und mit dem Kanon
gewordenen Neuen Testament seither durch die Jahrhunderte hin-
durch genügt es nicht, den Vorgang der Kanonsbildung nur als eine
menschliche, quasi-kirchenamtliche Maßnahme zu betrachten, die
ebenso gut oder auch fragwürdig ist wie beliebige andere kirchliche
Maßnahmen und Entwicklungen. Eine theologische Beurteilung die-
ses Vorgangs wird sagen müssen, daß "in, mit und unter" dieser
menschlichen Maßnahme (die zweifellos vorliegt) der Kirche zugleich
eine "Maßnahme" Gottes widerfuhr: In der Kanonsbildung geschieht
eine besondere Gabe Gottes an die Kirche, in der Wirksamkeit des
Kanons vollzieht sich ein besonderes Wirken Gottes an der Kirche.
262 WILFRIBD JoBST [30/31]

Gott selbst hat im Werden dieser Schriften wahres Zeugnis von Jesus
als dem Träger seiner Selbsterschließung entstehen lassen; er selbst
gebraucht diese Schriften als Werkzeug, um das wahre Zeugnis seiner
Selbsterschließung in alle Zeiten und Phasen kirchlicher Entwicklung
hinein immer wieder geltend zu machen: rechten Glauben erweckend
und erhaltend, kritisch einredend in die Verfremdungen dieses Glau-
bens in Lehre und Leben der Kirche.
Wir sind uns allerdings im klaren darüber, daß diese Beurteilung
des Vorgangs der Kanonsbildung selbst ein Glaubensurteil ist und den
Charakter eines Bekenntnisses hat, für das sich keine "objektiven"
Begründungen geben lassen. "Objektiv" betrachtet könnte man ja
jene geistliche Wirksamkeit des Neuen Testamentes in der Kirche,
die als Wirksamkeit historisch unbestreitbar ist, als geistliche in Frage
stellen. Jeder Christ kann im Grunde diesem Urteil nur zustimmen
aus seiner eigenen geistlichen Erfahrung mit dem Neuen Testament
und der vom Neuen Testament geleiteten Verkündigung der Kirche.
Dann aber wird die Frage nach dem historisch Ältesten und im
personellen Sinn Apostolischen im Neuen Testament zweitrangig.
(Wird die Bedeutung der Kanonsbildung nur in der historischen Rück-
frage als kirchliche Maßnahme gesehen, so bleibt sie die über die ka-
nonische Bedeutung entscheidende Frage.) Sie wird nicht einfach
gleichgültig, denn das wahre, dem Gottessinn der Sendung Jesu ge-
mäße Christuszeugnis kann als solches nicht im inneren Widerspruch
zu der wirklichen Geschichte des wirklichen Menschen Jesu stehen.
Darum ist es von Bedeutung, daß wir im Neuen Testament auch den
erreichbar ältesten Reflex dieser Geschichte haben und das Spätere
in ihm mit dem Altesten zusammenhalten können. Aber diese Frage
verliert den Charakter einer Grenzangabe für das eigentlich Kano-
nische im Kanon. Als von Gott gewirktes Glaujbensverständnis der
Geschichte Jesu Christi geht das neutestamentliche Christuszeugnis
in den als historisch exakt erweisbaren Momenten der Berichterstat-
tung dieser Geschichte nicht auf. Auch "gemeindetheologische" Bil-
dungen können in ihrem Aussagesinn wahres, von Gott gewirktes
Glaubenszeugnis Jesu und seiner Sendung aussprechen. (Wiederum:
die Frage, ob man postulieren kann, daß alle gemeindetheologischen
Bildungen des Neuen Testamentes dies tun, lassen wir noch offen.)
Geht es hier nicht nur um das Älteste, historisch Exakte, personell
Apostolische als solches, sondern um das durch Gott gewirkte wahre,
exemplarische Glaubenszeugnis, so sind wir von der Vorstellung be-
freit, als kanonisch nur das annehmen zu können, was bestimmten
Ansprüchen an historische Echtheit oder apostolische Verfasserschaft
genügt.
(31/32] Erwägungen zur kanonischen Bedeutung des NT 263
li. Die Frage der Inspiration
Eben das, was wir jetzt behauptet haben: daß im Werden des neu-
testamentlichen Kanons in dem kirchlichen Nachfrage- tmd Feststel-
lungsvorgang zugleich eine besondere Gabe Gottes, in seinem Wirken
als Kanon ein besonderes Wirken Gottes an der Kirche geschah und ge-
schieht, wollte auf ihre Weise die Inspirationslehre der altprotestan-
tischen Orthodoxie zum Ausdruck bringen. Darin liegt ihr berechtig-
ter Sinn. Aber man wird hier unterscheiden müssen: Das kanonische
Wirken des Neuen Testamentes und darüber hinaus der ganzen
Schrift, und damit meinen wir: das erweckend-erhaltend-kritische
Wirken Gottes durch das Werkzeug der Schrift, ist eine geistliche Er-
fahrung der Kirche. Die Inspirationslehre als solche, in der Theologie
des Spätjudentums gebildet, in der christlichen Tradition weiterge-
tragen und im alten Protestantismus zu letzter Schärfe ausgearbeitet,
ist keine geistliche Erfahrung. Sie ist eine theologische Theorie, von
der man vielleicht sagen kann, daß sie zur Erklärung jener geistlichen
Erfahrung gebildet wurde. Theologische Theorien sind unentbehr-
lich, aber nicht unkorrigierbar. Wir haben zu fragen, inwiefern die
Theorie der Inspirationslehre (deren klassische Gestalt wir als be-
kannt voraussetzen dürfen) der Wirklichkeit, die sie umschreiben
sollte, angemessen oder unangemessen ist; in welchem Sinn wir sie
also festhalten sollten und in welchem nicht. Dabei gehört für uns
zur Wirklichkeit der neutestamentlichen Schrift ebenso ihre geistliche
Wirksamkeit, von deren Erfahrung durch die Kirche und den ein-
zelnen Christen wir sprachen, wie andererseits auch die menschliche
Gestalt, die sie dem historischen Betrachter zeigt und die wir als die
von Gott selbst nun einmal akzeptierte Gestalt dieses Werkzeugs auch
unsererseits akzeptieren sollten.
Unter Voraussetzung der vorstehenden Uberlegungen zum theo-
logischen Verständnis der Kanonwerdung erscheint der Begriff der
Inspiration in folgendem Sinn verwendbar:
a) wenn damit gesagt sein soll, daß Gott selbst im Werden der neu-
testamentlichen Schriften wahres, exemplarisches Zeugnis der Sen-
dung Jesu und der Glaubenserkenntnis seiner Selbsterschließung in
Jesus entstehen ließ; I
b) wenn ferner gesagt sein soll, daß Gott selbst im Vorgang der
Sammlung und Herausstellung dieser Schriften als Kanon die Kirche
zur Anerkennung dieses exemplarischen Zeugnisses geführt hat;
c) wenn endlich gesagt sein soll, daß Gott selbst im fVirken dieser
Schriften schon vor ihrer formellen Anerkennung als Kanon und dann
danach erweckend, erhaltend und kritisch am Glauben und Leben
der Kirche und ihrer einzelnen Glieder gehandelt hat; und wenn die
Erwartung ausgedrückt werden soll, daß er dies auch ferner tun wird.
WILFIUBD JoEST [32/33)

Mit dem dritten Satz kommt unmittelbar die geistliche Erfahrung


der Kirche mit der Schrift zum Ausdruck; die beiden ersten Sätze er-
geben sich als Voraussetzungen des dritten. Alle drei Sätze zusammen
suchen das mit Werden und Wirksamkeit des Neuen Testamentes
verknüpfte Wirken des Heiligen Geistes in seinem gesamten Zu-
sammenhang auszusagen. Der Heilige Geist ist ja Gott selbst, sofern
er im Menschen wahre Erkenntnis, Glauben und Bezeugung seiner
Selbsterschließung wirkt: den Glauben, aus dem die Schriftzeugnisse
hervorgingen, und wiederum den Glauben, zu dessen Erweckung und
Reinigung sie werkzeuglieh dienen. In diesem Sinne kann der Be-
griff Inspiration, der ja Einwirken des Geistes bedeutet, mit Werden
und Funktion des Neuen Testamentes verbunden werden.
Man kann aber fragen, ob es zweckmäßig ist, an dem Begriff fest-
zuhalten, ob es nicht vielmehr besser wäre, die "Sache", auf die wir
ihn soeben bezogen haben, ohne den Begriff geltend zu machen.
Denn historisch ist er von der klassischen Gestalt der Inspirationslehre
her mit Zügen behaftet, die man u. E. als unangemessen bezeichnen
muß. Diese Züge seien in vier Punkten herausgestellt.
a) Unangemessen ist die direkte Gleichsetzung der Schrift mit dem
Offenbarungswort Gottes, die in der alten Inspirationslehre enthalten
ist: das verbum Dei scriptum, in dem die revelatio als mediata auf
uns gekommen ist, nachdem zuvor das verbum als unmittelbare Ein-
gebung des zu Schreibenden- revelatio immediata- den Propheten
und Aposteln zuteil geworden war.
Diese Vorstellung entspricht nicht dem Selbstzeugnis des Neuen
Testamentes. Nach ihm ist das Wort Gottes primär und in unmittel-
barer Identität Jesus Christus selbst (Job. 1, Apoc. 19, 13). Wort Got-
tes wird sodann auch die Verkündigung der Christusbotschaft durcll
Menschenmund genannt, weil und sofern durch sie Gott selbst zu den
Hörenden redet, Christus selbst ihnen dadurch gegenwärtig wird. (So
etwa 1. Thess. 2, 19.) In diesem Sinne und sofern dies durch siege-
schieht, kann man natürlich auch die neutestamentlichen Zeugnisse
als Wort Gottes bezeichnen. Das gilt dann aber auch für weitere Ver-
kündigung, sofern Gott selbst durch sie als Werkzeug zu Menschen
redet, Christus selbst sich ihnen gegenwärtigt. Umgekehrt werden
wir aber nun nicht sagen, das Wort solcher Verkündiger sei als solches
und damit, daß sie es sagen - sozusagen in ontologischer Identität
mit ihrer Person und deren Redeakt - Wort Gottes. Sondern wir
werden sagen: durch ihr Reden, das menschliches I Reden von Men-
schen bleibt, geschieht Gottes eigenes Wort, so daß ihr menscl:iliches
Reden, welches Zeugnis vom Worte Gottes ist, zum Werkzeug des
Selbstwortes Gottes wird. Dann gilt dasselbe aber auch von den Wor-
ten des Neuen Testamentes. Denn auch hier reden menschliche Zeu-
[33] Erwägungen zur kanonischen Bedeutung des NT 265

gen, das Neue Testament ist ja Niederschlag urchristlicher Verkündi-


gung. Zwischen seinen Autoren und späteren Verkündigern ist kein
prinzipieller Unterscllled (ein solcher konnte allenfalls noch gedacht
werden, solange man die Vorstellung des personell abgrenzbaren apo-
stolischen Verfasserkreises haben konnte, nicht aber angesichts der
komplizierten Entstehungsgeschichte, um die wir heute wissen). Also
sind auch ihre Worte nicht in direkter Identität das Selbstwort der
Offenbarung, son~ern sie sind Werkzeug durch welches Gottes eigenes
Wort geschehen ist, geschieht und geschehen wird. Allerdings sehen
auch wir dieses Werkzeug in einer Vorrangstellung gegenüber aller an-
deren Verkündigung, die ihrerseits Werkzeug des Selbstwortes Gottes
wird. Aber diesen Vorrang sehen wir nicht darin, daß das Novum Te-
stamentum scripturn direkt mit dem Offenbarungswort Gottes iden-
tisch ist, sondern darin, daß es dasjenige Werkzeug ist, durch welches
Gottes Wort so geschieht, daß die fernere Verkündigung der Kirche
bei ihrer "Sache" gehalten und zu ihr zurückgerufen wird, so daß
auch sie Werkzeug des Selbstwortes werden bzw. bleiben kann. Der
kanonische Vorrang des Neuen Testamentes ist es, dasjenige mensch-
liche Offenbarungszeugn.is zu sein, daß dem Selbstwort Gottes zu die-
ser spezifischen Wirkung des Erweckens, Erhaltens, und kritischen
Reinigens weiteren Zeugnisses als Werkzeug dienen kann und dient.
Im Sinne unmittelbarer Identität kann man u. E. überhaupt nur
von Christus selbst sagen: Er ist das Wort Gottes. Was er spricht, ist
Wort Gottes, weil er es ist, der redet. Es gibt nur diesen Einen, in dem
Gott sich und sein Reden in unmittelbarer Identität mit einem ir-
disch-geschichtlichen Konkretum gleichgesetzt hat. Der Bibelkanon
ist kein zweites solches geschichtliches Konkretum, in dem diese
Gleichsetzung noch einmal geschehen wäre- das Wort Gottes ist nicht
inkarniert und dann noch einmal "inkodifiziert". Das Neue Testa-
ment, wie streng immer als Kanon verstanden, muß in werkzeug-
licher Unterordnung unter das Selbstwort Gottes in Christus gesehen
werden. Das würden grundsätzlich wohl auch die orthodoxen Theo-
logen zugestanden haben. Dann erscheint es aber angemessener, das
Bibelwort nicht in jener direkten Gleichsetzung als verbum Dei scrip-
turn zu bezeichnen, weil dies eben doch irgendwie eine formale Iso-
morphie zu dem verbwn Dei incarnatum bedeutet, sondern nur von
seiner spezifischen Werkzeuglichen Bedeutung für die Selbstdurchset-
zung des Gotteswortes in Lehre und Leben der Kirche und gegen de-
ren Entstellungen zu reden.
b) Unangemessen erscheint uns die These, kraft ihrer Inspiration
sei die Sduift als solche das formale principium aller Glaubenser-
kenntnis und Theologie, weld::tes principium dann formuliert werden
könne: Quidquid Scriptura sacra docet, credendum est. I
WILFJUED JoEST [M]

Das ist darum unangemessen, weil nach dem neutestamentlichen


Zeugnis selbst diejenige Autorität, an die wir im Glauben unbedingt
gebunden werden, nicht ein formales Prinzip ist, sondern eine in-
haltliche, personale Größe: Jesus Christus selbst, die Selbsterschlie-
ßung Gottes in ihm. Die neutestamentlichen Zeugnisse weisen ja
überall auf diese ihre inhaltliche Mitte und "Sache" hin. Sie rechnen
damit, daß diese "Sache": das Evangelium und in ihm der gegenwär-
tige Herr, den Hörenden unmittelbar an sich selbst bindet und nicht
auf dem Umweg, daß zuerst die Bindung an eine formale Autorität
erfolgt und dann erst, kraft seines Bezeugtseins durch diese, die Bin-
dung an Christus und das Evangelium.
Die Vorstellung der Schrift als formales Glaubensprinzip ist ferner
dem Wesen und der geistlichen Erfahrung des Glaubens selbst unan-
gemessen. Wirklicher Glaube entsteht nicht so, daß man zunächst zu
dem Entschluß überwunden wird: ich will alles glauben, was in der
Bibel steht- und daß man erst daraufhin und weil man in der gleich-
sam "zuerst geglaubten" Bibel das Christuszeugnis fmdet, auch an
Christus glaubt. Wirklicher Glaube entsteht freilich nicht abseits der
Schrift, aber so, daß durch sie hindurch Christus und das Evangelium
unmittelbar das Leben bewegt. Solcher Glaube könnte nicht spre-
chen: Ego non crederem Christo et evangelio, nisi me commoveret
auetorilas Sacrae Scripturae. Wenn er so spräche, müßte man ihn als
unmündig bezeichnen. Sondern er wird sagen: Ich glaube an Chri-
stus und das Evangelium, weil seine befreiende Autorität mich er-
griffen hat - und weil er und diese seine Autorität mir durch die
Schrift begegnet ist und immer wieder begegnet, darum halte ich
mich an die Schrift. Jener formale Entschluß, zu glauben, was in der
Bibel steht, weil es in der Bibel steht, wäre ein "gesetzlicher" Glaube,
d. h. eigentlich kein Glaube, sondern ein Gesetzeswerk, das der Frei-
heit und Unmittelbarkeit der Gotteskindschaft, die im Neuen Testa-
ment selbst bezeugt wird, nicht entspricht. Es gibt solchen formalen
Bibelglauben, aber er trägt in der Regel die Züge der Gesetzlichkeit.
Er entspricht dem spätjüdischen Verhältnis zur geschriebenen Thora.
Von dieser Art von Unmündigkeit hat uns das Evangelium nach Pau-
lus gerade freigemacht.
Selbstverständlich wollten die alten Theologen mit der Formulie-
rung jenes Prinzips: Quidquid usw. nicht eine solche gesetzliche Hal-
tung vertreten. Sie weisen ja im weiteren Verlauf ihres locus de Sacra
Scriptura selbst darauf hin, daß die Schrift nicht gesetzlich als Norm
angenommen wird, sondern durch das testimonium Spiritus sancti
internum, also im inneren überführtwerden durch die Autorität Got-
tes selbst, Geltung gewinnt und ihre Autorität beweist. Dann muß
man aber sofort hinzufügen, daß der Geist eben der Geist ist, der
(M/35) Erwägungen zur kanonischen Bedeutung des NT 267
Christus gegenwärtigt. Das testim.onium des Geistes ist nach dem
Neuen Testament selbst stets inhaltlich auf Christus und das Evan-
gelium bezogen (Joh. 14, 26; 15, 26), nicht auf irgendeine formale
Größe, deren Geltung ihrerseits erst wieder den Glauben an Christus
begründen müßte. Dies wollten, wie gesagt, die alten Theologen mit
der Formulierung jenes Prinzips auch kaum behaupten; I sie formu-
lierten es im Interesse wissenschaftlicher Durchgestaltung der Theo-
logie als axiomatischen Hinweis auf eine klar umschriebene, formal
abgrenzbare Größe, von der aus die Geltung dogmatischer Sätze
streng deduziert werden kann. Aber es ist eben die Frage, ob die
Theologie eine solche formal umschriebene Deduktionsgrundlage ha-
ben kann und soll. Jedenfalls entspricht die prinzipielle Voranstel-
lung des Satzes "Quidquid ... "weder dem Selbstzeugnis des Neuen
Testamentes noch der geistlichen Wirklichkeit des Vorgangs, wie
durch das Werkzeug der Schrift Glaube entsteht. Somit ist er als theo-
logischer Ausdruck der Bedeutung der Schrift für den Glauben unan-
gemessen.
c) Unangemessen ist das Postulat, kraftihrer Inspiration seien alle
Aussagen der Schrift, eingeschlossen weltbildliehe und historische An-
gaben, Verfasserschaftsangaben usw. von Irrtum frei. Es ist in einer
mehrhundertjährigen Geschichte wissenschaftlicher Erforschung der
Natur, Geschichte usw. einerseits, der Bibel andererseits zutage ge-
treten, daß diesem Postulat die biblische Wirklichkeit nicht entspricht.
Das muß man zugeben, auch wenn man vielen scheinbar wissenschaft-
lichen Ergebnissen bis auf weiteres kritisch gegenüberstehen mag.
Wir sollten darin theologisch auch nicht nur das mehr oder weniger
unbequeme Resultat menschlicher Wissenschaft, sondern zugleich die
Korrektur Gottes selbst an unseren theologischen Theorien und Postu-
laten hinnehmen: Ihm hat es offenbar gefallen, die Bibelzeugnisse in
jener nicht-irrtumslosen Gestalt nun dennoch als Werkzeug jenes spe-
zifischen Wirkens zu gebrauchen, von dem wir gesprochen haben.
Denn auch was menschliche Wissenschaft uns in korrektem Aufweis
mit denjenigen Erkenntnismitteln, die wir im Glauben doch als von
Gott dem Menschen zur Anwendung verliehen sehen, als eben so und
nicht anders gegeben aufzuweisen vermag, gehört zu der Wirklich-
keit, die Gott so werden ließ, wie sie wurde, und so sein läßt, wie sie
ist, mit der wir also letztlich von ihm her konfrontiert sind und uns
abzufinden haben. Jeder Theologe würde das bejahen, wenn es sich
um wissenschaftliche Erkenntnisse handelt, die sich auf Gegebenhei-
ten außerhalb des biblischen Bereiches beziehen. Auch die alten Theo-
logen haben nicht daran gedacht, etwa aus der Tatsache der Sünde
eine grundsätzliche wissenschaftsskeptische Haltung abzuleiten. Dann
gilt dasselbe auch für kritische wissenschaftliche Ergebnisse hinsieht-
WILP'I\IED JoEST [35/36)

lieh der Richtigkeit biblischer Vorstellungen, soweit diese sich auf


Dinge beziehen, die überhaupt einer wissenschaftlichen Nachprüfung
unterliegen. Wir können solche Ergebnisse auch hier nur ablehnen,
wenn sie eben nicht korrekt nachgewiesen sind- d. h. aus Gründen
mangelnder wissenschaftlicher Evidenz, die uns auch gegenüber Be-
hauptungen auf außerbiblischem Gebiet zu einer entsprechenden
Skepsis veranlassen müßten; wir können sie nicht deshalb ablehnen,
weil sie sich kritisch auf etwas beziehen, was "in der Bibel steht".
Sonst müßten wir entweder eben jene grundsätzlich wissenschafts-
skeptische Haltung beziehen - woran im Ernst kein Theologe denkt
-, oder aber behaupten, die wissenschaftlichen Kriterien seien in be-
zug auf die Bibelzeugnisse als geschichtjliche und geschichtlich be-
dingte Gestalt menschlicher Äußerungen prinzipiell unanwendbar.
Sind sie aber dann noch wirklich menschliche Äußerungen?
Nun hing das Postulat der unbedingten lrrtumslosigkeit ja in der
Tat mit jener unmittelbaren Identifizierung von Schriftwort und
Selbstwort Gottes zusammen, über deren Problematik wir bereits
sprachen. Zu jenem Postulat konnte es nur kommen- und mußte es
dann kommen-, wenn man davon ausging: hier redet Gott selbst un-
ter Ausschaltung der menschlichen Bedingtheit seiner schreibenden
Amanuensis. In dem Augenblick, in dem die Unangemessenheit die-
ser Vorstellung erkannt ist, in dem also erkannt ist: hier ist mensch-
liches Zeugenwort, das in seiner vollen Menschlichkeit dem Selbst-
wort Gottes als Werkzeug dient, ist der Weg frei, die geschichtliche
Bedingtheit jener Menschen, die hier reden, mit einzubeziehen -
damit auch die Grenzen ihres kosmologischen und historischen Wis-
sens, ihrer Methoden historischer Berichterstattung, ihrer exegetischen
Methoden usw. und deren Abstand von heutigem VVissen und heuti-
gen Methoden (wobei es gut ist, sich zu erinnern, daß auch das "Heu-
tige" für spätere Geschlechter überholt sein wird). Dieses Menschliche
der Schriftzeugnisse wird also von dem Göttlichen, dessen Werkzeug
sie sind, nicht verdrängt. Es kann aber auch seinerseits das göttliche
Wirken nicht verdrängen. Zugespitzt gesagt: Gott spricht sein die
Kirche bei der Wahrheit seiner Selbsterschließung in Christus erhal-
tendes Wort durch die Schrift nicht nur da, wo etwa "Inseln" histo-
rischer oder sonstiger Irrtumsfreiheit zu fmden sind. Er spricht es
auch durch die menschlichen Irrtümer der biblischen Zeugen hin-
durch. Die Frage bleibt, ob wir postulieren können, daß dies durch
alle Teile des Schriftzeugnisses hindurch geschieht. Anders und wie-
der in Beschränkung auf den neutestamentlichen Kanon gesagt: ob
jedes Element der neutestamentlichen Schrift, unangesehen die
Problematik seines frühen oder späten, im historischen Sinn "jesuani-
schen" oder gemeindetheologischen Ursprungs, unangesehen auch
(36/~7] Erwägungen zur kanonischen Bedeutung des NT 269

die sonstige Problematik seiner menschlichen Bedingtheit, kraftseines


Enthaltenseins im Neuen Testament in seinem theologischen Aus-
sagegehaltals Ausdruck des wahren, exemplarischen Glaubenszeug-
nisses anzunehmen ist, das Gott zum Werkzeug seines erweckend-er-
haltend-kritischen Wirkensan der Kirche dient.
d) Wir meinen, daß auch dieses Postulat unangemessen wäre.
Zwar hatten wir festgestellt, daß in einer theologischen Beurtei-
lung der menschliche Prozeß der Kanonsdefinierung nicht nur als
menschliche Maßnahme, sondern zugleich als Gabe und Wirken Got-
tes an der Kirche zu verstehen ist. "In, mit und unter" der mensch-
lichen Maßnahme hat Gott selbst in der Kirche jenes Werkzeug ein-
und durchgesetzt. Das menschliche Geschehen der Kanonsdefmierung
ist als Annahme und Anerkennung dieses Gottesaktes zu verstehen.
Es bleibt aber als diese Anerkennung ein menschlicher Vollzug,
dem als solchem ebensowenig Unfehlbarkeit zukommt wie irgend-
einer anderen menschlichen Äußerung oder Maßnahme in der Kirche.
Es kann also nicht postuliert I werden, der kirchliche Vollzug der Ka-
nonsabgrenzung müsse in seinem schließliehen Ergebnis absolut
deckungsgleich sein mit jenem besonderen Wirken Gottes, das das
exemplarische Glaubenszeugnis entstehen ließ, seine Bedeutung in
der Kirche durchsetzte und es nun als erweckend-kritisches Werkzeug
gebraucht. Es wird zumindest damit zu rechnen sein, daß in die Gren-
zen des kirchlich festgelegten Neuen Testamentes auch Elemente ein-
getreten sind, die nicht exemplarisches, sondern verdunkeltes Glau-
benszeugnis sind, die dem Gottessinn der Sendung Jesu nicht entspre-
chen, die also aus jenem Gotteswirken ihrer Entstehung wie ihrer
Wirksamkeit nach herausfallen. Man hat ja in der Kirche auch nie
alle Bestandteile der Bibel, nicht einmal alle Bestandteile des Neuen
Testamentes, zum Predigttext gemacht. Offenbar kann man das
nicht. Und wo man dennoch die ganze Bibel von A bis Z durchpre-
digen wollte, würde das an gewissen Punkten gar nicht abgehen ohne
gewaltsame Um- und Eindeutungen. Damit soll nicht gesagt sein,
daß die Feststellung eines einzelnen Predigers oder Theologen oder
auch der Konsens einer ganzen Gruppe oder Epoche der Kirche über
die geistliche Unfruchtbarkeit eines Textes ein sicheres Kriterium da-
für abgäbe, daß dieser Text definitiv nicht zum "eigentlichen" Kanon
gehört und der Selbstgegenwärtigung des Wortes Gottes nie zum
Werkzeug dienen kann. Der Eindruck geistlicher Unfruchtbarkeit
kann auch in der Enge der Theologie oder der persönlichen Glaubens-
erfahrung des betreffenden Beurteilcrs gelegen sein. Er kann darin
begründet sein, daß der Text in eine andere "Situation" der Kirche
hinein redet als die gegenwärtig gegebene. Wir wenden uns lediglieb
gegen das dogmatische Postulat, es müsse jedes Element des Neuen
270 WILPlUED JoBST [37 /38]

Testamentes (erst recht des Alten) kraftseines Enthaltenseins in die-


sem kanonische Bedeutung im Sinne jenes Gotteswirkens durch das
Werkzeug der Schrift haben, und solche Bedeutung müsse gar jeder-
zeit methodisch zu erheben sein. Gegenüber solchen quasi-juristischen
Feststellungen ist das Geheimnis und die Lebendigkeit des göttlichen
Wirkens durch die Schrift zu wahren. Im übrigen meinen wir, daß
man mit einem definitiven Urteil über das "Unkanonische" in der
Schrift sehr viel vorsichtiger sein sollte als es die heutige Theologie
weithin ist. Aber damit rühren wir an ein Problem, das im folgenden
Abschnitt noch etwas weiter verfolgt werden soll.

lll. Die Bedeutung der historisch-kritisd~.en Forschung für die


kanonische Wirksamkeit des Neuen Testamentes, und ihre Grenze

Es kann vermessen erscheinen, zu dieser Frage auf wenigen Seiten


etwas zu sagen. Aber wir können sie nicht umgehen, wenn wir uns
über die kanonische Bedeutung des Neuen Testamentes Rechenschaft
geben wollen. Denn wir tun dies in einer Situation, die durch
die Wirksamkeit historisch-kritischer Erforschung des Neuen Testa-
mentes bestimmt ist. Wir müssen also die Frage stellen, was die Tä-
tigkeit und die Ergebnisse dieser Forschung für die kanonische Wirk-
samkeit der Schrift besagen können und was nicht. Dabei kann es sich
hier I wie schon im bisherigen nur um die thesenartige Formulierung
einiger grundsätzlicher Einsichten handeln.
Voranzustellen ist die Erkenntnis, daß es keinen legitimen theolo-
gischen Grund geben kann, die Anwendung historisch-kritischer Fm-
gestellungen auf die biblischen Schriften a limine abzuweisen. Sonst
müßte folgerichtig die Berechtigung historisch-kritischer Forschung
auch im profanen Anwendungsbereich theologisch in Frage gestellt
werden, oder aber es müßte den Schriftzeugnissen die Eigenschaft ab-
gesprochen werden, ein menschlich-geschichtliches Phänomen zu sein
(eine Art von Doketismus hinsichtlich der Bibel, der letzten Endes auf
den Doketismus hinsichtlich des Menschseins und der Geschichte Jesu
zurückführen müßte). Daß und warum eine solche Alternative ge-
rade aus theologischen Gründen nicht gangbar ist, wurde im vorher-
gehenden Abschnitt bereits erörtert. Kann es aber keinen Gmd geben,
die Anwendung historisch-kritischer Forschung von der biblischen
Schwelle abzuweisen, dann bedeutet dies, daß ihre Ergebnisse auch in
der Anwendung auf biblische Gegebenheiten in dem Maße anzu-
nehmen sind, in dem sie wirklich begründet werden können und von
dem Theologen, wenn es sich um einen außerbiblischen Forschungs-
gegenstand handelte, als begründet angenommen würden. Ich sehe
(38/39] Erwägungen zur kanonischen Bedeutung des NT 271

keine Möglichkeit, an dieser Konsequenz vorbeizukommen. Histo-


risch-kritische Forschung wurde freilich faktisch oft mit der destruk-
tiven Tendenz betrieben, die Offenbarungsqualität der Schrift zu be-
streiten. Das mußte auf der Seite derer, denen die Schrift das Werk-
zeug des Wortes Gottes ist und bleibt, die apologetische Tendenz her-
vorrufen, ihrerseits diese Forschung und ihre Ergebnisse zu bestrei-
ten. Aber historisch-kritische Forschung, die sachlich bleibt, muß nicht
jene destruktive Tendenz haben. Ja sie wird einsehen, daß sich jene
Offenbarungsqualität ihren Beobachtungs- und Feststellungsmög-
lichkeiten grundsätzlich entzieht. Darum muß auch der Glaube nicht
jene apologetische Tendenz haben. Sie widerspricht seinem Wesen
als Glauben, weil ihr geheimes Motiv die Angst ist, was "herauskom-
men könnte". Glauben wir wirklich der Selbstbezeugung Gottes in
Christus, die uns durch die Schrift begegnet, dann sollte darin die Ge-
wißheit eingeschlossen sein, daß bei einer sachlichen Erforschung der
Schrift als geschichtliches Phänomen nichts "herauskommen" wird,
was die Selbstbezeugung Gottes vernichtet. Glauben wir das nicht,
so wäre der Glaube, der apologetisch verteidigt werden soll, schon in
der Wurzel gebrochen. Es muß das Ziel einer evangelischen Lehre
vom Bibelkanon sein, die furchtlose Offenheit für das, was histo-
rische Forschung in sachlicher und begründeter Beobachtung an der
Schrift wahrnehmen kann, zu vereinigen mit der ungebrochenen Ge-
wißheit, daß durch diese Schrift hindurch wirklich das die Kirche un-
ter dem wahren Christuszeugnis erhaltende Wirken Gottes geschehen
ist, geschieht und weiterhin geschehen wird.
Es bleibt die Frage, ob und inwiefern historische Forschung an der
Schrift mehr sein kann als eine zu tolerierende, aber theologisch ir-
relevante Randerscheinung; inwiefern sie also gerade für die kano-
nische Wirksamkeit der ISchrift, für jenes durch sie geschehende Wir-
ken Gottes einen Dienst zu leisten hat. Um diese Frage zu beantwor-
ten, sind verschiedene Schichtungen in der historisch-kritischen Frage-
stellung gesondert zu betrachten.
a) In einer ersten Schicht wird sich diese Fragestellung auf die ur-
sprüngliche Gestalt der Texte richten. Diese textkritische Schicht der
historisch-kritischen Untersuchung sei hier nicht weiter besprochen
,_ sie bietet, soweit wir sehen, kein gravierendes theologisches Pro-
blem.
b) In einer zweiten Schicht richtet sich die historische Fragestellung
auf die ursprüngliche Meinung der Texte. Sie fragt also etwa: Was
wollte der Verfasser wirklich sagen mit dem, was er schrieb? Welche
geschichtliche Situation steht hinter der Entstehung der Aussage,
und wie ist ihr Sinn im Bezug dieser Situation zu verstehen? Wird
die kritisdle Frage so gestellt, so zielt sie darauf ab, zu verhindern,
272 WILPl\IED JoEST [~/40]

daß wir von Voraussetzungen aus, die nicht die der Verfasser waren,
Texte umdeuten.
Es ist klar, daß kritische Forschung unter dieser Fragestellung
kirchlich und theologisch keineswegs belanglos ist. Indem historisch-
kritisch die ursprüngliche Meinung des Textes herausgestellt wird,
kann dies dem Treffen des Wortes Gottes durch das Wort der Schrift
dienen. Die kritische Verdeutlichung seines ursprünglichen Sinnes
kann einen Text zunächst fremd erscheinen lassen; aber gerade so
kann es dazu kommen, daß dieser Text zum Werkzeug der Einrede
Gottes selbst in das eigene oder traditionelle Gedankengefälle wird-
daß er also wirklich in seine "kanonische" Funktion eintritt. Als Bei-
spiel sei an Luthers Entdeckung des genuinen Sinnes von dikaiosyne
theou im Römerbrief erinnert; oder auch an die starke theologische
Wirksamkeit, die von der Wiederentdeckung des Eschatologischen
im Neuen Testament durch die religionsgeschichtliche Schule (und
z. T. gegen deren eigene theologische Intentionen) ausgegangen ist.
Daß diese Wirkung eintritt, ist freilich kein methodisch zu errei-
chendes Forschungsergebnis. Die historische Forschung kann ja immer
nur zeigen, was Menschen, nämlich die biblischen Schriftsteller, da-
mals wirklich sagen wollten und gesagt haben. Daß und was Gott
selbst durch dieses geschichtlich genau gehörte Menschenzeugnis ge-
sagt hat und der Kirche heute zu sagen hat, entzieht sich der wissen-
schaftlichen Feststellung. Diese muß also nicht zum neuen Reden und
Hören des V\'ortes führen, sondern es kann ihren Ergebnissen gegen-
über bei der Befremdung über den ursprünglichen Sinn des Textes
bleiben, oder beim rein historischen Interesse. Unterlassen wir aber
die Frage nach der ursprünglichen Meinung des Textes, so schieben
wir, so viel an uns ist, auch seinem Treffen als Werkzeug des Wortes
Gottes einen Riegel vor. Denn wenn Gott durch dieses Werkzeug re-
det, so doch durch das, was Paulus, Johannes usw. wirklich sageil
wollten- nicht durch das, was wir (auf Grund einer Tradition, diE
ja gerade dem kritischen Wirken der Schriftzeugnisse ausgesetzt wer·
den soll) meinen, daß sie hätten sagen wollen. Es sei zugegeben, daE
auch historische Forschung meinen kann, etwa als die ursprünglichE
Meinung des I Textes festgestellt zu haben, was in Wahrheit aus de1
Meinung des Exegeten darüber stammt, was der Verfasser allein ge·
meinthaben könne. Dann wird solche Forschung unkritisch. Aberdaf
dies faktisch geschehen kann, entbindet nicht von der Feststellung, da{
die kritische Frage nach dem historisch ursprünglichen Sinn der Texte
möglich und theologisch notwendig ist. Abusus non tollit usum.
c) Eine dritte Schicht kritischer Fragestellung kommt in Frage
sofern es sich in den Texten um Berichte über ein Geschehen handelt
im Neuen Testament also vor allem den Evangelien gegenüber. Di~
[40/41] Erwägungen zur kanonischen Bedeutung des NT

Fragestellung wird sich dann über die geschichtliche Meinung des


Textes hinaus auf die geschichtliche Tatsächlichkeit des berichteten
Geschehens richten. Diese Frage mag für weite Bezirke biblischer Ge-
schichtsberichte theologisch unerheblich sein; für die Evangelienbe-
richte der Geschichte Jesu führt sie in eine eigentümliche Proble-
matik. Auf der einen Seite wollen diese Berichte die wirkliche Ge-
schichte des wirklichen Menschen Jesus bezeugen, und es ist für das
neutestamentliche Glaubenszeugnis von Christus als dem auferweck-
ten und erhöhten Herrn wesentlich, daß es sich auf die Geschichte
dieses wirklichen Menschen zurückbezieht. Auf der andem Seite läßt
historische Forschung uns erkennen, daß dieser Geschichtsbericht so-
wohl in der Darstellung der Ereignisse wie in der Wiedergabe der
Worte Jesu mit unhistarischen Zügen durchwachsen ist, in denen das
Glaubensverständnis sich ausspricht, das die Gemeinde im Lichte
der Ostererfahrung von Jesus und seiner Sendung als der Christus ge-
wann. Das ist bekannt und muß hier nicht näher ausgeführt werden.
Indem historische Forschung diese Durchwachsenheit der Berichte mit
unhistarischen Zügen beobachtet, hat sie gewiß oft über das Ziel ge-
schossen und wird das weiterhin tun, aber in vielem ist sie zu be-
gründeten Ergebnissen gelangt. Damit bleibt hier eine grundsätz-
liche Frage gestellt, wie immer man sich im einzelnen gegenkritisch
zu der oder jener hyperkritischen These stellen mag.
Diese Frage lautet: Welche Bedeutung kann historische Forschung
in ihrer Eigenschaft als Frage nach der geschichtlichen Wirklichkeit
Jesu für das Hören des Wortes Gottes im neutestamentlichen Chri-
stuszeugnis haben?
Sie hat zunächst jedenfalls die Bedeutung, festzuhalten, daß der
erhöhte Christus nicht Chiffre einer bloßen Idee, sondern der Jesus
ist, der als wirklicher Mensch eine wirkliche Geschichte unter Men-
schen gehabt hat, und daß der Glaube an ihn, nicht an einen abstrak-
ten theologischen Gehalt, gebunden wird. Eben weil er wirklicher
Mensch ist, darum kann man auch nach dem "historischen" Aussehen
seiner Geschichte fragen. Könnte man es nicht, so wäre er nicht wirk-
licher Mensch gewesen; und wollte man diese Nachfrage abstellen,
so wäre man wieder auf dem Wege zum- diesmal unmittelbar chri-
stologischen - Doketismus.
Damit ist vorerst nur etwas über die Bedeutung des "daß" der hi-
storischen Nachfrage gesagt. Welche Bedeutung kann aber der Tat-
sache zukommen, daß I diese Forschung zur Feststellung unhistari-
scher Züge der Berichte führt? Sie lehrt dadurch das Glaubensver-
ständnis Jesu und seiner Sendung, das sich im Neuen Testament aus-
spricht, von dem, was an Jesus auch mit dem Auge des unbeteiligten
Beobachters gesehen werden konnte, zu unterscheiden. Diese Unter-

18 Käsemann, Kanon
274 W.ILFIUED JoEST [41]

scheidung wird immer unvollkommen bleiben, weil ein vollständiges


und exaktes Bild der historischen "Erscheinung" der Geschichte Jesu
kaum zu erreichen ist; aber bis zu einem gewissen Grade ist sie mit
dem, was auf diesem Gebiet gesichert festgestellt werden kann, tat-
sächlich gegeben. Die Herausstellung der "unhistarischen" Züge der
Berichte, in denen sich nun gerade das Glaubensverstehen Jesu als
des Christus ausspricht, kann dieses selbst in seiner Intention und
Aussage als Christusbekenntnis schärfer hervortreten lassen. Viel-
leicht darf man hier noch einen Schritt weiter gehen. Die Differenz
zwischen historisch sichtbarer Wirklichkeit und Christusbekenntnis,
wie sie die Forschung sehen läßt, könnte dazu dienen, die konkrete
Gestalt des status exinanitionis dessen, dem dieses Bekenntnis gilt,
damit die innere Spannung, das "Dennoch" des Bekenntnisses zu ihm
als dem Christus, zu verdeutlichen - diese Spannung, die durch die
Hoheitsaussagen über den Erhöhten und Fantokrator ja auch ver-
deckt werden kann und im Christusbild der Kirche zeitweilig verdeckt
war. Was "historisch" sichtbar wird, kann die Hoheitsaussagen als
Aussagen des Glaubens niemals aufheben; es kann aber dazu dienen,
den Blick zu schärfen für die Spannung zwischen Jesu Teilhabe an
unserer Schwachheit und der gerade darin wirkenden Gotteskraft.
Auch hierzu muß freilich gesagt werden: Historische Erhellung der
Wirklichkeit Jesu ist kein methodischer Weg, die Gotteskraft in der
Niedrigkeit zu erkennen. Sie kann auch dazu führen, daß man sagt:
Er war ein bloßer Mensch, und sich von dem Ernstnehmen der dui.-
stologiseben Hoheitsaussagen für dispensiert hält. Daß die Gottes-
kraft in der Niedrigkeit erkannt wird, ist das Werk des Redens Gottes
durch die Schrift, nicht die Sache der Frage des Historikers nach dem
historischen Aussehen der Geschichte Jesu, die hinter den neutesta-
mentlichen Zeugnissen steht. Würden wir aber umgekehrt diese
Frage verbieten, so könnte es sein, daß wir uns damit weigern, die
Niedrigkeit dessen zu sehen, in dem die Gotteskraft wirkt.
Nicht dagegen kann die Rückfrage nach dem Historischen der neu-
testamentlichen Berichte, nach den im historischen Sinne "echten" Je-
susworten usw. den Sinn haben, mit der Unterscheidung des Histori-
schen und Unhistarischen eo ipso auch das eigentlich Maßgebliche
im Neuen Testament vom Unmaßgeblichen zu unterscheiden; als ob,
was unhistarisch ist, eben damit auch als Verfälschung der Wirklich-
keit Jesu als des Christus zu beurteilen wäre. Denn auch nach histori-
schen Maßstäben "legendäre" Züge der Berichte, "unechte" Jesus-
worte können in ihrem bekennenden Aussagegehalt wahres Zeugnis
von Jesus als dem Christus sein, das von Gott selbst als Glaubensant-
wort auf seine Selbsterschließung in Christus erweckt ist und seinem
Wirken am Glauben der Kirche als Werkzeug dient.!
[42] Erwägungen zur kanonischen Bedeutung des NT 275
d) Aber nun muß die schon mehrfach angedeutete Frage endgültig
aufgegriffen werden: Kann das von dem Aussagegehalt jeglichen
Elementes der neutestamentlichen Zeugnisse gesagt werden? Damit
stoßen wir auf eine vierte und letzte Schicht in der Fragestellung hi-
storisch-kritischer Forschung. Diese erwächst aus dem, was in den bis-
her besprochenen Frageebenen zutage trat: Bei der Feststellung, was
die Texte, nicht durch die eventuell ungeschichtlich harmonisierende
Brille kirchlicher Tradition gesehen, sondern auf ihre ursprüngliche
Situation und Meinung befragt, sagen wollen, stellt sich eine große
Mannigfaltigkeit ihres theologischen Aussagegehaltes heraus. Nicht
nur Verschiedenheiten, sondern auch Widersprüche zeigen sich. Mat-
thäus hat eine andere Theologie als Paulus. Wieder eine andere hat
Lukas, ganz zu schweigen von dem Problem Paulus-Jakobus. Das
Feststellen von Unterschieden und Widersprüchen kann freilich auch
zur Manie werden und über wirklich begründete Beobachtungen hin-
ausführen in das Reich der Konstruktion (die dann nicht selten ebenso
"dogmatische" Gründe haben kann wie die apologetische Abwehr
historischer Beobachtungen). Aber auch hier wieder: Abusus non tollit
usum. Die historisch-kritische Forschung hat uns gelehrt, erhebliche
theologische Unterschiede im Neuen Testament zu sehen; auch wenn
man Übertreibungen in Rechnung stellt, bleiben deren noch genug.
Die Frage lautet also nun: Wennschon die Unterscheidung von Hi-
storischem und Unhistarischem nicht bereits gleichbedeutend sein
kann mit der Unterscheidung von Kanonischem und Unkanonischem,
weil auch das unhistarische Element auf seinen theologischen Aus-
sagegehaltgesehen wahres Glaubenszeugnis sein kann- nötigt nicht
die Entdeckung der Unterschiede gerade im theologischen Aussage-
gehalt selbst nun doch zu einer theologisch-kritischen Unterscheidung
innerhalb des gegebenen Neuen Testamentes? Muß diese nicht ge-
übt werden, wenn tiian sich nicht damit zufrieden geben will, daß
der Kanon statt der Einheit der Kirche die Vielfalt der Konfession
begründet? Aber welches wäre dann das Kriterium dafür, wo inner-
halb jener Unterschiede das wahre und wo das verdunkelte Glaubens-
zeugnis zu suchen ist?
Hier wird man an das Kriterium Luthers denken: Kanonisch ist,
"was Christum treibet"; und dies bedeutet für ihn bekanntlich: was
der Verkündigung der Rechtfertigung aus Gnade in Christus zuge-
hört. Einige Schriften des Neuen Testamentes hat Luther bekanntlich
von daher abzuwerten gewagt. Ist hier nicht schon der Ansatz und zu-
gleim der Maßstab solcher theologisch-kritischen Unterscheidung
innerhalb des Kanons gegeben? Die heutige Kritik, sofern sie zur
theologischen wird, pflegt sich denn auch auf diesen Ansatz und Maß-
stab Luthers zu berufen. Aber was kann das heißen: Christum trei-

I&•
276 WILFRIED J OEST [42/40]

ben? Das bedürfte einer eingehenden Erwägung, für die an dieser


Stelle nur einige Thesen bereitgestellt werden können.
a) Der Satz, kanonisch sei, was Christum treibet, ist zu bejahen.
Das folgt aus dem, was wir in der Auseinandersetzung mit dem For-
malprinzip "Quidquid Sacra Scriptura ... " bereits festgestellt hatten:
Wir glauben dem neuitestamentlichen Zeugnis nicht aus formalen
Gründen, sondern wir glauben ihm als dem Werkzeug, durch das uns
bisher Christus als Gottes Lebenswort begegnet ist und durch das wir
solches Begegnen weiterhin erwarten.
ß) Christum treiben heißt in der Tat: ihn als den Giund und Trä-
ger der Rechtfertigung aus Gnade verkfuidigen. Wir halten die pau-
linisch-reformatorische Rechtfertigungsverkündigung in der Sache
wirklich für die zentrale Auslegung des in JesU:s Christus gespro-
chenen Wortes Gottes auf un.Sere Existenz hin (unter der Bedingung
freilich, daß dabei die RechtfertigUng nicht von der Bindung an Je-
sus als den Personträger der Gnadengegenwart des rechtfertigenden
Gottes abgelöst; daß Jesus also nicht nur als der erste Prediger der
Rechtfertigung verstanden wird). Dabei soll nicht .verkannt werden,
daß dasselbe Zentrum im Neuen Testament auch in anderen Gestal-
ten als der paulinischen hervortritt, etwa in der johanneischen Ter-
minologie von Christus als dem Leben oder in der synoptischen Dar-
stellung des Verhaltens Jesu zu den Sündern. Ob die Rechtferti-
gungsterminologie heute noch verstanden wird oder der Übersetzung
in andere Ausdrucksformen bedarf, ist eine andere Frage, die das Ur-
teil über die zentrale Bedeutung der hier gemeinten "Sache" u. E.
nicht berührt.
y) Das Christum-treiben der neutestamentlichen Zeugnisse ist nun
aber nicht nur als Lehre von der Rechtfertigung in Christus zu ver-
stehen, sondern als V erkündigungsgeschehen, wodurch Menschen der
Rechtfertigung-"zugetrieben" oderwodurch sie Christo zugetrieben,
unter ihn herangeholt oder zurückgeholt werden. Das gilt sowohl für
das Reden dieser Zeugnisse, die ja durchweg Verkündigung sind, zu
ihren ursprünglichen Adressaten wie für das Reden Gottes durch das
Werkzeug dieser Zeugnisse zu der Kirche in allen späteren Zeiten:
Sofern es sich dabei wirklich um Christum treiben handelt, geht es
darum, daß sie wie wir in den Vollzug unserer Rechtfertigung aus
Gnade in Christus gebracht oder in ihn zurückgebracht werden. .
B) Wenn dem so ist, dann kann zu dem, was Christllllf treibet, in
den neutestamentlichen Schriften jedenfalls, nicht nur das gehören,
was als direkte Aussage über Christus und die Rechtfertigung selbst
verstanden werden kann. Es werden auch Aussagen anderer Wahr-
heiten laut werden: über den Menschen, die Sünde, .das Gericht, den
Zorn Gottes; andererseits über das in der Rechtf~rtigung eröffnete
[43/44] Erwägungen zur kanonisdlen Bedeutung des NT 277

neue Leben und seine konkreten Gestalten, über die Gemeinschaft


der Christo Zugehörenden und ihre konkreten Gestalten usw. Nennen
wir dies die existentiellen Voraussetzungen und Folgesetzungen des
Rechtfertigungsgeschehens. Nur in ihrem Kontext kann dieses Ge-
schehen selbst so zur Sprache kommen, daß es zugleich zum Vollzug
kommt.
E) Man könnte nun zu folgender Auffassung neigen: Die Aussagen
über diese Voraussetzungen und Folgesetzungen werden, soweit im
Neuen Testament wirklich Christus getrieben wird, sachlich überall
dieselben sein müssen, weil Voraussetzungen und Folgerungen der-
selben Sache für alle Menschen dieselben sein müssen. Wenn hier
Unterschiede und Spannungen auftreten, wäre I dann von der "Mit-
te" her zu entscheiden, welches diejenige Aussage ist, die im wahren
inneren Verhältnis zu der Rechtfertigung in Christus steht, und
welche nicht. Diese Annahme ist jedoch nicht zutreffend. Jene Aus-
sagen werden nicht überall dieselben sein, weil die Menschen, die
Christo zugetrieben werden sollen, sowohl in den im Neuen Testa-
ment unmittelbar angesprochenen Urgemeinden als in den späteren
Geschlechtern der Kirche, an denen das Neue Testament zum Werk-
zeug jenes erweckend-kritischen Gotteswirkens werden soll, verschie-
den sind und in verschiedenen Situationen leben. Es gibt gewiß das,
worin alle in gleicher Weise vor Gott stehen. Es gibt aber innerhalb
dieses Gemeinsamen auch tiefgreifende Unterschiede. Daß wir Sün-
der sind, gilt für alle; wie wir es sind, darin sind die Einzelnen und
die Zeiten sehr verschieden. Was Gottes Gebot letztlich meint, ist für
alle eines; in welcher konkreten Zuspitzung wir für dieses eine jeweils
beansprucht werden, das kann sehr verschieden sein. Das Wort redet
nicht in abstrakter Allgemeinheit obenhin, sondern es trifft in die
konkrete Situation hinein und redet daher in verschiedener Weise.
Ist sein Ziel immer das eine: Menschen unter ihre Rechtfertigung in
Christus zu führen, so sind die Wege dahin in dem Maße verschieden,
als die Mensmen und ihre Lagen verschieden sind. Es ist also inner-
halb der neutestamentlichen Verkündigung mit situationsbedingten
Divergenzen zu redl.nen, die die Einheit des "Skopus" nimt aufhe-
ben, die aber dem, der von der Umgrenzung durm seine eigene Si-
tuation her auf diesen Skopus blickt, u. U. als dem Skopus fremd er-
scheinen können. Aum der heutige Theologe lebt ja nicht in einer
Vogelschau, aus der er alle menschlichen Situationen, auf die die
Mannigfaltigkeit neutestamentlicher Verkündigung sich bezieht,
durchschauen würde.
~) Wird man dies zugeben, so wird man nun vielleicht meinen, es
müsse die neutestamentliche Verkündigung wenigstens in der Aus-
sage der Sachmitte selbst, auf die jene Voraussetzungs-und Folgeaus-
278 WlLFI\IED JOEST (44/45]

sagen hinweisen bzw. zurückweisen- nämlich in der Frage, wie wir


vor Gott ins Rechte kommen-, von logisch einheitlicher Gestalt sein.
Sofern sie es nimt ist, müsse man hier jedenfalls entscheiden, welmer
Aussage man als der wirklich "Christum treibenden" folgen will und
welcher nicht. Nun treten aber gerade in dieser Mitte gegensätzliche
Aussagen hervor, zwischen denen wir nicht optieren können, die wir
vielmehr zusammenbehalten müssen, weil sie zwar auf der logischen
Ebene (scheinbar, vielleicht auch wirklich) sich stoßen, im Existenz-
geschehen der Rechtfertigung in Christus aber zusammengehören.
Wir sprechen hier im Unterschied zu jenen situationsbedingten Di-
vergenzen von sachbegründeten (in der "Sache" des Evangeliums be-
gründeten) Paradoxien. Die Pole solcher Paradoxien können nun in
einzelnen Elementen neutestamentlicher Verkündigung u. U. wieder-
um situationsbedingt einseitig hervortreten. Diesem Tatbestand
müßte in gründlicher exegetisch-systematischer Untersuchung ge-
nauer nachgegangen werden. Wir können diese Untersuchung hier
nicht führen; statt dessen nur zwei Hinweise: Wir hören im Neuen
Testament, daß Gott allein Glauben, Wollen und Vollbringen schafft.
Wir hören aber ebenso den Ruf zum Glauben als Ruf an I unsere Ent-
smeidung. Das ist gegensätzlich gespannt, aber im Vollzug des Glau-
bens gehört es zusammen. Kein Glaube, der sich nicht gänzlich auf
Gottes alleinige Macht gerade auch zum Schaffen und Erhalten des
Glaubens verläßt. Und doch kann ich ebensowenig glauben, ohne zu
realisieren, daß es dabei um mein eigenes Hören und Versagen geht.
Wir hören im Neuen Testament, das Gericht ergehe nach unseren
Werken, so daß wir dies als Entscheidung über Leben und Tod ernst
nehmen müssen. Wir hören aber ebenso die Botschaft der Rechtferti-
gung des Sünders aus Gnade in Christus. Das ist auf der Ebene logi-
scher Betrachtung gegensätzlich gespannt- die Versuche einer logi-
schen Synthese haben in der Theologiegeschichte immer wieder zu
einer Abstumpfung der Radikalität und des Ernstes der einen wie
der andem Aussage geführt. Und doch gehört beides im Vollzug des-
sen, daß Menschen Christo zugetrieben werden, zusammen. Im Flie-
hen zu der Gnade ist die Anerkennung des Rechtes Gottes, uns nach
unsern Werken zu richten, existentiell unabtrennbar enthalten. Solche
Gegensätze können also nicht so aufgelöst werden, daß ihre eine Seite
als dem Christum treiben zugehörig zu erkennen, die andere als ihm
fremd abzulehnen wäre.
Wenn wir in einem systematisch-theologischen Werk den Inhalt
des Glaubens entfalten, werden wir bemüht sein, die verschiedenen
Aussagen zusammenzuhalten und reflexiv zu verdeutlichen, wie sie:
einander zugeordnet sind. Aber auch in der theologischen Reflexion
können wir das nie schlechthin situationsentbunden und von iedeJ
(45/46) Erwägungen zur kanonischen Bedeutung des NT 279

Einseitigkeit frei: wir bleiben die Menschen unserer Zeit und ihrer
Fragen. Erst recht kann unmittelbare Verkündigung nicht allseitig
reden, sondern muß das Wort, das Christum und zu Christo treibt,
den Hörenden auf ihren geschichtlichen und persönlichen Ort zu-sa-
gen. Dabei muß u. U. einseitig geredet werden, so wie es dem Men-
schen an diesem seinem Ort nötig ist, ohne daß ihm das "Komplemen-
täre" sofort hinzugesagt werden kann. Das ist eine Erfahrung des
Predigers und Seelsorgers. Wer in der Gefahr steht, die Gnade zu
dem Prinzip zu machen, das die Sünde deckt, dem muß das Gericht
gepredigt werden. Wer unter dieses Gerirht gebeugt ist, dem kann
die Gnade verkündigt werden, die das Gerirht aufhebt. Die Zucht-
losen und Ekstatiker müssen zur Ordnung der Gemeinde gerufen
werden, den Gesetzlirhen muß die Freiheit und der Geist gezeigt
werden, ohne den diese Ordnung zum Schema wird. Da das Neue Te-
stament nicht ein Lehrbuch der Dogmatik, sondern der Niederschlag
vielfältiger Verkündigung auf vielfache geschichtliche "Orte" hin ist,
kann es nicht anders sein, als daß in ihm die eine Botschaft die viel-
fache Gestalt situationsbedingter Divergenzen annimmt, und daß
auch das, was wir sachbegründete Paradoxien genannt haben, nicht
immer so erscheint, daß die Sache selbst in beiden Polen gleirhzeitig
(also in einer dialektisch-systematischen Zusammenschau) zur Sprache
kommt. Es kann ein Wort, ein Kapitel, vielleicht ein ganzer biblis~er
Autor einseitig reden - unter Umständen so, daß diesem Autor selbst
das, was hinzugesagt werden muß und an anderer Stelle der neute-
stamentlichen Zeugnisse auch hinzugesagt ist, nicht I reflex gegen-
wärtig ist. Gerade so aber können diese Zeugnisse jenes Werkzeug
des Handeins Gottes an der Kirche werden, die ja ihrerseits nicht ein
einheitliches Auditorium, sondern geschichtliche Bewegung ist, in der
Gemeinden und Einzelne an den mannigfaltigsten "Orten" stehen.
Nur durch ein vielfältiges Zeugnis hindurch können diese Orte er-
reicht werden.
Nach dem Durchgang durch diese Erwägungen versuchen wir ab-
schließend, zu der Bedeutung der Ergebnisse kritischer Forschung
hinsichtlich der theologischen Divergenzen des Neuen Testamentes
Stellung zu nehmen. Auch dies soll wieder in der Form einiger The-
sen geschehen, die weiterer Ausarbeitung bedürfen.
a) Sofern diese Forschung zunächst die theologische Verschieden-
heit neutestamentlicher Verkündigung unterscheidend feststellt,
kommt ihr die große Bedeutung zu, eben auf deren konkreten, situa-
tionsbezogenen Verkündigungscharakter aufmerksam zu machen. In
dem Maße, in dem sich die Theologie dieser theologischen Vielgestal-
tigkeit des Neuen Testamentes aussetzt, kann sie davon zurückgehal-
ten werden, sich konfessionalistisch zu verengen und das lebendige
280 WILFJUED JOEST (46/47)

Geschehen des Christum-treibens durch ein starres System zu be-


schneiden. Das hat besondere Bedeutung auch für das ökumenische
Gespräch.
ß) Zu der Frage, ob aus dem Unterscheiden auch ein Ausscheiden
bzw. die polemische Abwertung von Elementen des Neuen Testa-
mentes zu folgen hat, ist zunächst zu sagen: Vor dem Ausscheiden
sollte in jedem Fall die Erwägung stehen, ob das theologische Schwie-
rigkeit bereitende Element nicht im Sinne situationsbedingter Di-
vergenz oder sechbegründeter Paradoxie dennoch jenem Zu-Christo-
Treiben eingehören kann, das im Neuen Testament geschieht und
im Wirken Gottes durch das Neue Testament an der Kirche geschehen
soll. Sonst könnte gerade auch auf dem Wege des Ausscheidens (nicht
nur auf dem eines die Unterschiede einebnenden Harmonisierens)
die Enge des theologischen Systems über die Lebendigkeit der Sache
siegen.
y) Es ist damit zu rechnen, daß wir auch nach dem Durchgang
durch diese Erwägung vor Elementen stehen, deren innere Zugehö-
rigkeit zu dem, was uns als die Mitte neutestamentlicher Verkündi-
gung deutlich wurde, wir nicht erkennen können - auch nicht im
Sinne situationsbedingter Divergenz oder sechbegründeter Paradoxie.
Das kann seinen Grund in der persönlichen oder geschichtlichen Be-
grenztheit unseres eigenen Blickpunktes haben. Es kann aber auch
darin begründet sein, daß hier tatsächlich ein Element der Verdunke-
lung des Christuszeugnisses vorliegt, das weder für uns noch je für
andere Zeiten der Kirche zum Werkzeug des seine Selbsterschließung
in Christus vergegenwärtigenden Wirkens Gottes durch die Schrift
gehört. Wir hatten ja darauf verzichtet, die Grenzen des kirchlich
festgestellten Kanons automatisch mit der Grenze jenes göttlid:J.en
Werkzeuges gleichzusetzen.
ö) In dem Fall, der mit der vorhergehenden These ins Auge gefaßt
ist, ist eine gewaltsam passend machende Umdeutung allegorischer
oder sonstiger Art zu unterlassen. Sie stünde mit der Wahrhaftigkeit
im Widerspruch- nämlich I dann, wenn sie nicht mehr "naiv" er-
folgt, wenn vielmehr der genuine Sinn des Textes in kritischer For-
schung erkannt ist.
E) Es ist aber auch ein kerygmatisches oder dogmatisches Geltend-
machen des schwierigen Textes in seinem erkannten genuinen Sinn
zu unterlassen. Denn der Prediger oder Theologe kann nicht etwas
vertreten wollen, was er mit dem Sinn des Evangeliums, das er als
Mitte der Schriftzeugnisse verstanden hat und soweit er es verstanden
hat, nicht vereinbaren kann.
t) Ausdrückliche Polemik gegen solche Schriftelemente wird er aber
zunächst zurückstellen, eingedenk der Möglichkeit, daß es an der
[47] Erwägungen zur kanonischen Bedeutung des NT 281
persönlichen oder situationsbedingten Begrenztheit seines Verstehens
oder seiner geistlichen Erfahrung liegen kann, daß ihm das betref-
fende Element der eigentlichen Botschaft des Neuen Testamentes
fremd und widersprechend erscheint. Er wird sich im allgemeinen
darauf beschränken können, dieses Element in Predigt und Lehre zu
übergehen.
11) Es ist denkbar, daß diese Zurückhaltung aufgegeben werden
muß: nämlich dann, wenn in der Kirche (oder etwa durch sektierende
Gruppen) von einem solchen Schriftelement ein ausdrücklicher Ge-
brauch gemacht wird, um eine Lehre und Haltung zu verbreiten, die
nach der im neutestamentlichen Zeugnis selbst begründeten Einsicht
des Theologen die Erkenntnis des Evangeliums zerstört, um deret-
willen dieses Zeugnis der Kirche gegeben ist. Dann kann es notwen-
dig werden, nicht nur dieser Lehre, sondern auch dem von ihr geltend
gemachten Schriftgrund um der wirklichen Sache des Schriftzeug-
nisseswillen zu widersprechen. Der Theologe nimmt damit aber das
Wagnis einer Entscheidung auf sich, die in letzter Instanz nur von
dem Wirken Gottes selbst durch die Schrift gedeckt werden kann.
Denn dieses ist das eigentliche Subjekt alles dessen, was durch sie
erweckend, erhaltend und kritisch an der Kirche geschieht. Erst im
eschatologischen Ziel dieses "in alle Wahrheit leitenden", Christo zu-
treibenden Wirkens wird endgültig darüber entschieden sein, was
am Werkzeug der Schrift zu seinem Vollzug gedient hat und was
nicht.
GERHARD EDELING

"Sola scriptura" und das Problem der Tradition •


A. Die Verflechtung des "sola scriptura" und des Traditionsproblems
Wird das Problem der Tradition in theologischer Hinsicht erörtert,
so geschieht dies notwendig unter dem Gesichtspunkt, daß und wie
zwischen "der Tradition" und "den Traditionen" zu unterscheiden ist.
Damit wird die Frage nach dem Kriterium maßgeblicher Tradition
zum Brennpunkt des theologischen Traditionsproblems. Die reforma-
torische Antwort hat im "sola scriptura" 1 formelhaften Ausdruck ge-
funden. In der Diskussion um das Traditionsproblem muß deshalb
das "sola scriptura" zum Thema werden.
Obwohl es die reformatorische Antwort ist, steht sie heute doch auf
evangelischer Seite in Frage. Die - wie glaubhaft berichtet wird -
protestantischerseits im ökumenischen Gespräch gefallene Äußerung
"Sola scriptura has become obsolete" verrät allerdings eine leichtfer-
tige Kurzschlüssigkeit. Ebensowenig wie der einstigen Animosität ge-
gen den Traditionsbegriff sollte man nun dessen wachsendem Sog
verfallen. Wohl aber erweist sich das "sola scriptura" als interpreta-
tionsbedürftig. Sein echter reformatorischer Sinn muß gegen verbrei-
tete Fehldeutungen klargestellt und in veränderter Situation neu ver-
antwortet werden.
Der Zusammenhang zwischen dem sogenannten reformatorischen
Schriftprinzip und dem Traditionsproblem ist uns in verschiedener
Weise vorgegeben. I
* Als Vorarbeit für die Vierte Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfas-
sung in Montreal1963. Zuerst erschienen in: ökumenischer Rat der Kirchen. Kom-
mission für Glauben und Kirchenverfassung: Schrift und Tradition. Untersuchung
einer theologischen Kommission. Hg. von Kristen E. Skydsgaard und Lukas Vi-
scher. Zürich 1963,95-127, 172-183. Wieder abgedruckt in: G. Ebeling, Wort Got-
tes und Tradition. Studien zu einer Hermeneutik der Konfessionen (Kirche und
Konfession 7), 2. Auß., Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1966, 91-143.
1 Im folgenden sind z. T. Gesichtspunkte mit verarbeitet, die im in einem 1956

gehaltenen Vortrag über das "sola scriptura" dargelegt habe, der durch eine Sam-
melverviclfältigung der Akademie der Diözese Rottenburg und der Evangelischen
Akademie Bad Boll "Schrift und Tradition. Ein interkonfessionelles Gespräch" eine
gewisse Publizität erhielt und in der Literatur gelegentlich danach zitiert worden
ist. Die vorliegende Neubearbeitung des Themas tritt an die Stelle der alten Fas-
sung. - Der Rahmen dieser Publikation nötigt dazu, Quellen- und Literaturhin-
weise in bescheidenen Grenzen zu halten und auch auf explizite Auseinanderset-
zung mit anderen Äußerungen zum Thema weitgehend zu verzichten.
[92] "SoJa scriptura" und das Problem der Tradition

1. Die übliche Antithetik von "sola scriptura" und "Schrift und


Tradition". In der herkömmlichen kontroverstheologischen Termino-
logie ist das "sola scriptura" die schlagworthafte Gegenthese zur ka-
tholischen Parole "Schrift und Tradition". Die Particula exclusiva
"sola" schließt demnach eine, wie auch immer näher zu bestimmende,
selbständige theologische Relevanz der Tradition neben der Schrift
aus. Als Negation des katholischen Traditionsprinzips scheint das re-
formatorische Schriftprinzip auf ein ablehnendes Verhältnis zum
Phänomen der Tradition überhaupt hinauszulaufen. Oberflächlicher
Betrachtung galt und gilt deshalb schon die Vokabel "Tradition" als
unevangelisch. Diese gängige Auffassung des Sachverhalts ist jedoch
ungenau und mit Unklarheiten belastet. Sie übt allerdings eine starke
Macht aus und bestimmt die faktische Ausgangssituation jeder Er-
örterung des Traditionsproblems in der heutigen Theologie, zumal
im ökumenischen Gespräch. Deshalb muß man sich darüber Rechen-
schaft geben, ob und, wenn ja, welche Korrekturen daran vorzu-
nehmen sind.
2. Die Bedeutung des "sola scriptura" für die Geschichte des Tradi-
tionsbegriffs. Das Aufkommen der kontroverstheologischen Antithe-
tik von "sola scriptura" und "Schrift und Tradition" in der Reforma-
tion stellt eine entscheidende Zäsur in der Geschichte des Traditions-
begriffs2 und den Beginn schärferer Bewußtwerdung, tieferer Erfas-
sung und breiterer Erörterung seiner Probleme dar. Gewiß fmdet sich
in der alten Kirche wichtiges Material zu dem Verhältnis zwisd:J.en
apostolischer Paradosis in der Heiligen Schrift und ihrem Dasein in
mündlicher Uberlieferung. Aber die ausdrücklidi darauf reflektieren-
den Erörterungen - vornehmlich bei lrenaeus, Tertullian, Basilius
d. Gr. und Vinzenz von Lerinum- sind aufs Ganze gesehen verhält-
nismäßig spärlich. Für die mittelalterliche Kirche und Theologie steht
vom patristischen Erbe her das, was man mit der Formel "Schrift und
Tradition" bezeichnen könnte, zwar gesamthaft als unteilbarer
Komplex des Autoritativen in selbstverständlicher Geltung. Dom
fällt an der scholastischen Theologie auf, daß das Wort traditio kaum
begegnet und nicht zum Gegenstand der Reflexion wird3 • Man emp-
1 Der materialreichste Gesamtüberblick: A. Michel, Art. Tradition, DThC XV

(1946), 1252-1350. Vgl. auch: J. Beumer, Die mündliche Oberlieferung als Glau-
bensquelle. Handb. d. Dogmengesch. hg. von M. Schmaus und A. Grillmeier, Bd. I
Fase. 4, 1962.
1 Bezeidmend ist z. B., daß im Vocabularius theologiae von Jolumnes Altenstaig
vom Jahre 1517 das Stichwort traditio fehlt und das Thomas-Lexikon von L. Schütz
sub voce "traditio" im Sinne von "Uberlieferung" neben zwei Stellen, die von der
traditio sacrae Scripturae reden (S. th. 2, II q. 140 a. 2 S. c. gent. IV, 34), nur eine
einzige Stelle verzeichnet, an der bei einer Einzelfrage der Zelebration der Messe
in äußerst behutsamer Weise von dem Argument einer die Schrift ergänzenden
GEIULUU) EBELING [92/93]

fand kein Bedürfnis, das Verhältnis der mündlichen I Uberlieferung


zur Heiligen Schrift genauer zu bestimmen, weil man sich der Mög-
lichkeit einer Spannung zwischen beidem nicht bewußt war. Die sacra
doctrina galt selbstverständlich als so sehr eins mit der Heiligen
Schrift, daß "sacra scriptura" oder "sacra pagina" geradezu Wechsel-
begriffe für Theologie sein konnten'. Die Scholastik bietet ungleich
mehr Anlaß zur Untersuchung ihres "Schriftprinzips" als zur Unter-
suchung ihrer Lehre von der Tradition5 •
So weist die Theologiegeschichte bis zum Beginn des 16. Jahrhun-
derts zwar fundamentale Ansätze für das Traditionsproblem auf, aber
erstaunlich wenig Bemühungen um dessen Präzisierung. Der Huma-
nismus eröffnete in historischer Hinsicht ein deutliches Unterscheiden
zwischen Schrift und Tradition8 • Doch erst die Reformation hat durch
die Tiefe und Schärfe ihres theologischen Einspruchs zu neuer Erörte-
rung des Traditionsbegriffs und zu einer ersten, sehr vieles noch offen
lassenden dogmatischen Definition des Verhältnisses von Scluift und
Tradition im Tridentinum, Sessio IV, genötigt7 • Im Gefolge davon
traditio apostolorum unter Berufung auf Joh 21,25 Gebrauch gemacht wird: S. th.
lll. q. 83 a. 4 ad 2.
• Vgl. J. de Ghellinch, "Pagina" ct "Sacra Pagina". Histoire d'un mot ct trans-
formation de l'object primitivement designe. In: Melanges A. Pelzer. Louvain
1947, 23-59.
a Vgl. z. B. 1. Beumer, Das katholische Schriftprinzip in der theologischen Lite-
ratur der Scholastik bis zur Reformation. Scholastik 16, 1941, 24-52. Y. Congar,
Traditio und Sacra doctrina bei Thomas von Aquin. In: Festschrift J. R. Geisel-
mann, 1960, 170-210. B. Decker, Sola Scriptura bei Thomas von Aquin. In: Fest-
sdnift A. Stohr, I. 1960, 117-129. 1. R. Geiselmann, Die Heilige Schrift und die
Tradition. QuaesL disp. 18, 1962, bes. 222 ff. zur Frage der Suffizienz der Heiligen
Schrift. Zu Thomas vgl. besonders S. th. I q. 1 a. 8 ad 2: Auctoritatibus ... canoni-
cae Scripturae (sacra doctrina) utitur proprie et ex necessitate argumentando: auc-
toritatibus autem aliorum Doctorum Ecclesiae quasi argumentando ex propriis, sed
probabiliter. lnnititur enim fides nostra revelationi Apostolis et Prophetis factae,
qui canonicos libros scripserunt, non autem revelationi, si qua fuit, allis Doctoribus
factae. Zur Notwendigkeit eines Symbols neben der Heiligen Schrift, S. th. 2, ll q.
1 a. 9 ad 1: ... fuit necessarium, ut ex sententiis sacrae Scripturae aliquid mani-
festum summarie colligeretur, quod proponeretur omnibus ad credendum; quod
quidem non est additum sacrae Scripturae, sed potius ex sacra Scriptura assump-
tum.
• W. Maurer, Luthers Verständnis des neutestamentlichen Kanons. Fuldaer
Hefte 12, 1960, 47-77, bes. 53.
7 Denz. 78~786. Die gegenwärtige Diskussion um die Interpretation ist vor
allem durch die These Geiselmanns bestimmt, daß das "et" des Dekrets (in libris
scriptis et sine scripto traditionibus) nicht im Sinne des "partim-partim" des Ent-
wurfs zu deuten sei. Vgl. dazu besonders: 1. R. Geiselmann, Das Konzil von Trient
über das Verhältnis der Heiligen Schrift und der nicht geschriebenen Traditionen.
Sein Mißverständnis in der nachtridentinischen Theologie und die Oberwindung
dieses Mißverständnisses. In: Die mündliche Uberlieferung. Beiträge zum Begriff
der Tradition. Hg. von M. Schmaus. 1957, 123-206.
[93/94] "Sola scriptura" und das Problem der Tradition

kam es in der nachtridentinischen Theologie zu intensiver Behand-


lung dermit dem I Traditionsbegriff aufgegebenen Probleme, die dann
erneut im 19. Jahrhundert infolge des geschichtlichen Denkens vor
allem durch J. A. Möhler und wiederum im 20. Jahrhundert teils
durch Bibelbewegung und Reformkatholizismus, teils durch die Dis-
kussion um das Assumpta-Dogma von 1950 in Bewegung geraten
sind. Indem das reformatorische "sola scriptura" eine zuvor nicht klar
erkannte Problematik angerührt und diese in den Stand einer Ent-
scheidungsfrage gebracht hat, hat es die umfassende Explikation der
römisch-katholischen Lehre von der Tradition überhaupt erst ausge-
löst. Es bleibt darum für diese als fundamentaler Einwand konstitu-
tiv. Auch aus diesem Grunde ist das Thema "sola scriptura" von der
Behandlung des theologischen Traditionsproblems nicht zu trennen.
J. Das Akutwerden des Traditionsproblems in der protestantischen
Theologie. Nun hat sich aber auch innerhalb des Protestantismus
selbst das Phänomen der Tradition in vielfältiger Weise Geltung ver-
schafft. Sd:10n in der reformatorischen Theologie tritt dies an der Re-
zeption des altkirchlichen Dogmas sowie an der Fixierung der eigenen
reformatorischen Lehrüberlieferung in Bekenntnisschriften in Er-
scheinung. Besonders bei Melanchthon wurde das Interesse an der
Tradition ein wichtiger theologischer FaktorS und wirkte entschei-
dend mit zur Entstehung der altprotestantischen Orthodoxie. Für sie
war konservierende Verarbeitung der Tradition ein wesentliches Mo-
ment ihrer Methode im Banne der konfessionellen Auseinanderset-
zung. Durch Obereinstimmung mit der alten Kirche sollte die wahre
Katholizität und damit die Legitimität der Reformation erwiesen
werden9• Doch wirkte sich zugleich die Nötigung, das "sola scriptura"
gegen das römisch-katholische Traditionsverständnis zu verteidigen,
als Hindernis aus, sich auf die theologische Relevanz des Traditions-
problems unbefangen einzulassen. Das gilt selbst von einer so ein-
gehenden Differenzierung des Komplexes der Traditionen, wie sie
M. Chemnitz im Examen Concilii Tridentini vornimmt, indem er
8 A. Sperl, Melanchthon zwischen Humanismus und Reformation. Eine Unter-
suchung über den Wandel des Traditionsverständnisses bei Melanchthon und die
damit zusammenhängenden Grundfragen seiner Theologie. FGLP 10. Reihe, Bd.
XV, 1959. P. Fraenkel, Testimonia Patrum. The Function of the Patristic Argu-
ment in the Theology of Philip Melanchthon. Genf 1961.
' Besonders charakteristisch sind die Formulierungen am Ende des ersten und
des zweiten Teils der CA: Haec fere summa est doctrinae apud nos, in qua cerni
potest nihil inesse, quod discrepet a scripturis vel ab ecclesia catholica vel ab eccle-
sia romana, quatenus ex scriptoribus nobis nota est. (Die Bek. Schriften der ev.-luth.
Kirche 19521, 8X, 7-11) ... quae videbantur necessario dicenda esse, ut intelligi
posset, in doctrina ac caeremonüs apud nos nihil esse receptu.m contra scripturam
aut ecclesiam catholicam, quia manifcstum est, nos diligentissime cavisse, ne quae
nova et i.mpia dogmata in ecclesias nostras serperent (aaO 134, 17-23).
286 GElUIARD EBEUNG [94/95)

dem schillemden tridentinischen Traditionsbegriff, welcher Schrift-


widrigem I Eingang verschaffe, sieben genera traditionum gegen-
überstellt, die teils mit der Schrift selbst identisch sind, teils mit ihr
sachlich übereinstimmen, teils ihr nicht widerstreiten.
Allerdings war ebensowenig auf katholischer Seite die eigentliche
theologische Problematik der Tradition erfaßt, solange - entspre-
chend dem pluralischen Wortgebrauch im Tridentinum (sine scripto
traditiones)- der Traditionsbegriff am einzelnen traditum orientiert
war. Erst mit derneuzeitlichen Einsicht in die Geschichtlichkeil wurde
die Theologie der Weite und Schwierigkeit des Traditionsproblems
ausgesetzt. Dies vollzog sich weitgehend unabhängig von der kontro-
verstheologischen Fragestellung als Folge der historischen Betrach-
tungsweise. Sie hatte ja gerade ihr Pathos in der Befreiung aus der
Bindung an konfessionelle Voreingenommenheit. Doch eben dadurch
hatte sie Rückwirkungen auf die kontroverstheologische Situation und
gab dem theologischen Verstehen des Konfessionsgegensatzes neue
Probleme auf. Der Grundzug historischen Forschens: die Emanzipa-
tion von der ungeprüft selbstverständlichen Geltung der Tradition,
die kritische Distanznahme gegenüber der Überlieferung bringt erst
die Macht der Tradition zum Bewußtsein und läßt auf die Rolle hi-
storisch bedingter Traditionen in der Geschichte um so aufmerksamer
werden. So wird der Blick für Traditions-Sachverhalte im einzelnen
sowie die grundsätzliche Einsicht in die geschichtliche Funktion der
Tradition außerordentlich geschärft. Zugleich jedoch wird dadurch
das Phänomen der Tradition historisiert und ihre Geltungsweise
problematisch, und zwar grundsätzlich unabhängig davon, ob bei
dem einzelnen Forscher die kritischen oder die konservativen Nei-
gungen die Oberhand haben. Damit, daß etwas historisch als Tra-
dition erkannt ist, steht es keineswegs auch als Tradition in Kraft, ist
es vielmehr eher in seiner Geltung als Tradition in Frage gestellt und
bedroht. Historische Untersuchung von Tradition und verantwort-
liches übernehmen und Mitvollziehen von Tradition geraten in Span-
nung miteinander10 •
Die Auswirkungen des historischen Denkens auf die Theologie
zeichnen sich im Problemhorizont "Schrift und Tradition" in vielfa-
cher Hinsicht ab. Vor allem ist auf die historisch-kritische Bibelfor-
schung zu verweisen, die bei der Untersuchung der Entstehung der

18 Ich habe mich darüber ausführlicher geäußert in: Die Geschichtlichkeit der
Kirche und ihrer Verkündigung als theologisches Problem. SgV 207/8, 1954, bes.
31 ff. Wort und Glaube. 19621, 351 ff., 581 ff. Wort Gottes und kirchliche Lehre,
MdKI 13, 1962, 21-28, in: Wort Gottes und Tradition, 1966', S. 155-174. Theo-
logie und Verkündigung (HUTh 1) 1962, 3 ff. Art. Tradition VII. Dogmatisch,
RGG1 VI (1962), 976-984, bes. 979 ff.
[95/96] "SoJa scriptura" und das Problem der Tradition 287

Heiligen Schrift dem Phänomen der Tradition in vorher unbe-


kannter Differenziertheil begegnete. Die Kirchengeschichtswissen-
schaft erkannte die Konfessionsunterschiede als durch verschiedene
Traditionen historisch bedingt und I führte, in gewissen Grenzen, zu
deren Relativierung. Die durch das geschichtliche Denken geweckte
Aufmerksamkeit auf das Phänomen der Tradition konnte theolo-
gisch verschieden ins Gewicht fallen, je nachdem mit welchen kirch-
lichen Aufgaben und Interessen sie sich verband. So begegnet das
Traditionsproblem etwa als Frage nach der dem geschichtlichen W an-
del angemessenen Sprache der Verkündigung, und zwar am über-
zeugendsten als Übersetzungsproblem in der Mission; oder als Frage
nach den Möglichkeiten einer Festigung oder Erneuerung der Ge-
stalt der Kirche gegenüber Auflösungs- oder Erstarrungstendenzen;
oder als Frage nach den Ursachen konfessioneller Spaltung und Ent-
fremdung sowie nach den Bedingungen der Möglichkeit ökumeni-
scher Verständigung. In jedem Fall aber mußte das im Stichwort
"Tradition" konzentrierte Geschichtsproblem dogmatisch ernst ge-
nommen und verarbeitet werden. Das stellt im Grunde die funda-
mentaltheologische Aufgabe der neuerenevangelischen Theologie dar.
Denn durch das geschichtliche Denken war die theologische Prin-
zipienlehre der altprotestantischen Orthodoxie erledigt. Was der Si-
cherung des reformatorischen Schriftprinzips hatte dienen sollen,
nämlich die Lehre von der Verbalinspiration, schlug nun um in eine
Gefährdung des "sola scriptura". Jedenfalls wurde das herkömmliche
Verständnis der Schriftautorität fraglirh. Und es konnte der Eindruck
entstehen, als bedeute das Aufmerksamwerden auf das Traditions-
problem eine Abschwächung oder gar Preisgabe des reformatorischen
"sola scriptura". Aber nicht nur die Historisierung der Schrift zu
"bloßer" Tradition bedrohte das "sola scriptura". Auch die theolo-
gische Aufwertung des Traditionsgedankens einerseits durch die tra-
ditionsgeschichtlichen Erkenntnisse der Bibelwissenschaft selbst, an-
derseits infolge eines allgemeinen geistigen Wandels, der dem Phä-
nomen der Tradition neues Verständnis entgegenbringt und die fun-
damentale BedeutungderTradition für eine positiveBewältigungdes
Problems der Geschichtlichkeil zu bedenken beginnt11 , scheint die
Fraglichkeil des "sola scriptura" nur zu verstärken.
Es wäre jedoch eine Täuschung, zu meinen, das Traditionsproblem,
wie es sich dem geschi<htlichen Denken der Neuzeit stellt, bedeute als

n Z. B. Studium Generale 4, 1951, H. 6. G. Krüger, Geschichte und Tradition.


1948; jetzt auch in: G. Krüger, Freiheit und Weltverwaltung. Aufsätze zur Philo-
sophie der Geschichte. 1958, 71-96. R. Wittram, Das Interesse an der Geschichte.
1958, bes. 95 ff. H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philoso-
phischen Hermeneutik. 1960, bes. 261 ff., 275 ff.
288 GEI\JL\1\D EBELING [96/97]

solches schon eine Bestätigung der katholischen Auffassung von der


Tradition. Das katholische Traditionsverständnis, wie es in grobem
Umriß im Tridentinum und Vaticanum I verbindlich zum Ausdruck
gekommen ist, kann der veränderten Problemsituation der Neuzeit
durchaus nicht genügen. Unter der Einsicht in das Problem der Ge-
schichtlichkeit bedarf die I katholische Lehre von "Schrift und Tra-
dition" nicht weniger als das reformatorische "sola scriptura" der
Neubesinnung und Klärung. Deren Schwierigkeiten sind in der er-
sten Phase des Vaticanum II deutlich an den Tag getreten.
Von einer Annäherung der konfessionellen Standpunkte zu reden,
ist zumindest angesichts der nicht bloß für Protestanten anstößigen
lliustration, die die lehramtliche Auffassung von Schrift und Tradi-
tion durch das Assumpta-Dogma erfahren hat, völlig grundlos11• Da-
durch hat im Gegenteil der im reformatorischen "sola scriptura" for-
mulierte Protest neuen Auftrieb und eine alle früheren Anlässe über-
bietende Bestätigung erfahren. Auf Grund anderer Symptome
scheint jedoch die kontroverstheologische Situation tatsächlich nivel-
liert zu sein. Zumindest eine bestimmte Richtung katholischer Theo-
logie der Gegenwart kann ein "Schriftprinzip" vertreten, das den Ge-
sichtspunkt der Tradition in sich tägt13, während umgekehrt evange-
lische Theologie, wie es scheint, eine Art "Traditionsprinzip" zu ak-
zeptieren lernt als Korrektiv zu dem als zu eng empfundenen refor-
matorischen Schriftprinzip. Es ist in der Tat eine merkwürdige Si-
tuation, daß katholische Theologen sich für die Inanspruchnahme des
"sola scriptura" ereifern, evangelische Theologen es dagegen für ob-
solet erklären. Schon diese Gegenläufigkeit der Tendenzen sollte ge-
gen die Annahme mißtrauisch machen, als sei die konfessionelle Ver·
ständigung über das Problem Schrift und Tradition in greifbare Nähe
gerückt. Es bedarf sorgfältiger Prüfung, ob die heute auf katholische!
Seite z. T. vertretene Interpretation des Verhältnisses von Schrift und
Tradition im Zeichen eines "sola scriptura" wirklich eine Annähe·
rung an die evangelische Auffassung darstellt oder ob sie nicht in ge·
11 Am instruktivsten ist die Untersuchung von B. Altaner, Zur Frage der Defini·
bilität der Assumptio B.M.V. In: Theol. Revue 44, 1948, 129-140; 45, 1949, 129 bil
142; 46, 1950, 5-00. Im Auszug in: Das neue Marlendogma im Lichte der Ge
schichte und im Urteil der Okumene, hg. von Fr. Heiler. Okumenisc:he Einhei'
1951, Heft 2, 49-60.
1• Vgl. etwa K. Rahner, Ober die Schriftinspiration. Quaest. disp. 1, 1958, 7 f
Ders., Was ist eine dogmatische Aussage? Cath. 15, 1961, bes. 180, 182. (abgedr. in
K. Rahner, Schriften zur Theologie V. 1962, 54-81). Ders., Art. ID. Sduüt UD(
Theologie, in: Handbuch theologischer Grundbegriffe, hg. von H. Fries, ll, 1963
517-525. H. Küng, Rechtfertigung. Die Lehre Karl Barths und eine katholisc:h1
Besinnung. 1957, 116 f. P. Lengsfeld, Uberlieferung. Tradition und Sc:hrih in de
evangelischen und katholischen Theologie der Gegenwart. 1960, 187 ff. 0. Sem
melroth, Wirkendes Wort. Zur Theologie der Verkündigung. 1962, 106.
[97 /98) "Sola scriptura" und das Problem der Tradition 289

wisser Hinsicht den konfessionellen Gegensatz subtiler und damit in


Wahrheit sachlich schärfer macht. Ebenso wäre zu fragen, ob auf
evangelischer Seite das Ernstnehmen des Traditionsproblems wirk-
lich die Preisgabe des reformatorischen "sola scriptura" nach sich zieht
- oder ob es, im Gegenteil, aus dem recht verstandenen reformato-
rischen "sola scriptura" I folgt, aber in anderem Sinne, als ein katho-
lisch interpretiertes "Schriftprinzip" das Traditionsprinzip in sich
schließt. Um in dieser allerdings zu mancher Verwirrung Anlaß ge-
benden Lage Klarheit zu schaffen, kann evangelische Theologie die
unbestreitbar notwendige Besinnung auf das Traditionsproblem nur
als radikale Besinnung auf das "sola scriptura" verantwortlich durch-
führen.

B. Einwände und Mißverständnisse in bezugauf das "sola scriptura"


In der bloßen Antithese gegen die römisch-katholische Zusammen-
ordnung von Schrift und Tradition besteht die Gefahr, daß der Sinn
des "sola scriptura" verengt und verkürzt wird. So sind zunächst
einige verbreitete Mißverständnisse aus dem Wege zu räumen.
1. Traditionsfeindlichkeit als Vorwurf gegen das "sola scriptura".
Das "sola scriptura" ist so wenig traditionsfeindlich, daß es vielmehr
selbst eine bestimmte Art von Traditionsprinzip ist. Diese Feststel-
lung befremdet nur deshalb, weil der Traditionsbegriff im kontrovers-
theologischen Sprachgebrauch gewöhnlich von vomherein auf die tra-
ditio non scripta eingeschränkt, also auf die Unterscheidung von der
Heiligen Schrift festgelegt ist. Damit ist freilich nicht erklärt, warum
nicht im Gegensatz dazu auf reformatorischer Seite der Sprachge-
brauch aufkam, die Heilige Schrift und nur sie sei die genuine, weil
"apostolische" Tradition. Auch abgesehen von jener faktisch einge-
tretenen Verengung des Sprachgebrauchs sträubt sich evangelisches
Verständnis offenbar dagegen, das, worum es in der Heiligen Schrift
geht, in seinem eigentlichen, letztgültigen Sinn als "Tradition" zu be-
zeichnen. An dieser Stelle steht vielmehr für reformatorisches Denken
der Begriff" Wort Gottes". Obwohl unbestritten das Wort Gottes, und
zwar in strengem Sinne als die Sache des Evangeliums, nicht anders
begegnet als durch Uberlieferung, so erschiene es doch bedenklich,
den Begriff der Tradition theologisch zum eigentlich bestimmenden
zu erheben. Zwar ist der Versuch gemacht worden, in Anlehnung an
die Vielfalt der neutestamentlichen Verwendung von xaQaöt.Mvat.
das apostolische "überliefern" samt dem dazu in Kontrast stehenden
"überliefern" durch Judas auf ein mit der Offenbarung selbst iden-
tisches göttliches "überliefern" zurückzuführen und so in den Begriff
der Oberlieferung die Sachfülle des Evangeliums selbst hineinzule-
19 Käscmann, Kanon
290 GEl\HABD EDELING [98/99]

gen1'. Auch wenn man die exegetischen Bedenken gegen dieses geist-
voll biblizistische Konkordanzverfahren zurückstellt, wird man allen-
falls einen so gefüllten Begriff der Überlieferung einmal erläute-1
rungsweise verwenden, doch nicht in der Weise zu einem theologi-
schen Terminus erheben, daß man ihn als Inbegriff des reformato-
rismen "sola scriptura" gegen das römisch-katholische Traditionsver-
ständnis ausspielen könnte. Zu diesem Zweck täte man besser, sich
nüchtern an das nächstliegende Verständnis von "Uberlieferung" zu
halten, um die alleinige Geltung der ursprünglichen Tradition zu be-
tonen: Das Evangelium kommt zu uns aus einer bestimmten, näm-
lim der in Jesus zentrierten Geschichte, so daß um Jesu willen der
neutestamentliche, aber eben darum auch der alttestamentlime
Überlieferungskomplex in Samen des Evangeliums als die ursprüng-
liche Oberlieferung von schlechterdings einzigartiger, durm nichts zu
ersetzender Bedeutung ist. An diese reine, ursprüngliche Überliefe-
rung zu binden, sie nicht mit Fremdem vermismen zu lassen, der
Macht der biblischen Oberlieferung Raum zu geben, sie also der Ge-
genwart zu überliefern, das ist der klare Sinn des "sola scriptura".
Daran schließen sich allerdings Fragen an, die weiterer Erörterung
bedürfen. Warum kommt das Evangelium überhaupt aus der Ge-
schichte, und zwar aus dieser Geschichte zu uns und warum bedarf es
zu seiner Ausrichtung der ausdrücklichen Bezugnahme auf diese Ge-
schichte? Was besagt ferner der Gesichtspunkt der Ursprünglichkeit,
wie ist er näher zu präzisieren und nach welchen Kriterien hat dies zu
geschehen? Und wie vollzieht sich die Weitergabe dieses ursprüng-
limen Zeugnisses, also die Oberlieferung dieser Uberlieferung? Un-
ter welchen Bedingungen wird sietrotzoder gerade durch die Weiter-
gabe rein bewahrt? Wenn es gelingt, das "sola scriptura" an diesen
Problemen zu bewähren, ergibt sich ein Doppeltes: Das "sola scrip-
tura" ist zwar Ausdruck des Kampfes um die wahre Tradition. Abex
der Begriff "Tradition" genügt schwerlich, um das Eigentliche de!
vom "sola scriptura" gemeinten Sachverhalts zu kennzeichnen. MaD
wird freilich zugeben müssen, daß der Begriff "Schrift", isoliert ver-
standen, ebensowenig, ja vielleicht noch weniger den eigentlim ge·
meinten Sachverhalt als ganzen umschreibt. Das "sola scriptura" ha1
nur dann, dann aber tatsäd:ilich einer wie auch immer zu verstehen·
den Zweiheit von Schrift und Tradition gegenüber Recht, wenn e!
dem überlieferungsgeschehen des Evangeliums eindeutig die Rieb·
tung weist, d. h. dazu dient, daß es wirklich zur Oberlieferung de!
Evangeliums kommt und dabei bleibt.

1• K. Barth, KD 11, 2. 1946, 533-563. Vgl. H. Diem, Theologie als kinhlidu

Wissenschaft. Bd. II Dogmatik. 19601, 160-162.


[99/100] "Sola scriptura" und das Problem der Tradition 291

2. Die Priorität und Lebendigkeit der Tradition als Einwand gegen


das "sola scriptura". Gegen das "sola scriptura" wird der Einwand er-
hoben, diese Reduktion auf Geschriebenes verkenne sowohl die hi-
storische Priorität mündlicher Uberlieferung, als auch die Notwendig-
keit lebendigen Uberlieferungsgeschehens. Beide Gesichtspunkte ge-
hören nun aber gerade wesenhaft zum reformatorischen "sola scrip-
tura". Sie sind I sogar in ihrer inneren Zusammengehörigkeit über-
haupt erst durch das reformatorische Verständnis des Evangeliums er-
faßt worden. Man darf sich diesen wichtigen Sachverhalt nicht durch
den Umstand verdecken lassen, daß später katholische Polemik sich
beider Gesichtspunkte bedient und sie gegen das - nicht ohne Schuld
protestantischer Theologie - mißverstandene reformatorische Schrift-
prinzip ausgespielt hat.
Gewiß war man sich stets dessen bewußt: Das Neue Testament
steht nicht am Anfang des Christentums. Nicht ein Buch ist das
grundlegende Offenbarungsfaktum. Vielmehr sind die neutestament-
lichen Schriften der Niederschlag des vorausgehenden oder, wie bei
den echten Briefen, des sich darin vollziehenden Verkündigungsge-
schehens, jedenfalls Folge der Offenbarung. Erst recht ist der Kanon
in einem langen Prozeß zustande gekommen. Die Gestalt des Neuen
Testaments gibt selbst diese Herkunft aus mündlicher Oberlieferung
deutlich zu erkennen, zumal Jesus selbst und weitgehend auch die
Apostel nichts Schriftliches hinterließen. Außerdem hatten die Nach-
richten des Euseb von Cäsarea zur Kanonsgeschichte wenigstens eine
Ahnung von der historisch sekundären Rolle der schriftlichen Gestalt
der Offenbarung wach gehalten. Auch der Gedanke, daß mündliche
Weitergabe die eigentlich sachgemäße Art der Lehrüberlieferung sei,
reicht weit zurück. Er läßt sich ebenso ins Judentum wie in die antike
Philosophie zurückverfolgen15 • Im frühen Christentum wird er frei-
lich mit Rücksicht auf die Gnosis und deren Berufung auf mündliche
Geheimtraditionen18 eher gemieden. Der grundsätzliche Aspekt jenes
11 Natürlim wäre zwismen der faktismenRolle mündlicher Weitergabe und der
ausdrücklichen Reflexion auf die Gründe, die ihr den Vorrang verleihen, zu unter-
scheiden. Zum Alten Testament und Judentum vgl. u. a.: J. van der Ploeg, Le röle
de Ia Tradition orale dans Ia transmission du texte de l'AT. Revue Biblique 54,
1947, 5-41. H. Ringgren, Oral and Written Transmission in the 0. T. Studia
Theologica 3, 1949, 34--59. B. Gerhardsson, Memory and Manuscript. Oral Tradi-
tion and Written Transmission in Rabbinie Judaism and Early Christianity. Acta
Sem. Neotest. Ups. 22, 1961. Zum Griechentum: R. Harder, Bemerkungen zur grie-
<hischen Schriftlichkeit. In: R. Harder, Kleine Schriften. Hg. von W. Marg. 1960,
57-80. Zu dem mit der Frage der Mündlichkeil verbundenen Sukzessionsgedanken
in den grie<hischen Philosophenschulen: L. Koep, Art. Bismofsliste (A ßl), RAC II.
409 f. und H. v. Campenhausen, Kirchliches Amt und geistliche Vollmacht in den
ersten drei Jahrhunderten. BHTh 14, 1953, 174 f.
11 H. v. Campenhawen 172 ff.

19•
292 [100/101]

Vorzuges der MündliChkeit begegnet nahezu ausschließlich bei Kle-


mens von Alexandrien17 • Aber selbst hier ist der spezifische Zusam-
menhang von Evangelium und Mündlichkeit nicht erlaßt. I
Es ließe sich sogar zeigen, daß sowohl dem altkirchlichen wie dem
mittelalterlich-scholastischen Verständnis der Sache des christlichen
Glaubens ein solches Verständnis vom Wort in seiner konkreten
SprachliChkeit zugrunde liegt, das eigentlich an der Schriftlichkeit des
Wortes orientiert ist. Das Wesen des Wortes wird vom Buchstaben
und dessen Bezeichnungsfunktion her gedacht. Darin liegt seine
Stärke als festgelegte" Vorschrift". Zugleich aber zeigt sich daran die
Schwäche und das Unvermögen des sprachlichen Wortes. Es vermag
zwar zu belehren und zu fordern; aber die Sache selbst, um die es
eigentlich geht, die Kraft des Heiligen Geistes, die Gnade, wird nicht
durch das bloße Wort zuteil, sondern durch das sakramentale Han-
deln der Kirche. So stellt sich z. B. fürThomas v. Aquin18 das Problem,
ob die lex nova, die doch eigentlich das ins Hen gegebene, das nicht
mehr sprachliche, sondern verwirklichte, lebendige Gesetz, nämlich
die Gnade des Heiligen Geistes selbst ist, doch in bestimmter Hinsicht
auch noch in Worten gegeben sei. Daran ist gleichermaßen charakte-
ristisch: daß Thomas die Frage nach der Gegebenheit der lex nova in
sprachlicher Gestalt als Frage nach ihrer Schriftlichkeit stellt und daß
er diesen Aspekt der lex nova als einen bloß sekundären ansieht, näm-
lich im Sinne von Unterweisung, die nur der Vorbereitung auf die
Gnade und dem rechten Umgang mit ihr dient, während der eigent-
lich hilireiche Gnadenempfang selbst durch das Sakrament erfolgt.
Die Schriftlichkeit steht hier also nicht in Spannung zur Mündlich-
keit, bringt vielmehr das Wesen des Wortes überhaupt, auch de!
mündlichen Wortes, zum Ausdruck 19 • Von den Voraussetzungen deJ
herrschenden kirchlichen Lehrüberlieferung her mußte darum da~
17 H. v. Campenluatsen 215 ff. Z. B. Strom. I, 13, 2: "Geheimnisse wie die Lelm
von Gott werden nur dem Wort anvertraut, nicht der Schrift." Bei Klemens ver·
binden sich im Gedanken der Mündlichkeil so verschiedene Aspekte wie die Ide«
der Arkandisziplin, die pädagogisch-seelsorgerliehe Bedeutung des persönliche~
Lehrer-Schüler-Verhältnisses, die Erwägung, daß es sich nicht um bloße Wissens
mitteilung handelt, Leben und Geist aber nur durch Leben und Geist weitergege
ben werden können, sowie der hermeneutische Gesichtspunkt, daß die eigentlicht
Oberlieferung gerade auch des Schriftlichen - und Klemens ist durchaus "Schrift
theologe"- in der Weise der Auslegung erfolgen muß.
te Zum folgenden: S. th. 1, ll q. 106 a.l: Utrum Iex nova sit lcx scripta.
11 S. th. 111 q.42 a.4 spricht zwar Thomas bei Erörterung der Frage, utrum Chri

stus debuerit doctrinam suam scripto tradere, in bezug auf Christus selbst - soga
unter Berufung auf Pythagoras und Sokrates - von dem Vorrang mündliche
Lehre als dem excellentior modus doctrinae. Aber die hier vorhandenen Ansätz,
werden nicht fruchtbar gemacht für das Verständnis des Evangeliums und ein
Theologie der Verkündigung.
[101/102] "Sola scriptura" und das Problem der Tradition 293

reformatorische "sola scriptura", und zwar gerade in seiner Verbin-


dung mit dem "solo verbo - sola fide", als Errichtung des Primats der
Schriftlicllkeit des Evangeliums mißverstanden werden, jedoch nicht
im Unterschied zu seiner Mündlichkeit, sondern im Gegensatz zur
lebendigen kirchlich-sakramentalen Gnadenwirklichkeit.
Der wahre Sinn des reformatorischen "sola scriptura" erschließt
sich nun aber nur aus dem Zusammenhang des spezifisch reformato-
rischen Verständnisses der Sache des christlichen Glaubens und des
entsprechenlden anderen Wort-Verständnisses, das an der Mündlich-
keit des Wortes orientiert ist. Die ausschließliche Geltung der Heili-
gen Schrift beruht also nach reformatorischer Anschauung paradoxer
Weise auf dem Evangelium, das seinem Wesen nach nicht Schrift,
sondern mündliches Wort ist. Das Alte Testament "allein den Namen
hat, daß es Heilige Schrift heißt, und Evangelium eigentlich nicht
Schrift, sondern mündliches Wort sein sollte, das die Schrift hervor-
=
trüge [ auslege], wie Christus und die Apostel getan haben. Darum
auch Christus selbst nichts geschrieben, sondern nur geredet hat und
seine Lehre nicht Schrift, sondern Evangelium, das ist, eine gute Bot-
schaft oder Verkündigung genannt hat, das nicht mit der Feder, son-
dern mit dem Mund soll getrieben werden" 10• "Denn im Neuen Te-
stament sollen die Predigten mündlich mit lebendiger Stimme öffent-
lich geschehen und das hervorbringen in die Sprache und das Gehör,
was zuvor in den Buchstaben und heimlichem Gesicht [ = geheimer
Vision] verborgen ist. Denn das Neue Testament nichts anderes ist
denn ein Auftun und Offenbarung des Alten Testaments ... Darum
ist's gar nicht neutestamentlich, Bücher schreiben von christlicher Leh-
re, sondern es sollten ohne Bücher an allen Orten sein gute, gelehrte,
geistliche, fleißige Prediger, die das lebendige Wort aus der alten
Schrift zogen und ohne Unterlaß dem Volk vorbleuten, wie die Apo-
stel getan haben. Denn ehe sie schrieben, hatten sie zuvor die Leute
mit leiblicher Stimme bepredigt und bekehrt, welches auch war ihr
eigentliches apostolisches und neutestamentliches Werk ... Daß man
aber hat müssen Bücher schreiben, ist schon ein großer Abbruch [ =
Verlust] und ein Gebrechen [ = Mangel] des Geistes, daß es die Not
erzwungen hat und nicht die Art ist des Neuen Testaments ... " 21
Es weist in außerordentliche Tiefen des reformatorischen Verständ-
nisses des Evangeliums, daß zwischen dem Inhalt dieser Überliefe-
rung und ihrer wesenhaften Mündlichkeil dieser notwendige Zusam-
menhang besteht. Wenn trotzdem das "sola scriptura" zur reforma-
torischen Parole wurde, so kann dies nur in einem Sinn gelten, der
• WA 10, 1, 1; 17,7-12 (1522).
11 WA 10, 1, 1; 625, 19-627, 3 (1522). Vgl. auch WA 10, 1, 2; 34, 27-35, 3
(1522) 10, 3; 305, 1-8 (1522) 7; 526, 12-24 (1521).
GEl\HAI\D EDELING [102/103]

nicht im Widerspruch steht zum Geschehen des Wortes Gottes in der


Weise mündlicher Verkündigung, also mündlicher "Überlieferung".
Das "sola scriptura" soll gerade der rechten Erfassung dieser wesen-
haften Mündlich.keit der "Überlieferung" dienen. Es ist also nur dann
recht verstanden, wenn es zurückweist in das Verkündigungsge-
schehen, aus dem die Schrift herkommt, und hineinweist in das Ver-
kündigungsgeschehen, in das die Schrift eingehen will.
Selbst die altprotestantische Orthodoxie, die so smarf den Akzent
auf das verbum Dei scripturn legte, war sich natürlich der histori-
schen I Priorität des verbum Dei non scripturn bewußt. Was, in Wie-
deraufnahme von Luthers Gedanken über die Mündlichkeil des Evan-
geliums, durch Lessing, Semler, Herder22 und andere über die Nam-
träglich.keit der schriftlichen Fixierung eingeschärft wurde und dann
im einzelnen durch historisch-kritische Forschung an vorausgegan-
genem Traditionsgeschehen aufgedeckt worden ist23 , und was der
katholischen Kritik am "sola scriptura" entgegenzukommen schien,
hätte an sich durchaus als Erweiterung und Spezifizierung dessen re-
zipiert werden können, was grundsätzlich auch der Orthodoxie über
die Anfänge des Christentums bekannt war, obwohl es dann doch de
facto auf die herrschende Vorstellung von der Entstehung der Bibel
umstürzend wirkte. Im übrigen brauchte diese historische Einsicht in
das Werden der Bibel, speziell des Neuen Testaments, durmaus nicht
als Gegenargument gegen die Notwendigkeit der Schriftwerdung ins
Gewicht zu fallen. Im Gegenteil, wie Luther im Zusammenhang des
oben Zitierten sehr wohl die positive Bedeutung der schriftlichen Fi-
xierung des Neuen Testaments hervorgehoben hat24 , so läßt gerade
der historische Einblick in die Geschichte des Urchristentums den un-
ersetzlichen Wert der schriftlimen Oberlieferung erkennen. Man
stelle sich vor, was etwa aus der synoptischen Tradition in ausschließ-
lich mündlicher Oberlieferung geworden wäre; oder wie die Kirmen-
geschichte ohne die Tradierung der paulinischen Briefe verlaufen
wäre, obwohl sie selbst trotz der paulinischen Briefe auf weite
Strecken in bezug auf Paulus eine Geschichte des Mißverständnisses
und des Vergessens ist. Die altprotestantische Orthodoxie hat frei-
lich die historische Priorität des verbumDeinon scripturn nicht hin-
reichend für das Verständnis des verbum Dei scripturn in Ansatz ge-
bracht. Zwar war ihr selbstverständlich auch dies bewußt, daß das
verbumDeials viva vox geschehen will und daß die Konzentration
auf das verbum Dei scripturn der mündlichen Verkündigung zugute
n Vgl. mein Buch: Theologie und Verkündigung. HUTh 1, 1962, 110 f.
ta Klassisches Beispiel dafür ist: R. Bultmann, Die Geschimte der synoptischen
Tradition. (1921) 19571•
14 WA 10, 1, 1; 627, 1-21 (1522).
[103/104] "Sola scriptura" und das Problem der Tradition

kommen soll. Doch hat man sich vornehmlich in konfessionalistischer


Abwehrhaltung davon abbringen lassen, den Sinn des "sola scrip-
tura" genauer in Hinsicht auf die Spannung zu bedenken, die zwi-
schen dem Geschriebensein und dem Wortcharakter des Wortes Got-
tes besteht, der in mündlid:ter Verkündigung zur Geltung kommen
will. Es ist aufschlußreich, daß Johann Gerhard den Satz, dem We-
sen des evangelischen Wortes sei Schriftlichkeit eigentlich nicht
gemäß, als Äußerung eines kontroverstheologisd:ten Gegners be-
kämpft26, statt sich selbst dafür auf Luther zu berufen und von da-
her das "sola scriptura" zu begründen.!
J. Die K.arwnsbildung und Kanonsgeltung als Argument gegen das
"sola scriptura". Der scheinbar stärkste und von katholischer Seite bis
heute mit dem triumphalen Unterton unwiderleglid:ter Schlüssigkeit
vorgebrachte Einwand lautet: Das "sola scriptura" sei ein Wider-
spruch in sid:t, da es das katholische Traditionsprinzip voraussetze;
denn es stütze sich auf das Urteil der Kirche über die Schrift, wie es im
Vorgang der Kanonsbildung zum Ausdruck gekommen ist und nach
wie vor in der kirchlichen Lehre von der Schrift zum Ausdruck kommt.
Als Beispiel nur eine der jüngsten Stimmen dieser Art: "Seit es eine
katholisch-protestantische Kontroverse um das von den Reformatoren
vorgetragene Prinzip ,sola scriptura' gibt, war sd:ton immer der bib-
lische Schriftenkanon eins der stärksten Argumente von katholischer
Seite. Das Argument wird um so wirkkräftiger, je genauer man die
Geschid:tte der Entstehung der biblischen Bücher und des Kanons er-
forscht. Was da an ,Zufälligkeiten', besonderen Gelegenheiten und
geschid:ttlichen Situationen im jahrhundertelangen Hin und Her ein-
zelner kanonischer oder nichtkanonischer Büd:ter sich ereignet hat, um
dann schließlich doch einen allerseits als normativ angesehenen Schrif-
tenkanon zu ergeben, wird man nie befriedigend erklären können
ohne die Annahme einer normativen Glaubenstradition als der von
Gottes Geist selbst geleiteten Kraft, die dem Kanon zum Durchbruch
verhalf ... Kanon und Kirche gehören zusammen. Und das heißt zu-
gleich: Schrift und Tradition gehören zusammen ... De facto argu-
mentiert fast jeder protestantische Theologe im Aufbau seiner Dog-
matik und jeder Prediger auf der Kanzel so, als ob der Kanon eine
dem Umfang nach begrenzte, dem Inhalt nach Gehorsam beanspru-
chende ... Größe sei. Die de-facto-Anerkennung der Tradition reicht
wesentlich weiter als die reflexe Besinnung [verwiesen wird auf die
Kennzeichnung des Kanons als "dogmatischer Gegebenheit" durch
H. Diem] erlauben dürfte." 28
Loci theol., loc. I Oe script. s., cap. 2, q. 3, ed. Gott. II, 30. Vgl. mein Buch:
11
Wort und Glaube. 19621, 328.
11 P. Lengsfeld (s.o. S. 97, Anm. 13) 102 f., 104.
296 GEIULUU) EBE.UNG [104/105]

In der Tat: Die Festlegung des Kanons ist ein Werk der nachapo-
stolischen Kirche. Freilich darf man durch ein so pauschales Urteil
nicht die Differenziertheit des Geschehens verdecken, das zur Ent-
stehung des Kanons führte. Neben und vor dem Dekretieren kirch-
licher Instanzen, das namentlich beim Abschluß der Kanonsbildung
im Interesse der Vereinheitlichung und des Ausgleichs zwischen den
Entwicldungen in den verschiedenen Kirchengebieten wirksam war,
handelte es sich in der Hauptsache darum, daß sich der kirchliche Ge-
bramh bestimmter Schriften einfach durchgesetzt hatte und daß die-
ser ihrer unbestrittenen Autorität nachträglich durch die Kanonsidee,
in Entsprechung zum Alten Testament, die Interpretation als "Hei-
lige Schrift" gegeben wurde. Je mehr man sich für die - jetzt nicht
im einzelnen zu erörternde -Vielfalt der I Kanonsgeschichte offen-
hält, verbietet sich beides in gleicher Weise: aus den neutestament-
lichen Schriften selbst Idee und Umfang des Kanons direkt entnehmen
zu wollen sowie aus dem Vorgang der Kanonsbildung ein der Schrift
gegenüber selbständiges Traditionsprinzip zu folgern. Es ist nic:ht nur
tatsächlich so, daß die für kanonisch erklärten neutestamentlichen
Schriften (abgesehen von der Offenbarung Johannis) weder sich selbs1
ausdrücklim als solme ausgeben, noch von sim aus Angaben über ihre
Zusammengehörigkeit und Vollständigkeit machen; es wäre aucb
sinnlos, für das "sola scriptura" einen direkten Schriftbeweis führen
zu wollen, da ein solcher das zu Beweisende, nämlich die kanonischE
Autorität der Schrift, ja schon als anerkannt voraussetzen müßte, um
als Beweis überzeugen zu können. Daß aber der Umfang des Kanom
nicht anders als durch den faktischen Bestand der neutestamentlicheil
Schriften im Kanon selbst erscheint, also nicht als förmlicher Offenba·
rungssatz Bestandteil des Kanons ist; daß ebenso die Statuierung all
Kanon, also die Ausgabe dieser Schriftensammlung als "alleinige1
Regel und Richtschnur" - und eben das besagt doch zunächst das "so·
la scriptura" in seinem üblichen Verständnis- nicht im Kanon selbst
sondern nur in der Bezeichnung als Kanon ausgesprochen wird; da.(
also das Schriftprinzip streng genommen die Schrift als "principiwn'
meint, aber erst als dogmatischer Lehrsatz dies als Prinzip aussprich
- das erlaubt durchaus nicht den Schluß auf eine Insuffizienz de:
Schrift, zu der die Tradition als zweite Offenbarungsquelle hinzutre
ten müsse. Wenn das "sola scriptura", weil durch die Kirche ausge
sprochen, als Widerspruch in sich bezeichnet wird, so wäre gleichfall
der Kanon, weil durch die Kirche dekretiert, ein Widerspruch in sieb
Aber auch umgekehrt wäre es ein Widerspruch in sich, das Urteil de
Kirche, das sich in der Anerkennung der neutestamentlichen Schrif
ten als allein kanonischer ausspricht, als Äußerung eines Traditions
prinzips neben dem Kanon zu verstehen, während in jenem "Urteil
[105/106] "Sola scriptura" und das Problem der Tradition 297

doch gerade die Unterwerfung unter das Urteil der Schrift, die allei-
nige Anerkennung der Schrift als des Kanons zum Ausdruck kommt.
Man kann nur im Widerspruch zu dem, was in der Rezeption der
neutestamentlichen Schriften als Kanon ausdrücklich ausgesprochen
ist, dies als ein Zeugnis gegen das "sola scriptura" ins Feld führen.
Angesichts der Kanonsgeschichte das Argument einer contradictio in
adiecto ins Feld zu führen, ist also ein zweischneidiges Unternehmen
und läßt sich ebenso, wie es von katholischer Seite gegen das "sola
scriptura" vorgebrad:J.t zu werden pflegt, gegen den katholischen Ver-
such geltend mad:J.en, aus dem Vorgang der Kanonsbildung die Be-
hauptung eines besonderen Traditionsprinzips neben der Schrift zu
rechtfertigen. Daran tritt aber mehr in Erscheinung als der bloße Wi-
derspruch der konfessionellen Positionen. Die Problematik, die in der
Exilstenz eines von der Kirche selbst zusammengestellten und prokla-
mierten Kanons neutestamentlicher Schriften unbestreitbar beschlos-
sen liegt, hilft gerade dadurch, daß sie in der gekennzeichneten Weise
aufbricht, zur Klärung des Kanonsverständnisses.
Das Urteil über die Kanonizität der neutestamentlichen Schriften
ist ebensowenig wie das diesen Gesicl:ttspunkt der Kanonizität unter-
streichende "sola scriptura" eine Feststellung über die Schrift extra
usum scripturae. Es verhält sich zur Schrift als die Antwort auf die von
daher zur Spracl:te gekommene Sache. Wie das Bekenntnis nicht das,
zu dem es sich·bekennt, autorisiert, vielmehr dessen als wirksam er-
fahrene Autorität- die altprotestantiscl:te Dogmatik sprach in diesem
Zusammenhang mit Recht von einer auctoritas causativa - aner-
kennt und proklamiert, so ist die Feststellung der Kanonizität und
entsprechend das Urteil "sola scriptura" Bekenntnisäußerung. Sie be-
zieht sich letztlich auf das testimonium spiritus sancti intemum als
die Weise, wie sich die Sache der Schrift Geltung verschafft. Wie die
Schrift nicht zu trennen ist von ihrem Gebrauch, der Verkündigung,
so ist selbstverständlich auch das testimonium spiritus sancti intemum
nicht zu trennen vom Zeugnis der Kirche als dem andauernden Ver-
kündigungsgescl:tehen, in dem die Schrift konkret begegnet. Wenn
man mit der untrennbaren Zusammengehörigkeit von Schrift und
Kirche, Schrift und Tradition dies meint, daß die Schrift nicht isoliert
als Buch existiert, sondern im Verkündigungsgeschehen tradiert wird
als die Schrift, welche "Heilige Schrift" nicht ist, um Schrift zu blei-
ben, sondern um zur Verkündigung zu helfen und als Predigttext die
Verkündigung bei der Sache sein zu lassen, dann brauchte um das
"sola scriptura" kein Streit zu sein. Hebt man aber um der Frage der
Autorität willen auf jene Zusammengehörigkeit von Schrift und
Kirme, Schrift und Tradition ab, so darf das testimonium ecclesiae
nimt als auf sich allein stehend in Betracht kommen, sondern nur als
298 GEl\HARD EBELING [106/107]

Vollzug des Verkündigungsgeschehens, das sich auf das testimonium


scripturae bezieht und abzielt auf das testimonium spiritus sancti in-
temum, also auf das vollmächtige Zur-Geltung-Kommen der Sache
der Schrift selbst. Nur so ist das testimonium ecclesiae Bezeugung des
"sola scriptura". Die altprotestantische Orthodoxie hat darum in Hin-
sicht auf das Schriftprinzip das testimonium ecclesiae als ein bloß die-
nendes (testimonium ministeriale) von dem eigentlichen (testimo-
nium principale) der Sache der Schrift selbst untersdlleden. In Sachen
des "sola scriptura" ist das Zeugnis der Kirche nicht Einwand gegen
das Schriftprinzip, sondern als Bezeugung der Schrift Folge der Sache
der Schrift27 • I
Wenn an der Frage des Kanons die Strittigkeit des Verhältnisses
von Schrift und Tradition akut wird, ist dies jedenfalls in der Hinsicht
klärend, daß es nun zu einer Auseinandersetzung über das Kanonsver-
ständnis kommen muß. Denn gerade das ist eine Quelle der Unklar-
heit: es unbedacht für selbstverständlich klar zu halten, was "Kanon"
heißt und in welchem Sinne die neutestamentlichen Schriften Kanon
sind, in welcher Hinsicht sie "Norm" oder "Autorität" sind und in
welcher Weise sie- was offenbar mitzubedenken ist- ihrerseits der
Kanon des alttestamentlichen Schriftenkanons sind. Es ist nicht etwa
das Kennzeichen eines angeblich abschwächenden Kanonsverständ-
nisses in bestimmten Ausprägungen evangelischer Theologie, wenn
die Frage der Autorität des Kanonshinausgespielt wird auf die Wahr-
heit der Sache, um die es im Kanon geht, wenn also, wie es scheint,
die Strenge der formalen Autorität gelockert wird durch ein dazu in
Konkurrenz tretendes Sachkriterium.
Nun ist freilich die Benennung des "sola scriptura" als "Formal-
prinzip" gerade protestantischen Ursprungs 28 • Doch bringt eben diese
ihrer Herkunft nach in die Anfänge des 19. Jahrhunderts zurückwei-
sende,Bezeichnung die Problematik eines formalen Verständnisses
der Schriftautorität an den Tag. Sie erinnert an die Stellung der Hei-
ligen Schrift als "principium" der Theologie in der altprotestantischen
Dogmatik29 , verwendet aber den Prinzipbegriff in ganz anderer

17 Vgl. die Formulierung bei loh. WoUeb, Christianae theologiae compendium


(1626): Ecclesiae testimonium prius est tempore; spiritus sancti vero prius est
natura et efficacia. Ecclesiae credimus, sed non propter ecclesiam; spiritui autem
sancto creditur propter seipsum. Ecclesiae testimonium 'tÖ lSn monstrat; spiritus
vero sancti testimonium 'tÖ ~Ihn demonstrat. Ecclesia suadet; spiritus sanctus per-
suadet. Ecclesiae testimonium opinionem, Scripturae vero testimonium scientiam
ac fidem firmam parit.
18 A. Ritschl, über die beiden Prinzipien des Protestantismus. ZKG 1, 1876, 597
bis 415 = Ges. Aufs. I, 1895, 2:54--247. Vgl. G. Gloege, Art. Schriftprinzip. RGG1
V, 15-ro-1545.
n Vgl. B. Hägglwui, Die Heilige Schrift und ihre Deutung in der Theologie
(107 /108] "Sola scriptura" und das Problem der Tradition 299

Weise: nidlt wie dort als wissenschaftsmethodologischen Terminus,


der den außer Diskussion stehenden Erkenntnisgrund einer Wissen-
scl:J.aft angibt3°, sondern als historiographischen Terminus, der dasje-
nige auf den Begriff bringt, was einer komplexen und sim wandeln-
den gescl:J.ichtlimen Größe als das eigentlim Bestimmende und Ei-
nende zugrunde liegt. Während es in dem einen Fall um das Prinzip
der Theologie geht, geht es im andem Fall um das Prinzip des Prote-
stantismus. Nun nimmt selbstverständlich die historism-phänomeno-
logische Bezeichnung der Heiligen Smrift als des Formalprinzips des
Protestantismus Bezug auf jene dogmatisme Bezeimlnung der Hei-
ligen Scl:J.rift als des Prinzips der Theologie. Die orthodoxe Auskunft
wird zwar positiv aufgegriffen, zugleim aber mit einem kritismen
Vorbehalt versehen, indem jenes "Schriftprinzip" einschränkend als
"Formalprinzip" bezeichnet wird, das nach einer Ergänzung durm
ein "Materialprinzip" ruft, als das man dann die reformatorisme
Rechtfertigungslehre auszugeben pflegt. Trotz des Anscheins termi-
nologischer und sacl:J.licher Nähe zur orthodoxen Dogmatik besteht je-
doch eine tiefe Differenz. Für die orthodoxe Dogmatik gilt nimt die
Heilige Schrift in diesem Sinne als ein "Formalprinzip", das der Er-
gänzung durch ein "Materialprinzip" bedürfe. Zwar unterscheidet
man auch dort in Hinsicht auf die Theologie ein zweifaches princi-
pium: nämlich Gott als den Seinsgrund ( principium essendi) der
Theologie und die Heilige Scl:J.rift als den Erkenntnisgrund (princi-
pium cognoscendi) der Theologie. Wissenschaftsmethodologisch
kommt jedoch nur das letztere in Betracht, so daß die Heilige Schrift
auch als unicum et proprium theologiae principium bezeichnet wer-
den kann31 • An dieser Fassung des Schriftprinzips wird nun auf Grund
der hermeneutismen Erfahrung der Neuzeit durch den Terminus
"Formalprinzip" in der Weise Kritik geübt, daß zwar die fundamen-
tale Bedeutung des "sola scriptura" für das Wesen des Protestantis-
Johann Gerhards. Eine Untersuchung über das altlutherische Schriftverständnis.
1951.
10 Darum heißt es z. B. bei loh. WoUeb, ChrisL theol. Comp.: Quaestio, an

Scripturae sive sacra Biblia sint Dei verbum, homine Christiano indigna esL Ut
enim in schola contra negantem principia non disputatur, ita indignum iudicare
debemus, qui audiatur, si quis Christianse religionis principium neget.
11 loh. Gerhard (Loc. theol., Prooemium de natura theologiae 19, ed. Cott. II, 8)
sagt zusammenfassend: principium theologiae supematuralis adaequatum et pro-
prium esse divinam revelationem, quae cum hodie non nisi in sacris literis, h. e. in
propheticis Veteris et apostolicis Novi Testamenti libris descripta exstet, inde scrip-
turn Dei verbum sive quod idem est, Scripturam sacram dicimus esse unicum et
proprium theologiae principium. Ubi tamen observandum, non de essendi, sed de
cognoscendi principio hic agi. Deus est principium et causa theologiae prima,
quippe a quo et finis et media oriuntur, sed principium cognoscendi in theologia
est Dei verbum.
GEI\HAIU) EDELING f108/109]

mus anerkannt, zugleich aber eingestanden wird, mit dieser aus-


schließlichen Autoritätsstellung der Schrift sei noch nicht ihr Ver-
ständnis im reformatorischen Sinne sichergestellt. Man traut also
offenbar der Heiligen Schrift nicht ohne weiteres zu, daß sie von sich
aus das richtige Verständnis ihrer selbst gewährleistet, und sucht die-
sem Auslegungsrisiko zu steuern durch ein zusätzliches "Material-
prinzip", das die Funktion eines sachbestimmten hermeneutischen
Prinzips übernehmen soll. Daß man sich damit bereits im Bereich neu-
zeitlicher Denkweise befindet, zeigt schon die Art, wie hier zwischen
bloßer, leerer "Form" und dem eigentlich wesentlichen "Inhalt" un-
terschieden wird. In aristotelischer Terminologie müßte man eher
umgekehrt formulieren, nämlich der Schrift als dem "Materialprin-
zip" die Rechtfertigungslehre als "Formalprinzip", präziser: als ratio
formalis des rechten Schriftverständnisses zuordnen32 • Vom neuzeit-
lichen Standpunkt aus erscheint das Schriftprinlzip für sich genom-
men als formal im Sinne von unbestimmt in sachlicher Hinsicht, also
mehrdeutig, so daß es erst durch das beigefügte Materialprinzip ein-
deutig wird im reformatorischen Sinne. Zwar steht hinter dieser Zwei-
heit von Formal- und Materialprinzip des Protestantismus die Ober-
zeugung, daß dieses Materialprinzip schriftgemäß, ja der eigentliche
Kanon im Kanon sei. Trotzdem legt sich die Frage nahe, ob die Struk-
tur dieser zwei Prinzipien nicht eine gewisse Verwandtschaft mit der
als katholisch geltenden Zweiheit von Schrift und Tradition aufweist,
insofern die Schrift zur Sicherung ihrer rechten Auslegung der Fixie-
rung einer bestimmten Auslegungstradition bedarf, wie sie nun im
reformatorischen Bekenntnis vorliegt.
Daß an der Unterscheidung von Formal- und Materialprinzip das
Problem des Kanons sich als Frage des Kanonsverständnisses, das
Problem des "sola scriptura" sich als Frage der Schriftauslegung
stellt, treibt zweifellos die Explikation des Sachverhalts erhellend vor-
an. Doch kommt dadurch nur an den Tag, was wesenhaft das Urteil
der Kanonizität und entsprechend des "sola scriptura:4 in sich schließt.
Denn es ist eine Täuschung, als sei das Schriftprinzip, selbst im ortho-
doxen Verständnis, ein rein formales. Als expliziertes besagt es doch:
die Schrift sei das Wort Gottes. Wenn nun auch der Eindruck, man
habe es mit einer rein formalen Bestimmung zu tun, sich ebenfalls
auf den Begriff des Wortes Gottes übertragen kann, so wird man doch
zugeben müssen: Indem das "sola scriptura" durch die Prädizierung
der Schrift als Wort Gottes interpretiert wird, wird dem hier in Be-
tracht kommenden Verständnis von Autorität und damit auch dem
11 Das entspräche dann etwa der Unterscheidung, die Thomas zwischen dem
obiectum fidei materiale und der formalis ratio obiecti fidei macht: S. th. 2, II q.l
a.1.
(109/110] "Sola scriptura" und das Problem der Tradition 301
Verständnis dessen, was hier sachlich in Frage steht, zumindest die
Richtung gewiesen. Und wenn auch der Begriff des Wortes Gottes
noch so unbestimmt in Ansatz gebracht wird, gibt er doch das Gefälle
dessen an, was die Kanonizität der Schrift eigentlich besagt, und stellt
ein gewisses - vielleicht sehr vage erfaßtes, aber der Explikation
fähiges und bedürftiges - Kriterium dessen dar, in welcher Hinsicht
der Kanon kanonisch ist. Durch das grundsätzliche Verständnis der
Schrift als Wort Gottes hat die altprotestantische Orthodoxie den sach-
lichen Sinn der Kanonizität bzw. des "sola scriptura" angegeben und
dabei diesen vielleicht sogar von vornherein präziser gemeint, als es
zum Ausdruck kommt.
Was aber von dem orthodoxen Schriftprinzip gilt, trifft grundsätz-
lich auf jedes, auch das katholische Kanonsverständnis zu. Es impli-
ziert notwendig ein wenn auch noch so verborgenes Sachkriterium.
Ein formales Schriftprinzip ist eine Unmöglichkeit. In der Doppelheit
der als kanonisch bezeichneten Schriften selbst auf der einen Seite und
des in dieser Bezeichnung gemeinten Kanons- und Autoritätsverständ-
nisses auf der anderen Seite liegt eine diesem Sachverhalt notwendig
eigene Spannung, I wie sie dann in der theologiegeschichtlich späten
Unterscheidung von Formal- und Materialprinzip zwar zutage ge-
treten, aber nicht in ihrem eigentlichen Wesen erlaßt ist. Denn statt
von zwei getrennten Prinzipien auszugehen, käme es darauf an, sich
auf die Bewegung einzulassen, in der die kanonischen Schriften selbst
sich als kanonisch zur Geltung bringen und den Sinn ihrer Kanonizi-
tät deutlich werden lassen. Damit, daß diese Schriften als Kanon, als
Heilige Schrift bezeichnet und rezipiert sind, ist nur ein Anspruch er-
hoben, den es einzulösen gilt, oder- vielleicht sachgemäßer formu-
liert- eine Verheißung ausgesprochen, die es wahrzunehmen gilt, je-
denfalls eine Aufgabe gestellt, die im auslegenden Umgang mit der
Schrift in Angriff zu nehmen ist. Die Bezeichnung als Kanon ist im
genauenSinne des Wortes" Vor-Urteil" 33 , das der Erprobung und Be-
währung an der Schrift selbst auszusetzen ist.
Wenn aber das Verständnis der Schrift als Kanon in eine Ausle-
gungsaufgabe hineintreibt, in der an der Fülle der Schriftaussagen
deutlich zu machen ist, inwiefern sie "kanonisch" sind und was über-
haupt Kanonizität dieser Texte besagt, dann ist unbestreitbar die
durch den Kanon als Kanon gestellte Aufgabe eine kritische, die stän-
dig gegen falschen Gebrauch des Kanons und falsches Kanonsver-
ständnis wahrzunehmen ist3 '. Das reinigende, klarstellende Zur-Gel-
11 Zu dem positiven hermeneutischen Sinn von" Vorurteil" vgl. H.-G. Gadamer,
Wahrheit und Methode. 1960, 255 ff.
a. Dies einzuschärfen ist der Sinn von Luthers Vorreden zum Neuen Testament:
"Siehe, nun richte dich also in die Bücher des Neuen Testaments, daß du sie auf
GERHABD EDELING [110/111]

tung-Kommen des Kanons als Kanon vollzieht sich in erster Linie und
eigentlich durch die Verkündigung an der menschlichen Wirklichkeit,
um derentwillen die Verkündigung und darum auch der Kanon not-
wendig sind. In diesen umfassenden Vorgang klärenden Zur-Ent-
scheidung-Bringens gehört selbstverständlich auch die gegen alle Ar-
ten von Unklarheit und Irrtum angehende Klärung dessen, wie der
Kanon als Kanon zu verstehen und zu gebrauchen ist. Das schließt
aber wiederum mit Notwendigkeit eine innere Kanonskritik in dem
Sinne ein, daß gegen drohende Desorientierung in bezugauf die Ein-
heit des Kanons die Stellung des einzelnen Textes im Kanon kritisch
bedacht wird. Bekannt, aber vielleicht längst nicht bekannt genug,
sind die Weisen, wie Luther der inneren Kanonskritik Raum gegeben
hat: durch Umstellung des Hebräer- und Jakobusbriefs hinter die
johanneischen Briefe und die unbezifferte Aufführung der nun vier
letzten neutestamentlichen Schriften, nämlich Hebräerbrief, Jakobus-
brief, Judasbrief, Offenbarung Johannis, außerhalb der fortlaufen-
den Zählung I der übrigen 23 Bücher des Neuen Testaments315 sowie
durch wertende Urteile, "welches die rechten und edelsten Bücher des
Neuen Testaments sind" 38 , und entsprechende negative Äußerungen
zu anderen neutestamentlichen Schriften37 •
Was sich hier in freilich besonders auffallender Weise vollzieht, ge-
hört grundsätzlich, ob ausdrücklich oder stillschweigend, zu jedem
Umgang mit dem Kanon, wenn er überhaupt als Kanon verstanden
wird. Daß hier die Möglichkeit einer Kanonsrevision auftaucht, ist
grundsätzlich zu bejahen, kann aber nur dann als Einwand gewertet
werden, wenn man die in der Struktur des Kanons liegende Span-
diese Weise zu lesen wissest." WADB 6; 10,6 f. (1522) 11, 6 f. (1546). Die Tatsache
der Beifügung solcher Vorreden ist nichts Neues. Luther folgt - wenn auch der
Samenamin kritismer Orientierung (vgl. WADB 6; 8, 5 = 9, 5)- dem Vorbild
der Vulgata-Vorworte des Hieronymus.
11 WADB 6; 12 f. Sowohl im Neuen Testament deutsch 1522 wie in der Bibel-
ausgabe von 1546.
11 WADB 6; 10, 6-35. Dieser Passus der Vorrede zum Neuen Testament ist von
1534 an fortgelassen. Vgl. jedom die Vorrede zum Römerbrief: WADB 7; 2, 3 f.
(1522) = 3, 3 f. (1546) sowie den Beginn der Vorrede zum Hebräerbrief, WADB 7;
344,2-4 (1522) = 345,2-4 (1546): "Bisher haben wir die rechten gewissen Haupt-
bücher des Neuen Testaments gehabt. Diese vier nachfolgenden aber haben vor-
zeiten ein ander Ansehen gehabt ... "
11 Zum Hehr.: WADB 7; 344, 4-19 (1522) = 345, 4-19 (1546). Zum Jak.- und
Judasbrief: WADB 7; 384 ff. (1522 und 1546). Manbeamte aber, daß es neben der
bekannten Bezeimnung des Jakobusbriefes als "stroherner Epistel" (WADB 6; 10,
33 f. [1522] zugleim beißt: "Diese Epistel S. Jacobi, wiewohl sie von den Alten
verworfen ist, lobe ich und halte sie dom für gut, darum daß sie gar kein Men-
smenlebre setzt und Gottes Gesetz hart treibt." WADB 7; 384, 3-6 (1522) = 585,
3--5 (1546). Zur Offb. Job.: WADB 7; 4()4 (1522), ab 1530 durch eine ganz andere
Vorrede (aaO 406 ff.) ersetzt.
[111/112] nSola scriptura" und das Problem der Tradition

nung zwischen der allgemeinen Behauptung der Kanonizität und dem


konkreten Aufweis der Kanonizität verkennt bzw. die eigentliche Ka-
nonizität von den auszulegenden Texten auf ein definitives Kanons-
dekret, also im Prinzip auf eine Auslegung verlagert. Sich für die
Möglichkeit einer Kanonsrevision offenzuhalten, besagt dasselbe, wie
sich im Umgang mit der Heiligen Schrift der Möglichkeit einer Kor-
rektur seines Verständnisses und Bekenntnisses des christlichen Glau-
bens auszusetzen. Wollte man das a limine ausschließen, so wäre die
Schrift gerade nicht als Kanon ernst genommen. Etwa darum das Be-
kenntnis als ungewiß anzusehen, weil es sich der Heiligen Schrift als
der "alleinigen Regel und Richtschnur" unterstellt, oder anders for-
muliert: etwa darum die Auslegung nicht ernst zu nehmen, weil sie
am Text zu prüfen bleibt und nie an die Stelle des Textes treten darf,
verriete Unverstand in bezugauf das Wesen des Bekenntnisses und
zugleich in bezugauf das Wesen von Auslegung.
Das römisch-katholische Kanonsverständnis, das die Autorität des
Kanons letztlich im kirchlichen Kanonsdekret verankert, kann darum
die Schrift nur in der Weise als Kanon gelten lassen, daß ihr eine Aus-
legungstradition als kanonisch übergeordnet wird. Das reformato-
rische Kanonsverständnis dagegen, das die Autorität dem als Kanon
rezipierten ISchriftenkorpus läßt, kann darum das kirchliche Kanons-
dekret nur in dem Sinne als kanonisch gelten lassen, daß es, weil Aus-
legung, an der Schrift selbst geprüft, darin aber in seinem Urteil über
die Kanonizität der Schrift gerade beim Wort genommen wird.
Im übrigen lenkt das Starren auf die extreme Möglichkeit einer Ka-
nonsrevision - zu der, was das Neue Testament betrifft, trotz der von
Luther geübten inneren Kanonskritik seiner eigenen Auffassung nach
gar kein Anlaß war - von dem entscheidenden Problem ab. Die
Frage, ob etwa einzelne Schriften oder Teile von ihnen zu Unrecht
zum Kanon gehören, suggeriert leicht ein falsches Kanonsverständnis,
wonach der Kanon eigentlich nicht Sammlung von geschichtlich diffe-
renzierten Zeugnissen, sondern ein gesetzlich handhabbares dogma-
tisches Lehrbuch sein sollte und die Notwendigkeit der Interpreta-
tion schon als im Grunde der Kanonsidee widersprechend angesehen
wird. Das Kernproblem, auf das das Stichwort der inneren Kanons-
kritik weist, ist von der Existenz des Kanons, in welcher Umgrenzung
auch immer, unabtrennbar, also durch keine Kanonsrevision zu eli-
minieren. Denn es ist identisch mit der Aufgabe, den Kanon als Ka-
non zu gebrauchen, also das "sola scriptura" zu praktizieren.

C. Die Wahrheit des "sola scriptura"


Durch die Erörterung der Einwände, die gegen das "sola scriptura",
besonders unter Hinweis auf das Phänomen des Kanons, erhoben
GERHARD EDELING [112/113]

werden, ist einer positiven Entfaltung des "sola scriptura" vorgear-


beitet worden. Sie muß nun im Gegenüber zur katholischen Zusam-
menordnung von "Schrift und Tradition" zum Thema werden, doch
so, daß die Wahrheit des "sola scriptura" sich an dem bestmöglichen
Verständnis der Gegenposition bewähren muß.
1. Der hermeneutische Sinn der Formel "Schrift und Tradition". Es
ist keineswegs selbstverständlich, inwiefern die Formel "Schrift und
Tradition" dem "sola scriptura" widerspricht. Die Particula exclu-
siva gilt nur in bestimmter Hinsicht, untersagt also natürlich nicht
etwa den Umgang mit anderen Büchern und Überlieferungen, im
Gegenteil, fordert ihn geradezu, da nur in Begegnung mit der Fülle
des für das Menschsein irgendwie Belangvollen das in der Heiligen
Schrift Bezeugte sich in seiner Einzigkeit Geltung verschaffen und
diese Geltung bewähren kann. Nun ist aber die Intention der Formel
"Schrift und Tradition" ohne Zweifel nicht die, die Einzigkeit der Hei-
ligen Schrift, wie sie in ihrer Stellung als Kanon zum Ausdruck
kommt, anzutasten und einzuschränken. Wenn das "sola scriptura",
wie man zunächst jedenfalls meinen sollte, nichts anderes besagt, als
eine ausdrückliche Unterstreichung der kanonischen I Sonderstellung
der Heiligen Schrift, dann steht es in diesem Sinne unbestritten auch
auf katholischer Seite in Geltung. Das "pari pietatis affectu ac reve-
rentia" des Tridentinum38 enthebt trotz der darin ausgesprochenen
Gleichstellung von Schrift und Tradition nicht der Notwendigkeit,
sich über deren Unterschied so Rechenschaft zu geben, daß man der
nicht bestrittenen Sonderstellung der Bibel als kanonischer Schrift
gerecht wird39 • Denn weder die einzigartige Autorität der Heiligen
18 Denz. 783. Die Frage der Gleichstellung hatte auch in bezugauf das Verhält-
nis der kanonischen Schriften untereinander zur Diskussion gestanden; aber von
einem formellen Beschluß im Sinne von "pari auctoritate" wurde abgesehen.
H. Jedin, Geschichte des Konzils von Trient. Bd. II. 1957, 45 f. J. R. Geiselmonn,
Die Heilige Schrift und die Tradition. Quaest. disp. 18, 1962, 280. Anderseits waren
Stimmen laut geworden, die mit "pari pietatis a.ffectu" nur die Gleichstellung der
geschriebenen und ungeschriebenen Traditionen zum Ausdruck bringen wollten,
H. Jedin, aaO 60.
11 Vgl. K. Rahner, Was ist eine dogmatische Aussage? Cath. 15, 1961, 161-184
(s. o. S. 97, Anm.13), erläutert die "eigentümliche, einmalige Stellung der Heiligen
Schrift" folgendermaßen: Ihre Aussagen "gehören zu dem einmaligen geschichtli-
chen Heilsereignis selbst, auf das sich alle Verkündigung und alle Theologie später
beziehen, sie sind in diesem ganz bestimmten Sinn wahr als Theologie, auch wahr
als absolut verpflichtende Theologie, nicht nur eine Glaubensaussage, sondern die-
jenige, die der bleibende Grund aller anderen und künftigen bleibt, sie sind das
Tradierte, nicht die entfaltende Tradition des Tradierten." (180) Die Frage, in wel-
cher Form die "ursprüngliche Glaubensaussage als norma normans non normata,
sowohl der glaubensfordernden wie der nicht verbindlichen heutigen Glaubens-
aussage, gegeben ist", beantwortet Rahner darum "schlicht und einfach": "in der
Heiligen Schrift". Und er bemerkt dazu: "Auch wenn wir die in der katholischen
[113/114] "Sola scriptura" und das Problem der Tradition

Schrift (ihre I Kanonizität) noch - was davon untrennbar ist - ihre


Offenbarungsdignität (ihre Inspiration) sind an sich zwischen Ka-
tholizismus und Reformation kontrovers. In der Reformation ist zwar
der Gesichtspunkt der Kanonizität strenger gehandhabt worden: Es
erfolgt die Bindung an den engeren hebräischen Kanon, also unter
Ausschluß der Apokryphen; im Neuen Testament wird zwischen pro-
to- und deuterokanonischen Schriften, entsprechend den Antilego-
mena in der Kanonsgeschichte, unterschieden; als maßgebend wird
allein der Urtext angesehen. All das sind Symptome einer nicht la-
xeren, sondern strengeren Fassung des Kanons. Desgleichen ist im
orthodoxen Ausbau der Lehre von der Schrift der Gesichtspunkt der
Inspiration aufs äußerste verschärft worden. Doch trotz solcher Grad-
unterschiede wird damit nicht die Grunddifferenz erlaßt, auf die das
"sola scriptura" als kontroverstheologische Formel hinweisen soll.
Man trifft den Sachverhalt auch damit nicht, daß es sich um verschie-

Theologie noch und heute mehr als in den letzten Jahrhunderten kontrovene
Frage ganz offen lassen, ob die Tradition, die nad:l dem Trienter Konzil eine Norm
unseres Glaubens und der kirchlid:len Lehrverkündigung ist, grundsätzUm und ab-
strakt gesprochen eine zur Schrift additiv hinzukommende Quelle materialer Glau-
bensinhalte ist oder nur ein formales Kriterium für die Reinheit des Glaubens,
nad:ldem sich der materiale Inhalt der apostolisd:len Verkündigung in der Sd:lrift
&adilirh adäquat niedergeschlagen hatte, so können wir auf unsere Frage doch ant-
worten: die Heilige Schrift. Der Grund dafür ist einfach. Selbst wenn wir nämlich
annehmen, daß es eine Quelle neben der Schrift gäbe, die uns materiale Glaubens-
inhalte bezeugen würde, die nicht aud:l in der Heiligen Schrift zu finden sind, so
wäre diese Traditionsquelle dod:l faktisch nimt so, daß in ihr nur das von Gott als
rein garantierte Zeugnis der eigentlid:l offenbarungsmäßigen, apostolischen Ober-
lieferung mit menschlicher Oberlieferung unvermisd:lt geblieben wäre." (181)
" ... die Christen stimmen (mindestens im wesentlid:len) darin überein, daß der
Kirche in der Heiligen Schrift die reine (wenn aud:l durmaus gesd:limtlid:le) sd:lrift-
lid:le Objektivation des apostolisd:len Kerygmas gegeben ist ... Und eine sold:le ob-
jektive Norm besitzt die Kirche sonst nid:lt, wenn sie aus dem konkreten Ganzen
ihrer faktisd:len Tradition mit der Gabe der Untend:leidung bestimmen will, was
in dieser Tradition eigentlich Offenbarungstradition ist und was bloß mensd:llid:le
Oberlieferung, die es aud:l von Anfang der Kirche an gegeben hat. Insofern es also
eine objektive norma normans, non normata gibt und diese identisd:l ist mit der
Sd:lrift und mit ihr allein, eine Norm primär für das Glaubensbewußtsein der Ge-
samtkircheund für das kirdilid:le Lehramt und nid:lt für den einzelnen (oder gar
noch für seinen Kampf gegen das autoritativ sid:l durd:l das Lehramt bezeugende
Glaubensbewußtsein der Gesamtkirche), ist dieses ursprünglid:le Offenbarungs-
und Glaubenswort in der Kirche und der Kirche wesentlid:l von jeder späteren theo-
logisd:len Aussage der Kirche und in der Kirche untenchieden ... " (182) Ferner:
Karl Rahner, Ober die Sdniftinspiration. Quaest. disp. 1, 1958. 0. Semmelroth,
Wirkendes Wort. Zur Theologie der Verkündigung. 1962, 33: "Schrift und Ober-
lieferungstehen nimt in gleid:ler Beziehung zum Wort Gottes. lnhaltlid:l enthalten
sie wohl beide Gottes Wort, das von Gott Gesprod:lene. Aber die Heilige Schrift
als inspiriertes Buch ist auch Gottes Wort, sie enthält es nid:lt nur. Denn sie hat
Gott zum Autor, was man von der Oberlieferung nid:lt sagen kann."

20 Käscmann, Kanon
GEl\HARD EDELING [114/115]

den weit gespannte Bezirke des Normativen handele: Der Protestan-


tismus reduziere das Normative auf den biblischen Kanon in seiner
strengsten Fassung, während der Katholizismus zur Bibel hinzu auch
noch die mündliche Tradition für kanonisch erkläre. Diese Charakte-
risierung kennzeichnet zwar grobschlächtig in der Tat den Sachver-
halt, und zwar nicht nur die Vorstellung, die weithin beide Konfes-
sionspartner voneinander haben, sondern auch deren beider triviales
Selbstverständnis. Das Unzureichende daran läßt sich aber katho-
licher- wie evangelischerseits relativ leicht erkennen.
Sobald man diese Vorstellung von nebeneinander liegenden Be-
zirken des Normativen in der Weise konkretisiert, daß dann offenbar
der zweigeteilte Kanon Heiliger Schrift Alten und Neuen Testaments
durclt den Bereiclt der Tradition zu einer Biblia tripartita erweitert
werde, die Heilige Schrift also in diesem dritten Teil immer weiter
wacltse und der Kanon im Ganzen somit radikal offene Grenzen habe,
so wird die Absurdität dieser Deutung offensiclttlich. Daß sie freiliclt
nicht ganz aus der Luft gegriffen ist, liegt an dem schillemden Cha-
rakter des katholischen Traditionsbegriffs und an der immer noch
rmd erst recltt im heutigen Katholizismus umstrittenen Frage, wie die
Tradition zur Heiligen Schrift in Beziehung zu setzen sei. Den Ein-
druck des Verwirrenden erweckt der I katholische Traditionsbegriff
zunächst durch die Einengung auf ungeschriebene Tradition. Zwar
kann das Wort" Tradition" auch in dem weiten Sinn gebraucltt wer-
den, daß es geschriebene und ungeschriebene Überlieferung um-
greift40. Faktisch hat sich aber der engere Sprachgebrauch durchge-
setzt, ob man nun die Nichtschriftlichkeit ausdrücklich hervorhebt41
oder stillschweigend meint, wie das besonders bei dem globalen sin-
gularischen Gehraum von "Tradition" im neueren Katholizismus der
Fall ist. Damit ist das unbestreitbar Wahre am Traditionsgedanken
von vomherein durch einen theologischen Traditionsbegriff okkupiert,
der sich neben der Schrift konstituiert hat und in Ergänzung zu ihr
den Gesichtspunkt der Tradition wahrzunehmen beansprucllt, wäh-
rend doch auch die Schrift, recht verstanden, Tradition ist und die
Tradition neben der Schrift ebenfalls immer wieder zu schriftlicher
Fixierung gelangt.
Hier greift nun, die Schwierigkeiten steigernd, die Ambivalenz
von traditio als traditwn und als actus tradendi ein. Wäre unter" Tra-
dition", wie es vor allem der pluralisclle Gebrauch "sine scripto tra-
ditiones" nahe legt, nur der Inbegriff derjenigen apostolischen tra-
dita zu verstehen, die nicht in der Schrift enthalten sind, sondern sich
• Z. B. die Formulierung des Nicänum li: Denz. 308.
• 1 So im Tridentinum Sessio IV: libri scripti et sine scripto traditiones, Denz.
78~.
[115/116] "Sola scriptura" und das Problem der Tradition 307

zunächst nur in mündlicher Weitergabe bzw. in Gestalt von bestimm-


ten Gebräuchen oder Einrichtungen fortgepflanzt haben, so wäre
selbstverständlich anzunehmen, daß diese tradita längst in irgend-
einer Weise ebenfalls schriftlich fixiert seien. Es wäre geradezu Kri-
terium des wirklichen Interesses an der Erfassung, Bewahrung und
Reinerhaltung jener die Schrift ergänzenden apostolischen tradita,
daß man auf ihre schriftliche Festlegung bedacht wäre. Im übrigen
ist schriftlicher Niederschlag die unabdingbare Voraussetzung für die
Möglichkeit eines Traditionsbeweises. Nur so wäre auch der Anspruch
apostolischer Tradition nachprüfbar und gegen den Verdacht einer
Fiktion zu schützen. Und daran hängt wiederum die Möglichkeit
konkreter Unterscheidung zwischen apostolischen und kirchlichen
oder bloß menschlichen Traditionen42 • Doch gehen diese Erwägun-
gen an dem eigentlichen Interesse des katholischen Traditionsbegriffs
offensichtlich vorbei. Der Vorschlag, das, was mit "sine scripto tra-
ditiones" gemeint sei, zu spezifizieren, ist nicht zufällig in Trient un-
ter den Tism gefallen•3 • Was man gewöhnlich als Beispiele für apo-
stolische Traditionen, Idie nicht in der Schrift enthalten sind, anführt,
betrifft zumeist zeremonielle oder disziplinarische Einzelheiten wie
Kindertaufe, Ohrenbeichte und dgl., wovon man sich fragen muß,
was hier letztlich überhaupt an der Apostolizität der Herkunft hängt
und inwiefern dies mit der "Reinheit des Evangeliums"•• zu tun hat,
ob also diese aufs Ganze gesehendomperipheren "Ergänzungen" der
Schrift wirklich den Aufwand der Lehre von der Tradition rechtferti-
gen. Sofern aber wesentliche dogmatische tradita im Blick sind, zu
deren Begründung man sich auf eine die Schrift ergänzende Tradition
berufen muß, wie z. B. bei den mariologischen Dogmen, wird hier
ohnehin ein streng historisches Verständnis von Apostolizität, aber
auch ein einfaches Ergänzungsverhältnis zur Schrift problematisch.
Schon die entschiedene Betonung der Nichtschriftlichkeit der Tra-
dition weist darauf hin, daß weit mehr als an bestimmten tradita am
Gesichtspunkt des fortdauernden actus tradendi das eigentliche In-
teresse haftet. Von daher könnte sogar das Verhältnis zur Schrift als
ganz unproblematisch erscheinen: Die Schrift wäre das traditum
tradendum, das in der Tradition als dem actus tradendi, in münd-
a Belehrungen, wie sie P. Lengsfeld (s.o. S. 97, Anm. 13) 175 an die Adresse
evangelischer Theologen wegen der Nimterwähnung der Unterscheidung zwischen
"göttlim-apostolischen" und "kirdilimen" Traditionen erteilt, würden weniger ent-
rüstet ausfallen, wenn man sim zugleich verpßimtet sähe, sim zur Frage der kon-
kreten Verifizierbarkeil dieser Unterscheidung zu äußern.
a H. Jedin (s.o. 5.113, Anm. 38) 50.
" Vgl. im Dekret des Tridentinum (Denz. 783) die Wendungen: ut sublatis erro-
ribus puritas ipsa Evangelii in Ecclesia conservetur, sowie: hanc veritatem et dis-
ciplinam contineri in libris scriptis et sine scripto traditionibus ...
:w
GB.lUIAl\D EDELING [116/117]

liebem Verkündigungsgeschehen weitergegeben würde, selbstver-


ständlich nicht in starrer Wiederholung, sondern in Übersetzung und
Entfaltung, so daß das Verhältnis von Schrift und Tradition das von
Text und Auslegung wäre•5 • Zweifellos ist dieser Gesichtspunkt der
andauernden Weitergabe des ein für alle Mal Offenbarten ein be-
stimmender Faktor im katholischen Traditionsbegri.f?8 • Trotzdem
läßt sich das Problem, das in der katholischen Formel "Schrift und
Tradition" angesprochen ist, nicht so einfach entschärfen, daß man
hier "Tradition" allein auf den actus tradendi deutet und den Unter-
sdried zur Schrift nicht auch in bezug auf das traditum selbst bedenkt.
Wenn man in Betracht zieht, daß die Kirche selbst einerseits die Tra-
dition im Sinne des andauernden Prozesses der traditio ist, anderseits
in Gestalt des unfehlbaren Lehramtes letztlich Kriterium und Instanz
in einem ist zur Entscheidung über das, was als traditum der traditio
divino-apostolica zu gelten habe, und daß eben in jenem Tradiltions-
prozeß dieses traditum proponiert und exponiert wird, so ist deutlid:J.,
daß hier die Untersd:J.eidung von traditum und actus tradendi letzt-
lich dahinfällt und beides in eins verschmilzt: in die als Kirche sich
überliefemde Offenbarungswirklichkeit. Die Kird:J.e - als das corpus
Christi mysticum - ist die Tradition in der Einheit von traditum
tradendum und actus tradendi.
Die heute im römischen Katholizismus vorläufig noch so heftig um-
strittene Frage, ob von Schrift und Tradition als zwei Offenbarungs-
quellen oder als zwei Formen der einen Offenbarung zu reden sei•7 ,

" In diese Richtung tendieren die oben S. 113, Anm. 39 zitierten Äußerungen
von K. Rahner.
" Im Tridentinum (Denz. 783) wird mit der Betonung des historisch Einmali-
gen zugleich die bis in die Gegenwart laufende geschichtliche Bewegung des Uber-
lieferns hervorgehoben: ... sine scripto traditionibus, quae ab ipsius Christi ore ab
Apostolis acceptae, aut ab Apostolis Spiritu Sancto dictante quasi per manus tradi-
tae ad nos usque pervenerunL Ferner: ... traditiones ipsas, tum ad fidem, tum ad
mores pertinentes, tanquam oretenus a Christo, vel a Spiritu Sancto dictatas et con-
tinua successione in Ecclesia catholica conservatas ...
47 Das Tridentinum (Denz. 783) hat für "libri scripti" und "sine scripto traditio-

nes" keinen gemeinsamen Oberbegriff. Dasselbe gilt von der Constitutio dogma-
tica de fide catholica, cap. 2 De revelatione, des Vaticanum I. Die Beifügung "De
fontibus revelationis" Denz. 1787 ist Zusatz des Herausgebers. Die Redeweise von
den "zwei Offenbarungsquellen" herrscht vor. Ausneuerer dogmatischer Literatur
vgl. z. B. P. M. Nicolau, S.l., in: Patres S. J. in Hispania professores, Sacrae Theo-
logiae Summa I. Madrid 1955, TracL I n. 57: Tractatus de fontibus revelationem
continentibus, sive de Traditione et Scriptura, est fundamentum pro Theologia
dogmatica ... u. ö. M. Sc:Junaus, Katholische Dogmatik I. 19531, 107: "Die gegen-
ständliche Oberlieferung im engeren Sinne ist eine selbständige der Schrift gleich-
wertige Glaubensquelle." So auch der Kath. Katechismus der Bistümer Deutsch-
lands (1955) Nr. 51: "Nicht alle Wahrheiten, die Gott geoffenbart hat, sind in der
Heiligen Schrift aufgeschrieben. Manche wurden von den Aposteln nur gepredigt
[117/118] "Sola scriptura" und das Problem der Tradition

und die damit gleichlaufende Frage, ob die Tradition im Verhältnis


zur Schrift ergänzenden oder bloß interpretierenden Charakter habe,
ist zwar als Symptom der Problemstruktur aufschlußreich. Aber bei
aller Behutsamkeit im Wissen darum, daß die definitive Antwort,
welches die sachgemäße katholische Lehre sei, wesensgemäß nur
durch das kirchliche Lehramt selbst gegeben werden kann, wird man
die Verschiedenheit der innerkatholischen Standpunkte kaum für un-
vereinbar halten können, darum aber auch die Bedeutung dessen,
welche Position sich in stärkerem Maße durchzusetzen vermag, nicht
überschätzen dürfen. Denn wer die Auffassung von den sich ergän-
zenden zwei Offenbarungsquellen vertritt, kommt nicht umhin, ein-
mal überhaupt den Zusammenhang herzustellen zwischen der Lehre
von der Tradition und der Lehre von der kirchlichen Autorität in Sa-
chen der Schriftauslegung'& und ferner Rechenlschaft zu geben über
die Art und Weise der Obereinstimmung der Inhalte beider Offen-
barungsquellen. Die Anhänger der Auffassung von der materiellen
Suffizienz der Schrift und der bloß interpretierenden Funktion der
Tradition müssen dagegen Auskunft geben, wie bestimmte Inhalte
der Tradition noch als Auslegung des Schriftinhalts verstanden wer-
den können und wie sich die Behauptung der rein interpretatorischen
Rolle der Tradition gegebenenfalls mit der Bestreitung der exegeti-
schen Nachprüfbarkeit verträgt49 • Denn darin besteht auch zwischen
und sind dann von der Kirche als kostbares Erbe überliefert worden. Wir nennen
sie mündlime Oberlieferung oder die Erblehre. Die meisten dieser Wahrheiten
wurden smon bald nam der Zeit der Apostel von heiligen und gelehrten Männem
aufgeschrieben (Kirchenväter). Die Heilige Sduift und die Erblehre sind die bei-
den Quellen des Glaubens. Unter dem Beistand des Heiligen Geistes bewahrt die
Kirche sie unverfälsdlt und sdlöpft aus ihnen die Lehre." 1. R. Geiselmann (s. o.
S. 93, Anm. 5) 9 bezeidmet diese Formulierung des Verhältnisses von Sduift und
Tradition im Einheitskatechismus als "unglücklim". Er selbst sprimt von den
"beiden Formen", "durch die das von Jesus Christus promulgierte, von den Apo-
steln verkündete Evangelium als die einzige Quelle des Heils vermittelt wird"
(271).
411 Im Tridentinum wie im Vaticanum I stehen die Äußerungen über Schrift
und Tradition (Denz. 783, 1787) sowie über Sduift und Kird:le als entsdleidende
Auslegungsinstanz (Denz. 786, 1788) im seihen Dekret, aber nebeneinander, ohne
Reflexion auf die innere Verbindung von beidem. Es liegt aber auf der Hand, daß
diese Verbindung besteht und auf Explikation drängt, daß also die kird:llidte Aus-
legung, vor allem in ihrer letztinstanzlimen Entsdleidungsvollmacbt, unter den
Samverhalt der Tradition fällt und die Tradition hermeneutischen Sinn hat.
" Vgl. z. B. den Vorbehalt K. Rahners in den o. S. 113, Anm. 39 zitierten Aus-
führungen: Die Sdtrift allein sei objektive norma normans, non normata, - frei-
Um "eine Norm primär für das Glaubensbewußtsein der Gesamt.kinhe und für das
kirchliche Lehramt und nimt für den einzelnen (oder gar nodl für seinen Kampf
gegen das autoritativ sim durch das Lehramt bezeugende Glaubensbewußtsein in
der Gesamtkird:le) ... " 0. Semmelroth (s.o. S. 97, Anm. 13) 106 f.: "Das von Gott
geoffenbarte Glaubensgut wird ... dargeboten dun:h die Heili~e Schrift, insofern
310 GERHAl\D EDELING [118/119]

den gegensätzlichen Standpunkten Ubereinstimmung: Es handelt


sich um eine einzige Offenbarung, so daß in der maßgebenden Tra-
dition a priori nimts begegnen kann, was den Charakter einer neuen,
anderen Offenbarung hat. Dann stellt sich aber auf jeden Fall die
Aufgabe, den in der Offenbarung selbst begründeten Zusammenhang
zu explizieren, also aum die als "ergänzend" aufgefaßte Tradition als
mit dem Schriftinhalt einig und letztlich eins zu interpretieren, und
d. h. sie selbst als Interpretation aufzu!fassen. Die ergänzende Funk-
tion der Tradition wäre dann in der Tat nur eine Art von Interpre-
tation im weiten Sinne. Die Auffassung von der rein interpretatori-
smen Funktion der Tradition ist deshalb insofern die konsequentere,
als sie die Aufassung von der ergänzenden Funktion der Tradition
(die für sich allein überhaupt nimt bestehen kann, sondern nur in
einer gewissen Verbindung mit dem Gesichtspunkt der Auslegung) so
deuten kann, daß diesesimindie erstere auflöst. Freilich wird da-
durm den Begriff der Interpretation aufs äußerste strapaziert. Aber
das liegt im Wesen der katholismen Auffassung von der Schriftausle-
gungiO, ganz gleich, ob man in bezugauf einen Randbereich lieber
von "Ergänzung" statt von "Auslegung" sprimt. Aufs Ganze des so
verwirrend vielseitigen Phänomens der Tradition im katholiscllen
Verständnis gesehen, steht es außer Zweifel: Die Formel Schrift und
sie durm lebendige, vom Heiligen Geist geleitete Oberlieferung der Kirche mitge-
teilt und ausgedeutet wird. Genauso gut kann man aber umgekehrt sagen: Gottes
Offenbarung wird uns übergeben durm die lebendige Uberliefenmg, insofern sie
die Heilige Schrift in ihren Händen trägt und aus deren Tiefe ans Licht hebt, was
Gottes inspirierender Geist in sie hineingeborgen hat. Was die Oberlieferung den
späteren Generationen weiterzugeben, zu deuten und ans Licht zu heben hat, ist
eben die Heilige Sdnih und sie allein. Denn die Heilige Schrift ist formell das
Wort Gottes, das den Inhalt der überliefemden und verkündigenden Tätigkeit der
Kirc:he ausmacht ... Und wenn die heutige Kirche ihre Verkündigung und Lehr-
entscheidungen ausdrücklich auf die Heilige Schrift zurückführt selbst da, wo das
für rein philologisch interpretierende Augen nicht vollzogen werden kann- wie
etwa bei den beiden letzten Marlendogmen -, so hat das nur zum Teil den Sinn
eines rechtfertigenden Nachweises, zum andem Teil und vielmehr hat es den Sinn
des Bekenntnisses, daß die Kinhe nicht ihr eigenes, sondern Gottes Wort verkün-
digt, das Jesus Christus seiner Kirc:he hinterlassen hat. Die kirchliche Verkündigung
deutet die Heilige Schrift unter der Führung des Heiligen Geistes, der das Leben
der Kirc:he dun:hseelt und allein all das aus der Tiefe zu heben vermag, was er
selbst inspirierend im Worte der Heiligen Schrift niedergelegt und gemeint hat."
Was besagt das- geradeheraus gesagt- schließlich anderes, als daß gegebenen-
falls der Anspruch, es sei Auslegung, die Auslegung ersetzen kann und der Aus-
legungsanschein als Kundgabe des Auslegungsanspruchs genügt?
10 Denz. 1788: ... ut in rebus fidei et morum ad aedificationem doctrinae chri-
stianae pertinentium is pro vero sensu sacrae Scripturae habendus sit, quem tenuit
ac tenet sancta mater Ecclesia, cuius est iudicare de vero sensu et interpretatione
Scripturarum sanctarum; atque ideo nemini licere contra hunc sensum aut etiam
contra unanimem consensu.m Patrum ipsam scripturam sacram interpretari.
[119/120] "Sola scriptura" und das Problem der Tradition 511

Tradition umschreibt die katholische Antwort auf das hermeneutische


Problem der Theologie: Die in der Schrift bezeugte Offenbarung kann
nicht recht verstanden werden ohne die in der Kirche repräsentierte
Tradition. Ja, die Kirche als die Tradition ist die gültige Interpreta-
tion der in der Schrift bezeugten Offenbarung5 1•
2. Das "sola scripura" als henneneutischer Grund-Satz der Refor-
mation. Wenn sich die Formel "Schrift und Tradition" als hermeneu-
tische These erweist, so muß entsprechend auch das "sola scriptura"
den Charakter eines hermeneutischen Grund-Satzes haben. Das re-
formatorische Schriftprinzip ist dann nicht zu ergänzen durch ein her-
meneutisches Prinzip im Sinne eines die Auslegung steuernden Ma-
terialprinzips, sondern das Schriftprinzip ist als solches ein hermeneu-
tisches Prinzip. Das "sola scriptura" ist im reformatorischen Sinn nicht
hinreichend verstanden als Reduktion der "Quellen" allein auf die
Heilige Schrift, also als Ausschluß zusätzlicher, ergänzender Oberlie-
ferungen neben der Heiligen Schrift. Das gilt selbstverständlich auch,
ist aber in seiner Bedeutung erst eigentlich erlaßt, wenn die Particula
exclusiva die hermeneutische Funktion der Tradition ausschließt, also
die Suffizienz und Selbstverständlichkeit der Heiligen Schrift in her-
meneutischer Hinsicht proklamiert. Als Satz formuliert meint dann
das "sola scriptura": Die Heilige Schrift ist die alleinige Quelle ihrer
Auslegung. Erst dann ist ihr Verständnis als alleiniger Quelle der
Offenbarung streng gefaßt, wenn sie als alleinige Quelle ihrer Ausle-
gung verstanden ist, sie also nicht, um Quelle der I Offenbarung zu
sein, zu ihrer Auslegung einer andern Quelle bedarf. Denn dann wäre
sie nicht Quelle der Offenbarung. Daß "allein die Heilige Schrift der
einzige Richter, Regel und Richtschnur" sei, bezieht sich im strikten
Sinne auf alles, was den Anspruch erhebt, Auslegung der Schrift zu
sein. Nicht die Tradition entscheidet darüber, was rechte Auslegung
der Schrift ist, sondern allein die Schrift selbst ist der Prüfstein ihrer
rechten Auslegung, also "iudex, norma et regula" der Tradition51 •
Daß die Vorstellung von dem einfachen Nebeneinander verschie-
11 Vgl. meinen Aufsatz: Wort Gottes und Hermeneutik. ZThK 56, 1959, 22+ bis
251; abgedruckt in: Wort und Glaube. 19621, 519--548.
u Form. Conc. Epitome (Die Bek. Sehr. d. ev.-luth. Kirche, 19521 , 769, 19-40):
Hoc modo luculentum discrimen inter sacras Veteris et Novi Testamenti litteraset
omnia aliorum scripta retinetur et sola sacra scriptura iudex, norma et regula
agnoscitur, ad quam ceu ad Lydium lapidem omnia dogmata exigenda sunt et
iudicanda, an pia an impia, an vera an vero falsa sint. Cetera autem symbola et
alia scripta, quorum paulo ante mentionem fecimus, non obtinent auctoritatem
iudicis; haec enim dignitas solis sacris litteris debetur: sed duntaxat pro religione
nostra testimonium dicunt eamque explicant ac ostendunt, quomodo singulis tem-
poribus sacrae litterae in articulis controvenis in ecclesia Dei a doctoribus, qui tum
vixerunt, intellectae et explicatae fuerint, et quibus rationibus dogmata cum sacra
scriptura pugnantia reiecta et condemnata sint.
GERHARD EDELING [120/121]

dener Bezirke des Normativen nur oberflächlich den kontroversen


Sachverhalt trifft, erweist sich nun auch auf protestantischer Seite dar-
an, daß die Auffassung des "sola scriptura" im Sinne bloßer Reduk-
tion der autoritativen Quellen überhaupt nicht den spezifisch refor-
matorischen Sinn des "sola scriptura" zur Geltung bringt. Denn dies
wäre nur dann der Fall, wenn die spezifisch reformatorische Auffas-
sung von der Autorität der Heiligen Schrift klargestellt würde. Sonst
unterschiede sich das reformatorische "sola scriptura" weder von dem
"sola scriptura" in seiner mittelalterlich-häretischen noch in seiner
traditionell katholischen Auffassung. Die Formel als solche ist nicht
spezifisch reformatorisch. Die papstkritischen Bewegungen des Mit-
telalters - nicht nur die eigentlich häretischen Erscheinungen, son-
dern auch die innerkirchlichen Reformbestrebungen - bedienten sich
weithin eines Schriftprinzips im Sinne einer Berufung auf die reine
lex divina 53 • Das geschah freilich in Anknüpfung an die traditionelle
Geltung des Kanons, also an ein auch von der kirchlichen Theologie
grundsätzlich konzediertes "sola scriptura" 5", nur daß der Vorbehalt
des I kirchlichen Auslegungsprivilegs mehr oder weniger konsequent
entfiel. Aber so wenig, wie dieser hermeneutische Vorbehalt vor der
Reformation hinreichend reflektiert war, wurde das "sola scriptura"
in häretischer Verwendung auf seinen hermeneutischen Sinn hin be-
dacht. So konnte Luther selbst sich für sein "Schriftprinzip" zwar auf
seinen Erfurter Lehrer, den Nominalisten Trutfetter, berufen55 , ohne
daß doch im Ernst behauptet werden könnte, daß sich das reformato-

A Vgl. das Material bei Fr. Kropatsdr.eck, Das Schriftprinzip der lutherischen
KirdJ.e. I. Bd. Die Vorgeschichte. Das Erbe des Mittelalters. 1904. Besonders ein-
drücklich ist eine Formulierung aus der tabontischen Konfession von 1451: Scrip-
tura sacra est fidei regula, ex qua bene intellecta omnis probatio efficax capi debet,
et ad quam omnis controversia in fide et moribus finaliter resolvi debet, tamquam
in primum et universalissimum doctrinae et scientiae fidei principium, praeter
quam nulla alia scriptura ad autoritatem debet suscipi, nec contra illam admit-
tenda est auctoritas ..." aaO 82.
M S. o. S. 95, Anm. 5. In diesem Zusammenhang wird in der Scholastik Augu-
stin, Ep. ad Hier. 82, 1, 3, MPL 53,277 = CSEL 55,554 zitiert: Sollseis Scriptura-
rum libris qui canonici appellantur, didici hunc timorem honoremque deferre, ut
nullum auctorem eorum in scribendo aliquid errasse firmissime credam. Alios au-
tem ita lego, ut, quantalibet sanctitate doctrinaque praepolleant, non ideo verum
putem, quod ipsi ita senserunt vel scripsenmt. Z. B. Thomas, S. th. I q.1 a.S.
11 WAB 1; 171, Nr. 74, 72-74 (Brief an J. Trutfetter v. 9. 5. 1518): ... ex te
primo omnium didici, solis canonicis libris deberi fidem, caeteris omnibus iudi-
cium, ut B. Augustinus, imo Paulus et Johannes praecipiunt. Das entspricht genau
W. Ockham, Dial. p. 411: solum canonibus, qui in Biblia continentur, necesse est
fidem certissimam ad.hibere (Kropatscheck 314). - Zum Problem "Schrift und Tra-
dition" im Nominalismus vgl. jetzt: H. A. Oberman, The Harvest of Medieval
Theology. Gabriel Biel and Late Medieval Nominalism. Cambridge1 Mass. 1963,
361-422.
(121/122] "Sola scriptura" und das Problem der Tradition 313

rische "sola scriptura" nicht entscheidend von dem Verständnis, wie


es zuvor vertreten wurde, unterschiede. Man träfe diesen Unterschied
aber nicht mit der Kennzeichnung: Zwar bestehe Obereinstimmung
in bezugauf das "sola scriptura" als "Formalprinzip", nur im Ma-
terialprinzip liege die Differenz. Vielmehr tritt das Neue am reforma-
torischen "sola scriptura" darin in Erscheinung, daß es auf seine
hermeneutische Relevanz hin verantwortet wird. Das stellt nun aber
vor die Aufgabe, den inneren Zusammenhang zwischen dem refor-
matorischen "sola scriptura" und der reformatorischen Grunderkennt-
nis der Sache des Evangeliums zu erfassen. Dieser Zusammenhang
wäre nur oberflächlich hergestellt, wenn man sagte: Aus der Beschrän-
kung allein auf die Schrift ergibt sich eben die darin enthaltene Sache
des Evangeliums. Als hermeneutische Weisung verstanden, kommt
vielmehr das "sola scriptura" von der Sache des Evangeliums her.
Und es müßte sich bei Beachtung und Explikation des hermeneuti-
schen Skopus der beiden strittigen kontroverstheologischen Formeln
aufzeigen lassen, daß, wie die katholische Position "Schrift und Tra-
dition" nicht bloß Ursache, sondern auch und eigentlich Folge und
Ausdruck des katholischen Grundverständnisses des christlichen Glau-
bens ist, so auch das reformatorische "sola scriptura" nicht bloß Ur-
sache, sondern auch und eigentlich Folge, als sachhaltiger Ausdruck
des evangelischen Grundverständnisses des christlichen Glaubens ist.
Das läßt sich an Äußerungen Luthers zum "sola scriptura" verdeut-
lichen.
Die erste eingehende Erörterung darüber fmdet sich relativ spät:
Ende 1520 in der Einleitung zur Assertio omnium articulorum M.
Lutheri per bullam Leonis X. novissimam damnatorum 58 • Das "sola
scriptura" steht I nicht als theoretischer Grundsatz am Anfang der
Entwicklung von Luthers Theologie, so sehr er sein theologisches
Denken von Anfang an mit der Selbstverständlichkeit, wie sie im tra-
ditionellen theologischen Rahmen immerhin möglich war, am Stu-
dium der Heiligen Schrift orientierte. Anlaß zur grundsätzlichen Re-
flexion auf dieses sein Verhältnis zur Schrift gab erst der Konflikt mit
den kirchlichen und theologischen Autoritäten seiner Zeit. Nicht als
ob etwa die Heilige Schrift bloß als letzter Rest übrig geblieben wäre
in dem großen Zusammenbruch der Autoritäten, der sich für Luther
in den Jahren 1517-1520 vollzogen hatte, und diese äußerste Rück-
zugsstellung nun nachträglich legitimiert worden wäre! Vielmehr war
die Sache der Heiligen Schrift, die ihn so übermächtig in Anspruch
genommen und eben dadurch die Freiheit gegeben hatte, alle andem
Autoritäten auf diese eine auctoritas hin zu relativieren. Aber weil

M WA 7; 95-101.
314 GEBHABD EBI!.LING [122/125]

der treibende Faktor die an der Sache der Schrift selbst orientierte
Autoritätserfahrung war, konnte er es der von außen kommenden
Nötigung überlassen, die grundsätzlichen Folgerungen für die Frage
der Lehrautorität zur Reife zu bringen. Die Besinnung auf das "sola
scriptura" - sogar erst nach der großen Auseinandersetzung mit der
römischen Sakramentslehre in De captivitate babylonica! - hat also
den Charakter einer abschließenden Rechenschaftsablage über Au-
torität und Verantwortung in Theologie und Kirche.
Luther ist sich völlig im klaren darüber, daß die Frage der Schrift-
autorität sich an der Frage der Schriftauslegung entscheidet. Er stellt
sidl sofort dem Einwand, der von daher zu erwarten ist gegen seine
Entschlossenheit, sich keiner Autorität der Kirche ohne Ausweis durch
die Heilige Schrift zu fügen 57 • Man wird den allbekannten, aber nur
von wenigen wirklich verstandenen hermeneutischen Grundsatz ge-
gen ihn geltend machen: Die Heilige Schrift dürfe man nicht nach
eigenem Geist, also nicht so, wie einem selbst der Sinn steht, nicht
nach. eigenem Gutdünken, nicht eigensinnig auslegen58 • Luther, nach
dessen theologischer Grunderkenntnis - in radikaler Uberbietung
sowohl der traditionellen Verurteilung des proprius sensus als der
Wurzel der Häresie als auch des mönchischen Ideals des Verzimts auf
die propria voluntas - die propia iustitia die Ursünde Gott gegen-
über und die Gabe des Evangeliums die iustitia aliena extra nos in
Christo ist59 , hatte zutiefst Verständnis dafür, daß man im Zeichen
des "sola scriptura" zum Häretiker werden kann 80 .l Er läßt sich dar-
um nicht nur diskussionsweise auf den ihm entgegengehaltenen
Grundsatz ein, sondern nimmt ihn mit Entschiedenheit als genau das
in Anspruch, worum es ihm geht, worauf das "sola scriptura" abzielt,
17 96,4-6: me promu nullius quantumlibet sancti patris autor1tate cogi velle,
nisi quatenw iudicio divinae scripturae fuerit probatw ...
11 96, 10 f.: illud omnium ore et calamo usitatum, a paucis tamen intellectum,
quod in Canonibw pontificum docetur: Non esse scripturas sanctas proprio spiritu
interpretandas.
11 WA 56; 157 ff.
• WA 7; 97,36- 98,3. Vgl. z. B. den Schlußpassus in einer Awführung über
die superbia der Häretiker in der enten Psalmenvorlesung (1513/15), der wie eine
frühe Selbstwarnung klingt: lgitur nolle credere et omnia in dubium revocare ac
sie novam doctrinam expectare: haec est gravissima tentatio domini. Cave ergo, o
homo; sed humiliter disce sapere et ne novus author transgrediaris limites, quos
posuerunt patres tui. Sed 'interroga patrem tuum et dicet tibi'. Spiritum enim legis
posuit dew non in Iiteras in papyro positas, in quas heretici con.fidunt, sed in ho-
mines officiis et ministeriis praepositos, ut ex illorum ore requiratur. Alioquin quid
faciliw diabolo-quam seducere eum, qui suw Magister esse nititur in Scripturis
reiecto hominis ministerio? Unum verbum male intellectum in tota Scriptura con-
fwionem facere potest. WA 3, 578,38-579,7. Den letzten Satz hat Luther unter-
strichen. Vgl. U. Mauser, Der Häresiebegriff des jungen Luther (Diss. Tübingen},
1957.
[123/124] "Sola scriptura" und das Problem der Tradition 315

was also gegen das herrschende kirdillehe Verständnis von der Schrift-
auslegung geltend zu machen ist. Die Weise, wie in der kirchlichen
Tradition der Grundsatz "non esse scripturas sanctas proprio spiritu
interpretandas" gehandhabt worden ist, hat die entgegengesetzte
Wirkung gezeitigt. Man suchte der Gefahr zu wehren durch Siche-
rung von außen, d. h. durch Aufhäufung von Auslegungsmeinungen,
die das eigentliche Interesse vom Text fort auf sich zogen, sowie durch
die Lehre von dem mit Unfehlbarkeit ausgestatteten Ietztinstanz-
lichen Schriftauslegungsrecht des römischen Bischofs11 • Inwiefern ent-
geht man aber der Gefahr des proprius spiritus, wenn man etwa der
Autorität Augustins folgt und dann doch Gefahr läuft, die Schrift
nach dem proprius spiritus Augustins zu deuten, sofern man nicht
umgekehrt Augustinder Heiligen Schrift gemäß versteht82 ? Und wie
schützt man sich wiederum davor, etwa nach eigenem Sinn Augustin
zu interpretieren? Wenn die Richtigkeit der Auslegung durch die
Auslegung eines anderen garantiert werden soll, so bedarf es wie-
derum für diesen eines das Verständnis sicher stellenden Interpreten
und so fort in infinitumes.
Jene Weisung, die Schrift dürfe nicht proprio spiritu verstanden
werden, ist offensichtlich mißverstanden, wenn sie zur Folge hat,
daß man sich statt an den Text der Heiligen Schrift an menschliche
Kommentare hält und sich immer weiter vom Umgang mit dem Text
selbst entfernt. Ihr Sinn ist vom Positiven her zu bestimmen: Die Hei-
lige Schrift ist allein durch den Geist zu verstehen, durch den sie ge-
schrieben ist und den man nirgends gegenwärtiger und lebendiger
antrifft als in dem biblischen Text selbst84 • Je größer die Gefahr ist,
die Schrift proprio spiritu I zu verstehen, desto mehr muß man sich
von allen menschlichen Schriften fort allein der Heiligen Schrift zu-
wenden85. Denn allein dort ist der Geist zu schöpfen, der über alle
heidnischen wie christlichen Schriften zu urteilen instand setzt88 • Ar-
gumente, die gewöhnlich zugunsten der hermeneutischen Funktion
autoritativer Auslegungstradition gebraucht werden, nämlich daß
die heilige katholische Kirche mit demselben Geist des Glaubens aus-
gestattet sei wie einst an ihrem Anfang und daß man sich auf dem
Felde der Auslegung einer Strittigkeit der Meinungen ausgesetzt
sieht, führt Luther gerade als Gründe für Recht und Notwendigkeit
des Studiums der Heiligen Schrift selbst an87 .

11 WA 7; 96, 11-20. II 96, 21-25. II 96, 25-34.


" 97, 1-3: scripturas non nisi eo spiritu intelligendas esse, quo scriptae sunt,
qui spiritus nusquam praesentius et vivacius quam in ipsis sacris suis, quas scripsit,
literis inveniri potest.
.. 97, 5-9. .. 97, 11-13.
17 97, 16-22: ... cur non liceat hodie aut solum aut primum sacris literis stu·
316 GEJULUU> EDELING (124/125]

Denn die Schrift legt sich selbst aus, d. h. sie spricht für sich selbst.
Sie bedarf nicht erst, weil selbst unklar, schwierig und verschlossen,
einer anderswo zu suchenden Verstehensquelle, um in sie hinein Licht
und Verstehen zu bringen. Vielmehr ist sie selbst von einer Verstehen
eröffnenden Verständlichkeit, erleuchtenden Klarheit, gewißmachen-
den Gewißheit, und zwar in dem Maße, daß sie schlechterdings alles
ans Licht bringt68 • An Stellen des 119. Psalms zeigt Luther auf, daß
in Hinsicht auf die Heilige Schrift die eigentliche hermeneutisme Be-
wegung nicht dem Bemühen entspringt, der Schwäme und Dunkel-
heit des Textes zu Hilfe zu kommen, sondern von der erhellenden und
überwältigenden Macht der Sache der Heiligen Schrift, des Wortes
Gottes, selbst ausgeht89 • Ist die Sache der Heiligen Schrift das Wort
Gottes, dann ist die Heilige Schrift letztlich nicht das zu Erhellende,
vielmehr selbst Quelle der Erleuchtung. Damit ist nicht behauptet,
die Schrift werde jedem ohne weiteres zur Quelle der Erleuchtung,
während sie doch im Gegenteil vielen zum Anlaß um so größerer
Blindheit wird70 • Es ist auch nicht gemeint, die Schrift sei in trivia-
lem Sinne so selbstverständlich klar, daß nicht die Bemühung um ihr
Verständnis Sache harter, hingebungsvoller Arbeit I sei71 • Dom will
die Auslegung der Schrift als das Sicheinlassen auf den Vollzug ihrer
Selbstauslegung und als das Oberwundenwerden des Geistes des Aus-
legers durch den Geist der Schrift verstanden sein72. Daß die Schrift
sui ipsius interpres ist, bedeutet nicht die Proklamation der Oberflüs-
sigkeit von Auslegung überhaupt, sondern stellt die Grundanweisung
zu samgemäßer Auslegung dar, expliziert also den hermeneutischen
Sinn des "sola scriptura".
Es handelt sim zunächst zwar um eine scheinbar rein formale und

dere, sicut licuit primitivae Ecclesiae? ... Oportet ... scriptura iudice hic senten-
tiam ferre, quod fieri non potest, nisi scripturae dederimus principem locum in
omnibus, quae tribuuntur patribus ...
• 97, 23-24: ... ut sit ipsa per sese certissima, facillima, apertissima, sui ipsius
interpres, omnium omnia probans, iudicans et illuminans ...
• 97, 24--35. Luther bezieht sich auf Ps 119, 130 und 160: illuminatio und
intelleetos werde zuteil per sola verba dei, tanquam per ... principium ... pri-
mum, a quo incipi oporteat, ingressurum ad lucem et intellectum. Man muß also
die Worte Gottes als principium primum gebrauchen pro omnium verbarum iudi-
cio. Darum ruft der Psalm zurück ad fontem und lehrt: primum et solum verbis
dei studendum esse, spiritum autem sua sponte venturum et nostrum expulsurum,
ut sine periculo theologissemus.
70 97,36--98,3.
71 Vgl. 97, 5 f. 34 f. 99, 1 und 100, 18-24: ... ut quemadmodum :psi [sc. sancti
viri et Ecclesiarum patres] in verbo dei pro suo tempore laboravenmt, ita et nos
pro nostro saeculo in eodem Iaboremus ... Satis est e patribus didicisse studium
et diligentiam in scripturis laborandi .. .
71 97,34 f., s. 0. s. 124, Anm. 69.
[125/126] "Sola scriptura" und das Problem der Tradition 517

allgemeine Auslegungsregel, nämlich daß die Auslegung nichts an-


deres soll, als den Text selbst zu Worte kommen zu lassen, ihn in dem,
was er von sich aus zu sagen, zu erklären und deutlich zu machen hat,
zur Geltung zu bringen, ihn also gleichsam in die Situation seiner
"Selbstverständlichkeit" zu bringen. Denn sprachliche Äußerung dient
als solche der Verständigung73 • Deshalb ist normalerweise das münd-
lich geschehende Wort, weil situationsgerecht74, nicht interpretations-
bedürftig, während das schriftlich überlieferte, weil in irgendeiner
oder vielfacher Hinsicht situationsfremd, vor Interpretationsprobleme
stellt. Die Auslegung soll also nur die Auslegungsfunktion des Textes
selbst beachten und ihr Beachtung verschaffen. In den weiten Rah-
men dieser hermeneutischen Weisung gehört auch die traditionelle
Regel, dunkle Stellen in der Schrift von den klaren her zu interpre-
tieren; obwohl natürlich über die Grenzen der Anwendbarkeit dieses
Auslegungsgrundsatzes Streit sein kann, da das Recht seiner Anwen-
dung vom Verständnis der Schrifteinheit abhängig ist und die Not-
wendigkeit seiner Anwendung von der Auffassung, ob, in welchem
Maß und in welchem Sinne einzelne Stellen als nicht interpretierbar
gelten können. Luther radikalisiert hier jedoch jenen allgemeinen
Grundsatz der Selbstinterpretation des Textes, indem er ihn auf das
Wort Gottes als die Same der Heiligen Schrift bezieht, so daß dem
Wort der Schrift um dieser Samewillen hermeneutische Relevanz für
alle Menschenworte zukom.mt75 • In diesem an der I Sache der Heili-
gen Schrift selbst orientierten Sinne ist das sui ipsius interpres ein in
strenger Ausschließlichkeit die Heilige Schrift betreffender und eben
die Ausschließlichkeit ihrer Geltung, das "sola scriptura" zum Aus-
druck bringender hermeneutischer Kanon. Es handelt sim nicht etwa
um ein hermeneutisches Sondergesetz zum Smutz der sonst der Be-
drohung nicht gewachsenen Schrift, vielmehr um einen Hinweis auf
den hermeneutischen Rang des Wortes Gottes, den es um der Sachge-
mäßheil der Auslegung der Heiligen Schrift willen zu beachten gilt.
Luther hat den hermeneutischen Sinn des "sola scriptura" in der

71 Wort und Glaube (s. o. S. 119, Anm. 51) 555 f.


7' Man denke dabei, in weitem Sinne, an die verschiedenen Hinsichten, unter
denen mündlich geschehenes Wort bezogen ist auf und eingelassen ist in die dem
Redenden und Hörenden gemeinsame Situation, wozu u. a. auch die Gemeinsam-
keit der Sprache gehörL Nicht ausgeschlossen ist damit die Möglichkeit, daß das
Wort die Situation zu verändern, in neue Situation zu stellen vermag.
71 S. o. S. 124, Amn. 66, sowie: Anm. 67 und 69. Vgl. femer 98, 4-7: Sint ergo
Christianorum prima principia non nisi verba divina, omnium autem hominum
verba conclusiones hinc eductae et rursus illuc reducendae et probandae . • . 98,
11-17: ... verba divina esse apertiora et certiora omnium hominum, etiam suis
propriis verbis, ut quae non per hominum verba, sed hominum verba per ipsa
doceantur, probentur, aperientur et firmentur.
318 GEI\HAIU) EDELING [126/127]

Schrift "De servo arbitrio" als Lehre von der doppelten Klarheit der
Sduift weiter entfaltet78 • Gegen die mit der Scholastik im Grunde
einige Auffassung des Erasmus, daß die Schrift zum Teil dunkel seF7,
so daß man sich letztlich den Lehrentscheidungen der Kirche, auch
ohne Verstehen, unterwerfen müsse78, setzt Luther als sein "primum
principium" 79 die Klarheit der Schrift, die, trotzDunkelheiteinzelner
Worte, die Klarheit der Sache der Schrift ist80 , und zwar in der dop-
pelten Hinsicht: die "äußere Klarheit" des verbum extemum der
öffentlichen Verkündigung und die "innere Klarheit" der Erleuch-
tung des Herzens durch den Heiligen Geist81 • Ohne jetzt in die Ein-
zelinterpretation eintreten zu können, sei abschließend das "sola scrip-
tura" als Inbegriff des reformatorischen I Verständnisses in Antithese
zur katholischen Position folgendermaßen umrissen:
Die Differenz zwischen dem reformatorischen "sola scriptura" und
der katholischen Parole "Schrift und Tradition" macht das Gemein-
same, nämlich die Offenbarungsautorität der Schrift und das heißt:
ihre soteriologische Relevanz, also den Bezug der Schrift zur Gegen-
wart strittig. Weil bei dem Verständnis der Schrift als "Heiliger"
Schrift und dementsprechend als Kanon dieser Gegenwartsbezug zur
Sache selbst gehört, ja, streng genommen, die Sache selbst ist, um die
es in der Schrift geht, ist in dem Gegensatz von "sola scriptura" und
"Schrift und Tradition" die Sache der Schrift strittig. Diese Strittigkeit
der Sache der Schrift konzentriert sich darauf, ob es, zugespitzt formu-
liert, "Sache" der Schrift selbst ist, die Sache der Schrift zur Geltung

.,. WA 18, 606,1-609,14; 653,13-35 (1525). Vgl. dazu R. Hermann, Von der
Klarheit der Heiligen Schrift. Untersuchungen und Erörterungen über Luthers
Lehre von der Schrift in De servo arbitrio. 1958.
77 606,16-21; 653,31-33. ?8 603,6-8.
11 653,28-35: Nam id oportet apud Christianos esse imprimis ratum atque fir-
missimum, Scripturas sanctas esse lucem spiritualem, ipso sole Ionge clariorem,
praesertim in üs quae pertinent ad salutem vel necessitatem ... illud ipsum pri-
mum principium nostrum ...
81 606,22-39: ... Tolle Christum e scripturis, quid amplius in illis invenies?
Res igitur in scripturis contentae omnes sunt proditae, licet quaedam loca adhuc
verbis incognitis obscura sint ... Eadem vero res, manifestissime toti mundo decla-
rata, dicitur in scripturis tum verbis claris, tum adhuc latet verbis obscuris ...
81 609,~14: Duplex est claritas scripturae, sicut et duplex obscuritas, una ex-
terna in verbi ministerio posita, altera in cordis cognitione sita . . . 653,13-28:
. . . duplici iudicio spiritus esse explorandos seu probandos. Uno interiori, quod
per spiritum sanctum vel donum Dei singulare, quilibet pro se suaque solius salute
illustratus certissime iudicat et discernit omnium dogmata et sensus ... Haec ad
fidem pertinet et necessario est cuilibet etiam privato Christiano ... altenun est
iudicium extemum, quo non modo pro nobis ipsis, sed et pro allis et propter alio-
rum salutem certissime iudicamus spiritus et dogmata omnium. Hoc iudicium est
publici ministerii in verbo et officü externi et maxime pertinet ad duces et prae-
cones verbi ...
[127/128] "Sola scriptura" und das Problem der Tradition 519

zu bringen82 , d. h. ob und wie die Schrift selbst Sachwalter der Sache


der Heiligen Schrift ist, was also die Schrift als Schrift für das Zur-
Geltung-Kommen ihrer Sache vermag; und das ist gemeint mit der
Frage: ob die Schrift in dem oben gekennzeichneten reformatorischen
Sinne um der erhellenden Klarheit ihrer Sache willen, und eben durch
sie, sich selbst auslegt.
Die katholische Antwort "Schrift und Tradition" wird in ihrer Be-
ziehung zu diesem umfassenden Problemhorizont deutlicher, wenn
man sie gemäß dem bereits Dargelegten83 im Sinne von "Schrift und
Kirche" versteht. In der Behauptung, daß die Heilige Schrift nur
durch die Kirche klar werde, daß also nur in der Zweiheit von Schrift
und Kirche das rechte Verständnis der Schrift und das Zur-Geltung-
Kommen ihrer Sache ermöglicht sei, so daß man gar nicht in Wahr-
heit die Heilige Schrift hätte, wenn man "allein die Schrift" und nimt
auch die Kirche hätte, sind die verschiedenen Aspekte des so außer-
ordentlich flexiblen Traditionsbegriffs vereinigt: Zur Schrift muß die
Kirche als der lebendige Oberlieferungsprozeß in der fortdauernden
geschichtlichen Existenz hinzukommen. Zur Schrift muß die Kirche
ferner als die - wie man es nun auffassen mag - partielle Ergän-
zung oder weiterführende Entfaltung oder transformierende Ausle-
gung des Oberlieferungsinhalts hinzukommen. Zur Schrift muß die
Kirme endlich als die den Oberlieferungsinhalt im Oberlieferungs-
prozeß durch das exponere der credenda rein bewahrende Oberliefe-
rungsinstanz hinzukommen, die in Gestalt des außerordentlichen und
obersten kirchlichen Lehramts zugleim das In-Erscheilnung-Treten
der Oberlieferungsnorm ist. Wenn "Schrift und Tradition" in die-
sem Verständnis als Ausdruck des Streits um die Sache der Schrift ge-
nommen wird, so muß als die Sache der Schrift die Kirche gelten, die
zwar in Hinsimt auf ihren Grund und ihren Ursprung in der Schrift
selbst enthalten ist, jedom in Hinsicht auf ihren sakramental bewirk-
ten Fortbestand als göttliche Gnadenwirk.lidl.keit selbständig neben
der Schrift ihren Bestand hat als das, worauf die Schrift lehrend und
gebietend hinweist und worin die ungeheure Vielfalt ihrer Aussage-
inhalte (credenda und agenda) den gemeinsamen Bezugspunkt hat.
So ist die Sache der Schrift nicht nur in, sondern zugleich auch - und
was die Begegnungsweise der Schrift betrifft, sogar primäzM - außer-
11 Der Sprachgebrauch von "Sache" erlaubt es, durch dieselbe Vokabel das zu
umgreifen., was man als "Inhalt" oder "Gegenstand" einerseits und als "Aufgabe",
"Zuständigkeit", "Funktion"," Vermögen" oder "Amt" anderseits zu unterscheiden
pflegt. Zum Wesen der Sprache gehört der untrennbare Zusammenhang von bei-
dem. Deshalb ist es kein bloßes Wortspiel, diesen Zusammenhang auch sprachlich
anzudeuten.
81 s. o. s. 116 fl.
" Hier wäre an die in der katholischen Dogmatik übliche Unterscheidung zwi-
520 GEl\HAI\D EDELING [128/129]

halb der Schrift gegeben. Darum ist von daher die Auslegung der
Schrift letztlich normiert; zugleich aber auch relativiert, weil das, was
die Kirche zur Gnadenwirklichkeit macht, gar nicht, jedenfalls nicht
allein, von der Schriftauslegung, weil nicht vom Wort der Verkündi-
gung, abhängig und zu erwarten ist. Deshalb entzieht sich die Ausle-
gung der Schrift, wie großer Spielraum ihr auch bleiben mag, letzt-
lich der hermeneutischen VerantwortungS'. Oder anders formuliert:
die letzte hermeneutische Verantiwartung besteht in der grundsätz-
lichen Anerkennung des Rechtes eines nur im lauda.biliter se sub-
iicere nachvollziehbaren Auslegungsanspruchs.
Wenn dem das "sola scriptura" entgegengestellt wird, dürfen die
Probleme nicht verdrängt werden, auf die einzugehen, wie es scheint,
die Stärke der katholischen Position ist. Das "sola scriptura" wird sich
vielmehr daran bewähren müssen, daß es ebenfalls auf jene Probleme
eingeht, und zwar, auf den theologischen Gesamtzusammenhang ge-
sehen, überzeugender, als dies in der katholischen Konzeption trotz
deren faszinierender Geschlossenheit der Fall ist.
sdlen regula fidei pro:rima und regula fidei remota zu erinnern. Sie deckt sich frei-
lich nicht einfach mit dem oben Gesagten, da, jedenfalls in der traditionellen Lehr-
form, zwischen Tradition und kirchlichem Lehramt unterschieden wird und somit
Schrift und Tradition als die beiden Offenbarungsquellen die regula fidei remota
1ind im Untenchied zum kirchlichen Lehramt als der regula fidei proxima. Der
locus classicus für diese Zueinanderordnung ist Vat. I Const. dogm. de fide cath.
cap. 5 (Denz. 1792): ... fide divina et catholica ea omnia credenda sunt, quae in
verbo Dei scripto vel tradito continentur et ab Ecclesia sive solemni iudicio sive
ordinario et univenali magisterio tanquam divinitus revelata credenda proponun-
tur. Vgl z. B.l. Salaverri, De ecclesia Christi. In: Patres S. J. in Hispania profes-
sores, Sacrae Theologiae Summa, Vol. I (Madrid 1955) Tract. II, n. 780 f. S. auch
nächste Anm.
u Man möchte ergänzend hinzufügen: des Einzelnen. Aber lassen sich Verant-
wortung und Gewissen voneinander trennen? Man verzerre darum nicht das Pro-
blem, indem man die Suspendierung der hermeneutischen Verantwortung der
"subjektiven Willkür des Einzelnen" konfrontiert. Im übrigen vergegenwärtige
man sich das Problem noch einmal an der Formulierung in der Enzyklika "Hu-
mani generis", AAS 42, 1950, 567-569: ... hoc sacrum Magisterium, in rebus fidei
et morum, cuilibet theologo proxima et univenalis veritatis norma esse debet, ut-
pote cui Christus Dominus totum depositum fidei - Sacras nempe Litteras ac divi-
nam ,traditionem' - et custodiendum et tuendum et interpretandum concredidit
... Verum quoque est, theologis semper redeundum esse ad divinae revelationis
fontes: eorum enim est iudicare qua ratione ea quae a vivo Magisterio docentur, in
Sacris Litteris et in divina ,traditione', ,sive explicite, sive i.mplicite inveniantur'
... Una enim cum sacris eiusmodi fontibus Deus Ecclesiae suae Magisterium vi-
vum dedit, ad ea quoque illustranda et enucleanda, quae in fidei deposito nonnisi
obscure ac velut i.mplicite continentur. Quod quidem depositum nec singulis christi-
fidelibus nec ipsis theologis divinus Redemptor concredidit authentice interpretan-
dum, sed soli Ecclesiae Magisterio. Die so verwandte, im Druck von mir hervorge-
hobene Particula exclusiva ist die genau antithetische Entsprechung zum "sola
scriptura".
[129/130] "Sola scriptura" und das Problem der Tradition 321
So kann die Beziehung von Schrift und Kirche in dem Sinne selbst-
verständlich nicht bestritten werden, daß die Sache der Schrift nirht
etwa durch "bloße Schrift", vielmehr eigentlirh durch das mündlirhe
Wort der Verkündigung weitergegeben wird, also auf Kirche zielt
und durch Kirche bezeugt wird. Wie wir srhon sahen, ist gerade das
"sola scriptura" nur recht verstanden in Ausrichtung auf das "solo
verbo" des Verkündigungsgeschehens88, zu dem im reformatorischen
Verständnis die Sakramente als in bestimmter Weise Situation
schaffendes Wortgeschehen hinzugehören.
Auch in der Hinsicht steht die Relation von Schrift und Kirrhe zwei-
fellos in Kraft, daß die Tradierung der Sarhe der Heiligen Scluift sirh
nicht in Konservierung der Vergangenheit oder im Rückzug ins ver-
meintlirh Zeitlose vollzieht, sondern in einem sprarhlirhen Wandel,
den man nicht etwa als rein formalen vom Sachproblem selbst trennen
kann. Nun drängt sich aber gerade vom "sola scriptura" her, viel
schärfer als vom katholischen Ansatz aus, die Relevanz des Problems
der Auslegung für das Problem der Geschichtlichkeit der Kirche auf87.
Und auch das darf man nicht übersehen, daß zum Auslegungsge-
schehen allerdings die Frage nach Instanz und Norm gehört. Ausle-
gung kann nicht sein, ohne daß der Text sein Gegenüber erhält, und
zwar nicht ein beliebiges, sondern dasjenige, für das der Text be-
stimmt ist, also den Adressaten, der für das Einverständnis mit dem
Text als Erfüllung von dessen Sprachwillen eigentlich zuständig ist.
Und ebensowenig kann Auslegung sein ohne Kriterium, an dem sirh
unsachgemäße von sachgemäßer Auslegung scheiden läßt. Nun geht
in der Tat das reformatorisch verstandene "sola scriptura" auf beide
Fragen entschieden ein, wie Luthers Lehre von der Klarheit der
Schrift zeigt, nämlich so, daß, ent!sprechend der doppelten Klarheit,
die auf ihren Zusammenhang zu bedenkende Zweiheit von öffent-
lichem ministerium verbisowie dem Forum des Gewissens die Rirh-
tung weist für Beantwortung der Frage nach der Auslegungsinstanz88
und Christus als die eigentliche Sache der Schrift die Auslegungsnorm
ist- eine Auskunft, deren innere Einheit daraus ersichtlich ist, daß
in den gegebenen Hinweisen das "solo verbo", "sola fide" und "solus
Christus" anklingt.
Während also nach katholischem Verständnis die Sache der Schrift
die Kirche als präsente Gnadenwirklichkeit ist und deshalb nur sehr
bedingt in der Schrift enthalten und zu suchen ist, weswegen
.. s. o. s. 99 ff.
87 Vgl. meine Veröffentlichungen: Kirchengeschichte als Geschichte der Ausle-
gung der Heiligen Schrift. SgV 189, 1947, in: Wort Gottes und Tradition, 1966',
S. 9-27. Die Geschichtlichkeit der Kirche und ihrer Verkündigung als theologi-
sches Problem. SgV 207/8, 1954, bes. 81 ff. 18 S. o. S. 126, Anm. 81.

21 Käsemann, Kanon
322 GEI\HAlU) EBELING [130/131]

eben die Schrift nur in der Zusammenordnung von "Schrift und Tra-
dition" bzw. "Schrift und Kirche" zur Klarheit kommt, ist nach refor-
matoriscl:tem Verständnis Jesus Christus die Sache der Schrift81 • Aus
diesem Verständnis der Sache der Schrift ergibt sich notwendig das
"sola scriptura". Denn Christus ist allein in der Schrift zu finden. Das
steht nicht etwa in Konkurrenz zu seiner Gegenwart im Wort der
Verkündigung, in den Sakramenten, in der Kirche. Vielmehr gehört
beides unauflöslich zusammen, aber wohlgemerkt in dem unumkehr-
baren Richtungssinn, daß allein der in der Schrift bezeugte Christus
der gegenwärtige ist und daß die Weise seiner Gegenwart allein das
Wort ist, welches allein auf Glauben aus ist, daß also Christus als
verbum promissionis und darum als verbum fidei die Sache der Schrift
ist. Um dieser dem Wesen Christi entsprechenden Weise seiner Ge-
genwart im Wortwillen ist und bleibt die Kirche allein auf die Schrift
angewiesen als auf die Quelle90 , aus der stets neu die gegenwärltige
Verkündigung des Wortes Gottes geschöpft werden muß und kann.
Hier erweist sich also das "sola scriptura" in engster Verflechtung mit
dem reformatorischen Grundverständnis des Evangeliums. Weil al-
lein der Glaube rechtfertigt und der Glaube den im Wort der Ver-
heißung präsenten Christus ergreift91 , ist um der Reinheit des Evan-
1t S.o. S. 126,Anm.80. WATR 2; 439, 25!. (Nr. 2383): Christus est punctus ma·
thematicus sacrae scripturae. Zur christologischen Orientierung von Luthers Exe-
gese in der Friihzeit vgl. E. Vogehang, Die Anfänge von Luthers Christologie nach
der ersten Psal.menvorlesung. AKG 15, 1929, und meine Aufsätze: Die Anfänge
von Luthers Hermeneutik, ZThK 48, 1951, 172-230, bes. 219 ff.; Luthers Psalter-
druck vom Jahre 1513, ZThK 50, 1953, 43--99, bes. 80 ff. Daran, daß Christus die
Sache der Schrift ist, entscheidet sich die Frage nach der Einheit und nach der Ver-
ständlichkeit der Sduif't. S. dazu schon in der ersten Psalmenvorlesung (1513/15),
WA 3; 556,35--37: ... omnia verba dei sunt unum, simplex, idem, verum, quia ad
unum omnia tendunt, quantumvis multa sint. Et omnia verba, quaein unum ten-
dunt, unum verbum sunt. WA 4; 439,20 f.: ... in Christo omnia verba sunt unum
verbum, et extra Christum sunt plurima et vana ...
11 Unser vom Historismus bestimmtes Denken versteht unter "Quellen" das-
jenige, was die Vergangenheit als solche ersd:tließt und in sie zurückführt. Vgl.
z. B. die Definition von J. G. Droysen, Historik. 19581, 37: " ... was die Rückschau
früherer Zeiten in ihre Vergangenheit, die aufgezeichnete Vorstellung oder Erin-
nerung über dieselbe bietet, nennen wir Quellen." Der ursprüngliche Sinn - nicht
etwa nur in theologischer Verwendung- meint die die Gegenwart erschließende
Eröffnung "der ursprünglichen, unentstellten Wahrheit", "das Hervorquellen des
reinen und frischen Wassers aus einer unsichtbaren Tiefe" (Gadmner [s. o. S. 96,
Anm. 11] 474). Ober der Differenz des Interesses darf das Gemeinsame nicht über-
sehen werden: der unbedingte Vorrang der Quellen vor dem daraus Abgeleiteten.
"In der Quelle strömt immer frisches Wasser nach, und so ist es auch mit den wah-
ren geistigen Quellen in der Oberlieferung. Ihr Studium ist gerade deshalb so loh-
nend, weil sie immer noch etwas anderes hergeben, als was man bisher aus ihnen
entnommen haL" (Gadmner 474).
11 WA 6; 516, 30-32 (1520): Neque enim deus ... aliter cum hominibus unquam
[131/132] "Sola scriptura" und das Problem der Tradition

gellums und um der Worthaftigkeit des Glaubens willendie Hinwen-


dung zu dem Ort notwendig, wo das ursprüngliche Christus-Zeugnis
begegnet und so zum gegenwärtigen Christus-Zeugnis ermächtigt.
Dieses Angewiesensein auf den biblischen Text verleiht der herme-
neutischen Aufgabe unbedingten Ernst. Die entscheidende Aufmerk-
samkeit auf den sensus literali.s des Urtextes ergibt sich zwingend aus
der reformatorischen Sacherkenntnis und ist vom "sola scriptura"
nicht zu trennen. Trotzdem darf die hermeneutische Aufgabe nicht
etwa mit der isolierenden Herausstellung einzelner Schriftworte ohne
kritische Orientierung an der Sache der Schrift als erfüllt angesehen
werden. Das "sola scriptura" duldet nicht ein gesetzliches Schriftver-
ständnis, welches Christus als die Sache der Schrift verfehlt12• Das
"sui ipsius interpres" muß bis zu der äußersten Konsequenz einer
an Christus orientierten Sachkritik am einzelnen Schriftwort durch-
gehalten werden11 • I
Nur so versieht das "sola scriptura" seine fundamentale Funktion:
Es dient dazu, daß der Unterschied von Text und Auslegung gewahrt
bleibt, während die katholische Auffassung in der Gefahr ist, eine
Auslegung zum maßgebenden Text zu erheben. Das "sola scriptura"
dient darum dazu, daß das Wort Gottes als das schlechterdings Kon-
stituierende über der Kirche bleibt und diese als Kreatur des Wortes
Gottes verstanden wird, daß also die Kirche nicht etwa selbst maß-
gebende Quelle des Wortes Gottes wird und so der Unterschied von
Wort Gottes und Kirche ins Unbestimmbare verschwimmtN. Deshalb

egit aut agit quam verbo promissionis. Rursus, nec nos cum deo unquam agere ali-
ter possumus quam fide in verbum promissionis eius. Die Betonung dieser funda-
mentalen Relation von verbum und fides steht im Zusammenhang der Auseinan-
dersetzung mit der römischen Meßauffassung. WA 6; 515, 27-29: Ex quibus vides
ad Missam digne habendam aliud nihil requiri quam fidem, quae huic promissioni
fideliter nitatur, Christum in his suis verbis veracem credat et sibi haec immensa
bona esse donata non dubitet.
11 WADB 7; 084,22-086,2 (1522) = 085,22-087,2 (1546): "Denn das Amt eines
rechten Apostels ist, daß er von Christus Leiden und Anfechtung und Amt predige
und lege desselbigen Glaubens Grund ... Und darin stimmen alle rechtschaffenen
Bücher überein, daß sie allesamt Christum predigen und treiben. Auch ist das der
rechte Prüfstein, alle Bücher zu tadeln, wenn man sieht, ob sie Christum treiben
oder nicht, sintemal alle Schrift Christum zeigt ... Was Christum nicht lehret, das
ist noch nicht apostolisch, wenns gleich S. Petrus oder Paulus lehret. Wiederum,
was Christum prediget, das wäre apostolisch, wenns gleich Judas, Hannas, Pilatus
und Herodes täte. Aber dieser Jacobus tut nicht mehr, denn treibt zu dem Gesetz
und seinen Werken ... "
11 WA 39, 1; 47, o f. 19 f. (1505): Scriptura est non contra, sed pro Christo intel-
ligenda, ideo vel ad eum referenda, vel pro vera Scriptura non habenda ... Quod
si adversarii scripturam urserint contra Christum, urgemus Christum contra scrip-
turam.
" WA 6; 560,00-561,2 (1520): Ecclesia enim nascitur verbo promissionis per

21°
324 GEl\H.AlU) EBELING [132/133]

dient das "sola scriptura" dazu, daß Christus von der Kirche als deren
Haupt unterschieden bleibt und die Kirche dem Geschehen ausge-
setzt und auf es angewiesen bleibt, das Kirche zur Kirche macht.
Allerdings ergeben sich daraus erregende ekklesiologische Konse-
quenzen. Zusammen mit der juridisch-institutionellen Feststeilbarkeit
unfehlbarer Auslegung entfällt die unzweideutige Darstellbarkeil der
Einheit der Kirche. Aber die Vorstellung einer dadurch erzeugten Un-
gewißheit in bezugauf das Wort Gottes verkennt die radikale Ver-
schiebung im Verständnis der Sache des christlichen Glaubens. Ge-
rade dem "sola scriptura" korrespondiert die Gewißheit des Glaubens,
die an dem die Gewissen gewiß machenden Wort des Evangeliums
haftet85 • Wo es um den Glauben geht, kann sich der Mensch die Frage
der Gewißheit durch keine andere Instanz abnehmen lassen; viel-
mehr ist der Glaube das Gewißwerden des Menschen selbst durch
Christus vor Gott". Weil es um ein anderes Verständnis der Sache
der Schrift geht, handelt es sich im "sola scriptura" auch um ein an-
deres Verständnis von Gewißheit, als es bei der katholischen Lehre
von "Schrift und Tradition" im Blick ist: nicht I um die Entsdlieden-
heit eines kirchlichen Dekrets, sondern um die Entschiedenheit des
Christusglaubens selbst.
Die Formel "Schrift und Tradition" gilt eigentlich der Begründung
und Betätigung des kirdilidlen Lehramts87 • Für den einzelnen Glau-
benden ist sie letztlich nur als Einweisung in die sakramentale Gna-
denwirklichkeit der Kirche bestimmend98 und bringt darum auch bloß
fidem, eodemque alitur et servatur, hoc est, ipsa per promissiones dei constituitur,
non promissio dei per ipsam. Verbumdei enim supra Ecclesiam est incomparabili-
ter, in quo nihil statuere, ordinare, facere, sed tantum statui, ordinari, fieri habet
tanquam creatura. Quis enim suum parentem gignit? quis suum autorem prior
constituit?
• Vgl. die enge Verbindung der Lehre von der claritas scripturae mit dem as-
sertio- und certitudo-Charakter des Glaubens in der Einleitung von De servo arbi-
trio, WA 18; 603, 1 ff. (1525) 603, 28 f.: Tolle assertiones, et Christianismum tulisti.
604, 33: Quid enim incertitudine miserius? 605, 32--34: Spiritus sanctusnon est
Scepticus, nec dubia aut opiniones in cordibus nostris scripsit, sed assertiones ipsa
vita et omni experientia certiores et firmiores.
N Unübertrefflich formuliert am Beginn der lnvocavit-Predigten 1522, WA 10,
3; 1,6-2,2: "Wir sind allesamt zu dem Tod gefordert und wird keiner für den an-
dem sterben, sondern ein jeglicher in eigener Person für sich mit dem Tod kämp-
fen. In die Ohren könnten wir wohl schreien. Aber ein jeglicher muß für sich selber
geschickt sein in der Zeit des Todes: Ich werde dann nicht bei dir sein noch du bei
mir. Hierin so muß ein jedermann selber die Hauptstücke, so einen Christen be-
langen, wohl wissen und gerüstet sein ... "
' 7 s. o. s. 128, Anm. 85.
88 Mir ist die veränderte lehramtliche Stellung zum Bibellesen der Laien und
die katholische Bibelbewegung sehr wohl vor Augen. Dadurch wird die Vielschich-
tigkeit des konfessionellen Sachverhalts unterstrichen. Oberflächliche protestan-
[133/134] "Sola scriptura" und das Problem der Tradition 325

indirekt das Verständnis des Heilsgeschehens selbst zum Ausdruck.


Hingegen ist das "sola scri.ptura" Bekenntnis des Heilsnotwendigen
selbst. Es vollzieht die Konzentration auf das Dasein Jesu Christi pro
nobis im Wort als auf den Grund unseres Seins in Christus extra nos
durch den Glauben. Und zwar verankert es dieses Wortgeschehen in
dem es allein ermöglichenden, bei seiner Sache erhaltenden und so
als Evangelium rein und frisch bewahrenden Text. Denn zu dem
Text, welcher Quelle der Vollmamt zu Wort und Glaube ist und auf
den sich christliches Wort und christlicher Glaube berufen, müssen
als zu dem unausschöpflichen Quellgrund der Existenz im Worte Got-
tes Zeuge und Hörer des Evangeliums Zugang haben, um sich darin
zu treffen. Ist doch jeder in Wahrheit beides: Das Zeugesein kommt
aus dem Hören und das Hören macht zum Zeugen. So ist das "sola
scri.ptura" an der elementaren Situation des Angefochtenen orien-
tiert, dem nichts hilft als allein das verbum extemum, das gewiß ma-
chende Wort, welches Jesus Christus selbst ist. Von daher geurteilt
nimmt allerdings die Formel "Schrift und Tradition" nimt interpre-
tierend die Sache der Schrift selbst wahr, sondern beeinträchtigt, ganz
gleich ob die Tradition als auch ergänzend oder als bloß interpretie-
rend ausgegeben wird, die Reinheit und gewißmachende Klarheit der
Sache der Schrift durch die Statuierung einer zusätzlichen selbstän-
digen Größe neben der Schrift". I
J. Das "sola scri.ptura" in der hermeneutischen Situation der Neu-
zeit. Der Rückgriff auf das reformatorische "sola scri.ptura" kann, wie
eingangs schon angedeutet100 , in der hermeneutischen und kontro-
verstheologischen Situation der Gegenwart nimt genügen ohne eine
Rechenschaftsablage über die veränderten Verstehensbedingungen,
die dem "sola scri.ptura" außerordentlich bedrohlich zu werden schei-
nen. Die Aufgaben, die sich dadurch stellen, übersteigen allerdings
weit die Möglichkeiten eines Aufsatzes, dessen primäre Aufgabe darin
tische Polemik mag sich verwirrt fühlen etwa durdt die Bemerkung im Katholi-
smen Katec:hismus der Bistümer Deutsc:hlands (1955), Nr. 51: "lc:h will mir ein
Neues Testament kaufen oder sc:henken lassen; es soll mic:h durch mein ganzes
Leben begleiten." Es geht uns jetzt um die Herausarbeitung des Grundsätzlic:hen,
gegen dessen obige Darlegung diese Bemerkung kein Einwand ist, wie der Kon-
text des Katec:hismus zeigt. Welc:he innerkatholischen Veränderungen der inten-
sivierte Umgang mit der Heiligen Schrift haben mag, soll man nic:ht zum Gegen-
stand der Prognose mac:hen.
" Dadurch werden die Ausführungen o. S. 117 ff. nic:ht zurückgenommen, de-
ren Ergebnis wird nun aber kontroverstheologisch beurteilt. Obschon die Auffas-
sung von der rein interpretatorischen Funktion der Tradition, auf den Gesamtduk-
tus katholischer Lehre gesehen, die konsequentere ist, muß doch gerade auc:h sie
vom evangelischen Verständnis her als Versuc:h einer Legitimierung der ergänzen-
den Funktion der Tradition aufgefaßt werden.
100 s. o. s. 92 f., 94-98.
ö26 GBBHA.IU) EBELING [1ö+/1ö5]

bestand, gegen eine verkürzte und vergröberte Fassung der konfes-


sionellen Unterscheidungslehren den genuin reformatorischen Sinn
des "sola scriptura" in seinem Verflochtensein in das reformatorische
Verständnis des christlichen Glaubens überhaupt herauszuarbeiten.
Nun liegt zwar schon in der Art, wie dabei in die Tiefe zu bohren ver-
sucht wurde, implizit eine Auseinandersetzung mit den Problemen,
wie sie sich heute in veränderter Situation stellen. Doch müssen dar-
über hinaus wenigstens noch einige Hinweise diese Situationsverän-
derung und die daraus sich ergebende Wegrichtung theologischen
Denkens im Gefolge der Reformation kennzeicl:men.
Man versperrt sich den Zugang schon zu dieser Fragestellung, wenn
man das reformatorische "sola scriptura" als einen fertigen Sachver-
halt der folgenden geistesgeschichtlichen und theologischen Entwick-
lung ausgeliefert sieht, so daß nur das unveränderte Festhalten oder
eine mehr oder minder kaschierte Preisgabe in Betracht kommt. So
sehr allerdings die Reformation mit Entschiedenheit das "sola scrip-
tura" proklamierte, besteht doch Anlaß zu der Frage, ob sie es in sei-
ner theologischen Problematik schon hinreichend durchreflektiert
hatte. Und das hieße, wenn wir uns an den Charakter des "sola scrip-
tura" als hermeneutischen Grund-Satzes der Reformation halten: ob
bereits in der Reformation der hermeneutische Sinn des "sola scrip-
tura" samt dendaranhängenden Konsequenzen erkannt worden ist.
Schon die Tatsache, daß um den hermeneutischen Sinn der Formel
"Schrift und Tradition" noch immer und in gewisser Hinsicht erst
recht heute gerungen wird101 , legt den Rückschluß nahe, daß auch in
bezugauf das "sola scriptura" Probleme noch auszutragen sind, die
im 16. Jahrhundert nicht gelöst oder nicht erkannt worden sind. Dar-
über hinaus ist ja die Geschichte des hermeneutischen Problems seit
der Reformation ein einziger Beleg dafür, daß hier zumindest nicht
in bloßem Widerspruch zur Reformation, wenn auch gewiß nicht ein-
fach in direkter Folgewirkung und Weiterführung, Fragen zur Klä-
rung drängen, die im reformatorischen "sola scriptura" i.mjpliziert
sind102• Als Symptome ungenügender Explikation des "sola scriptura"
lassen sich im reformatorischen Denken selbst vor allem folgende Ge-
sichtspunkte anführen: das Verhältnis von Wort Gottes und einzel-
nem Schriftwort, die Beziehung zwischen der behaupteten Einheit
der Vielfalt der Schrift sowie die Bedeutung des "sola scriptura" für
die Methode theologischer Erkenntnis.
Was man der altprotestantischen Orthodoxie nicht ohne Recht als
101 s.o. s. 117 ff.
soa Vgl. meinen Art. Hermeneutik, RGG' 111,242-262. G. Hornig, Die Anfänge
der historisch-kritischen Theologie. Johann Salomo Semlers Schriftverständnis und
seine Stellung zu Luther. 1961.
[135/136] "Sola scriptura" und das Problem der Tradition 327

Verfälschung des reformatorischen Schriftverständnisses und als Ur-


sache der späteren, bis heute noch nicht allgemein überstandenen
Krise des Schriftverständnisses zum Vorwurf gemacht hat, will frei-
lich auch in seiner positiven Intention gewürdigt sein. Die Lehre von
der Verbalinspiration, die sich sogar auf die massoretische Punkta-
tion erstreckte, war nicht so sehr als eine ins Absurde getriebene Stei-
gerung des Autoritätsanspruchs zugunsten des "sola scriptura" ge-
meint, als vielmehr durch das Bemühen motiviert, den hermeneuti-
schen Sinn der Particula exclusiva gegenüber der Autorität von Tra-
tition und Kirche durch Sicherstellung absoluter Eindeutigkeit des
Schriftbefundes und damit auch des Schriftsinnes zur Geltung zu brin-
gen. Das Interesse der orthodoxen Lehre von der Schrift haftete somit
vor allem an der Behauptung der perspicuitas der Schrift, nahm also
die für das reformatorische "sola scriptura" fundamentale Lehre von
der claritas der Schrift auf. Doch verschob sich der Akzent von der
Klarheit der Sache auf die nicht in Zweifel zu stellende Unantastbar-
keit der Vokabeln und Buchstaben, so daß die dabei entstehenden
Verslehensschwierigkeiten bisweilen gedeckt werden mußten durch
Rekurs auf die geheimnisvolle Dunkelheit der Sache103 • Damit hängt
zusammen, daß die Einheit der Schrift, statt von der Konzentration
auf die Einheit der Sache her, aus der Summation ihrer Vielheit zu
einer allerdings als unteilbar dekretierten Ganzheit bestimmt wurde.
Und der den Gesichtspunkt der Einheit ausdrückende Begriff des
Wortes Gottes wurde weitgehend formalisiert, so daß sich der innere
Zusammenhang zwischen dem "sola scriptura" und der reformatori-
schen Grunderkenntnis, dem "solus Christus", "solo verbo", "sola
fide", lockerte, wenn nicht gar auflöste, jedenfalls nicht mehr erkenn-
bar war. Dieser Zusammenhang mußte nun dadurch gewährleistet
werden, daß die reformatorische Lehrüberlieferung faktisch als re-
gula und nonna der Schriftauslegung gehandhabt wurde.
Wenn es auch irreführend wäre, in Hinsicht darauf etwa von einem
das Schriftprinzip ergänzenden Traditionsprinzip zu reden, so man-
gelte I es doch sowohl an einer hermeneutischen Reflexion auf diesen
Sachverhalt als auch vor allem an dem Wagnis, aus dem "sola scrip-
tura" Konsequenzen zu ziehen für die Methode der Theologie. Es
ist ja höchst auffällig, daß eine theologische Prinzipienlehre, die so
entschieden die Heilige Schrift als unicum principium cognoscendi
proklamierte, den Primat einer systematischen Theologie begründete,
die sich gegen Überraschungen von seiten der Exegese abzuschirmen
wußte und die exegetische Theologie zur Sterilität verurteilte. Nun
darf zwar keineswegs das Schriftprinzip gegen die systematische

101 Vgl. Wort und Glaube (s.o. S. 119, Anm. 51), 322 Anm. 7.
GEI\HAIU) EBELING [136/137]

Theologie als solche ausgespielt werden, sei es, daß man, formalisie-
rend, einem exegetisch am biblismen Einzeltext orientierten Vorge-
hen den unbedingten Vorzug vor systematischer Darstellungsweise
gibt, sei es, daß man, biblizistisch, die Aufgabe der Theologie über-
haupt in der Aneignung biblischer Ausdrucksweise sich ersmöpfen
läßt. In beiden Fällen liefe es gerade auf eine Verkennung der her-
meneutischen Aufgabe hinaus, der weder durch zerstückelnde Isolie-
rung nom durch Harmonisierung der biblischen Texte geremt zu wer-
den ist. In der reformatorischen Exegese selbst lag noch ungeschieden
als ein einziger hermeneutischer Vorgang beisammen, was später
nicht in bloß äußere Verschiedenheit der Verfahrensweisen (exege-
tisch- systematisch), sondern in spannungsvolle Konkurrenz der Fra-
gehinsichten (historisch - dogmatisch) auseinandertrat. Der altpro-
testantischen Theologie ist nicht zum Vorwurf zu machen, im Gegen-
teil grundsätzlich als Verdienst anzurechnen, daß sie auf der Basis des
reformatorischen "sola scriptura" am Aufbau dogmatischer Theolo-
gie arbeitete. Fraglich - wenn auch historisch verständlich und in je-
ner geistes- und konfessionsgeschichtlichen Situation unvermeidbar
- mußte es jedoch sein, den Gesichtspunkt des "sola scriptura" und
entsprechend aum das reformatorische Grundverständnis vom Wesen
des christlichen Glaubens korrigierend in eine letztlich, wenn aum
verborgen, vom Gesichtspunkt "Schrift und Tradition" und von dem
entsprechenden katholischen Verständnis der Sache des christlichen
Glaubens bestimmte dogmatische Gesamtkonzeption11M einzuarbei-
ten, statt von Grund auf das Problem einer Dogmatik, wie es sich vom
reformatorischen "sola scriptura" her stellte, in Angriff zu nehmen. I
Die Revolutionierung protestantischer Theologie, wie sie, das Zeit-
alter der altprotestantischen Orthodoxie beendend, mit Pietismus und
Aufklärung einsetzte, schöpfte, so vielfältig die hier einwirkenden ge-
schichtlichen Kräfte auch waren, die theologische Legitimation aus
dem "sola scriptura". Was die Vielgestaltigkeit des Protestantismus
als Gemeinsames verbindet, ist, sofern man von der geschichtlichen
Herkunft und der Antithetik gegen Rom als gestaltenden Faktoren
einmal absieht, weniger ein bestimmter dogmatischer Lehrgehalt als
das im Prinzip durchweg festgehaltene, wenn auch sehr verschieden
verstandene und gehandhabte, auf den Zusammenhang mit der re-
1" Der behauptete Zusammenhang zwischen der traditionellen dogmatischen
Gesamtkonzeption und den - sagen wir einmal abgekürzt - katholischen Prinzi-
pien der Dogmatik, wie sie, bei umfassender Interpretation, in der Formel "Schrüt
und Tradition" enthalten sind, bedürfte freilich noch gründlicher Prüfung und
Durchleuchtung. Dabei müßte der sehr schwierige Zusammenhang zwischen der
Grundtendenz, wie sie in der Formel "Schrift und Tradition" zum Ausdruck
kommt, und der Orientierung an der antiken Signifikationshermeneutik und Me-
taphysik bedacht werden.
(137/138] "Sola scriptura" und das Problem der Tradition

formatarischen Grunderkenntnis meist nicht recht bedachte, aber


doch bestimmte sachliche Konsequenzen für das Verständnis des Glau-
bens in sich sdlließende "sola scriptura". Das Prinzip der orthodoxen
Dogmatik wurde zum Prinzip der Kritik an dessen orthodoxem Ver-
ständnis. Das offenbarte einerseits die Differenz zwischen dem refor-
matorisdlen "sola scriptura" und dessen orthodoxer Interpretation-
alle folgenden Richtungen des Protestantismus beriefen sich, wenn
auch in verschiedener Hinsicht und mit unterschiedlichem Recht, ge-
gen die orthodoxe Dogmatik auf die Reformation-, anderseits das
Dilemma der orthodoxen Dogmatik selbst zwischen deren Proklamie-
rung der Heiligen Schrift als unicum principium cognoscendi und der
damit grundsätzlich eingeräumten, aber der Intention nach gerade
ausgeschlossenen Möglichkeit, daß dieses sich gegen sie selbst wenden
könnte. Sowohl der Pietismus mit seinem Streben nach Reduktion der
traditionellen Dogmatik auf die Einfachheit einer "biblischen Theo-
logie" als auch die Aufklärung mit ihrer Forderung einer lehrhaf-
ten Redlensdlaft über das Verhältnis der Schriftaussagen zur ratio-
nalen Erkenntnis und moralischen Erfahrung wie auch endlich die
aufkommende historisch-kritische Schriftforschung mit ihrem rück-
sichtslosen Ernstnehmen des überlieferten Buchstabens als fixierter
Zeitdifferenz nehmen je in ihrer Weise und in ihren Grenzen auf Ge-
sichtspunkte Bezug, die im Prinzip der orthodoxen Dogmatik selbst
angelegt waren und mit denen sich auseinanderzusetzen bedeutete,
sich auf das im "sola scriptura" beschlossene hermeneutisdle Problem
einzulassen, damit aber eo ipso den Standpunkt der orthodoxen Dog-
matik selbst zu verlassen, deren Hermeneutik - darin verwandt dem
katholischen Partner -letztlich in der Abweisung der hermeneuti-
schen Fragestellung bestand.
Doch wird eben dadurch die Frage bedrängend, ob die Freigabe der
im "sola scriptura" implizierten Probleme nicht die Auflösung des
Schriftprinzips zur Folge hat. Die übliche Klage über die angebliche
Zerstörung der Schriftautorität übersieht allerdings die Problematik
des als Maßstab angelegten orthodoxen Verständnisses der Schrift-
autorität sowie die I Tatsache, daß die historisch-kritische Schriftaus-
legung als solche das Problem der Schriftautorität gerade offenhält.
Denn die historisch-kritische Methode stellt insofern nicht den her-
meneutisdlen Gesamtvollzug dar, als sie sowohl auf die Klärung ihres
Selbstverständnisses als auch auf die Entfaltung des von ihr berührten
Sachverständnisses angewiesen ist, also auf eine hermeneutische Radi-
kalisierung, die unterschieden, aber nicht zu trennen ist von dem, was
man im technischen Sinne als historisch-kritische Methode anzuspre-
chen pflegt. Trotzdem bleibt zu fragen, ob nicht gegebenenfalls die hi-
storisch-kritische Methode in bezug auf die Schrift vor eine Sachlage
GKl\HAl\D EDELING [138/139]

stellt, die das "sola scriptura" sprengt. Damit hängt aufs engste die
andere Frage zusammen, wie die historism-kritische Schriftauslegung
gesamthermeneutisch im Horizont der Theologie zu verantworten ist.
So mannigfam die Probleme sind, die durch die veränderte Verste-
henssituation, wie sie vom historischen Denken der Neuzeit bestimmt
ist, der Schrift gegenüber aufbrachen, konzentrieren sie sich doch, was
das "sola scriptura" betrifft, vor allem in der Frage der Einheit der Hei-
ligen Schrift. Denn an der Einheit der Schrift hängt es, ob ihre Geltung
als Kanon sinnvoll ist und obdessenHandhabungvonihmselbstherso
eindeutig ist, daß das "sola scriptura" im reformatorischen Sinne ver-
tretbar ist. Die Frage der Einheit der Schrift fällt darum zusammen
mit der Frage nam der erleuchtenden Macht ihrer Sache. Nun besteht
jedoch gerade das Wesen historisch-kritischer Methode im Aufspüren
von Differenzen, um den bloßen Schein von Einheit und Klarheit zu
zerstören. Und zwar geht es darin, summarisch formuliert, um Be-
achtung von Zeitdifferenz (eben darum "historisch-kritisch"), sei es
zwischen einst und jetzt, zwischen der Zeit des überlieferten Textes
und der Zeit des heutigen Lesers, sei es zwischen verschiedenen Zeit-
schichten der Vergangenheit, oder handele es sich auch um Differen-
zen in der Gleichzeitigkeit, die insofern Zeitdifferenzen sind, als es um
die Strittigkeil der Zeit selbst geht. Diese verschiedenen Weisen von
Zeitdifferenz, um deren Herausarbeitung historisch-kritische Metho-
de bemüht ist, stellen sich dar als Sprachdifferenz sowie- in diffizi-
lem Verhältnis dazu - als Sachdifferenz.
Obwohl der biblische Kanon von sich aus bis zu einem gewissen
Grade sehr wohl die eigene historische Tiefenschichtung und, damit
verbunden, sprachliche Verschiedenheiten und sachliche Spannungen
erkennen läßt und jeder Leser auch in irgendeiner Weise durch
sprachliche und sachlime Verstehensschwierigkeiten sich vor das Pro-
blem seiner eigenen Zeitdistanz zum Text gestellt sieht, so daß es
sim also um Sachverhalte handelt, die schon immer irgendwie im Um-
gang mit der Heiligen Schrift eine Rolle spielten, hat doch erst die hi-
storisch-kritisme Methode der Neuzeit die Sachverhalte in einer
Schärfe sehen lassen, daß die früheren I Weisen, sich mit gewissen
Problemen dieser Art abzufinden, als völlig unzureichend versagten.
Daß die Geschichte historisch-kritischer Schriftforschung selbst in
vielfacher Hinsicht Irrwege und Versagen aufweist, gibt kein Remt,
daraus auf billige Weise apologetisches Kapital zu schlagen und sich
der Problematik als solcher zu entziehen. Trotz der Widersprüchlim-
keit wissenschaftlicher "Ergebnisse" und dem unaufhörlichen Wech-
sel im Stande der Forschung haben sich doch gewisse Grunderkennt-
nisse kritischer Bibelwissenschaft als außer Diskussion stehend durch-
gesetzt. Und dazu gehört auch der wissenschaftliche consensus über
[139/14<1] nSola scriptura" und das Problem der Tradition 331

die unvermeidbare vorläufige oder vermutlich andauernde Umstrit-


tenheit vieler Fragen.
Statt auf Einzelheiten sei auf den Aufsatz von Ernst Käsemann ver-
wiesen: Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kir-
che ?105 Auf Grund einer Charakterisierung der Mannigfaltigkeit und
z. T. Gegensätzlichkeit in den verschiedenen Ausprägungen des ur-
christlichen Kerygmas, stellt Käsemann fest: "Die Zeit, in der man die
Schrift als ganze dem Katholizismus entgegenhalten konnte, dürfte
unwiederbringlich vorbei sein. Mit dem sogenannten Formalprinzip
kann Protestantismus heute nicht mehr arbeiten, ohne sich histori-
scher Analyse unglaubwürdig zu machen. Der neutestamentliche Ka-
non steht nicht zwischen Judentum und Frühkatholizismus, sondern
gewährt in sich wie dem Judentum so auch dem Frühkatholizismus
Raum." Und daraus zieht er für das Kanonsproblem die Folgerung:
"Der neutestamentliche Kanon begründet als solcher nicht die Ein-
heit der Kirche. Er begründet als solcher, d. h. in seiner dem Histori-
ker zugänglichen Vorfindlichkeit dagegen die Vielzahl der Konfessio-
nen." Bereits in der Urchristenheit war eine Fülle verschiedener Kon-
fessionen nebeneinander vorhanden. "Daß die gegenwärtigen Kon-
fessionen sich sämtlich auf den neutestamentlichen Kanon berufen,
ist von da aus begreiflich. Der Exeget kann ihnen grundsätzlich we-
der das methodische noch das sachlich fundierte Recht dazu bestrei-
ten. Er muß es ihnen im Gegenteil grundsätzlich bestätigen. " 106
Diese provozierenden - m. E. übrigens nicht unanfechtbaren, je-
denfalls mißverständlichen - Schlußfolgerungen, die jetzt nicht im
einzelnen diskutiert werden können107, sind gegen das auch im Pro-
testantismus weithin herrschende gesetzliche Kanonsverständnis ge-
richtet, das die Einheit der Schrift als die Einheit eines dogmatischen
Lehrganzen vorstellt, aber nur durchzuhalten ist, wenn man entwe-
der, wie es die katholische Kirche tut, sich auf die hermeneutische
Funktion der Tradition zurückzieht oder zumindest mit dem An-
schein von Willkür einen Kanon I im Kanon dekretiert in Gestalt ei-
nes bestimmten Schriftenkomplexes oder einer bestimmten Lehre als
kritischen Maßstabs. Der Anschein, daß die zweite Möglichkeit die
von der Refomation gewählte sei, trifft jedoch nicht zu, da eben schon
die Voraussetzung, nämlich das gesetzliche Kanonsverständnis, hier
nicht gegeben ist. Und deswegen wird durch Käsemanns These m. E.
durchaus nicht das recht verstandene reformatorische Kanonsver-

105 EvTh 11, 1951/52, 13-21. Abgedr. in: E. Kiisernann, Exegetische Versuche
und Desinnungen I, 1960,214--223.
101 AaO, 221.
117 S. G. Ebeling, Das Neue Testament und die Vielzahl der Konfessionen, in:
Wort Gottes und Tradition, 19661, 144 ff.
GEIULU\D EDELING [l<W/141]

ständnis kritism getroffen. Denn danambesteht die Einheit, weil die


eigentliche Same, der Schrift nicht in einem dogmatischen Lehrge-
bäude, sondern in dem im Namen Jesu Christi sim vollziehenden,
weil auf ihn sich berufenden, auf ihn gründenden Wortgeschehen,
welmes Glauben schaffend das Geschehen des rettenden Evange-
liums ist. Das Gesmehen dieses Wortes ist zwar auf die überlieferte
Bezeugung der Glauben smaffenden Christusverkündigung angewie-
sen, vollzieht sim aber nicht als bloßes Nachsagen, sondern kraft be-
freiender Ermämtigung zu eigenem Zeugnis in gegenwärtiger Ver-
antwortung.
Die Versmärfung der hermeneutischen Situation in der Neuzeit
kann deshalb, wenn man ihr standhält, gerade zu einer schärferen Er-
fassung des reformatorischen "sola scriptura" anleiten, indem die
Frage nach der Einheit der Schrift hingelenkt wird auf das, wozu die
Schrift gegenwärtig ermächtigt, und somit die historisch-kritische Ar-
beit am traditum der Erfüllung der hermeneutischen Aufgabe im ver-
antwortenden Vollzug der traditio ruft 10B.

D. Tradition im Lichte des "sola scriptura"

Da die Wahrheit des "sola scriptura" sich erfüllt in verantworten-


der Oberlieferung des Evangeliums, ergibt sim aus dem Schriftprin-
zip mit Notwendigkeit eine Lehre von der Tradition109• Ihre Entfal-
tung stellt eine umfassende Aufgabe dar, in der die Same des christ-
lichen Glaubens selbst in Hinsicht auf die Geschichtlichkeit herme-
neutisch bis in die Fragen des Kirchenrechts und der tätigen Weltver-
antwortung hinein zu bedenken ist. Es muß jetzt dabei sein Bewen-
den haben, dafür den theologischen Ansatz aufzuzeigen.
Die Warnungen, die aus Sprachgebrauch und Denken der Refor-
mation gegen ein Sicheinlassen auf den Traditionsbegriff zu sprechen
scheinen, sollen nicht etwa in den Wind geschlagen werden. Die Re-
formation hat bekanntlich von traditio nur unter negativen theologi-
smen Vorzeichen I geredet in Orientierung an der neutestamentlichen
Polemik gegen die jüdische Konzeption "Schrift und Tradition", der-
zufolge im Neuen Testament selbst das Substantiv "Tradition" vor-
nehmlich kritisch im Sinne von traditiones humanae, antithetisch zu
verbum dei, vorkommt110 • Der damals noch recht unentwickelte ka-
108 Vgl. die Ausführungen über historische und dogmatische Theologie in mei-
nem Buch: Theologie und Verkündigung. HUTh 1, 1962, 10-18.
111 Im folgenden lehne ich mich, gelegentlich auch in wörtlicher Ubemahme, an
meinen Artikel: Tradition VII dogmatism, RGG1 VI, 976-984, an, ohne dodl alle
dort angerührten Gesimtspunkte aufgreifen zu können.
uo Mk 7, 1-13 par; Gal1,4; Kol 2,8.
[141 /142] "Sola scriptura" und das Problem der Tradition

tholische Sprachgebrauch von traditio legtees-in Verbindung mit


der auch sonst betonten Entsprechung zwischen der neutestamentli-
chen Kritik am Judentum und der reformatorischen Kritik am Rö-
misch-Katholischen- nahe, den katholischen Traditionsbegriff vom
spätjüdischen her zu verstehen: sowohl in Hinsicht auf die Zusätzlic:h-
keit gegenüber dem in der Schrift überlieferten als auch in Hinsicht
auf den Charakter dieser traditiones als einzelner gesetzlicher tradita.
Dagegen konnte sich die ebenfalls im biblischen Sprachgebrauch be-
gegnende positive Verwendung von 1UIQalhMvaL und XQ(.)(IÖO<JL; nic:ht
durchsetzen, zumal im herrschenden Sprachgebrauch selbst traditio
auf jene derSduift gegenüber zusätzlichen einzelnen Uberlieferungen
festgelegt war. Für das reformatorische Denken erwuchs daraus aller-
dings die Gefahr, das theologische Gewicht des Traditionsproblems
überhaupt zu verkennen, obschon dies vom theologischen Sachver-
ständnis der Reformation her keineswegs so sein mußte. Allerdings
wurde der negative Akzent verschärft durch den kirchengeschichtlich
beispiellosen faktischen Bruch mit einer Fülle von Traditionen, der
sich in der Reformation selbst vollzogen hat, obschon die darin wirk-
same Intention gerade die Wahrung bzw. Wiederherstellung der rei-
nen Tradition war. Indem man jedoch sofort erläuternd hinzufügen
muß, daß es sidJ. selbstverständlich nicht um archaisierende Repristi-
nation bestimmter urchristlichen Traditionen handelte, werden audJ.
vom Sachlichen her die Hemmungen gegenüber einer theologischen
Aufwertung des Traditionsbegriffs verständlich. Denn es gilt ständig
wachsam zu sein gegenüber der Gefahr, daß das Evangelium ver-
wechselt wird mit oder überlagert wird durch Gesetzestraditionen,
daß es als Gesetz oder aber auch als "bloße Tradition" angeeignet
und gerade deshalb preisgegeben wird.
Will man darum in beremtigter Hervorkehrung von Problem-
aspekten, die von der Reformation vernachlässigt wurden, der außer-
ordentlichen Verzweigtheil des Traditionsproblems theologism ge-
recht werden, so muß man, der Intention des reformatorischen "sola
scriptura" folgend, mit Schärfe die Frage nam dem eigentlichen tra-
ditum tradendum stellen. Was im Blick auf die Sduift in deren hi-
storism-kritischem Verständnis als so erschwerend erscheint, nämlim
daß uns das eine traditum tradendum nur in der Weise verschiedener
Verkündigungs- und Lehrtraditionen gegeben ist, von denen keine
einzige einfam als das traditum tradendum ausgegeben werden
kann, läßt gerade auf das Entscheidende I amten: Nicht eine fixierte
Lehre, nicht ein Gesetz, nimt ein Offenbarungsbuch, vielmehr die
Person Jesu selbst als das fleischgewordene Wort Gottes und darum
als die Autorisation von Evangelium, von Geschehen vollmächtigen
Wortes des Glaubens ist der Inbegriff dessen, was zu überliefern ist,
GEI\BA.lU) EDELING [142/143]

und entsprechend der Heilige Geist als Gottes Gegenwart im Glauben


schaffenden Wort der Verkündigung. Nur dann kann in der Theolo-
gie recht von" Tradition" gesprochen werden, wenn man diesen fun-
damentalen, zu allem, was man sonst unter Tradition versteht, in
scharfem Kontrast stehenden Ausgangspunkt festhält und zur Gel-
tung kommen läßt: Das traditum tradendum im christlieben Ver-
ständnis ist nicht Gesetz, sondern Evangelium, darum beschlossen in
einem Namen, dessen Bezeugung nicht in der Errichtung einer Son-
dertradition, sondern in der Ausrichtung der rettenden eschatologi-
schen Botschaft an alle Menschen besteht, die sieb nicht durch Werke
realisieren läßt, sondern allein auf Glauben aus ist. Nur bei Beach-
tung dieses Wesensunterschiedes zwischen der "Uberlieferung" des
Evangeliums und allen geschichtlichen Traditionen, die für das
Menschsein sowohl hilfreich als auch gefährdend sind und trotz uni-
versalen Anspruchs stets auf eine Errid::ttung von Partikularität hin-
auslaufen, kann man begreifen, warum das Evangelium die Freiheit
hat und gibt zum Eingehen in und zum Sicheinlassen auf eine Viel-
heit von Traditionen, ohne mit einer einzelnen von diesen verwemseit
werden zu dürfen. Dieser eigentümliche Sachverhalt, daß sich die
traditio jenes einen traditum tradendum nur in der Vielfalt von Tra-
ditionen vollzieht und sich um des Missionsauftrages willen als Ober-
lieferung in alle gesd:llchtlichen überlieferungsräume hinein vollzie-
hen muß und das auch vermag, ist, in der Tiefe bedacht, identisch mit
dem Wesen des Evangeliums selbst als der eschatologischen Erfüllung
dessen, was in der Geschichte notwendig aussteht.
Von diesem Ansatzpunkt her erschließt sich evangelische Freiheit
nicht nur von falschem Gebrauch, sondern auch und vor allem zu
rechtem Gebrauch von Traditionen. Denn das Evangelium bedient
sich mannigfacher Traditionsgestalten: der vielfältigen Weisen von
Christuszeugnis und Christusverkündigung, des verbum visibile der
Sakramentshandlungen, der kerygmatischen Formeln, der Ordnun-
gen und Dienste der txxÄT)OLa, der autoritativen Texte, der theologi-
schen Auslegungstradition, der diristliehen Sitte, der Ausstrahlungen
in die ganze Breite sittlimen, kulturellen und geschichtlichen Lebens.
Dod::t vollzieht sich durd::t all diese Traditionsformen nur dann die ei-
gentliche traditio des Heiligen Geistes, wenn sie dienend bezogen
sind auf das Wort des Glaubens, durch das Jesus Christus den Men-
schen überliefert wird und die Menschen Jesus Christus überliefert
werden. Die christliche Tradition ist ständig in der Gefahr, zur Geset-
zestradition zu werden und die Oberlieferung des Evan!geliums schul-
dig zu bleiben. Nicht die Wahrung und Weitergabe der Traditions-
inhalte und -formen als solcher, sondern nur deren rechter Gebrauch
als Weisen und Mittel des Evangeliums wird dem Oberlieferungsge-
[143] "Sola scriptura" und das Problem der Tradition

schehen gerecht. Und eben diesem rechten Gebrauch von Traditionen


dient das reformatorische "sola scriptura", nimt als gesetzliche Vor-
schrift von Traditionen, sondern als Quellgrund der einen Über-
lieferung, welcher Raum zu lassen das Kriterium aller Traditionen ist.
Damit ist die Richtung gewiesen, in der vom "sola scriptura" her
das Problem der Tradition in die Verzweigung seiner mannigfachen
Konkretionen hinein zu erörtern wäre: im Hinblick auf die theologi-
sche Relevanz der Kirchengeschimte, auf die Hermeneutik der konfes-
sionellen Auseinandersetzung und des ökumenischen Gespräcl:J.s, auf
das Problem der Verkündigungssprache, der kirchlichen Lehre und
des Kircl:J.enrechts sowie auf die Mitverantwortung der Christenheit
für die Wahrung, Wiederherstellung und Schaffung guter, welterhal-
tender Traditionen in einer vom Traditionsverlust bedrohten Welt.
Il. Kritische Analyse

Zwei Hinweise sind als Einleitung der folgenden Besinnung ange-


bracht: Die wissenschaftliche Arbeit an der Bibel hat im deutschen
Protestantismus nie einen wirklichen Ausgleich mit dem Leben der
Gemeinde gefunden, obgleich sie in der Zeit des Liberalismus starke
Gruppen freundlich oder feindlich beeinflußte und durch allgemein
verständliche Schrüten Interesse zu wecken suchte. Das lag entschei-
dend wohl daran, daß es fast durchweg kirchliche Gemeinschaft über
das Konventionelle hinaus nur auf dem vom Pietismus durchpflügten
Boden gab und dessen Biblizismus Kritik an der Schrift nicht duldete.
Infolgedessen blieben die Vertreter einer historisch-kritischen Exegese
mehr oder weniger im akademischen Bereich isolierte Spezialisten,
selbst wenn sie von den kulturellen Strömungen ihrer Zeit getragen
wurden und sogar vermeintlime Orthodoxie weithin liberal infiziert
war. Man vertraute ihnen die Erziehung der Pfarrer und Religions-
lehrer an, weil Universitätsbildung hödlsten Respekt in der Gesell-
schaft genoß. Sofern man sich überhaupt Gedanken über die kirch-
liche Zweckmäßigkeit dieses Weges machte, konnte man begründet
hoffen, daß Vermittlungstheologie, Predigerseminare und vor allem
die Praxis unliebsame Früchte des Studiums eingrenzen würden. Tat-
sächlich haben 40 Dienstjahre in der Gemeinde eine den Mensmen
wie sein Amt unvergleichbar prägende Kraft, welcher sich nur die
Wenigsten entziehen können. Von Außenseitern abgesehen, gleicht
man sim allmählich an, und das radikale Ethos der Wissenschaft
schwindet, wenn man überhaupt davon berührt worden ist, gewöhn-
lich mit der Jugend, was man als Reifeprozeß betrachten und recht-
fertigen mag.
Dann kamen die Jahre, in welchen die dialektische Theologie den
Liberalismus auch in den theologischen Fakultäten überrannte und
auf Widerstand einzig in konfessionellen Hochburgen und einigen
Zentren historischer Kritik stieß. Der Kirchenkampf distanzierte un-
ter der Losung "Bibel und Bekenntnis" die Schar der Getreuen,
wenngleich mit recht verschiedenen Motiven, kirchlich und politisch
von ihrer Umwelt. Der Bewegungsraum mindestens neutestamentli-
cher Kritik wurde immer enger und beschränkte sich zuletzt fast aus-
schließlich auf den Umkreis der Schule Bultmanns. Von dort her er-
folgte gegen Ende des Krieges mit dem sogenannten Entmythologi-
sierungsprogramm ein Umschlag, der zunächst recht langsam zur
Kenntnis genommen wurde, allmählich jedoch immer weitere Kreise
Kritische Analyse 33i
zog, die Hermeneutik zum zentralen theologischen Thema machte,
Exegeten und Dogmatiker und schärfer als je zuvor kritische Wissen-
schaft und Gemeindefrömmigkeit voneinander trennte. Die Radika-
lisierung der Fronten läßt sich nicht verstehen, wenn man diese in-
nerdeutsche Entwicklung nicht vor Augen hat.
Noch erstaunlicher ist, daß diese Radikalisierung, von der herme-
neutischen Frage getragen, wie ein Buschfeuer um sich griff und
heute selbst die Okumene beunruhigt. Zwei Faktoren haben haupt-
sächlich dazu beigetragen. Die theologischen Seminare Amerikas,
noch vor kurzem zumeist rein kirchliche Ausbildungsstätten, gewin-
nen immer stärkere Selbständigkeit gegenüber ihren Denominatio-
nen und öffnen sich dabei begreiflicherweise gerade den radikalen
Fragestellungen Europas, was umgekehrt dorthin zurückwirkt. Zwei-
tens hat die römisch-katholische Exegese besonders in Deutschland,
aber rasch von dort aus weiterwirkend, in wenigen Jahrzehnten den
Anschluß an den protestantischen Forschungsstand gewonnen, auch
wenn sie im allgemeinen eine gemäßigte Linie innehält. Doch ist
man jetzt mit der historischen Problematik und selbst ihren radika-
len Fragen vertraut und kann sich auf die Dauer nicht länger von der
traditionellen Systematik leiten lassen, zumal man den günstigen
Wind einer kirchlichen Erneuerungsbewegung im Rücken hat.
Bedenkt man endlich, daß wir alle in einem weltweiten Umbruch
stehen, ist klar, daß Unruhe die Signatur heutiger Theologie sein
muß und extreme Experimente nicht zu vermeiden sind. Der Um-
gang mit der Bibel wird davon notwendig mitbetroffen. Wie heftig
sich überall Gemeindefrömmigkeit dagegen noch zur Wehr setzt,
auch sie kann den Einbruch wissenschaftlicher Einsichten und histo-
rischer Forschung in ihre Bereiche nicht mehr verhindern. Sie ver-
langt sogar in zunehmendem Maße nach Information, welche ihren
allzu lang verdeckten Nachholbedarf an Aufklänmg über die Vor-
gänge in der Theologie befriedigt. Zum ersten Male seit Jahrhunder-
ten erfolgt eine echte, obschon spannungsgeladene Konfrontation
zwischen ihr und moderner Exegese. Das legt allen Beteiligten eine
ungewöhnliche Verantwortung auf, gibt allen aber auch eine unge-
wöhnliche Chance, sich gegenseitig besser zu verstehen und miteinan-
der zu wachsen. Man hat das offensichtlich begriffen, wenn die refor-
mierte Kirche Hollands ein Handbuch herausgibt, das, ins Deutsche
übersetzt, den Titel trägt: "Rechenschaft über Geschichte, Geheimnis
und Autorität der Bibel" 1• Der Versuch, die sich noch zum Gottes-
dienst haltende Gemeinde mit der biblischen Forschung bekannt zu
machen, ist nicht völlig von früher herrschender Erbaulichkeit frei,
1 Ndl. "Klare wijn", erschienen 1967. Im Auftrag der Evangel. Jugend Deutsch-

lands übers. und hrsg. von G. Blaurock und fi.-U. Kirchhoff, 1968.

22 Kä.scmann, Kanon
Kritische Analyse

aber im ganzen doch ein gelungenes Beispiel des heute Möglichen


und Erforderlichen. Auf der anderen Seite wurden die Neutestament-
ler schon durch die dialektische Theologie und die etwa gleichzeitige
Blüte kirchengeschichtlicher Forschung zur Reformation gezwungen,
ihre Arbeit mit einer grundsätzlichen Reflexion über die systemati-
sche Bedeutung ihrer Methoden und Ergebnisse zu verbinden, und
das gilt angesichts der soeben anvisierten Lage noch stärker. Mit
Recht kann G. Gloege deshalb am Ende seines Oberblicks (S. 38)1
feststellen: "Für die gegenwärtige Bibelwissenschaft ist damit die
theologische Fragestellung in den Vordergrund gerückt." Noch prä-
ziser: "Historische und theologische Problematik beginnen, sich
wechselseitig zu befruchten" (S. 39).
Einen geistesgeschichtlichen Rückblick auf das Bibelverständnis,
begrenzt durch die Zeit seit Orthodoxie und Aufklärung im deut-
schen Protestantismus, bietet auch H. Strathmann. Er tut es sehr viel
anschaulicher, allerdings in unverkennbar parteüscher Antithese.
Schon der erste Satz zeigt, daß sein Aufsatz als Fanal gedacht war:
"Eine schleichende Krankheit der evangelischen Theologie und damit
der evangelischen Kirche ist die Unklarheit ihres Verhältnisses zu den
Urkunden ihres Ursprungs, also zum Bibelkanon, genauer dessen UD-
geschichtliches, nämlich intellektualistisch-juridisches Mißverständ-
nis und seine Auswirkungen" (S. 41). Er irrt, wenn er das unter den
Titel setzt: "Die Krisis des Kanons der Kirche". Denn Krisen haben
die Christenheit seit der Kanonbildung und die Schriftauslegung seit
der Interpretation des Alten Testaments durch Jesus unaufhörlich be-
gleitet. Strathmann signalisiert nur den Beginn einerneuen Runde im
alten Streit. Seine Begründung des von ihm als notwendig empfun-
denen Warnrufs faßt zudem eine Entwicklung ins Auge, welche 1941
im wesentlichen abgeschlossen war, zum mindesten nicht mehr als
ungebrochen gelten konnte. Immerhin spürte er, was in der Luft lag,
und gab einen Anstoß, dem R. Bultmanns gleichzeitig erschienener
Aufsatz "Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Ent-
mythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung" 3 zu seinem
Recht und weltweitem Widerhall verhalf. Das Problem des Kanons
ist seitdem akut.
Strathmanns Darstellung geht davon aus, daß das dialektische Ver-
ständnis der christologisch begründeten und begrenzten Schriftauto-
rität in der Reformation von protestantischer Orthodoxie intellektua-
1 Seitenzahlen innerhalb des Textes verweisen auf die vorliegende Dokumenta-
tion.
1 Zuerst erschienen in den Beiträgen zur Evangelischen Theologie 7, hrsg. von
E. Wolf, 1941, S. 27-69; wieder abgedruckt in: Kerygma und Mythos I, hng. von
H. W. Bartsch, 1948, S. 15-53.
Kritisdle Analyse

listisch-juridisch durch das Postulat einer unbedingt zuverlässigen


äußeren Autorität abgelöst wurde, das man vonder Lehre der Verbal-
inspiration her und unter Berufung auf die innere Erfahrung der
Gläubigen mit der Schrift zu unterbauen suchte (S. 41-44). Die Auf-
klärung zersetzte mit ihrer dogmatischen, historischen und religiösen
Kritik, die besonders liebevoll wiedergegeben wird, diese Betrachtungs-
weise mit noch heute weithin zwingenden Argumenten, und ihre hi-
storische Kritik verschärft sich in Idealismus und Liberalismus. Doch
kann man sich von den Prämissen des Gegners nicht lösen. Die Struk-
tur des Denkens ist das negative Spiegelbild des doktrinär-jwidischen
Vorbildes, so daß man dem Dilemma von historischer Wissenschaft
und dogmatischem Glauben intellektualistisch verhaftet bleibt (S. 45
bis 59). Ungewöhnlich scharf wird das Recht der historischen Kritik
verteidigt und deren mangelhafte Kenntnis in den Gemeinden be-
klagt: "Keine Behandlung der biblischen Schriften hat heute noch
irgendwelche Glaubwürdigkeit, welche der geschichtlichen Wirklich-
keit dieser Bücher nicht in voller Aufgeschlossenheit und Ehrlichkeit
Rechnung trägt. Die Wirklichkeit ist stärker als alle apologetische
Künstelei" (S. 59). Es wäre nützlich, wenn die heutige deutsche "Be-
kenntnisbewegung" sich daran erinnern würde, daß ein Freund A.
Schlatters und ein sehr konservativer Exeget diese Sätze schrieb.
Leider ist die verwandte Begrifflichkeil reichlich unscharf: "Juri-
disch-doktrinär" erscheint, zumalesumgedreht werden kann, fast als
Tautologie. Daß historische Kritik seit der Aufklärung dem Jwidi-
schen wenigstens negativ Vorschub geleistet hat, läßt sich kaum be-
haupten. Daß sie durchweg oder hauptsächlich doktrinär gewesen
wäre, wurde weithin durch die tiefgreifende Aporie gegenüber der
historischen Problematik und die positivistische Beschäftigung mit
dem Detail verhindert. Selbst das Schema des Intellektualismus wird
den Bahnbrechern der radikalen Kritik schlechterdings nicht gerecht.
Diese terminologischen Mißgriffe wurzeln im Ressentiment, dem sich
als solchem auch nicht die Frage stellt, inwiefern 'die Reformation
Autorität der Schrift ohne "Doktrin" christologisch begründen und
begrenzen konnte, die Orthodoxie also nicht ohne Anhalt bei ihren
Vätern war. Diffus ist ebenfalls die Antithese: "nicht historisch-dog-
matisch", sondern "geschichtlich-religiös" (S. 59), die jedoch Strath-
manns eigene Position sichtbar werden läßt. Faktisch wird bei ihm
die Kanonfrage auf die Behauptung und Forderung einer "Lebens-
beziehung der Kirche und ihrer Glieder zum Neuen Testament" re-
duziert, das die "Urzeugnisse der glaubensvollen Verkündigung"
enthält (S. 59, 60). Unscharf bleibt schließlich der Gegensatz in der
Aussage: "Der biblische Wahrheitsbegriff ist nicht dokrinär-juridisch,
sondern personhaft" (S. 61). Sie setzt voraus: "Das Zentrum dieser
22•
Kritisdte Analyse

Zeugnisse bildet die Gestalt Christi- und sonst nichts-, deren erlö-
sende, lebenspendende Macht die Zeugen als erlebte Wirklichkeit be-
kunden . . . Diese religiöse Lebensbeziehung erneuert sich . . . von
Geschlecht zu Geschlecht" (S. 60).
Hier häufen sich die Fragen: Wie kann ein Wahrheitsbegriff per-
sonhaft sein? Inwiefern soll nicht Bindung an eine Person zur "Dok-
trin" führen und sich dogmatisch niederschlagen, wie es im Christen-
tum doch stets geschehen ist, selbst wenn man die Wahrheit auf die
Nachfolge Jesu beschränkte? Gibt es religiöse Bindung an die Gestalt
Christi nicht auch außerhalb der Kirche? Schließen "Lebensbeziehun-
gen" den Aberglauben aus? Ist ihre Erneuerung von Geschlecht zu
Geschlecht uns nicht inzwischen in Europa recht fragwürdig gewor-
den? Was besagt endlich die Rede von der "Gestalt" Christi präzis
für den Glauben? Strathmann vertritt jene Haltung, die nach Gloege
(S. 31) für den anfänglichen Pietismus kennzeichnend ist: "Von spiri-
tualistischen Motiven gespeist, hält er gegenüber dem Wiederauf-
kommen des dok.rinären Biblizismus die Erinnerung daran wach, daß
der Ruf der Bibel das Leben des Menschen und der Gemeinschaft an-
geht." Doch ist man allzu optimistisch, wenn man die Freiheit der
historischen Forschung gleichzeitig proklamiert. Denn dann wird
nicht gesehen, wie sehr mindestens deren radikale Form- und echte
Wissenschaft wird des Fragens nie müde, deshalb immer radikal
sein I - auch die persönlichen Lebensbeziehungen gefährdet. Die
Gültigkeit des Kanons ist hier letztlich an die Erfahrungen glauben-
der Individuen gebunden. Damit wird jedoch ein Bogen zum theolo-
gismen Antipoden E. Troeltsch geschlagen, der ebenfalls "die Per-
sönlid:Ikeit und Verkündigung Jesu" als "die eigentlich klassische
Quelle der christlimen Glaubensgedanken" bezeichnete und die "Dar-
bietung eines religiös-sittlichen Personlebens" gegen im dogmati-
schen Sinne unanfechtbare Lehrsätze ausspielte'. In einer Vorlesungs-
nachschrift wird das verdeutlicht: "Eine Theorie über die Bibel auf-
zustellen, ist nicht nötig. Die Hauptsache ist, daß die Bibel eben da
ist und daß wir sie richtig lesen lernen, nämlich ohne kritische und
dogmatische Sorgen, ohne beständige wissenschaftliche Einfälle, ein-
fach als religiöser Mensch. Sogar die Theologen müssen unbedingt
dazu gelangen. Wer das Leben will aus dem Buch des Lebens, muß
die Stellen finden, die gerade an die eigene Seele pochen. Das bloße
Steineklopfen gehört dann denen, die dazu berufen sind. " 5
Die Exegeten werden über die ihnen hier verordnete Aufgabe nicht
glücklich, die Dogmatiker mit der Lösung des Problems nicht zufrie-
den sein. Immerhin sieht man, daß rechts und links auch in der Theo-
• Glaubenslehre, hrsg. von G. von le Fort, 1925, S. 20 f.
II Ebd. s. 27.
KritischeAnalyse 341
logie verfließen können, Rationalismus und Pietismus Geschwister
sind. Man beklagt die Krise des Kanons und gewahrt nicht, daß man
selber zu seiner Aushöhlung beiträgt, indem man aus ihm das histo-
rische Dokument religiösen Erlebens und persönlicher Glaubenser-
fahrungen macht.

fV. G. Kümmels Aufsatz ist geradezu erregend, wenn man sich


klarmacht, daß hier ein Historiker strengster Prägung bewußt dog-
matische Fragen angreift und das für notwendig erklärt, weil der
Exeget sich Rechenschaft über den Horizont seiner Arbeit geben muß
und das Verhältnis zum Kanon nicht individueller Willkür überlassen
darf. Erregend ist nicht weniger aber auch die Unerbittlichkeit, mit
welcher die dogmatische Frage in methodischer Konsequenz im Felde
historischer Kenntnis festgehalten wird. Nicht die religiöse Lebensbe-
ziehung ermöglicht die Freiheit der Forschung. Diese ist vielmehr
Ausgangspunkt und Leitfaden auf dem Wege zur theologischen Ant-
wort, welche sich darum immer wieder vor der historischen Kritik zu
rechtfertigen hat. Es wäre unendlich viel gewonnen, wenn Theologen
und Gemeinde sich derart furchtlos zwischen Szylla und Charybdis
wagten und diesen Stand als uns heute geboten nicht mit Postulaten
oder professioneller Betriebsamkeit im wissenschaftlichen Kleinkrieg
überspielten. Die Identität des Historikers mit dem Theologen darf
weder in ihrer Spannung bagatellisiert noch als Uberforderung preis-
gegeben werden, wenn die moderne Krise kirchlich fruchtbar werden
soll. Wir sind zu einer Grundentscheidung aufgefordert, wenn gesagt
wird: "Es gibt keine andere lVIöglichkeit, über Bedeutung und Um-
fang des neutestamentlichen Kanons für die Kirche von heute Klar-
heit zu gewinnen als auf dem Wege über die geschichtliche Frage
nach dem Werden dieser Schriftensammlung" (S. 63).
Es ist nicht nötig, Kümmels Darstellung dieses Prozesses im einzel-
nen zu verfolgen, so informierend sie zumal für den damit nicht Ver-
trauten sein mag. Die protestantische Forschung ist sich hier, von be-
stimmten Einzelproblemen abgesehen, im allgemeinen einig. Es
kommt vielmehr darauf an, die gesetzten Akzente deutlich zu erken-
nen. Die wichtigste Aussage lautet, "daß alle christliche Verkündi-
gung ihre Begründung und Ermächtigung allein durch das einma-
lige Handeln Gottes in Jesus Christus und den Aposteln erhält"; der
Theologie ist darum die Frage brennend, "wo dieses einmalige Heils-
handeln Gottes uns in unverfälschter Form faßbar sei" (S. 64). Das
Abbrechen der mündlichen Tradition zwang dazu, die für die Kirche
unentbehrliche Norm des Kyrios und der Apostel nur noch in den
Schriften aus der Apostelzeit zu suchen, so daß sich der Kanon zu-
nächst "völlig unreflektiert aus den Bedürfnissen des kirchlichen Le-
Kritische Analyse

bens entwickelt hat" (S. 69). Wenn Mareion den ersten geschlossenen
Kanon aufstellte, so hat er diesen Prozeß beschleunigt, aber nicht
inauguriert (S. 72). Hat die abgeschlossene Form als bewußte Smöp-
fung der sich am Kriterium vermeintlimer "Apostolizität" orientie-
renden Kirche zu gelten (S. 73, 78), so ist umgekehrt die Entstehung
des neuen Kanons "Teil der Formwerdung der Kirche und nicht be-
wußte Schöpfung" (S. 79).
Den Eckpfeiler dieser Argumentation bildet die Feststellung der
"Unwiederholbarkeit . . . der christlichen Urgeschichte". Sie wird
auch durch den Geist nicht aufgehoben, sofern dieser nicht neue Of-
fenbarung schafft, sondern "nur die immer neue lebendige Begeg-
nung mit der geschichtlichen Offenbarung" ermöglicht (S. 85). Von
hier aus muß sich eine Dialektik entfalten, welche einerseits die
grundsätzliche Notwendigkeit des Kanons und seiner Begrenztheit
sowie das relative Recht seines schließliehen Umfangs anerkennt, an-
dererseits jedoch den geschichtlim-kontingenten Imponderabilien
und der darin beruhenden Problematik des Kanons sim nicht ver-
schließt. Ist der christliche Glaube auf das einmalige Gotteshandeln
angewiesen, so muß das Unwiederholbare der Urgeschichte zunächst
mündlich, dann schriftlich in Berichten weitergegeben werden, die,
weil sie von einem Heilshandeln sprechen, nicht bloß geschichtliche
Mitteilung, "sondern zeugnishafte Aussage über ein geschichtliches
Faktum" sind (S. 80). Sofern das Heilshandeln an die "Urgesmidtte"
gebunden bleibt, ist das "ursprüngliche Zeugnis", durch Amt und
Funktion der Apostel gekennzeichnet, konstitutiv, also durch spätere
kirchliche Tradition nicht zu ersetzen oder zu ergänzen (S. 81). Das
konstitutive Zeugnis muß schriftlich fixiert werden, wenn seine
mündliche Oberlieferung nicht mehr gesichert ist, und bedarf der
Abgrenzung, sofern es überwuchert zu werden droht. Der Umfang
unseres Kanons kann relativ geremtfertigt werden, weil Schriften
nach dem ersten Viertel des 2. Jahrhunderts kaum mehr als ursprüng-
liche Zeugnisse gelten dürfen (S. 90). Selbst seine Vielfältigkeit und
die sich darin äußernde Entwicklung sind positiv zu werten, weil "nur
eine Sammlung der verschiedenartigen Zeugnisse, d. h. der Kanon,
uns in ausreichender Weise mit dem urchristlichen Kerygma der
Apostelzeit in Verbindung" bringt (S. 93).
Freilich sind all diese Feststellungen mit schweren Hypotheken be-
lastet. Chronologische Argumente sind in unserm Zusammenhang
nur negativ anwendbar und gewähren auch dann keine Sicherheit
(S. 91). Die Irrtumsfähigkeit und das Unverständnis der Menschen
müssen berücksichtigt werden und wehren der Meinung, in den älte-
sten Dokumenten sei das Christuszeugnis unverfälscht erhalten (S.
93). Urchristliches Gut mag neu entdeckt werden. Das wäre dann,
Kritis<he Analyse

allerdings mit allgemeiner kirchlimer Zustimmung, in den Kanon


aufzunehmen, wie unter der gleimen Bedingung ein simer nimt
mehr ursprünglim zu nennendes Scllriftstück ausgeschlossen werden
könnte (S. 91). Vor allem ist Apostolizität als Kriterium des Kanoni-
smen, wie die Alte Kirme es verwandte, problematism, weil derbe-
grenzte Apostelbegriff uns" durmaus nimt streng faßbar ist" (S. 88),
~:apostolism" heute nur noch die ersten Zeugen bezeichnen kann. Das
alles nötigt zu der Konsequenz, daß die Grenze des neutestament-
limen Kanons zwar historisch geschlossen ist, sachlim aber immer
wieder von neuem zu bestimmen bleibt und sogar mitten durcll den
Kanon läuft (S. 96 f.) 6 • Den "normativen Kanon" gewinnen wir im
"inneren Vergleim", der keineswegs rein subjektiv, aber auch nicht
rein historisch arbeitet (S. 94 f.). Er beurteilt den Text nam der Ein-
deutigkeit, mit der er auf die geschichtlime Christusoffenbarung hin-
weist, insbesondere die Botschaft und Gestalt Jesu nam der ältesten
synoptischen Form, das älteste Kerygma der Urgemeinde und dessen
erste theologische Reflexion bei Paulus spiegelt (S. 94). Umgekehrt
ist "die zentrale Christusverkündigung des Neuen Testamentes in
ihren verschiedenen Formen wirklich als Norm zu begreifen" (S. 97)
und so auch dem uns überlieferten Kanon dogmatismes Gewicht
nicht abzusprechen.
Für geschichtlich gesmultes Denken ist die Konzeption Kümmels
cinleumtend und ihre Logik zwingend. Der Historiker verleugnet sich
nicht, wenn er zum Theologen wird. Das ist seine Stärke. Verursacht
das aber nicht zugleich seine Schwäche? Darf sim der Theologe mit
dem zufrieden geben, was ihm der Historiker anbietet und zumutet?
Gilt nicht für ihn genau so wie für den Historiker und vielleicht noch
mehr, daß Gott und der Teufel sich im konkreten Detail verstecken?
Gerade das muß nun verdeutlicht werden. Kümmel hat deutlich ge-
sagt, was er unter "apostolisch" verstanden wissen will, weil er der
Problematik dieses Begriffes sich bewußt ist. Warum firmiert er je-
doch den anvisierten historischen Samverhalt mit einem dogmatism
außerordentlich befrachteten und strapazierten Prädikat, wenn er die
Fortführung der Diskussion des 3. und 4. Jahrhunderts gerade in die-
sem Zeichen für unmöglich erklärt (S. 89)? Die ersten Zeugen waren
offensichtlich nicht alle Apostel, sondern zum großen Teil uns anonym
gewordene Jünger. Bei den "Apostel" genannten Missionaren der Ur-
christenheit ist umgekehrt keineswegs sicher, daß sie durchweg erste
Zeugen waren. Es gibt im Neuen Testament zweifellos auch aposto-
1 So ist Kümmel in seinem Aufsatz "Mitte des Neuen Testaments" (in: L'Evan-
gile, hier et aujourd'hui. M~langes offerts au F. J. Leenhardt, 1968, S. 71-85) ein-
dringlich dafür eingetreten, daß man einen "Kanon im Kanon" zu erkennen und
anzulegen habe.
Kritische Analyse

lische Tradition im Sinne einer Überlieferung aus dem Kreise der den
irdischen Jesus begleitenden Jünger. Doch wird radikale Kritik sie auf
ein Minimum beschränken. Die ältesten christlichen Bekenntnisse
dürften mit wenigen Ausnahmen in die hellenistische Gemeinde und
deren Enthusiasmus weisen, also kaum "apostolisch" zu nennen sein.
Kein neutestamentliches Schriftstück läßt sich, von den Paulusb.riefen
abgesehen, auf einen Apostel oder mit einiger Wahrscheinlichkeit,
von den Deuteropaulinen abgesehen, auf direkte Apostelschüler zu-
rückführen. Darf der Historiker unter diesen Umständen von Aposto-
lizität sprechen, wenn damit im allgemeinen nur die Vertreter der
dritten Generation und die von ihnen aufgegriffene, bereits erhebli-
chen Abwandlungen unterworfene Tradition gemeint sein können?
Verbirgt sich dahinter nicht doch die Anschauung, daß die neutesta-
mentliche Überlieferung weithin authentisch sei und Garantien biete,
wie Historiker und Theologen sich es wünschen?
Stärkeren Anstoß empfinde ich noch durch die Behauptung, im we-
sentlichen hätten kirchliche Bedürfnisse den Kanon des 2. Jahrhun-
derts gestaltet. Die Bedürfnisse selbst des Christen, sofern ihm der
alte Adam anhaftet, richten sich mindestens so sehr auf den Aber-
glauben wie auf den Glauben, und das Neue Testament dokumen-
tiert das nicht ganz selten. Diese Bedürfnisse haben doch auch die
phantastischen Erinnerungen des Papias und die Apokryphen produ-
ziert, Paulus und Johannes von den Gnostikern ausbeuten lassen, die
Legenden und Mythologeme des Neuen Testamentes, die Fortbil-
dung jüdischer Apokalyptik veranlaßt und Lukas dazu getrieben, Er-
bauungsschriftsteller mit historischen Ambitionen zu werden. Sollte
die Feststellung geschichtlich zutreffen, kann sie den Theologen nur
höchst bedenklich stimmen. Umgekehrt ist nicht einzusehen, daß die
Entstehung des frühen Kanons "völlig unreflektiert" vor sich ging.
Reflexion liegt doch schon vor, wenn die späteren Evangelisten Mar-
kus korrigieren, Johannes rücksichtslos mit der von ihm vorgefunde-
nen Tradition umspringt, Paulus gegen Judaismus und Enthusias-
mus polemisiert, die Pastoralen und andere urchristliche Paränese
sich um eine feste Gemeindeordnung bemühen, von vielem andern
zu schweigen. Kann man Reflexion den Einzelnen zubilligen, der Re-
zeption in ersten Sammlungen aber aberkennen? Würde das nicht
bedeuten, daß von Anfang an der Aspekt rechter Lehre keine oder
bloß untergeordnete Bedeutung gehabt hätte? Daß der frühe Kanon
"Teil der Formwerdung der Kirche" war, soll nicht bestritten werden.
Müßte das jedoch nicht sehr dialektisch dagegen abgesichert sein, aus
dem Evangelium in seinem Gegenüber zur Gemeinde erste kirchliche
Tradition zu machen? Müßte nicht auch sehr viel vorsichtiger davon
die Rede sein, daß der Geist nicht neue Offenbarung schafft? Wird
Kritische Analyse

dem entgegengestellt, daß er "nur" Begegnung mit der geschichtli-


chen Offenbarung ermögliche, sollte das Verb zum mindesten "ver-
wirklichen" heißen. Erst recht stört mich das eingrenzende "nur",
das einzig bei historischer Betrachtungsweise sinnvoll ist. Sicher wird
man nicht als Evangelium bezeichnen, was der Jesusbotschaft zuwi-
derläuft, und die Erinnerung daran als spezifisches Werk des Geistes
ansehen. Doch hat diese Erinnerung in verschiedenen Situationen
und Zeiten aus der Antithese zur Umwelt ein verschiedenes Gepräge,
und sie erfolgt immer wieder im Widerspruch zur früheren Tradition
und herrschenden Gemeindefrömmigkeit. Offenbarung läßt sich
nicht konservieren und auf einen Zeitraum einschränken. Genau das
scheint Kümmel jedocll anzunehmen, wenn er das "einmalig" aus-
schließlich historiscll versteht und nicht hevorhebt, daß sich neutesta-
mentlich damit das Motiv des eschatologischen "ein für alle Male"
verbindet, das die Zeiten umspannt und Gegenwart Christi allen Ge-
nerationen nicht nur in historischer Begegnung verheißt. Daß nach
reformatorischer Sicllt, die neutestamentlich und bibliscll gut begrün-
det ist, das jeweils ergehende Wort der Predigt des Evangeliums Of-
fenbarungscharakter besitzt, kommt offensichtlich zu kurz. Was als
Ereignis der Sendung und des Geschickes Jesu tatsächlich unwieder-
holbar ist, wird paradoxerweise in Verkündigung und Sakrament
gleichwohl "wiederholt".
Verhält es sicll jedoch so, mag die Chronologie für den Historiker
wichtig und für den Theologen nicht ganz irrelevant sein, insofern
das "Ursprüngliche" wahrsclleinlich dem "Echten" näherkommt. Das
Gewicht der Argumentation darf sich darauf aber nicht verlagern,
und eine grundsätzliche Scheidung von der späteren kirchlichen Tra-
dition ist von da aus mindestens theologisch unberechtigt. Der ent-
scheidend aus historiscllen Gründen abgegrenzte Kanon hat auch in
seiner negativen Funktion kein wirklich dogmatisches Wesen. Er
müßte sachlich offen sein, und die Alte Kirche hat darum nicht ganz
von ungefähr das Sachkriterium des Apostolischen ins Spiel gebracht,
in welchem es zugleich um das Ursprüngliche und das Echte ging.
Das führt zum letzten Diskussionspunkt. Es bleibt doch Chiffre und
Schemen, wenn vom einmaligen Heilshandeln gesprochen wird,
selbst wenn das inhaltlicll durch die Beziehung auf Gestalt und Bot-
schaft Jesu konkretisiert ist7. Verdeckt man so nicht den erbitterten
Streit um das, was über Jesus und seine Botschaft ausgemacht werden
kann, also etwa das Problem des sogenannten Selbstbewußtseins, der
~Am weitesten geht die Charakteristik in "Mitte des NT", S. 84; "das We-
sen dieses gegenwärtigen und endzeitliehen Heilsgeschehens" sei darin zu erblik-
ken, "daß Gott in Jesus Christus sich zum Menschentrotz dessen Sünde herabge-
lassen und ihm seine rettende Liebe angeboten hat, die ihre Vollendung im Kreuz
und in der Auferstehung Jesu findet".
KritischeAnalyse

Haltung zu Gesetz und Eschatologie, den wirklichen Hergang der


Passion und der Osterereignisse? Das setzt sich fort, wenn das erste
Zeugnis an dieses Heilshandeln geknüpft wird. Die Divergenz der
Synoptiker, die Eigenart des 4. Evangeliums und der paulinischen
Lehre, ihr Verhältnis zu Apokalyptik und Frühkatholizismus, die
historisierenden Tendenzen des Lukas und all das, was sonst an Span-
nungen und an Fragwürdigkeit dem Historiker sichtbar wird, darf
doch nicht vom Theologen harmonisiert werden. Die Mannigfaltig-
keit eröffnet nicht nur ausreichenden Spielraum, um das Ursprüng-
liche zu suchen, sie verdeckt es auch bis an die Grenzen der Unkennt-
lichkeit und kann darum nur graduell von der späteren kirchlichen
Tradition geschieden werden. Der Dogmengeschichtlicher vermag das
Neue Testament nicht aus seiner Arbeit grundsätzlich auszugrenzen.
Deshalb wird es notwendig, einen inneren Vergleich anzustellen und
die Grenzen des Kanons durch diesen selbst laufen zu lassen. Der
Glaube kann aber nicht von Chiffren leben. Er muß präzis wissen,
was sim unter dem Stichwort Jesus Christus, göttliches Heilshandeln
verbirgt. Sonst gerät er bestenfalls in ein magnetisches Feld, aber
nimt zum Pol, in Wahrscheinlichkeiten statt in die Wahrheit.
Kümmel setzt mit einem Salto ein, den er als Historiker nicht zu
begründen und nicht einmal hinreichend zu erläutern vermag, ehe er
dann historische Notwendigkeiten und Zweckmäßigkeilen heraus-
stellt, ohne die dem Historiker überall vertraute Kontingenz im ge-
schichtlichen Geschehen zu leugnen. Die methodische Konsequenz
und sachliche Nüchternheit seiner Kritik lassen nur zu leimt eine ge-
wisse Naivität im dogmatischen Ansatz vergessen. Es ist ihm nicht ge-
lungen, zwischen Szylla und Charybdis hindurchzulavieren, obwohl
er sich das vorgenommen hatte. Auf eine Formel gebracht: Heilsge-
schichtliche Betrachtungsweise bietet das Sprungbrett für den Histo-
riker, theologische Fragen aufzuwerfen und zu beantworten, die dem
geschichtlichen Befund besser entsprechen, als sie dogmatischer Klar-
heit zu dienen vermögen.

Dieser Vorgang hat exemplarische Bedeutung. Er begegnet überall


im ökumenischen Bereich mit der größten Selbstverständlichkeit, wie
der Rechenschaftsbericht der holländischen Kirche als besonders inter-
essantes Dokument beweist. Die Redlichkeit seiner Absichten, der
Mut, heute Erforderliches zu tun, die weithin gelungene Darstellung
sind so wenig zu verkennen wie die Schwierigkeiten eines Gemein-
schaftswerkes, das sich zudem noch an eine strenggläubige Gemeinde
wendet. Es wäre angesichts all dessen unangemessen, jedes Detail
unter die Lupe zu nehmen und Beckmesserei zu treiben. Gleichwohl
gilt, daß im heutigen Protestantismus ein solcher Versuch nur im Zei-
KritischeAnalyse 347

dt.en einer heilsgeschichtlichen Theologie unternommen werden und


gelingen konnte. Der Gemeinde wird mit radikaler Kritik zugleim
die radikale theologische Problematik erspart. Es fehlen nicht ausge-
sprochen evangelische Töne wie "eine Theologie des Wortes" 8,
Rechtfertigung allein aus Glauben als die ganze Struktur der bibli-
schen Botschaft'. Es fehlen nicht ausgesprochen kritische Bemerkun-
gen gegen den Fundamentalismus10 oder den Idealismus, wenn er
allgemeine Wahrheiten gegen die konkrete Wahrheit der Bibel
setzt11 , die ebenso als Gottes Wort11 wie als menschliches Buch13 und
geschichtliches Dokument anerkannt wird 14 . Sie ist jedoch beides als
"das Buch der Heilsgeschichte" 15 • In ihm begegnet man dem "histo-
rischen Geschehen der Taten Gottes", welche, grundsätzlich gleich
wichtig, doch ihre entscheidenden Augenblicke und Knotenpunkte
haben18. Wir sollen als Zeugen eines spannungsvollen Geschehens17
daraus nicht die beliebige Aufeinanderfolge blinder Tatsachen ma-
chen18 und das Geschehen nicht verabsolutieren19 • Denn die Lehre hat
darin ihren festen Platz10 , bildet mit der Tat eine Einheit11 • Werden
wir in einen Dialog von Rufen und Antworten gerissen11, so ist das
selber tathafte Wort doch nur "die begleitende Auslegung" derTaten
Gottes23 , die Predigt entsprechend "ein Ausziehen der Linien von
Gottes Heilsgesclrichte zu den Menschen der Gegenwart hin" 14. Kon-
kret heißt das, die ganze Bibel müsse von Israel her gelesen werden11.
Nur wo man zu den Quellen Israels zurückkehrt, läßt sich das Recht
des evangelischen und apostolischen Zeugnisses von Jesus als dem
Christus entsdt.eiden18. Schließlich soll man die Bibel nicht allein17,
sondern als Buch der Kirche lesen18.
Bei aller Anerkennung des Werkes, aus dem jetzt die problemati-
schen Ausführungen herausgerissen wurden, läßt sich schlechterdings
nicht übersehen, daß mit der Einführung in die historische Kritik
eine ganz bestimmte und, von der Reformation her geurteilt, keines-
wegs selbstverständliche heilsgeschichtliche Dogmatik impliziert wird,
die das Unternehmen trägt und schmackhaft macht. So eben können
sich kritische Theologie und Gemeindefrömmigkeit zunächst am
leichtesten akkomodieren, vielleicht sogar allein verständigen. Der
außerordentlid:te Vorzug dieser Betrachtungsweise ist, daß nun auch
das Alte Testament in die Kanonfrage einbezogen wird. Umgekehrt
8 Rechenschaft über Geschichte, Geheimnis und Autorität der Bibel (s. o. S. 337,
Anm. 1), s. 138.
' Ebd. S. 191. 11 Ebd. S. 79, 170. u Ebd. S. 109 f., 113, 172 ff.
11 Ebd. S. 79. 1a Ebd. S. 82. u Ebd. S. 169. 1• Ebd. S. 61.
11 Ebd. S. 111. 17 Ebd. S. 118. 18 Ebd. S. 124. 11 Ebd. S. 125.
10 Ebd. S. 122. 11 Ebd. S. 124. II Ebd. s.
128.
II Ebd. s.123. u Ebd. S. 179. s.
.. Ebd. 193. ~ Ebd. S. 205.
17 Ebd. 5.208. 10 Ebd. 5.210.
348 Kritische Analyse

stellt man sich aber nicht dem Sachverhalt, daß dieses Alte Testament
zu Recht ebenfalls vom Judentum beansprucht und interpretiert ist,
durchaus nicht, von der Tora her verstanden, zum Gesellen der Zöll-
ner und Sünder führt oder zur paulinischen Rechtfertigungslehre
oder zur johanneischen Behauptung der Gottheit Jesu. Mit der billi-
gen Antithese vom historischen Jesus und dem Christus der Schrif-
tenH kommt man schwerlich aus.
Oberhaupt nicht bedacht ist, daß Bibel und Kirche genau wie die
Geschichte Israels der Ort sind, an welchem Glaube und Aberglaube
aufeinander treffen und miteinander kämpfen. Eine harmonisierte
Entwicklung läßt Fehler und Irrtümer unvermeidlich sein, garantiert
jedoch den göttlichen Sieg. Eine Theologie der Tatsachen weist dem
Wort, selbst wenn es kerygmatisch verstanden wird, die Funk-
tion zu, historische Ereignisse deutend zu begleiten. Eine Inkarna-
tionslehre rückt die Kreuzeslehre in ihren Schatten. In der Heilsge-
schichte findet alles seinen Platz, obgleich vieles relativiert werden
muß und darf. Vom göttlimen Plane her merkt man schon, worauf es
ankommt, und die Kirche sorgt dafür, daß dieser Plan niemandem
unbekannt bleibt. Das so gewonnene geschichtliche Verständnis der
Bibel dient letztlich der Apologetik, welche gefilterte Kritik nicht zu
scheuen braucht oder sogar benötigt, um nicht der Gefahr des Doke-
tismus zu verfallen. Kümmels streng wissenschaftliche Untersuchung
wird hier nicht mit dem Rechenschaftsbericht verglichen, geschweige
auf sein Niveau gezogen. Doch sollte man sehen, wohin sein theologi-
scher Ansatz führt, wenn er popularisiert wird, und sich nicht darüber
hinwegsetzen, daß ökumenische Einigung wie die offene Begegnung
von kritischer Theologie und Gemeinde vorläufig allein von diesem
dogmatischen Ansatz aus erfolgen und erfolgreich sind.

Als Kronzeuge beweist das aum 0. Cullmann, der uns wieder aus
dem Raum reichlim vager Äußerungen in eine präzise Problemstel-
lung zurückführt. Seine Grundthese ist von bezaubernder Einfach-
heit: Das Problem Schrift und Tradition wird das von apostolischer
und nachapostolischer Tradition, wobei jedoch, anders als zumeist im
kritischen Lager, "apostolisch" streng historisch auf das von Ohren-
und Augenzeugen Überlieferte bezogen und damit von der weiteren
kirchlichen Tradition unterschieden wird30 • Wie der Rabbi übermit-
telt auch der Apostel Tradition. Doch ist sein Amt allein darin recht-
mäßig, daß es in der Gabe des Heiligen Geistes gründet31 , und zur
"Paradosis Christi" gehört die Vollständigkeit, zu der jeder Apostel

n Ebd. S. 108.
so 0. Cullmann, Die Tradition als exegetisches, historisches und theologischC's
Problem, Züridt 1954, S. 7. 11 Ebd. S. 26 ff.
Kritische Analyse
auf seine Weise etwas beigetragen hat32 • Insofern gehört der Aposto-
lat nicht der Zeit der Kirche, sondern derjenigen der "unmittelbaren
Offenbarung oder der Inkarnation" zu, welche normativ Vergangen-
heit und Zukunft beleuchtet33 • In der Kirche läuft die Heilsgeschichte
dialektisch weiter. Ihr Zeugnis beruht nicht mehr auf direkter Offen-
barung, ist infolgedessen abgeleitet und muß am apostolischen Wort
gemessen werden, das in den Schriften, wenngleich unter menschli-
chen Schwächen, festgehalten wird3•. Auch die schriftliche Nieder-
legung der apostolischen Botschaft ist "eine Grundtatsache der Inkar-
nation" (S. 99). Wir haben darin "die Lebenskraft, die uns stets aufs
neue vor Christus stellt" 35 • Zwar hat im Prinzip die Kirche selbst den
Kanon geschaffen. Doch besagt das allein, daß sie selbst die Scheide-
linie zwischen ihrer und der Apostel Zeit, Grundlegung und Aufbau
zog (S. 100), weil die Reinheit der Tradition ohne übergeordnete
schriftliche Norm nicht gewahrt werden konnte und deshalb die als
apostolisch geltende Tradition begrenzt werden mußte (S. 101). Die
Kanonbildung war nur im 2. Jahrhundert möglich, weil man nur da-
mals dem Ursprünglichen noch nahe genug, gleichzeitig jedoch be-
reits von Wucherungen bedroht war. Sie drängte sich dieser Epoche
mit derselben Notwendigkeitkraft der inneren apostolischen Autori-
tät auf, die auch wir empfinden, wenn wir in den Schriften Christus
als den Kyrios vernehmen (S. 102). Der menschliche Bestandteil ist
hier "auf das unvermeidliche und dem Begriff aller göttlichen Offen-
barung selbst innewohnende Mindestmaß beschränkt" 36 • Insofern
setzt sich das Werk des fleischgewordenen Christus in der Kirche fort,
die selber keine neue Offenbarung mehr empfängt37 • Umgekehrt be-
gegnen sich historische Wissenschaft und protestantische Theologie in
der gemeinsamen Aufgabe, zu den Quellen zurückzukehren38 • Das
Alte Testament wurde in den Kanon "als Zeugnis für diejenige heils-
geschichtliche Zeit, die die Fleischwerdung vorbereitet" (S. 103), auf-
genommen, ist aber nur in der für es normativen Beziehung auf das
Neue Testament kanonisch (S. 104). Die Glaubensregel könnte als
apostolische Zusammenfassung und Auslegungsregel der unter sich
verschiedenen Bücher anders als die späteren Bekenntnisse dem
Neuen Testament als letzte Seite angefügt werden (S. 106). In Sum-
ma: "Die Schrift ist die Vergegenwärtigung des apostolischen Zeug-
nisses, so wie die Sakramente die Vergegenwärtigung des Erlösungs-
werkes Christi sind. " 39
Klarheit und Geschlossenheit der Konzeption sind schlechterdings
hinreißend, so daß auch der schlimmste Kritiker den Wunsm nimt
unterdrücken kann, die Theologie möchte für ihn ebenso durchsimtig
lll Ebd. s. 25. SI Ebd. s. 29, 31. 34 Ebd. s. 31, 33. SI Ebd. s. 34.
3& Ebd. s. 4{). 37 Ebd. s. 36 f. 88Ebd. s. 35. SI Ebd. s. 56.
350 Kritische Analyse

sein. Leider ist nach meiner Oberzeugung Cullmann einer histori-


schen Fiktion unterlegen, die ihn zu einer systematischen Fehlkon-
struktion verführte. Die nächsten drei Aufsätze werden sich mit der
geschichtlichen Problematik befassen, wie ich das zum Begriff des
Apostolischen bereits getan habe. So wendet sich die Analyse zweck-
mäßigerweise gleich der Systematik zu. Wenn irgendwo, wird hier,
und zwar unter ausgesprochener Zustimmung des Autors, Gloeges
Feststellung bestätigt: "Mit der Einheit des Kanons war der Gedanke
der einheitlichen Heilsgeschichte grundlegend gegeben ... Alles Ver-
stehen der Bibel war daher von vornherein heilsgeschichtlich orien-
tiert, bzw. mußte sich mit der heilsgeschichtlichen Orientierung aus-
einandersetzen" (S. 13 f.). Wird anderswo die apostolische Sukzession
als das unumstößliche Fundament der rechtgläubigen Kirche betrach-
tet, so scheint Cullmann diese Anschauung typisch protestantisch durch
die Kontinuität des göttlichen Wortes abzulösen. Andererseits begrenzt
er dieses durch das historisch zu fixierende apostolische Zeugnis, das
in der Kirche als Mitte und Kriterium ihrer eigenen Oberlieferung
weitergegeben wird und so den Fortgang der Heilsgeschichte ermög-
licht. Der Gedanke der apostolischen Sukzession wird damit prote-
stantisch abgewandelt und unter das Thema "Die Tradition und die
Traditionen" gestellt.
Wie faszinierend solche Variation wirkte, zeigte sich darin, daß die
Sektion II der 4. Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung
1963 in Montreal dieses Thema zu ihrem Hauptgegenstand machte••
und konsequent bis in die entscheidende Vollversammlung hinein die
Formel "Sola Traditione" als Basis kirchlicher Einigung auf dem
Felde der Schriftinterpretation vorschlug. Seltsamerweise hat dieser
Vorgang die reformatorischen Konfessionen keineswegs in gebühren-
der Weise alarmiert, im Gegenteil die Zustimmung auch vieler ihrer
Vertreter gefunden. Das bedeutet keineswegs, daß man sich die Dinge
leicht gemacht hätte. Gründliche Vorarbeit war bis in die Ergebnisse
sonst manchmal verpönter formgeschichtlicher Methodik vorgedrun-
gen, die unwiderleglich mündliche Oberlieferung hinter den ersten
Sammlungen und schriftlichen Fixierungen schon vor der Evange-
lienschreibung, urchristliche Hymnen als erste Glaubensbekenntnisse
und älteste Dokumentation der Botschaft nach den verba ipsissima
Jesu, die Aufnahme festgeprägter Paradosis an entscheidenden Stel-
len bereits durch Paulus herausstellten. So konnte man formulieren,
"daß wir als Christen durch die Tradition des Evangeliums (die Para-
dosis des Kerygmas) existieren, wie sie in der Schrift bezeugt und in
und durch die Kirche kraft des Heiligen Geistes übermittelt worden
" V gl. Die Einheit der Kirche. Material der ökumenischen Bewegung, hrsg.
von L. Vischcr, 1965, S. 195-211.
Kritisdle Analyse 351
ist"•1 • Das wurde noch präzisiert, Tradition meine hier das Evange-
lium selbst, "wie es von Generation zu Generation in und von der
Kirche übermittelt wurde: der im Leben der Kirche gegenwärtige
Christus selbst"•2 • Das dogmatische Urteil schien sogar mit radikal
historischer Kritik im Protestantismus vereinbar und durch diese ge-
radezu herausgefordert.
Man hat sich dabei historisch nicht klargemacht, daß etwa die ur-
christlichen Hymnen weithin auf dem Boden des hellenistischen Ent-
husiasmus erwachsen sind und infolgedessen bereits durch Paulus
und seine Schüler einer theologischen Korrektur unterworfen wur-
den; daß überhaupt, soweit wir zurücksehen können, die Korrektur
und Kritik vorhergehender Oberlieferung integrierender Bestandteil
des Traditionsvorganges selber sind. Theologisch hat man sich nicht
klargemacht, daß die paulinische Rechtfertigungslehre von vomher-
ein eine Kampfeslehre gegen nomistische und enthusiastische Ge-
meindefrömmigkeit darstellt. Denn das zeigt, daß das Evangelium
zwar in festgeprägter und als inspiriert geltender Tradition erblickt,
gleichzeitig jedoch anderwärts gegen geläufige und in den Gemein-
den anerkannte Tradition ausgespielt werden kann, seine pauschale
Identifikation mit der Tradition (im Singular, der die Urverkündi-
gung anzeigen möchte!) nicht erlaubt ist. Unerträglich erscheint
schließlich die Formel von dem im Leben der Kirche gegenwärtigen
Christus, auch wenn der Kontext das durch den Hinweis auf das
Evangelium gegen Mißverständnisse abzuschirmen sucht. Aus der
Kirchengeschichte sollte man zum mindesten gelernt haben, wie oft
man sich vieldeutig, fälschlich und abergläubisch, unchristlich auf
den im Leben der Kirche gegenwärtigen Christus berufen hat und
immer noch beruft. Brutal ist dem entgegenzustellen, daß weder der
gegenwärtige Christus noch das Evangelium räumlich, zeitlich, insti-
tutionell, durch geltende Tradition oder christliche Frömmigkeit
dingfest zu machen sind, weil der Geist sich nie ein für alle Male ir-
gendwo binden läßt, der Aberglaube sich vorzugsweise in der Gestalt
der Lichtengel tarnt und das ubi et quando visum est Deo gerade an-
gebliche Offenbarung stets neu der Prüfung der Geister unterwirft.
Die Auseinandersetzung um die Wahrheit ist schon im Neuen Te-
stament so hart im Gange und so gegensätzlich geführt worden, daß
man seine Tradition nicht auf einen Nenner bringen, also etwa mit
dem Stichwort der apostolischen Botschaft formalisieren und harmo-
nisieren darf. Das ist mein entscheidender Einwand auch gegen Cull-
manns Darstellung. Ihm kann ich ebenso wenig abnehmen, daß die
Kirche des zweiten Jahrhunderts in einem Akt göttlicher Eingebung
und eigener Demut die Priorität der apostolischen Tradition als Norm
u Ebd. § 45, S. 198. ' 1 Ebd. §59, S. 196.
352 Kritische Analyse

und Kriterium ihrer weiterwirkenden Predigt und Lehre angenom-


men, also von der nachapostolischen Tradition unterschieden habe
(S. 98). Wie die Apostel nie der Kirche bloß gegenüberstanden, son-
dern selbst schon kirchliche Verkündigung repräsentierten, wie die
nachapostolische Botschaft grundlegend bereits ins Neue Testament
eingedrungen ist und dieses weithin beherrscht, so verfließt im 2. Jahr-
hundert noch ineinander, was man später "kanonisch" oder "apo-
kryph" nannte, und geht der Streit um beides durch die Kirchenge-
schichte weiter. Anläufe zu freiwilliger und demütiger Selbstunter-
werfung unter das Evangelium sind zwar stets erfolgt, aber nie auf
die Dauer festgehalten worden. Ich kenne keine Kirche, die derart
geschlossen und endgültig sich dem göttlichen Worte gegen ihren
Eigenwillen und ihre Selbstverherrlichung zugewandt hätte und da-
bei geblieben wäre. Der Kirchenkampf hat uns im eignen Lande an
dieser Stelle jeglicher IDusion beraubt, und die Introvertiertheil der
Konfessionen wie selbst weitester Kreise der ökumenischen Bewe-
gung überzeugt uns schmerzlich von der bitteren Wahrheit und Not-
wendigkeit der ecclesia semper reformanda. Ein in der Romantik
wurzelndes organisches Denken ist uns fremd geworden, welches den
irdischen Jesus zum Initiator, die Apostel zu Medien des erhöhten
Christus, den Geist zum Wächter und Garanten der Tradition, den
Glauben zur Annahme und Weitergabe geschichtlicher Erinnerun-
gen im Rahmen einer von der Inkarnation her gedeuteten Entwick-
lung macht. Jesu Kreuz führte nicht bloß einmal zur Verleugnung
in der Jüngerschaft und zum Bruch. Es wirkt auch in der folgenden
Christenheit immer wieder Ärgernis und Trennung in und zwischen
den Kirchen.

H. v. Campenhausen teilt grundsätzlich Kümmels Position, akzen-


tuiert jedoch schärfer und formuliert zum Detail vielfach kritischer.
Eine "unabänderliche Gegebenheit des geschichtlichen Lebens" läßt
die Tradition, von der man zehrt, gerade dadurch zugleich verwan-
delt und umgebildet werden, so daß stets neu nach der inneren sachli-
chen Ubereinstimmung mit dem Ursprung zu fragen ist und die
Quellen, die am Anfang aus dem Geschehen selber flossen, unverän-
dert bewahrt werden müssen. "Der Glaube an eine ewige Unmittel-
barkeit des Vergaugenen oder eine unfehlbare Bewahrung des Ur-
sprungs wäre ohne sie nichts als eine hybride Utopie" (S. 111). Auch
er erkennt an: "Tatsächlich hat die christliche Bibel eine paulinischc
oder doch von Paulus inaugurierte Konzeption der Heilsgeschichte
zu ihrer bleibenden Voraussetzung. " 43 Doch leitet er daraus keine
organische Entwicklung ab. Authentische Zeugnisse finden wir mit
43 H. v. Campenhausen, Die Entstehung der ehristliehen Dibel, 1968, S. 46.
Kritische Analyse

Sicherheit nur bei Paulus. Er hat entscheidende Aussagen über heils-


wesentliche Daten der Christusgeschichte "als festen, ökumenischen
Besitz ursprünglich christlicher Tradition" und so etwas wie einen
kanonischen Text in Urgestalt bereits übernommen. "Wäre die Kir-
che in seiner Bahn geblieben, so wäre sie wesentlich früher zu einem
Kanon der Christus-überlieferung gekommen, der wohl ärmer, da-
für aber im rein historischen Sinne zweifellos auch sicherer gewesen
wäre als unser heutiges Neues Testament" (S.112).Stattdessenführt
der Weg jedoch in eine Vielfalt schwankender, nirgends klar be-
grenzter, von vielen Gruppen verschiedenartig benutzter, weithin
problematischer Uberlieferung mit spannungsvollen und sogar ge-
gensätzlichen Strömungen, die nicht mehr einfach und erkennbar
von den Aposteln abgeleitet werden kann (S. 113-115). Mit solcher
Feststellung wird Cullmanns Grundthese aus den Angeln gehoben.
Wichtig ist jedoch nicht so sehr diese Kritik wie die Gegenposition.
Die erste Kanonsammlung in der Mitte des 2. Jahrhunderts ist
nicht durch Harmonisierung und allmählich wie von selbst erwachsen:
"Am Anfang steht vielmehr die Tat eines bedeutenden Einzelnen,
eines lrrlehrers, der durch die Eigenart seiner Botschaft förmlich ge-
zwungen war, ein solches ,Instrument' zu suchen oder zu schaffen:
Markion; und erst im Gegenschlag gegen dessen Kanon und in der
Auseinandersetzung mit ihm entsteht dann auch in der Großkirche
verhältnismäßig schnell die Vorstellung und ... der klare Umriß un-
seres heutigen ,Neuen Testaments'" (S. 116). Wir sahen, daß Küm-
mel eine solche Anschauung für unbeweisbar hielt und seinerseits
nur zugesteht, Mareion habe tatsächlich den ersten geschlossenen Ka-
non gebildet. Es ist nicht unsere Aufgabe und übersteigt unsere Kraft,
den Streit der Experten zu entscheiden. Hier kommt es einzig darauf
an, daß wir die historische wie theologische Tiefe des vorliegenden
Konfliktes ausloten.
Zunächst ist man geneigt zu fragen, ob v. Campenhausen nicht von
seiner begreiflichen Aversion gegen eine in aller Mannigfaltigkeit
doch letztlich einheitlich sich durchsetzende apostolische Überliefe-
rung zu weit getrieben wird und dabei der idealistischen Anschauung
von der Bedeutung der produktiven Persönlichkeit zu große Opfer
bringt. In der gleichen Weise hat er vorher schon die ausschlaggeben-
de Funktion des Paulus für die Bildung des Urkanons hervorgehoben.
Umgekehrt wird man das Gewicht der bereits früh einsetzenden
Sammlung und Weitergabe paulinischer Briefe durch seine Schüler
und ihre Vermehrung in den Deuteropaulinen als entscheidenden
Schritt auf dem Wege des Überlieferungsprozesses nicht unterschät-
zen. Es ist nicht geringer als das der Sammlung von Logien, Gleich-
nissen, Wundergeschichten Jesu und der Verbindung von Passions-
2J Käsemann, Kanon
35+ Kritische Analyse

und Osterberichten, die unabhängig davon erfolgten. Vor allem er-


staunt, wie kritisch v. Campenhausen über das Unterfangen Mar-
eions urteilt: Dessen Bibel sei nicht Wiederherstellung, sondern völ-
lige Verwüstung des Ursprünglichen und ein schlagendes Beispiel da-
für, "wohin ein sach- und geschichtsfremder Dogmatismus gerade
dann zu führen vermag, wenn er sich mit der formalen philologischen
Kritik verbündet und seinen Weg scheinbar logisch und konsequent
von hier aus zu Ende geht"u. Wie erklärt sich das Mißverhältnis zwi-
schen historischer Anerkennung, welche dem Ketzer eine geradezu
einzigartige Stellung nicht nur in der Kirchengeschichte, sondern
auch für alle folgenden kirchlichen Entwicklungen einräumt, mit der
theologischen Ablehnung? Gerade wenn einem v. Campenhausens
Darstellung einleuchtet, wird die Härte des Verdikts problematisch.
Wenn ich recht sehe, ist es gerade der Historiker, der dieses Urteil
fällt. Ihm erscheint die Willkür unerträglich, in welcher Mareion
nicht nur das Alte Testament rücksichtslos abschreibt, sondern auch
die tatsächlichen Ursprünge des urchristlichen Uberlieferungsprozes-
ses mißachtet. Denn so kritisch v. Campenhausen der Apostolizität
der Tradition gegenübersteht, die er nicht als Voraussetzung, sondern
als Resultat einer nach historischen und theologischen Gesichtspunk-
ten durchgeführten Prüfung begriffen wissen will (S. 1!21), so sehr ist
er daran interessiert, die Vielfalt einer schon die Anfänge bestimmen-
den, in gewissem Sinne der Kirche sogar vorgegebenen Tradition
festzuhalten (ebd.) 45 • Dem entspricht, daß er auch in der Entwick-
lung seit der Mitte des zweiten Jahrhunderts die Bedeutung der le-
bendigen, sich vor allem im Gottesdienst bewährenden Uberlieferung
betont" und der heilsgeschichtlichen Konzeption des Irenäus zu-
schreibt, sie habe endgültig die "Weiträumigkeit" der Tradition her-
ausgestellt und durchgesetztn. Beide Argumente dienen der schon
durch Kümmel vertretenen Auffassung, daß nur so "die historisch
wie theologisch ursprüngliche Kenntnis und Erkenntnis Jesu" ver-
mittelt werden konnte (S. 1!20). Die größte und folgenreichste Schöp-
fung der frühen Kirchengeschichte dokumentiert "das ursprüngliche
Christus-Zeugnis und Bekenntnis" (S. 1!2!2), und ihre spannungsrei-
che Mannigfaltigkeit muß daran gemessen werden, ob sie "eine
Wirklichkeit offenbart und einen Geist atmet, die ... auf ein und
denselben Ursprung und Herrn zurückweisen" (S. 1!22 f.). "Diese
geistige Einheit ist allerdings nicht ein für alle Mal und nicht auf
den ersten Blick zu haben; sie ist nimt mit einer bestimmten theolo-
gischen Formel oder einem Grundgedanken identisch, wie man ihn
als ,Kanon im Kanon' zu bezeichnen liebt" (S. 1!23).
" Entstehung der christlichen Bibel, S. 193.
• Vgl. ebd. S. 379 ff. " Ebd. S. 239 ff. 47 Ebd. S. 238-!242.
KritischeAnalyse

Weil Mareion tat, was hier mit einem Seitenhieb auf Zeitgenossen
verpönt wird, gilt er als dem "Dogmatismus" verfallen48 • Das er-
scheint offensichtlich dem geistigen Enkel Harnacks noch immer als
theologische Verirrung und eine der Grundsünden. Die Herausforde-
rung sei angenommen, ohne deshalb den frühchristlichen Ketzer in
einen Heiligen verwandeln zu wollen. Das Urteil halte ich, wenn es
ausschließlich derart begründet wird, für historisch und sachlich un-
gerecht, die darin sich äußernde Theologie für letztlich unbefriedi-
gend. Kam es zur "größten und folgenreichsten Schöpfung der frühen
Kirchengeschichte" durch die Initiative des Ketzers, so wird man ihn,
nachdem er seine Schuldigkeit getan hat, nicht einfach in der Versen-
kung verschwinden lassen. Kommt er in der Darstellung des Histori-
kers zu einer Einzigartigkeit, die vor ihm allein Paulus zugebilligt
wird, so sollte man ihm auch theologisch einiges Verdienst nicht von
vornherein und als undiskutierbar absprechen, zumal er nichts als
Schüler dieses Meisters sein wollte und ihn geradezu mit dem Evan-
gelium selber identifizierte. Was als sein Dogmatismus verschrieen
wird, war die Entdeckung der pura doctrina als Kriterium der Ober-
lieferung. Für den Protestanten kann das unmöglich dogmatisch be-
langlos sein. Der Exeget ist vielleicht willens und fähig, genau diesen
Sachverhalt, unter Umständen nicht unter der harten orthodoxen
Formel, als Merkmal paulinischer Theologie anzusprechen und von
da aus den "Kanon im Kanon" leidenschaftlich zu verteidigen. Der
Historiker dürfte schlechterdings nicht übersehen, daß bereits die frü-
hesten Christuszeugnisse nicht nur Verkündigung oder mehr und we-
niger umfangreichen, mehr und weniger zuverlässigen Bericht, son-
dern Lehre von verschiedenen dogmatischen Prämissen her und mit
erheblichen dogmatischen Konsequenzen enthielten. So kam es eben
nicht bloß zu ihrer Mannigfaltigkeit, sondern auch zu jenen Span-
nungen und teilweise unvereinbaren Gegensätzen, welche radikale
Kritik heute zu konstatieren gelernt hat. Die Firmierung "frühes
Christuszeugnis" erspart niemandem die Frage, ob er mit juden-
christlicher Apokalyptik an den kommenden Weltenrichter glaubt
und sich dem Gesetz zu unterwerfen hat oder in Christus mit der hel-
lenistischen Mysterienfrömmigkeit den Kultgott erblickt und sich be-
reits erfahrener Auferstehungskraft rühmt oder mit Paulus die theo-
logia crucis, mit Johannes den über die Erde schreitenden Gott be-
kennen will oder das alles willkürlich kombiniert. überläßt man nicht
jeden seinem Geschmack, bedarf man dessen, was man heute "her-
meneutisches Prinzip" nennt. Genau das scheint Mareion anvisiert zu
haben. Sein Irrtum war, daß man das hermeneutische Prinzip ver-
wirklichen könnte, indem man alles nicht dazu Passende strich. Dann
48 Ebd. S. 193.

2J•
356 Kritische Analyse

wird nicht nur das Prinzip überflüssig, sondern man gerät außerdem
in eine Ideologie. Der Mißbrauch diffamiert jedoch nicht die Inten-
tion. Der Glaube muß wirklich präzis sagen können, worauf es für
Leben und Sterben ankommt. In seiner Weise hatte Mareion das bes-
ser erlaßt als seine Zeitgenossen, die ihn als Häretiker brandmarkten,
besser auch als jene Theologen, die dem Dogmatismus des Ursprüng-
lichen huldigen und dabei in eine Welt von vieldeutigen Chiffren ge-
raten. Daran würde sich übrigens nichts ändern, wenn die These von
Campenhausens sich nicht halten ließe und einzig anerkannt werden
müßte, daß Mareion den ersten geschlossenen Kanon geschaffen hat.
Die Intention zu sagen, worauf es ankommt, bliebe die gleiche, und
das Verdienst, es durch eine autoritative und allein gültige Urkunde
(S. 117) festgelegt zu haben, käme dem eines konfessionellen Be-
kenntnisses zum mindesten nahe. Dafür eine Lanze zu brechen, ist
in einer Zeit, welche häufig zwischen mündlicher Tradition und
Evangelium nicht mehr zu unterscheiden vermag und das Sola Serip-
tura über dem in der Tradition gegenwärtigen Christus49 mißachtet,
der Mühe wert.

Einzig die in unserm Zusammenhang sich daran entzündende hit-


zige Debatte hat mich bewogen, meinen Aufsatz "Begründet der neu-
testamentliche Kanon die Einheit der Kirche?" noch einmal hervorzu-
holen. Die vorzügliche Zusammenfassung in Küngs Beitrag erlaubt
mir, gleich auf die provokative These einzugehen, der Kanon begrün-
de nicht die Einheit der Kirche, sondern die Vielfalt der Konfessionen.
übersehe ich es richtig, hat allein G. Ebeling5° die Zwielichtigkeit
meines Aufsatzes durchschaut und mit einer von mir durchaus aner-
kannten Kritik aufgedeckt. Ich habe keine Aussage und besonders
nicht den umstrittenen zentralen Satz zurückzunehmen. Doch muß
ich erklären, wie ich dazu kam. Im Rahmen einer Vortragsreihe sollte
auch der Exeget seinen und seiner Wissenschaft Beitrag zur ökumeni-
schen Einigung leisten. Es kitzelte mich, das mir auferlegte "Pflicht-
gebot" mit dem Gegenteil des von mir Erwarteten zu beantworten,
und nur im Schluß wurde angedeutet, daß ich in meiner These nicht
das letzte Wort gesprochen wissen wollte. Zu meinem Ergötzen
stürzte sich aber jedermann auf den anstößigen Satz als solchen, und
schließlich applaudierte, nachdem die Verblüffung sich gelegt hatte,
sogar die Ökumene, weil die proklamierte irdische Polyformität der
Una Saneta nicht schlecht zur konstatierbaren Wirklichkeit paßte
und die Konföderation von oben, nämlich von den kirchlichen lnsti-
41 Dagegen audt ebd. S. 157.
1t Das Neue Testament und die Vielzahl der Konfessionen, in: G. Ebeling, Wort
Gottes und Tradition (Kirche und Konfession 7), 1964, S. 144-154.
Kritische Analyse 357

tutionen her, zu rechtfertigen schien. Eulenspiegelei im theologischen


Dialog setzt zum mindesten die Gedanken in Bewegung. Die von
H. Küng beschworene Angst vor zu schnellem Konsens teile im, und
die auf Ausgleich bedachte Versöhnlichkeit des Alters stellte sich
nom nicht bei mir ein, weil ich denke, daß es zu vieles gibt, dem man
mehr auf den Grund gehen sollte, und zu vieles, gegen das man
gerade als Christ und Theologe polemisieren müßte.
Die Unumgänglichkeit irdischer Polyformität der Kirme Christi
selbst in konfessioneller Hinsicht kann kaum bestritten werden. Wie
in der Gegenwart spiegelt sie sich in der gesamten Kirchengeschichte,
und kündigte sie sich bereits im Neuen Testament an. Nicht ohne
Grund konnte A. Schlauer betont von der jeweiligen Kirche des ein-
zelnen neutestamentlichen Schriftstellers sprechen, und es ist eine
täglich zu erfahrende Tatsache, daß sämtliche Konfessionen, Denomi-
nationen, Sekten und sogar Weltanschauungsgemeinschaften sich auf
biblische Texte berufen. Radikale historische Kritik vermag ihnen
weithin das Recht dazu nicht mehr abzustreiten. Denn das Neue Te-
stament ist, vom Alten ganz zu schweigen, keine Lehreinheit, auch
wenn man von vornherein eine erhebliche Streuungsbreite konze-
diert. Es ist das so wenig, daß der Exeget, sofern er ex officio das De-
tail und dessen Nuancen unter die Lupe nimmt, sogar beim einzel-
nen Schriftsteller in Verlegenheiten gerät, weil jeder seine eigene
Meinung mit Traditionen verbindet und stützt, die verschiedener
Herkunft sind und, für sich betrachtet, in verschiedene Richtung wei-
sen, aber auch seiner Intention nicht immertreubleibt oder ihr un-
vollkommenen Ausdruck gibt. Jede Einleitung macht darauf auf-
merksam, und es ist die Aporie neutestamentlicher Theologie, so et-
was wie einen einigermaßen gangbaren und übersichtlichen Pfad
durch das Gestrüpp zu schlagen, ohne dem exegetischen Befund syste-
matisierend zu sehr Gewalt anzutun. Zu Unrecht nennt Ebeling
meine Darstellung "vergröbernd" und "falsch", weil schließlich nicht
alles im Neuen Testament aufgenommen worden sei und die Bezie-
hung zu den gegenwärtigen Konfessionen nicht einfach aus den Tex-
ten abgeleitet werden könne51 • Seinem Satz, daß jede alle Texte prin-
zipiell anerkenne und der Streit nur um die Interpretation ginge52,
läßt sich gegenüberstellen, daß keine faktisch alle Texte gebraucht
und anerkennt, nicht nur die Interpretation, sondern tatsächlich vor-
handene Kontraste die Berufung der verschiedenen kirchlichen Grup-
pen auf die Schrift ermöglichen und legitimieren. Dem Neutesta-
mentler genügt durchaus der Blick auf das Aufgenommene zu solcher
Feststellung, so wenig er das als apokryph Erklärte übersehen wird.
Dagegen stimme ich meinem Kritiker darin zu, daß die Vielfältigkeit
II Ebd. s. 147. 61 Ebd. S. 148.
Kritische Analyse

des Kanons- hinzugefügt: in seinem vorliegenden Umfang!- jeden


konfessionellen Absolutheitsanspruch ausschließt53 • Unter diesen Um-
ständen muß wirklich gefragt werden: "Was ist es eigentlich um das
für den christlichen Glauben Konstitutive und das eigentlich Weiter-
zugebende" ?54 Das wird gerade dann brennend, wenn man mit
v. Campenhausen55 , "dem Wortsinn entsprechend, die Vorstellung
der Maßgeblichkeit oder Normativität" einer Schrift oder Schriften-
sammlung für Glauben und Leben an das Kanonische knüpft. Nichts
anderes beabsichtigte meine provokative Äußerung, als auf dieses
Problem mit größtmöglicher Schärfe hinzuweisen und so die Oku-
mene zu ermutigen, sich der Sachproblematik zu stellen, statt wie
üblich den Weg des geringsten Widerstandes fortzusetzen. Daß man
einmal mehr der Frage auswich und ihr nur das Nützliche und Prak-
tikable entnahm, geht nicht auf mein Konto, obgleich ich das Nütz-
liche und Praktikable darin ernstgenommen wissen wollte.

K. Alands Aufsatz bringt deshalb einen in seiner Rücksichtslosig-


keit notwendigen Nachstoß. Man wird ihm vor allem dafür dankbar
sein, daß er energisch die Problematik des Neuen Testamentes mit
der des Alten koppelt. Wo immer christlich vom Kanon gesprochen
wird, hat das Ganze der Schrift vor Augen zu stehen, selbst wenn da-
durch die Aufgabe unendlich erschwert wird und die Spezialisten in
aller Wissenschaftdarangewöhnt sind, ihre Objekte möglichst zu iso-
lieren. Viele heute gängige Urteile über den neutestamentlichen Ka-
non würden hinfallen, wenn man sie in den Horizont der ganzen Bi-
bel rückte. Die mit dem Alten Testament erwachsenden historischen
Probleme spiegeln sich großenteils im Neuen Testament wider. Der
Nachweis, daß man sich in den Kirchen vom Anfang bis in die Gegen-
wart hinein nie über die Grenzen des alttestamentlichen Kanons
einig wurde, hat theologisch-dogmatisches Gewicht. Er zeigt, daß die
Behauptung eines geschlossenen Kanons mindestens in der gesamten
Christenheit eine Illusion ist, die Schrift faktisch innerkonfessionell
offen bleibt, ihre Grenzen religions-und dogmengeschichtlich verflie-
ßen. Dann ist es wesentlich leichter, die neutestamentliche Kanonbil-
dung als einen Entwicklungsprozeß zu verstehen, in welchem Aland
bis zum 6. Jahrhundert sieben Etappen aufzählt und später verwor-
fene Schriften bis ins 5. Jahrhundert hinein gottesdienstliche Gültig-
keit besaßen, demnach als kanonisch galten. Wie von der Kanonge-
schichte gibt es die geschlossene Schrift auch nicht von der Textkritik
her. Drastisch und von außen geurteilt, wird das "Prinzip der Prin-
zipienlosigkeit" festgestellt (S. 144). Höchst kritisch wird auch der
II Ebd. s. 150. N Ebd. s. 153.
56 Entstehung der christlichen Bibel, S. 3.
Kritische Analyse 359
sonst so einschneidend genannte Vorgang einer zentralen Formation
im 2. Jahrhundert gesehen. Letzte theologische und kirchliche Norm
ist die Glaubensregel als Niederschlag des sich fortbildenden Glau-
bensbesitzes der Gemeinde, der gegenüber alles andere Vorläufigkeit
bedeutet (S. 145 f.).
Die praktische Verengung und Verkürzung des Neuen Testamen-
tes in Vergangenheit und Gegenwart, auch in Kirchen mit absolut
feststehendem Kanon und bei Theologen aller Schulen, die das offi-
ziell Anerkannte formal werden läßt, ist in der Christenheit nicht nur
"das maßgebliche Symptom, sondern gleichzeitig auch die eigentliche
Ursache ihrer Krankheit" (S. 156). Denn der "faktisch existente~ wirk-
same Kanon" wird "nach dem eigenen Selbstverständnis gebildet"
(S. 155). Aland folgert daraus: "Unsere Aufgabe ist die Diskussion
der richtigen Prinzipien für die Auswahl aus dem formalen Kanon
und die Auslegung des so Entstandenen mit dem Ziel der Erlan-
gung eines gemeinsamen faktischen Kanons und einer in den Grund-
sätzen gemeinsamen Auslegung seines Inhalts." Für eine solche Lö-
sung ist dreierlei erforderlich: die "lnfragestellung des eigenen fakti-
schen Kanons", das "Emstnehmen des faktischen Kanons der ande-
ren", das "Emstnehmen des formalen Kanons" (S. 156 f.). Vermut-
lich hätte er genauso gut die Quadratur des Zirkels postulieren kön-
nen. Ob man selbst im Himmel sich über einen derartigen faktischen
Kanon unter Berücksichtigung des formalen wird einigen können, er-
scheint fraglich. Es würde zudem, da Kirchen und Schulen das eigene
Selbstverständnis nie auszuschalten vermögen, zu einem Prozeß
dauernder Revision führen, nachdem der Anfang gemacht worden
ist, also in totale Unsicherheit. Möglich und sinnvoll ist allein die Er-
örterung einer auf das Entscheidende hinzielenden, dieses unter kei-
nen Umständen ausschaltenden Interpretation.
Alands Aufsatz "entmythologisiert" in seiner das Tatsächliche her-
vorhebenden Nüchternheit entschlossen jede heilsgeschichtliche Be-
trachtungsweise, auch in der säkularisierten Form des organischen
Denkens. Weil er die Bedeutung der Lehre in den Vordergrund
rückt, werden die Kategorien des Christusgeschehens, des Apostoli-
schen, des Ursprünglichen vermieden oder aufs stärkste relativiert,
kann er unbefangen vom "Kanon im Kanon" sowohl für das Alte wie
das Neue Testament sprechen und schließlich den Dialog über eine
Hermeneutik der Bibel fordern, der, wenn nicht zum Konsens, so
doch wenigstens zu einer umfassenden und zentralen Kommunika-
tion in der Lehre bringen soll.

Im allgemeinen haben sich die Systematiker den Einsichten und


Fragen der radikalen Kritik nicht recht gewachsen gezeigt. Auf pro-
560 Kritische Analyse

testantischer Seite wird zunächst einmal die alte Inspirationstheorie


durch die Annahme einer providentia specialissima Dei ersetzt, was
jedenfalls der Geschichtlichkeit der Schrift und dem Prozeß ihrer
Überlieferung und Auslegung angemessener Rechnung trägt. Das
gilt insbesondere von H. Diem, der als Repräsentant der Schule Barths
sich unablässig mit dem Kanonproblem herumgeschlagen und dabei
mutig und ständig die Auseinandersetzung mit den Partnern aus der
historisch-exegetischen Zunft bis ins Detail hinein vorangetrieben
hat. Sein frühester Aufsatz ist davon am wenigsten belastet, so daß
er die eigene Position am klarsten herausstellt. Doch werden spätere
Aussagen zur Verdeutlichung beitragen.
Dem Systematiker und Schüler Barths steht es an, mit einem in der
theologischen Zunft oft zu vermissenden Nachdruck die Schrift mit
dem kirchlichen Leben zu verbinden. Vielleicht geht es zu weit, den
isolierten Bibelleser eine unnötige und unsachgemäße Konstruktion
zu nennen (S. 159). Es bestimmt nicht nur die Aufgabe des Exegeten,
sondern auch die des sogenannten Laien der Bibel gegenüber, daß er
seine eigenen Augen, Ohren und seinen Verstand gebraucht und sich
dabei die Unbefangenheit zurückgewinnt, welche geltende kirchliche
Anschauungen und Vorurteile sehr häufig einschränken oder sogar
vernichtet haben. Jedenfalls der Protestantismus kann es sich nicht
leisten, der fides implicita Vorschub zu leisten und zu verheimlichen,
daß hier jeder für sich selber auf die Schanze steigen und letzte Ent-
scheidungen zu fällen hat. Hat man aus der Nähe je hinter die Ku-
lissen geschaut, wird man die Warnung vor dem Individualismus
nicht mehr ganz so ernstnehmen, weil auch die kirchlichen Gremien
immer wieder durch Einzelne wesentlich beeinflußt, manchmal terro-
risiert und fast unvermeidlich zur taktischen Planung und zu Kom-
promissen genötigt werden, welche nicht weniger fragwürdig sind als
der sich möglichst unabhängig machende Bibelleser. Die "Stimme der
Kirche" müßte oft nicht so farblos und auf Ausgleich bedacht sein,
wollte sie glaubwürdiger erscheinen. Es ist nicht unnützlich, das auch
im Blick auf die Kanongeschichte zu bedenken, weil es um die Väter
kaum besser bestellt gewesen sein dürfte als um ihre Kinder, Alter,
Ansehen und feierliche Erklärungen keineswegs Autorität im geisti-
gen Sinne garantieren. Eine gewisse Respektlosigkeit schadet längst
nicht so sehr wie der Nimbus, den kirchliche Würdenträger um sich
zu verbreiten pflegen, um sich vor peinlichen Zugriffen zu schützen.
Doch ist das eben nur die eine Seite der Medaille. Auf der andem
gibt es zumal die Theologen, und zwar nicht bloß die jungen, für
welche die Welt in ihre entscheidende Epoche erst mit ihnen selbst
tritt, die sich darum ihre aufbauenden oder destruktiven Systeme
ohne Rücksicht auf Vergangenheit und Gegenwart zimmern und
Kritische Analyse 361
übersehen, daß eine weltweite Gemeinde noch immer existiert, an der
Bibel wächst, sich regeneriert und mit Recht die fast unerschütter-
liche Kraft der Schrift bezeugt, allen Irrtümern, Mißverständnissen,
falschen Gloriolen und konstatierbaren Problemen zum Trotz zu
überdauern. Das gehört unabdingbar zum Wesen der Kanonizität
und rückt alle, so rasch wechselnden Theologien mit ihrer notwendi-
gen Kritik auf den zweiten, dienenden Platz. Insofern ist Diems erste
grundlegende These durchaus zu bejahen, daß die Geschichte des Ka-
nons die der sich selbst durchsetzenden Schrift sei56 • Allerdings gilt
das wirklich nur insofern und keinen Schritt weiter. Aus kirchlicher
Erfahrung läßt sich weder historisch noch dogmatisch eine brauch-
bare Definition gewinnen, und die soeben genannte Formel taugt
dazu durchaus nicht, obgleich sie das sein soll.
Auf der Hand liegt, daß große Teile des Neuen Testaments sich
nicht selber durchgesetzt haben, sondern, sei es im Kompromiß, sei es
kraft falscher Firmierung oder dank häretischer Initiative durchge-
setzt worden sind, wie andere stets oder für lange Zeiten mit guten
oder schlemten Gründen vernachlässigt wurden, von den teilweise
anerkannten Apokryphen ganz zu schweigen. Gottesdienstliche Be-
nutzung57 führte nicht notwendig zur Kanonisierung. Nicht alle
Schriften sind dafür bestimmt gewesen, und viele fallen in der heuti-
gen Lesung völlig unter den Tisch, setzen sich also faktisch nicht mehr
durch und dürfen es wie bestimmte Stücke des Alten Testaments auf
keinen Fall, wenn die Kirche nicht in den Judaismus zurückfallen
soll. Daß fixiertes Gut der ältesten Christenheit allmählich erweitert
und kommentiert worden sei, läßt sich pauschal nicht halten, ge-
schieht zwar gelegentlich bei Paulus, ist aber erst in der dritten Ge-
neration ein charakteristisches Moment des Traditionsprozesses und
hat selbst dann noch nicht den Sinn, gegenüber den Einflüssen der
religiösen Umwelt "die Einheit des Kerygma zu sichern" (S. 160).
Der Neutestamentler hat im Gegenteil festzustellen, daß die Freude
an der Vielfalt und Variation die Sorge um die Einheit sogar des Be-
kenntnisses lange Zeit hindurch in den Schatten rückt. Schließlich
kann man nur abstrahierend "die Kirche" als Subjekt des Rezep-
tionsprozesses bezeichnen (ebd.). Nicht einmal die offensichtlich litur-
gischen Formulare des Vaterunsers oder der eucharistischen Einset-
zungsworte stimmen in ihrem Wortlaut überein. Die Kirche hattedas
zu tolerieren und wurde so zum Medium statt zum Subjekt von Son-
derüberlieferung.
----.-.-niese Formel weist wohl auf die bekannte Formel M. Kählers in: Dogma-
tische Zeitfragen I. Zur Bibelfrage, 19071, S. 23, von der "Urkunde für den Vollzug
der kirche11gründenden Predigt" zurück. Sie findet sich dem Sinne nach häufig bei
Barthund stereotyp bei Diem, s.o. S. 162, 167.
• 7 Oft wie o. aufS. 160 als Argument benutzt.
362 Kritische Analyse

Viel wichtiger als diese historischen Einwände gegen Diems For-


mel sind die dogmatischen. Soll man es als Folge der Introvertiert-
heil oder des Säkularismus betrachten, daß Theologen die Macht des
Aberglaubens nicht mehr berücksichtigen? In dem bisher beschriebe-
nen Sinne haben sich der Koran und das Buch Monnon auch "durch-
gesetzt", und wer will ernsthaft bestreiten, daß es in allen Kirchen
eine Kontinuität und Regeneration des Aberglaubens ebenso gibt wie
die des Glaubens, schärfer noch: daß die Schrift zugleich mit Glauben
auch Verstockung und infolgedessen Aberglauben in der Christenheit
gewirkt hat und wirkt? Diem sucht diesem Einwand zu begegnen,
indem er den sich selbst durchsetzenden Kanon auf die sich durchset-
zende Verkündigung und letztlich auf den sich selbst verkündigenden
und durchsetzenden Jesus Christus zurückführt58 • Wieder wird man
zugeben, daß diese Präzisierung ihr Recht hat und, richtig verstan-
den, wirklich den Kanon legitimiert. Jedoch liegen die Aussagen von
dem sich selbst verkündigenden und durchsetzenden Christus und die
von der daraus abgeleiteten Verbindlichkeit des Kanons, um die For-
mel von der sich selber durchsetzenden Schrift zu vermeiden, auf
zwei verschiedenen Ebenen. Sie sind nicht zu identifizieren, wozu
Diem gefährlich zu tendieren scheint.
Anders könnte er kaum vom einhelligen Zeugnis von Christus in
den verschiedenen Zeugnissen sprechen und sagen, der Kanon ermög-
liche das Vor-Urteil, daß wir diese Einhelligkeit in ihm vernähmen".
Schon die Dialektik der Aussage macht deutlich, daß die mit dieser
zweiten Grundthese verbundenen Schwierigkeiten gesehen und in
gewisser Hinsicht auch anerkannt werden. Die Offenheit des Syste-
matikers gegenüber der historischen Kritik wird überall bemerkbar
und äußert sich auch darin, daß er mit der größten Selbstverständ-
lichkeit die Variationsbreite des neutestamentlichen Christuszeugnis-
ses und die sich daraus ergebenden Kontraste voraussetzt. Er tut es
freilich, indem er zugleich der Problematik entschärfend die Spitze
abbricht. Nicht klar wird schon, ob und wieweit er das Alte Testa-
ment in die Einhelligkeit des Christuszeugnisses einbezieht, was der
Fall sein müßte, wenn man vom Kanon und nicht nur von einem sei-
ner Teile handelt. Schroff ist die These schon von hier aus zu vernei-
nen. Es gibt eben das berechtigt vom Judentum für sich beanspruchte
Alte Testament, das dem Judentum auch zu belassen ist und von der
Kirche zu Unrecht rezipiert und für die Sache des Christus beschlag-
nahmt wurde. Hat solche Rezeption gleichwohl einen Sinn, kann es
auf keinen Fall der einer Einhelligkeit des Zeugnisses sein, sondern
68 Theologie als kirdilic:he Wissenschaft. Handreichung zur Einübung ihrer Pro-
bleme ll, Dogmatik. Ihr Weg zwischen Historismus und Existentialismus, 1955,
S. 204. " Ebd. S. 206.
KritischeAnalyse

nur der, daß man das Evangelium nicht destilliert hat, die Schrift in
der Welt belassen muß, statt sie als das vom Himmel gefallene Buch
zu tradieren, Jakob und Esau untrennbar zusammengehören, das
corpus permixturn des irdischen Gottesvolkes sich auch in einer biblia
permixta spiegelt, J ahwes Stimme die des Baal stets voraussetzt oder
heraufbeschwört, Glaube und Aberglaube zu unterscheiden, aber von
uns nicht ein für alle Male zu trennen sind.
Solange diese hermeneutische Bedeutung des Alten Testamentes,
die übrigens keineswegs auf das soeben Gesagte beschränkt werden
soll, nicht für die Kanonfrage exemplarisch gilt, mag man sich treff-
lich streiten, kommt es aber allein zum Gefecht mit Platzpatronen.
Sieht man sie jedoch, ist es grundsätzlich belanglos, ob man im Neuen
Testament Einhelligkeit feststellt oder nicht. Die Entscheidung ist be-
reits gegen die These gefallen, oder man darf nicht mehr vom ganzen
Kanon mit unverkennbarer Emphase sprechen (S. 174)10 • Im übrigen
wäre es ein Mirakel, wenn es im Neuen Testament anders als im Al-
ten und in unserer eigenen Gegenwart stände. Einhelligkeit gibt es
in der Geschichte nur partiell und nicht flächenweise. Nun bestreitet
Diem dieses Faktum als solches nicht, erkennt sogar Gegensätze an,
welche in der gleichen Zeit kontradiktorisch sein würden. Er hilft
sich, indem er auf die verschiedene Verkündigungssituation hinweist
(S. 171 f.). Ihr Wechsel bedingt Ergänzungen, Korrekturen und aus
Mißverständnissen resultierende Widersprüche gegenüber dem Frü-
heren. Während die Konkordanzmethode verurteilt wird61 , soll man
sich auf das "Konkordanzhören" einstellen (S. 174). Man kann sich
diesem Argument nicht entziehen. Etwa die Auslegung der Synop-
tiker richtet sich unentwegt nach ihm, und ich würde von da aus trotz
allen Verschiebungen im einzelnen und ganzen Paulus und Johan-
nes oder die Apokalypse, Paulus und die Deuteropaulinen oder selbst
die Pastoralen zu verstehen suchen. Darüber hinaus gibt es zweifel-
los Aussagen, die isoliert in unversöhnlichem Gegensatz stehen, aber
komplementär auf einen paradoxen Sachverhalt hinweisen. Die Be-
weglichkeit des Exegeten, der einerseits Nuancen hervorzuheben, an-
dererseits Zusammenhänge zu bedenken oder zu rekonstruieren hat,
kann nicht groß genug sein. Doch hat sie ihre Grenzen dort, wo
gleichzeitig oder in verschiedenen Phasen nicht bloß verschiedene
"Verkündigungssituationen", sondern gegensätzliche Theologien zu
konstatieren sind. Wenn Diem mit Vorliebe am Verhältnis von Pau-
lus und Jakobus exemplifiziert62 , so ist allerdings die verschiedene

• Vgl. H. Diem, Die Einheit der Schrift, EvTh 13 (1953), S.385-405,hierS.391,


405. ' 1 Ebd. S. 387.
u W. G. Kümmel, Mitte des NT, S. 76, A. 3-5, protestiert mit zwingenden
Gründen gegen die heutigen Harmonisienmgsversuc:he gerade an dieser Stelle.
Kritische Analyse

Situation zu berücksichtigen. Nur Apologetik gibt sich jedoch damit


zufrieden, weil das konträre Verständnis des Gesetzes ein konträres
Verständnis des Evangeliums bekundet und keine Interpretation dar-
über hinwegtäuschen darf, daß für Paulus das Werk eine Konse-
quenz, für Jakobus aber eine Vorbedingung der Rechtfertigung ist.
Der Text wird vergewaltigt, und jede Berufung auf ihn wird un-
glaubwürdig, wenn man hier demonstriert, daß man, dazu von Vor-
aussetzungen des sonst angegriffenen Existentialismus her, unter
allen Umständen ausgleichen will und das dann natürlich auch kann.
Die Kirche hat sich in der Regel so geholfen, und aus dem Konkor-
danzhören wird nun doch Konkordanzmethode.
Daß damit nicht zu scharf geurteilt wird, ergibt sich aus dem Po-
stulat, daß in den verschiedenen Schriften und Zeugnissen die Stim-
me des einen Christus zu hören sei und jeder Zeuge anerkenne, auch
dem andem habe sieb das Geheimnis der Offenbarung erschlossen
(S. 171)83 • Unter dieser Voraussetzung kann man sich mit dem Ho-
hen Lied grundsätzlich begnügen, wird man die Vielfalt dankbar als
faktische Hilfe für verschiedene Verkündigungssituationen akzeptie-
ren und womöglich sogar die prinziplose Zusammenstellung des Ka-
nons zu seinen Gunsten buchen (S. 160 f.). Ungern greife ich das all-
mählich abgedroschene Verdikt vom "Offenbarungspositivismus"
Barths auf, weil man damit unter die Wiederkäuer gerät. Doch sehe
ich nicht, wie man es seinem Schüler ersparen kann, und ich finde
es schlechterdings unfair, wenn historisch-exegetische Feststellungen
kurzerhand statt aus dem Bemühen um den Text und das Verhältnis
der Texte untereinander aus prinzipiellen Gesichtspunkten nach be-
stimmtem Auslegungsmaßstab abgeleitet werden84 • Das ist Diffamie-
rung des Spezialisten und seines selbstverständlich stets fragwürdig
geübten Handwerks. Prinzipien ergeben sich für jeden Denkenden.
Ob er sie jedoch aus seiner Arbeit am Detail gewinnt oder, sei es be-
wußt, sei es aus Trägheit und Voreingenommenheit, seiner Arbeit
zugrunde legt, ist der Unterschied zwischen Wissenschaft und Falsch-
münzerei.
Wenn ich dank kirchlicher Erfahrung von vomherein darauf ver-
traue oder davon überzeugt bin, überall im Neucn Testament die
Stimme des einen Christus wenigstens grundsätzlich vernehmen zu
können, ist Exegese Handlangerio der Praktischen Theologie oder
einer bestimmten Dogmatik. Letztlich hat sie deren Postulat zu veri-
fizieren oder ihre eigene Unzulänglichkeit zu bekennen. Genau das
ist aber das Problem einer theologisch verpflichteten und engagierten
Exegese, ob wirklich dieser eine Christus überall in den Texten zu
11 Vgl. Diem, Einheit der Sduift, S. 395, 401.
14 Diem, Dogmatik, S. 206.
Kritische Analyse

Wort kommt und ob das angemessen geschieht. Ist man nicht zum Ri-
siko bereit, das hier oder dort rundweg verneinen zu müssen, geht
mit dem wissenschaftlichen Ethos auch der theologische Ernst vor die
Hunde, hat man es nur noch mit mehr oder weniger nützlichen Quis-
quilien zu tun, wird man zum "Fachidioten", was vielleicht unver-
meidlich ist, wozu man jedoch nicht vom Systematiker verdammt
werden sollte. Rundheraus gesagt, nach lebenslanger Beschäftigung
mit dem Detail wie mit dem Ganzen neutestamentlicher Theologie
vermag ich die Stimme des einen Christus nicht in allen Zeugnissen
zu vernehmen. Selbst wenn die kirchliche Erfahrung von 2000 Jahren
das bezeugte, würde mich das nicht im geringsten irremachen oder
auch nur interessieren. Hier habe ich für mich selber einzustehen und
der fides implicita nicht den geringsten Tribut zu zollen, wenn ich
nicht mein Handwerk verraten und das sacrificium intellectus brin-
gen soll. Eher würde ich der Kirche den Rücken kehren, als von mir
erkannte Wahrheit zu verleugnen. H. Braun konstatiert mit vollem
Recht die verschiedensten Christologien im Neuen Testament, und
die Stimme des einen Christus in allen ihren Stücken ist nicht nur ein
dogmatisches Postulat, sondern auch eine bloße Chiffre, hinter der
sich alles oder nichts verstecken kann, solange nicht genau definiert
ist, welcher Christus gemeint ist. Mit Chiffren will ich weder als
Glaubender noch als Theologe etwas zu tun haben. Die überlasse ich
den Computern, die damit umgehen können und müssen. In der Exe-
gese scheinen sie mir einzig dem Aberglauben Türen zu öffnen und
die claritas und perspicuitas scripturae zu verdunkeln.
Diemist allerdings konsequent. Seine dritte Grundthese folgt aus
den beiden ersten und erläutert sie, daß nämlich die Schrift grund-
sätzlich Predigttext sei, die Geschichte der Kanonbildung die des Pre-
digttextes genannt werden dürfe und daß die Kirche, welche uns den
Kanon gab, dafür einstehe, die ganze Schrift lasse sich predigen85 •
Das schließt nicht aus, daß es dunkle Stellen gibt, die den Prediger in
Verlegenheiten setzen, und dieser die Schrift manchmal nicht zum
Reden bringen kann, dann die volle Freiheit habe, das zu sagen
(S. 167, 174). So ist es sein eigentlicher Vorwurf gegen den Katholi-
zismus, daß er nicht zu predigen vermöge (S. 165). Nochmals wird
man den berechtigten Kern dieser Feststellungen anerkennen. Das
Evangelium will tatsächlich gepredigt werden, und beim Kanonpro-
blem darf davon nicht abstrahiert werden. Wieder wird man aber
kaum übersehen können, daß Diem erneut zwei Ebenen in eine ver-
wandelt, weil er den Kanon und das Evangelium, sei es auch abge-
leitet, identifiziert oder wenigstens zu rasch zusammenbringt. Wenn
man aus allen Schriften das einhellige Zeugnis für den einen Chri-
" Einheit der Schrift, S. 389, 391.
Kritische Analyse

stus vernimmt, ist das natürlich grundsätzlich möglich und notwen-


dig. Geht das aber nicht so einfach, wird man an dieser Stelle sehr
sorgfältig, ohne trennen zu wollen, zu unterscheiden haben. Sicher-
lich soll man die ganze Schrift hören (S. 173 f.). Doch ist es etwas völ-
lig anderes, daß man sie ganz zu predigen habe und das - grund-
sätzlich!- auch könne.
Die Polemik gegen Rom ist aufschlußreich dafiir, in welcher Weise
vereinfacht und vergröbert wird. Zweifellos kann man sich darauf be-
rufen, daß die Reformation genau hier einen oder sogar den entschei-
denden Dissens empfand und dazu gute Gründe nicht bloß aus der
Praxis, sondern gerade theologisch hatte. Umgekehrt sollte man die
Situationsbedingtheit wenigstens so weit wie im Neuen Testament in
Anschlag bringen, selbst wenn man anders als dem Neuen Testament
gegenüber das Konkordanzhören nicht als der Weisheit letzten Schluß
betrachtet. Was man am Sonntagmorgen im protestantischen Gottes-
dienst oft oder sogar erwartungsgemäß zu hören bekommt, von den
Bibelstunden nicht bloß der Gemeinschaften zu schweigen, bestätigt
zwar, daß man über die ganze Bibel predigen zu können meint, mehr
aber auch nicht. Katholische Bischöfe haben im Kirchenkampf tapfer
und im Gehorsam des Evangeliums zu predigen vermocht, während
evangelische zum Teil verstummten. Daß der Katholizismus nirgend-
wo von der Reformation profitiert habe, wird kaum zu behaupten
sein, wohl aber mag man gelegentlich geradezu neidisch feststellen,
die Reformation werde in Klöstern und anderswo ernsthafter bedacht
und aufgenommen als in protestantischen Landeskirchen. Kurz, die
Polemik dürfte weniger pauschal und reichlich gedämpfter ertönen,
wenn man seinen Stand nid:J.t mehr unter dem Lutherdenkmal in
Worms sud:J.en kann. Zunäd:J.st müßte untersucht werden, wie es zum
Verfall der protestantisd:J.en Predigt in so ungeheuerlid:J.er Weise kam.
Dabei würde man wahrscheinlich entdecken, daß neben der histori-
sd:J.en Kritik der orthodoxe und biblizistische Aberglaube, über die
ganze Schrift predigen zu sollen und zu können, kräftig mitgewirkt
hat.
Denn natürlich kann man das nicht. Das gilt schon von der Praxis,
welche nie in der Christenheit die ganze Bibel gepredigt hat, und
vom Einzelnen her, der bei solchem Versuch hoffnungslos scheitert.
Das gilt grundsätzlich. Es ist trotz kirchlicher Lesung wenigstens vie-
ler oder sogar der meisten Schriften nicht wahr, daß alle diese Sd:J.rif-
ten Predigttexte sein wollten, so gewiß das Neue Testament primär
als Kerygma gehört werden muß. Gleichwohl ist es das nicht aus-
schließlich, und sofern es das ist, meint das noch längst nicht, daß es
Predigttext ist, also über die einmalige historische Situation hinaus
wiederholt, ausgelegt und für ewige Zeiten verbindlich gemacht wer-
Kritische Analyse 367

den wollte. Wenn die Kirche es dazu für geeignet gehalten hat, ist das
offensichtlich weithin echte Aufnahme des kerygmatischen Anliegens
der Urchristenheit, andererseits aber ein Vorgang im Traditionspro-
zeß, der lange und mancherorts noch heute auch die Apokryphen ein-
bezog, mit dem Alten Testament recht gewalttätig umsprang und
nicht bloß erwünschte Resultate zeitigte. Versteht man die Geschichte
des Kanons als die des Predigttextes, muß man doch im weitesten
Ausmaß von einer Geschichte der Passion und der Vergewaltigung
des Textes sprechen. Darum ist gerade die Kirche in Vergangenheit
und Gegenwart kaum uneingeschränkt der Eideshelfer, der die in der
Schrift überlieferte Verkündigung kanonisierend zum weiteren Ver-
kündigtwerden "autorisierte" (S. 166). Als Garantin der Wahrheit
will Diem sie selbst nicht gewertet wissen (S. 167), weil der Kanon
den Beweis für seine Kanonizität auch weiterhin für sich, nämlich in
der Möglichkeit, gepredigt zu werden, erbringen müsse.
Obereinstimmung und Gegensatz zwischen dem Exegeten und dem
Systematiker können nun abschließend ins Auge gefaßt werden. Ei-
nig sind wir in dem dogmatischen Interesse, daß das "der Kirche vor-
gegebene Wort von deren eigenem Reden unverwischbar unterschie-
den bleibt" und Gottes Wort "im Reden und zugleich gegen das Re-
den der Kirche zu Gehör zu bringen" ist (S. 165, 166). Wir unter-
scheiden uns darin, daß Diem trotz aller Zustimmung zu den Ergeb-
nissen der historischen Kritik und den daraus folgenden Einschrän-
kungen die Schrift als Sammlung von Christuszeugnissen und als
Predigttext mit dem Charakter der Einhelligkeit versehen und im
wesentlichen mit Gottes Wort zusammenfallen lassen kann. Das ist
mir schon im Blick auf das zum Kanon gehörige Alte Testament und
ebenso angesichts kontradiktorischer theologischer Tendenzen nicht
bloß in einzelnen Aussagen, sondern in ganzen Büchern des Neuen
Testamentes so undialektisch nicht möglich. Ich bestreite nicht, daß
Gottes Wort aus der Bibel vernehmbar wird und diese insofern Suffi-
zienz und Selbstevidenz besitzt, wohl aber, daß die Bibel einhellig
echtes Christuszeugnis, wenngleich in der Variation der Umstände
und Zeiten, bietet und ohne weiteres als Predigttext angesprochen
werden darf. Das Evangelium ist in der Schrift zu finden und nicht
von ihr zu lösen, steht aber auch dort im Widerstreit mit seinen Ver-
kürzungen, Erweiterungen und Verfälschungen, wie es das geschicht-
lich immer tun wird. Die theologische Aufgabe der Unterscheidung
der Geister bezieht sich mit auf die Bibel. Wenn Diem anerkennt
(S. 170), daß "die für uns so wünschenswerte exklusive Unterschei-
dung der Stimme Christi von derjenigen der kirchlichen Tradition ...
innerhalb des N. T. keineswegs rein durchgeführt" ist, das an Tradi-
tionen sich klammemde Kirchenturn im Frühkatholizismus schon
Kritische Analyse

dort beginnt, hat er sich auf meine Problematik eingelassen. Sie kann
man aber nicht damit abschwächen, darin bekunde sich der histori-
sche Charakter der Schrift, der Harmonisierung verbiete und ein Ein-
heitsprinzip nicht wie ein Wahrheitskompendium besitze, sondern
die Lebendigkeit Christi im Wort herausstelle und im Interesse der
verschiedenen Verkündigungssituationen zur möglichst profilierten
Kenntnis der Zeugen und Zeugnisse aufrufe (S. 171).
Es ist nicht zufällig, daß jetzt heilsgeschichtliche Terminologie zur
Hilfe gerufen wird: "Die Predigt verkündigt die für uns geschehenen
,großen Taten' Gottes sowohl in ihrem Geschehensein als in ihrer Be-
deutsamkeit. Der Prediger ist dabei aber nicht mehr in derselben
Lage wie der Apostel, der als unmittelbarer Augen- und Ohrenzeuge
dieser Taten Gottes redet. Er braucht darum für seine Predigt einen
Text. " 88 Damit wird die vorhergehende Erkenntnis an den Rand ge-
drückt und der Schrift in ihrem Kern eine historische Ausnahmestel-
lung zugebilligt: Sie ruht im wesentlichen auf dem unmittelbaren,
nämlich apostolischen Zeugnis. Ist dieses Argument nach der früher
vorgelegten Kritik nicht mehr stichhaltig und ein problematisches
Randfeld zugestanden, dient es der Klärung der Fronten, wenn jetzt
rückhaltlos die gesamte Bibel als Produkt eines vorchristlichen und
christlichen Traditionsprozesses bezeichnet wird. Historisch ist die jü-
dische und christlid1e Kirche stets vor der Schrift da, und zwar mit ih-
rer ganzen Fragwürdigkeit als corpus pennixtum. Wird die sachliche
Priorität der Schrift vor der Kirche behauptet, wie ich das allerdings
zu tun gedenke, so ist das ein Glaubensurteil auf Grund der theologi-
schen Einsicht, die Kirche sei creatura verbi, nämlich des in, mit, unter
der Schrift gegebenen Evangeliums.
Der Streit spitzt sich auf die Frage zu, was denn wirklich "Evange-
lium" ist. Dabei wird man weder auf die großen Taten Gottes noch
auf die Stimme Christi verzichten dürfen. Doch sind das Chiffren,
solange man nicht exakt sagt, worin diese Taten bestehen und was
die Stimme Christi verlauten läßt. Denn beides ist zu allen Zeiten von
allen möglichen Leuten für sich beansprucht worden, mit denen die
Kirche nichts zu tun haben wollte oder nichts hätte zu tun haben dür-
fen. Darum erscheint mir die Botschaft von der Rechtfertigung als
qualifizierendes und scheidendes Kriterium auch des Neuen Testa-
mentes unerläßlich. Sie kann das sein, sofern historisch-exegetisch das
Merkmal Jesu im Unterschied von seiner gesamten religiösen Um-
welt die Gemeinschaft mit den Sündern im Namen Gottes war, seine
Kreuzigung entscheidend mit seiner Durchbrechung des Gesetzes zu-
sammenhing, die auch die Heidenmission erst ermöglichte, und
M S.o. S. 166, während im Widerspruch dazu o. S. 161 f. das Merkmal des Apo-
stolischen sehr kritisch beurteilt wurde.
Kritische Analyse 369

sdiließlich die urchristliche Verkündigung~ allgemeinen mehr oder


weniger zentral von da aus bestimmt ist. Dogmatisch erhellt sie stär-
ker als jedes andere Theologumenon das Verständnis der Christen-
heit über Gott, den Menschen und das Verhältnis beider. Wo diese
Rechtfertigung nicht mehr klar und zentral zu Worte kommt, endet
für mich mit dem spezifisch Christlichen auch die theologische Auto-
rität des Kanons, in den ich umgekehrt eben von hier aus das Alte
Testament in weitem Umfang als promissio einzubeziehen vermag.
Insofern behaupte ich allerdings einen "Kanon im Kanon" und defi-
niere zum mindesten grundsätzlich präzis dessen Grenzen, die fak-
tisch freilich verfließen und im Detail immer neu überprüft und mar-
kiert werden müssen. Die Schrift bleibt Produkt eines kirchlichen
Traditionsprozesses und deshalb vom Evangelium unterschieden,
ohne daß dieses von jener gelöst werden sollte und dürfte. Denn Gott
geht nach neutestamentlichem Zeugnis in die Geschichte ein, aber
nicht in ihr auf. Aus welchen Gründen immer die Alte Kirche den
Kanon fiXierte, sie tat Recht daran, sich gegen die Wucherungen der
Gemeindefrömmigkeit zu schützen, und tat es im allgemeinen auf
die bestmögliche Weise. Im Gegensatz zu Diem erkenne ich die Ka-
nonisierung also prinzipiell an67 , bestehe aber auf einer faktischen
Offenheit. Der Ort, wo das Evangelium vernommen wurde, mußte
exemplarisch abgegrenzt werden, wenn nicht der Wildwuchs der Tra-
dition jede Orientierung unmöglich machen sollte. Die damit um-
grenzte Fläche ist jedoch deshalb nicht sakrosankt geworden. Mit ihr
wird nur das Feld anvisiert, innerhalb dessen Begegnung mit dem
Evangelium in sufficientia, claritas und perspicuitas geschah und ge-
schehen kann, ubi et quando visum est Deo.
Es sollte deutlich sein, daß nach diesen Feststellungen Diems Ein-
wände zum großen Teil als Mißverständnisse oder Vorurteile dahin-
fallen, obgleich sie geradezu den Umfang eines Lasterkatalogs an-
nehmen. Es entbehrt nicht der Pikanterie, wenn der Dogmatiker ge-
gen den Exegeten klagt, weil diesem die Geschichte über dem Deu-
tungsprinzip68, der Lehre69 , einem doktrinären (S. 174), biblizistisch-
dogmatischen Lehrsystem70 bedeutungslos würde. Andererseits soll
mit der Rechtfertigungsbotschaft bloß ein Motiv oder Teilaspekt ins
Auge gefaßt werden71 , das dazu auf diese Weise in die Gefahr eines
protestantischen Theologumenons gerät72 . Drittens wird "die Frage
nach der Offenbarung von Gottes Wort in der Schrift ... damit aus

17 Gegen Einheit der Schrift, S. 389 f.; Dogmatik, S. 198.


• Dogmatik, S. 201.
11 Einheit der Schrift, S. 398.
71 Ebd. S. 392. 71 Ebd. S. 397,400.
71 Dogmatik, S. 202 f.

24 Kücmann, Kanon
370 KritischeAnalyse

dem ,Raum der Objektivität' in unsere Entscheidung verlegt" 71 , so


daß die Willkür74 und Vergewaltigung des Textes in greifbare Nähe
rückt (S. 174), nicht mehr die ganze Schrift (ebd.) und die Externität
des Wortes (S. 170) beachtet wird. Hinter dem allen soll das Siche-
rungsbedürfnis stehen (S. 173), wie Bultmann es gegenüber der Frage
nach der Relevanz des historisch.en Jesus vermutete. Zusammen ist
das reich.lich viel, freilich auch reichlich diffus, und ich gestehe, diese
Synopse nicht ernstnehmen zu können oder widerlegen zu wollen.
Ausgesprochen ärgerlich empfinde ich es jedoch, wenn Diem mich
unablässig in das Prokrustesbett der problematischen Untersch.eidung
von Formal- und Materialprinzip legen will (S. 167 ff.)7 5 , von der ich
ein einziges Mal im Sch.luß meines Vortrages Notiz nahm, als ich in
deutlicher Distanzierung vom "sogenannten Formalprinzip" sprach..
G. Ebelings Reflexionen zu diesem Thema begründen, warum dieses
Schema mir nicht paßt. Die Schrift wird von mir nicht zu einer for-
malen Autorität degradiert, Rechtfertigungsbotschaft und Sola Scrip-
tura sind für mich identisch, die theologische Formel von der Recht-
fertigung der Gottlosen umspannt nach meinem Verständnis die ge-
samte Schrift, eben auch des Alten Testamentes, sofern sie es wahr-
haftig mit Jesus Christus zu tun hat. Sie macht zugleich jedoch klar,
wo nach meiner Überzeugung auch in der Schrift nicht mehr ernst-
haft und wirklich auf diesen Jesus Christus geblickt wird, und dazu
werden theologische Formeln, zumal solche eines tatsächlichen Apo-
stels, sch.ließlich benötigt, treibt man überhaupt Theologie.
Was mich letztlich von Diem scheidet, scheint zu sein, daß ich auf
einen Kanon der Christologie nicht verzichten kann, weil nach dem
Neuen Testament zu jeder Zeit mancherlei Geister mit dem An-
spruch, der Christus zu sein, auftreten und das gerade auch im Blick
auf die Urch.ristenheit behauptet wird. Ich meine, davon in der Inter-
pretation der Texte nicht abstrahieren zu dürfen, weil es ein Mirakel
wäre, wenn irgendwo und irgendwann dieses Phänomen des falschen
Christus sich nicht zeigte, christliche Theologen und Theologien selbst
in der Urzeit davor gefeit wären, den Nazarener und sein Werk in
den Schemata einer unangemessenen oder sogar falschen Christologie
zu präsentieren. Weil ich auf den Kanon der Christologie nicht ver-
zichten kann und mich hier im Zentrum nicht mit Chiffren abspeisen
lasse, selbst wenn die Ökumene sie sanktioniert, kommt es von da aus
bei mir notwendig auch zum Kanon im Kanon. Die Schrift dient doch.
wohl dem Christus. Er darf so wenig von ihr wie von der Kirch.e ver-
einnahmt und je nach der Situation anders, womöglich im totalen Wi-
71 Einheit der Schrift, S. 397.
" Dogmatik, S. 206.
71 Vgl. Einheit der Schrift, S. 386, 398; Dogmatik, S. 201 f.
Kritische Analyse 371

dersprud:t zum gekreuzigten Nazarener repräsentiert werden, ob-


gleich das in der Kirchengeschichte unaufhörlich geschehen ist. ld:t
verschärfe jetzt meine frühere Aussage, daß der Kanon in gewisser
Hinsicht die Vielfalt der Konfessionen begründet. Er begründet auch
eine Vielfalt von Christologien, die teilweise unvereinbar sind. Des-
halb bedeutet das Chalcedonense sogar eine exegetische Hilfe für
mich. Mannigfaltigkeit muß der Exeget unentwegt ertragen, und
das rettet nicht bloß die rechte Freiheit (S. 172 f.), sondern bedeutet
für den Christen wie den Denkenden zugleich eine schwere Last. h-
gendwo muß sie eine Grenze haben, und zwar von der Christologie
her und darum auch gegenüber dem Kanon. Diem meint, daß idl
damit diesen als "dogmatische Größe" auflöste (S. 170)18• Solche Sor-
ge bewegt mich wenig, solange die Sache der wahren und angemes-
senen Christologie nicht entschieden ist, was ohne die Interpretation
von der Rechtfertigungslehre her kaum geschehen kann. Aus dieser
Sorge heraus lehne ich den Satz ab: "Es gibt keinen für alle Zeiten
gültigen Maßstab für die Feststellung des Kanons im Kanon, und
wenn es der Gesichtspunkt wäre: ,was Christum treibt'" (S. 173). Die
Schrift, die man sich selber überläßt und der man sich unkritisch,
ohne "Hauptschlüssel" (gegen S. 173), überläßt, führt nicht bloß zur
Vielfalt der Konfessionen, sondern auch in die Ununterscheidbarkeit
von Glaube und Aberglaube, dem Vater Jesu Christi und den Göt-
zen. Genau wie Diem sich für die sich selbst verkündigende Schrift
auf die Erfahrung der Kirche beruft, tue ich es für meine Feststel-
lung. Das dürfte aber darauf hinweisen, daß unsere Sorgen sich tref-
fen und auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen müssen. Der
Gegensatz kann nicht unversöhnlich sein. Er dürfte die Verschieden-
heit des Ausgangspunktes, der Ebene unseres Gesichtsfeldes, der Be-
tonungjeweils einer Seite in einem komplementären und darum dia-
lektisch zu entfaltenden Sachverhalt anzeigen.

H. Küngs Aufsatz demonstriert, daß zwei Hunden der Knochen,


um den sie sich zanken, durch einen dritten vor der Nase wegge-
schnappt werden kann. Er vergleicht Diems und meine Position und
kommt dabei zu dem Schluß, daß jeder von uns einerseits dem andern
teilweise ferner wäre als dem Katholizismus, wir umgekehrt jedoch
uns im Widerspruch gegen Rom erneut einig würden. Das wird so
amüsant und geistreich dargestellt, daß man den dritten Mann gern
als Gesprächspartner wie als Gegner in den Streit hineinnimmt, um
den ökumenischen Dialog gleichsam auf der menschlichen, nicht-in-
stitutionellen Basis, allerdings auch ohne Bandagen taktischer Vor-
sicht in aller notwendigen Härte privat auszutragen. Vielleicht kann
71 Vgl. Einheit der Schrift, S. 396 f.
372 KritischeAnalyse

das als Modell dessen dienen, was heute vordringlich neben kirchli-
cher Strategie auf höchster Ebene zu geschehen hat, nämlich der
freien und dreisten theologischen Diskussion der Nonkonformisten,
welche die trouble-maker weniger fürchten als die trouble-shooter.
Ob alle Wege schließlich in Rom enden werden (S. 198), ist ein
Problem der Heils- oder Unheilsgeschichte, dessen Lösung man vor-
läufig Gott anheimgeben darf. Daß sie sich schon jetzt repräsentativ
in Tübingen kreuzen, sei nicht ohne Selbstbewußtsein irenisch und
ironisch vermerkt.
Meine These vom Frühkatholizismus im Neuen Testament77 nimmt
Küng zum Anlaß seiner grundsätzlichen Besinnung über die Kon-
troverse zwischen Diemund mir. Er versteht sie, ungemein wichtig
und für den Katholiken kennzeichnend, nicht wie ich letztlich als
christologische Frage, sondern als primär ekklesiologisches Problem
(S. 188). Deshalb kann er einerseits meine Aussage aufgreifen, der
Kanon bereite in seinem faktischen Bestand die Vielzahl der Konfes-
sionen vor, andererseits aber betonen, daß "die verschiedenen Zeug-
nisse nicht nur etwa als lehrreiches negatives Kontrastprogramm zum
Evangelium, sondern als positiv angemessener Ausdruck und Nieder-
schlag des Evangeliums" von der rezipierenden Kirche verstanden
worden sei. Das führt sofort zu der entscheidenden Feststellung, die
Konfessionsbildung beruhe statt auf einem umfassenden Verständ-
nis des Kerygmas auf einer Auswahl, welche mit der Kraft der Kon-
zentration die Schwäche der Reduktion auf Kosten des Neuen Testa-
mentes und der dahinter stehenden kirchlichen Einheit verbinde.
Verzichtet man grundsätzlich auf "Katholizität", wozu das Neue Te-
stament "zwar Voraussetzung und Anlaß, aber nicht im strengen
Sinne Grund und Ursache" bieten möge, wird solches Resultat un-
vermeidlich. Es liegt auf der Hand, daß damit Diems Kritik aner-
kannt, jedoch über die Kanonfrage hinaus ausgeweitet wird. Das
Problem der Einheit der Schrift wird von vomherein exemplarisch
für das der kirchlichen Einheit aufgegriffen (S. 188 f.). WeilDieman
dieser Zuspitzung nicht eigentlich interessiert war- ihm ging es um
die Verteidigung der sich selbst verkündigenden und durchsetzenden
Schrift als der Verleiblichung des Wortes Gottes!-, kann aber meine
Position gleichzeitig gegen meinen Kontrahenten dialektisch ausge-
spielt werden. Das geschieht natürlich nicht von der Formel des
Kanon im Kanon her, die als Selektionsprinzip herausgestellt ist, je-

77 Sie wird notwendig dort bestritten, wo man das Gewicht der nachösterlichen

Apokalyptik verkennt. Denn der Frühkatholizismus resultiert neutestamentlich


letztlich aus dem Aufhören der Naherwartung, sofern an deren Stelle die Ekklesio-
logie tritt. Verkennt man dieses Grundmotiv, muß man sich an späteren Sympto-
men orientieren.
KritischeAnalyse 373

doch von der andem der "Mitte der Schrift", die Küng sich unbefan-
gen zu eigen macht und gegen Diem verteidigt (S. 191).
Damit sind bereits auf den ersten Seiten des Aufsatzes die Fronten
deutlich abgesteckt. Sie brauchen nur noch kritisch beleuchtet zu wer-
den, wobei man sich vor Augen zu halten hat, daß im Brennpunkt der
Auseinandersetzung das Verhältnis von Christologie, der Lehre vom
Worte Gottes in der Schrift und der Ekklesiologie steht und zum min-
desten der faktische Primat oder vielleicht besser der hermeneutische
Schlüssel in diesem Verhältnis erörtert wird. Die Antwort des Katho-
liken ist unzweideutig: Diem will zwar das ganze Neue Testament
sprechen lassen, muß als Protestant jedoch faktisch die von mir prin-
zipiell getroffene Auswahl vornehmen, indem er das Frühkatholische
im Neuen Testament als Abweg betrachtet (S. 193). Dagegen gilt,
daß "katholische Haltung versucht, unvoreingenommen das Neue
Testament nach allen Seiten hin emstzunehmen", und selbst einer
complexio oppositorum einen guten Sinn abgewinnt (S. 198). Sie er-
kennt nicht nur Mannigfaltigkeit, sondern aum Gegensätzlidtkeit
an, indem sie das Ursprüngliche vom Abgeleiteten unterscheidet und
ihm den Vorrang in der Interpretation einräumt (S. 202)18 • Umge-
kehrt will sie nicht, wie das kühne Programm des Kanons im Kanon
es fordert, biblischer sein als die Bibel, neutestamentlicher als das
Neue Testament, evangelischer als das Evangelium und sogar pauli-
nischer als Paulus, weil anders Emstnah.me zwar die Absicht, radi-
kale Auflösung aber die Folge ist. "Der wahre Paulus ist der ganze
Paulus, und das wahre Neue Testament das ganze Neue Testament"
(S. 192).
Mir scheint, daß Küng methodisch geschickt, aber unerlaubt das
Operationsfeld verengt, indem er nur den Bereich des Frühkatholi-
schen kontroverstheologisch als Absprungsbasis benutzt und daraus
exemplarisch Schlüsse für den ganzen Kanon zieht, ebenso geschickt
und unerlaubt auf der andem Seite das Verhältnis zur Schrift exem-
plarism zum Unterscheidungsmerkmal zwischen Kirche und Härese
ausweitet. Am Problem der Interpretation des Alten Testamentes und
der Anerkennung seiner Apokryphen wäre nachzuprüfen, ob Küngs
Rechnung mit dem ganzen Kanon aufgeht und aufgehen kann. Ver-
einfachend wirkt auch die Unterscheidung zwischen Ursprünglichem
und Abgeleitetem. Ursprünglich war ganz gewiß dieurchristliche Apo-
kalyptik, zu welcher die römische Kirche doch ein recht gebrochenes
78 Mit Recht kritisiert Kümmel, Mitte des NT, S. 80-83, diese auch sonst
vertretene Position einer differenzierten Einheit. Ein Ventändnis aller Zeugen ist
gerade nur dann möglich, wenn mißventändliche und vedälschende Änderungen
des Evangeliums auch in der Schrift anerkannt werden (S. 85), und unvermeidlich
wird das spätere Zeugnis das frühere bestimmen, wo alle Stimmen zugleich gehört
werden sollen (S. 82 f.).
374 Kritische Analyse

Verhältnis hat, während umgekehrt die Lehre von der apostolischen


Amtsbefugnis und der Kontrolle der Schriftauslegung durch den
"Amtsgeist" im 2. Petrushrief kaum sekundäre Bedeutung haben,
sondern Schlüsselpositionen anzeigen. Das "großartige Programm"
der Katholizität in der Interpretation des Neuen Testamentes, welche
das Katholische zum Evangelischen werden läßt (S. 200), zugleich
aber alle späteren Zeugnisse aus der inneren sachlichen Nähe zur
Mitte des Evangeliums und der Botschaft Jesu Christi verstehen
möchte (S. 202 f.), wirkt angesichts des Verlaufs der Kirchengeschichte
und der römischen Dogmenbildung auch auf den geneigten Hörer
reichlich utopisch. Das faktische Vorhandensein eines Selektionsprin-
zips und dessen dogmatische Untermauerung springt dem Historiker
geradezu in die Augen und kann vom Exegeten auf Schritt und Tritt
konstatiert werden, so willig er sein mag, beim Kollegen der anderen
Fakultät in die Schule zu gehen. Wenn das Kirche und Härese unter-
scheidet, gehört wohl keine christliche Kirche stärker auf die letzte
Seite als die römische. Anspruch und programmatische Zukunftsmu-
sik decken sich vorerst keineswegs mit vergangener und gegenwärti-
ger Wirklicllkeit. Freundschaft, Hoffnung und Solidarität werden
sich demgegenüber noch auf einige Zeit gerade darin bekunden müs-
sen, daß wir weiterhin protestieren.
Ober bestimmte Fragen kann man sich einigen. Beispielsweise pro-
testiere ich keineswegs gegen das Frühkatholische im Neuen Testa-
ment schlechthin (gegen S. 199). Im Gegenteil erkenne ich als Histori-
ker wie als Theologe dessen Symptome in der Einführung der Ordi-
nation, des Presbyteriums, des monarchischen Episkopats und selbst
der Lehrkontrolle aus der konkreten Verkündigungssituation im
Sinne Diems als notwendig, verständig und also geistgewirkt dunh-
aus an. Das zeigt, daß mir an einem doktrinären Purismus nicht im
mindesten gelegen ist, die größtmögliche Variationsbreite unent-
behrlich erscheint und die Formel "Selektionsprinzip" mich nicht
letztlich trifft. Unerträglich ist mir als Theologen jede historisdi
leicht zu entlarvende Legitimitätstheorie in der kirchlichen Ordnung,
welche das einst Erforderliche für alle Zeiten verbindlich macht, und
jeder systematische Entwurf, welcher der Verkündigung die entschei-
dende Beziehung zur Rechtfertigungsbotschaft und zum gekreuzig-
ten Nazarener raubt, nicht mehr und nicht weniger. Küng müßte dem
eigentlich zustimmen, so daß jedenfalls hier ein Mißverständnis zu
einem Scheingefecht zu führen scheint. Jene "Option", von der er
spricht, ist hoffentlich auch die seinige, "subjektiv" mag die Stellung-
nahme zum Detail sein, nicht aber die Grundhaltung, die er teilt,
wenn er ebenfalls eine Mitte der Schrift kennt und alles Spätere als
Interpretation der Botschaft Jesu begriffen wissen möchte (gegen
Kritisme Analyse 375
S. 191). "Entscheidung vor aller Exegese" (ebd.) ist zu billig. Wer
wird leugnen, daß er stets in einer ihn bestimmenden Tradition steht,
also in gewisser Hinsicht voreingenommen ist? Daß mich möglichste
Unbefangenheit in der Exegese zur ständigen Korrektur der eigenen
Tradition treibt, werden auch Gegner mir kaum absprechen. Dem
Protestanten wird es als Subjektivismus in Reinkultur erscheinen,
wenn die höchste Lehrgewalt in der Gesamtkirche einem Einzelnen
vorbehalten ist, und wie gehemmt katholische Exegese noch immer
unter dogmatischen Vorentscheidungen arbeitet, braucht wahrhaftig
nicht erörtert zu werden. Polemik mit solchen Formulierungen ist
ein Bumerang.
Das Zentrum unseres Streites wird sichtbar, wenn Küng von der
"Mitte des Evangeliums" spricht (S. 191), wo ich die Mitte der Schrift
herausstelle. Das dürfte kein Iapsus linguae sein, sondern macht, bru-
tal gesagt, klar, daß die kirchliche Tradition in der ganzen Schrift das
Evangelium bildet, in welcher es natürlich eine Mitte, etwas Ur-
sprüngliches oder Abgeleitetes gibt. Der hermeneutische Vorrang der
Ekklesiologie wird so deutlich, er stellt das katholische Interpreta-
tionsprinzip und in der Folge davon auch ein faktisches Selektions-
prinzip dar, das allerdings "nur der Katholik" ernstnehmen kann,
obgleich ökumenisch79 und protestantisch80 solche Betrachtungsweise
auf dem Vormarsch ist. Nur hier kann das grundlegende Problem
denn auch in der Antithese von tota scriptura und "Auswahl" erblickt
werden, in welcher das Korrektiv zum Konstitutiv gemacht wird
(S. 199), obgleich auch diese Anschauung ökumenisch und protestan-
tisch sich wachsender Beliebtheit erfreut. Endlich werden so Küngs
Fragen sinnvoll, warum ich "nur diese und andere Texte nicht als
,Evangelium' zu hören vermag" (S. 191), inwiefern ich Unterschei-
dung der Geister auch gegenüber der Schrift übe, die Paulus selbst
nie auf das Alte Testament angewandt habe (S. 190), ob das Pro-
gramm des "Kanon im Kanon" nicht eine subjektive und mehr oder
weniger willkürliche Radikalisierung sei, das mit der Konzentration
beginne, aber in der totalen Auflösung ende.
Es wäre reizvoll, den Wurzeln dieser Antithese zwischen dem Ka-
tholischen als dem Ganzen und der Härese in der neueren Geistesge-
schichte nachzugehen und die Romantik als gewichtigen Faktor dafür
herauszustellen. Ganz davon abgesehen, daß dem Katholizismus die-
71 Vgl. den Beitrag von C. F. Dodd in: Der Weg von der Bibel zur Welt. Berimt
von zwei ökumenismen Studientagungen, hrsg. von der Studienabteilung Okume-
nischer Rat der Kirchen, Zürim 1948, S. 15--20: Wechselwirkung von Bibel und
Kirche, dem "Treffpunkt der ewigen Idee ... mit der gesc:himtlimen Wirklichkeit"
(S. 17).
• Vgl. K. E. Skydsgaard, Schrift und Tradition, Kerygma und Dogma 1 (1955),
S. 161-179, wo die Schrift als "Urzeuge der Tradition" gesehen ist.
376 Kritisdte Analyse

ser Anspruch schlechterdings nicht abgenommen werden kann, so


selbstverständlich er vorgetragen wird, habe ich gegen die Losung
tota scriptura durchaus nichts als solche, weil ich aus historischen und
theologischen Gründen, wie schon früher gesagt, die prinzipielle Ab-
geschlossenheit des Kanons bei aller faktischen Offenheit als verbind-
lich anerkenne. Infolgedessen kann es mir nicht um die Herauslösung
von Teilen gehen, obgleich nirgendwo und nirgendwann in der Chri-
stenheit faktisch solche Teile nicht betont oder vernachlässigt worden
sind. Mein Thema ist nicht: das Ganze und seine Teile, auch wenn
der Katholik es von seinem Traditionsgedanken her so sieht und viel-
leicht sehen muß. Mein Thema ist die Frage nach der rechten Inter-
pretation des Ganzen. Dem dient die Parole der Unterscheidung der
Geister, die Paulus übrigens unter den Stichworten "Geist und Buch-
stabe" durchaus auf das Alte Testament angewandt hat. Kanon im
Kanon meint nicht Ausscheidung, sondern Kriterium der Auslegung.
Darauf kann auch Küng nicht verzichten, wie seine Losung vom gan-
zen Neuen Testament als dem Evangelium, wenngleich unter ver-
schiedenen Akzenten und Wertungen, beweist. Tota scriptura richtet
sich primär nicht bloß auf den Umfang. Dann hätte von den Apokry-
phen gesprochen werden müssen. Es ist primär eine hermeneutische
Devise. Genau so wenig bin ich wesentlich am Umfang interessiert.
Die Gültigkeit des Akzeptierten hat für mich sogar theologisdles Ge-
wicht. Auch mein Anliegen ist primär die hermeneutische Frage, also
die Auslegung der ganzen Schrift in ihrer mir vorgegebenen und von
mir nicht bestrittenen Gestalt. Die hermeneutische Devise kann frei-
lich für mim nicht lauten: tota scriptura. Denn gerade das ist proble-
matisch und macht eine Hermeneutik erforderlich, sofern nicht von
vornherein die kirchliche Tradition als solche diese Devise deckt und
mit Ursprünglichkeit, Apostolizität oder andern Schlagworten recht-
fertigt. Die complexio oppositoru.m. bereits in der Schrift läßt die Lo-
sung tota scriptura zu einer hermeneutisch und kontroverstheologisch
antithetischen Parole werden, und diese Antithetik ruft den Prote-
stanten auf den Plan. Er muß allerdings präzis wissen, was er glau-
ben soll, kann und darf, und verläßt sich dafür nicht auf die Kirche.
Denn er sieht im Neuen Testament wie in der Kirchengeschichte, daß
die Kirche immer wieder das Gegensätzliche toleriert hat, sofern sie
nicht selbst in Frage gestellt wurde, und er hört aus dem Neuen Te-
stament, daß Christus und Gottes Wort, aus der Kirchengeschimte,
daß die Schrift die Kirche stets neu wie zum Gegenstand, Träger und
Raum der Verkündigung, so auch zum Gegenstand, Raum und vor-
nehmsten Empfänger ihres Gerichtes machen, also im Gegenüber zur
kirchlichen Tradition und Gemeindefrömmigkeit wie Lehramt blei-
ben. Das eben wird hermeneutisch und ebenfalls antithetisch in den
Kritische Analyse 377

Formeln festgehalten: Sola scriptura, solo verbo, sola fide, solus


Christus.
Selbst die räumliche Nähe, persönliche Freundschaft und Solidari-
tät im Erneuerungswillen haben nicht vermocht, uns in den Grund-
fragen seit der Reformation entscheidend weiterzubringen. Wir ste-
hen noch immer im Anfang der Diskussion, und eine weitgehende
Integration der Reformation in den Katholizismus wäre nichts als
eine typisch katholische Reform und für uns viel bedrohlicher als ka-
tholischer Konservativismus, solange man den Streit grundlegend nur
um die Ekklesiologie gehen läßt, während über Christologie und
Rechtfertigungslehre bereits weitgehende Einigkeit besteht. Gewiß
muß man mit Einzelfragen beginnen und legt sich dann die Ekkle-
siologie als Kontroversthema besonders nahe. Doch sollte man sich
darüber klar sein, daß jede Einzelfrage eine Antwort aus dem Zen-
trum heraus verlangt, wenn diese wirklich befriedigen soll. Man darf
in der Kontroverstheologie am wenigsten zunächst isolieren und dann
addieren. Dabei ist heute durchaus fraglich, ob die Auseinanderset-
zung sich primär um Wesen und Gestalt der Kirche zu drehen hat,
wie es Jahrhunderte lang der Fall gewesen ist und sich Rom gegen-
über natürlich besonders nahelegt. Wenn der Katholizismus heute im
Zeichen einer ungestümen Reform steht, so haben wir ebenfalls eine
Entwicklung durchlaufen, von der man nicht abstrahieren kann. Da-
bei ist die römische Lehre von der Kirche einerseits das Schreckbild
schlechthin gewesen, andererseits jedoch Anstoß zu Sehnsüchten, Pro-
grammen, Einsidtten in eigene Mängel geworden. Die Ekklesiologie
drängt sich zunehmend, wenngleich in verschiedenen Formen, bei
uns in den dogmatischen Vordergrund. Es könnte deshalb geboten
~ein, nach beiden Seiten hin auf der Hut zu sein und nicht zu bereit-
willig sich auf das katholische Angebot einzulassen.
WasDiemund mich in Wirklichkeit zutiefst eint, ist die Überzeu-
gung, daß nach wie vor letzte Entscheidungen gerade nicht auf dem
Felde der Ekklesiologie fallen und dort primär gesucht werden müs-
sen, so gewiß sie sich dort auswirken. Geht es Diem um das in der
Sdtrift gegenüber der Kirche sich durchsetzende Wort Gottes, so mir
um eine Christologie, die sich nicht einfach in Ekklesiologie integrie-
ren läßt. Es ist im gegenwärtigen Protestantismus und erst recht in
der Ökumene nicht mehr ausgemacht, "was Christum treibet", und
allein verdient, Evangelium genannt zu werden. Das Problem des
Frühkatholizismus im Neuen Testament hätte Anlaß bieten können,
sich darauf zu besinnen. Das hat Küng nicht getan. Wenn ich die
Rechtfertigungsbotschaft zum Kanon im Kanon und folglich auch
zum Maß des Frühkatholizismus mache, wird damit die ganze Schrift
nicht verleugnet, geschweige daß ein Reduktions- oder sogar Selek-
378 KritischeAnalyse

tionsprinzip aufgestellt würde. Es wird jedoch behauptet, daß die


ganze Schrift uns nicht im mindesten nützt, sofern sie nicht überall
und in größter Variationsbreite, also etwa bis in die Fragen kirchli-
cher Ordnung hinein, auf die Rechtfertigung der Gottlosen statt auf
die Erziehung der Frommen bezogen wird. Das muß ich aber behaup-
ten, weil nur so, und zwar in theologischer Reflexion, die Schrift auf
den bezogen bleibt, der um der Gottlosen willen gekreuzigt wurde.
Denn es würde auch nichts nützen, daß alle Welt sich für Christus
erklärte und auf ihn ausgerichtet sein möchte, wenn dabei an den
Lehrer des neuen Gesetzes oder den Kultgott oder den Fantokrator
gedacht würde, der Sünder Geselle und der Gekreuzigte darüber aber
in den Schatten geriete. Tota scriptura kann solus Christus meinen,
dieses solus Christus aber ebenso in der kirchlichen Tradition aufge-
hen lassen. Bei Küng habe ich nicht vernommen, daß er diese Alter-
native kennt, akzeptiert, als unser zentrales Anliegen begreift. Er
scheint nun eben doch noch einmal beides verbinden zu wollen, ohne
aus der Kirchengeschichte wie den konfessionellen Dogmatiken und
schließlich sogar dem Neuen Testament und dem Frühkatholizismus
zu entnehmen, daß genau das nicht möglich ist. Sein Aufsatz stößt
deshalb nach meinem Verständnis im entscheidenden am Gegner
vorbei. In der Ekklesiologie könnten wir uns sehr viel näher stehen,
als es der Fall zu sein scheint.

Das würde ich P. Lengsfeld gegenüber nicht sagen, selbst wenn


man berücksichtigt, daß sein Buch noch vor dem römischen Konzil
und vor Küngs Aufsatz erschien. Auch er macht deutlich, daß sich die
Fronten lockern. Doch geschieht das bei ihm offenkundig im Zuge
innerkatholischer Regeneration, welche Assimilation und Selbstkritik
unter heilsgeschichtlichem Aspekt (S. 213, 215) zur Stärkung der ei-
genen Konfession nutzt. Auf seine These, der Schriftenkanon sei stets
das katholische Argument gegen das Sola Scriptura gewesen81 , ihre
Prämissen und Konsequenzen, vor allem ihr grundlegendes Mißver-
ständnis der reformatorischen Losung, ist indirekt Ebelings Aufsatz
eine erschöpfende Antwort. Es genügt, die vergleichende Lektüre zu
empfehlen und hier nur den Zusammenhang der abgedruckten Aus-
führungen Lengsfelds kritisch herauszustellen. Für einen gewissen
Trend nicht nur in der katholischen, sondern auch in der ökumeni-
schen Diskussion ist charakteristisch, daß man weithin die Einzeler-
gebnisse der formgeschichtlichen Arbeit am Neuen Testament aufs
heftigste diskriminiert, erstaunlich naiv jedoch die vermeintliche Sum-
st P. Le7J8Sfeld, Oberlieferung. Tradition und Schrift in der evangelischen und
katholischen Theologie der Gegenwart (Konfessionskundliche und kontroventheo-
logische Studien 3), 1960, S. 102.
Kritische Analyse 379

me sich zu eigen macht: Kirchliche Oberlieferung geht der Schrift von


Anfang an voraus. Die historische Feststellung läßt sich in eine ein-
deutig dogmatische allein dann umwandeln (S. 214)8!, wenn man pau-
schal urteilt und vom Konkreten absieht. Denn zunächst besagt sie nicht
mehr, als daß das Kerygma die Schrift wie die Urkirche bestimmt, in
einem Unterweisung, Lehre, Prophetie, Paränese umfassenden Sinne
also die Predigt, die viva vox evangelii. Weil es sich so verhält, ist der
Traditionsprozeß wesentlich dadurch gekennzeichnet, daß er anonym,
also nicht unter dem Gesichtspunkt apostolischer Authentie oder Ga-
rantie (S. 206, 214) 83 , die sehr verschiedenen Auffassungen noch nicht
gesamtkirchlich verbundener Gemeinden spiegelnd, darum durchaus
unorganisch und unharmonisch mannigfache Interessen und Wider-
sprüchliches dokumentierend und schließlich das jeweils Aufgenom-
mene nach der Situation unbefangen verändernd oder bewußt kriti-
sierend verläuft. Das ist gewiß Tradition. Wem das Wort als solches
Freude macht, soll es unterstreichen. Gewonnen ist damit nicht viel
mehr, als daß die Christenheit verkündigen mußte und dabei auf
ältere Verkündigung zurückgriff, wie es schon Jesus getan hatte- in
erstaunlicher Freiheit. Von "göttlich-apostolischer Paradosis" zu spre-
chen (S. 207 u. ö.) 84 , sei niemandem verwehrt, der es genau zu wis-
sen vermeint und erbauliche Formeln anzubringen liebt. Auf nüch-
terne Exegese kann er sich dafür nicht berufen. Woher immer er
illuminiert ist, die wissenschaftliche Forschung hat dazu nicht beige-
tragen. Die von ihm postulierte Gemeinsamkeit "hinsichtlich der
grundsätzlichen Bedeutung der Tradition für die Schriftauslegung"
ist ein Wunschbild von suggestiver Kraft, aber ohne Realität, solange
über die Merkmale dieser Tradition und ihre tiefe Unterschiedenheil
zur gegenwärtig geltenden nicht verhandelt wurde. Natürlich ist die
Schrift ein Buch der Kirche. Daß sie jedoch "nur in der Kirche sach-
gemäß gelesen und verstanden werden" kann85 , mag zwar aus dem
Postulat der göttlich-apostolischen Paradosis folgen, sofern es Inspi-
ration beim Schreiber und Hörer voraussetzt, ist aber einfach nicht
wahr. Die Forschung würde anders an Ketten gelegt, und exegetische
Ausbildung würde dann zweckmäßiger den Priesterseminaren als
der Universität überlassen.
Konsequenz ist Lengsfeld nicht abzusprechen, wie denn häufig die
Logik die Theologie in den Schatten gedrängt hat und Spekulation
einleuchtend werden ließ. Genetische und gewissermaßen ontologi-
sche Unterschiedenheit hebt die große Einheit zwischen dem aposto-
lisch verfaßten Gotteswort und dem kirchlich verfaßten Auslegungs-
wort notwendig nicht auf, wenn der gleiche Heilige Geist beides ver-
81 Vgl. ebd. S. 103, 250 f. a Vgl. ebd. S. 128. " Vgl. ebd. S. 128,250 f.
II Ebd. S. 251 f.
380 Kritisme Analyse

bürgt, die Kirdie durchweht und ihre Dogmenbildung leitet. Wenn


protestantische Interpretation das nicht anerkennt, bleibt ihr einzig
das bonum derelictum des zufällig und kommentarlos überlieferten
ehemaligen Gotteshandeins übrig. Mögen einzelne unbewußt dem
Zeugnis und den Prinzipien der katholischen Kirche und Theologie
folgen, im ganzen kann sie keine widerspruchsfrei begründete Re-
chenschaft über ihre Auslegung ablegen 86 • Solche Sätze können zwei-
fellos zuversichtlicher gewagt werden, wenn die einseitige "Verbal-
tradition" von der "Realtradition" nicht nur des kirchlichen Glau-
bensbewußtseins, sondern der Kirche selber als der lebenden und
währenden Tradition Christi in seinem mystischen Leibe umschlos-
sen wird (S. 216, 218) 87 • Man kann dann sogar ablehnen, daß es in
solcher Kirche nur zu einem Gespräch mit sich selbst komme, und die
"Gegenüber-Ständlichkeit" in der "Rück-Besinnung auf ihren Ur-
sprung" betonen (S. 207, vgl. 210), auf die ihr von einem andern ge-
gebene Offenbarung, welche nicht ununterscheidbar in ihrem Glau-
bensbewußtsein aufgeht (S. 206 f.).
Logisch ist das alles schon. Man vermißt nur den Blick auf die
Wirklichkeit, an welcher sich schließlich auch eine Logik bewähren
muß. Die Forderung widerspruchsfrei begründeter Rechenschaft über
das eigene Tun wirkt in Wissenschaft und Praxis des 20. Jahrhun-
derts nicht einmal mehr provokativ, sondern nur absurd. Man mag
Theologie, die das verspricht, um ihres Muteswillen bewundern. Al-
lein um dieses Versprechens und dieser Forderungwillen würde ich
ihr in allen Stücken mißtrauen. Wie oberflächlich oder dogmatisch
müssen die Nöte gesehen werden, die auch katholische Exegeten quä-
len. Wie schnell muß man überall die schrecklichen Verirrungen ei-
ner Geschichte hinwegkommen, in welcher Menschen und Gemein-
schaften immer wieder im Namen Christi vergewaltigt, gefoltert, ge-
mordet worden sind. Wie glücklich ist der, der die vielen Traditionen
und Kommentare des Protestantismus zum ehemaligen und gegen-
wärtigen Gotteshandeln nicht zu studieren braucht, weil es sie für ihn
einfach nicht gibt, aber auch von dem Aufstand der Theologen, Prie-
88 Ebd. S. 252.
87 Vgl. ebd. S. 253. Lengsfeld hat das Verhältnis beider (ebd. S. 67-70, 209-213)
dahin interpretiert, daß die "Realtradition" durch die" Verbaltradition" begründet
wird und die letzte "Norm und Maß" für alle kirchlichen Entscheidungen bleibt,
beide also nimt getrennt werden dürfen. Ein reformatorischer Protestantismus
wird sim durch solme, sogar e:ristentialistism verdeutlichten Erklärungen nicht be-
ruhigt fühlen. Wenn der Gottmensd! als der eigentliche Verkündiger bezeimnet,
der Predigt "quasi-sakramentale" Wirksamkeit zugebilligt und (ebd. S. 211 f.) die
Formel geprägt wird: "realitas a Patre- verbalitas a Filio- traditio in Spiritu",
verbirgt sim darin die alte Lehre von der Inkorporation Christi in der Kirche und
vom Christus prolongatus, der wir antithetism und exklusiv die fidcs cx auditu ent-
gegenzusetzen haben.
Kritische Analyse 381
ster und Laien im eigenen Lager unangefochten geblieben ist. Man
sollte meinen, Bibel, göttlich-apostolische Paradosis, der "Glaubens-
strom der Kirche" fänden hier ihren Kontext, den keine Interpreta-
tion und Dogmatik vernachlässigen dürften, wenn sie glaubwürdig
sein wollten. Das Gegenüber, das festgestellt wird, führt jedenfalls,
was sonst es bewirken mag, aus lntrovertiertheit und Farbenblind-
heit nicht hinaus. Das aber ist das Schlimmste, was man heute über
eine Kirche und Theologie überhaupt sagen kann. Das bedeutet nicht,
daß es uns im Protestantismus besser ginge. Es bedeutet jedoch, daß
über alle konfessionellen Gegensätze hinweg gegenseitige Verständi-
gung und Hilfe in der Gemeinschaft der Beunruhigten beginnen
könnten und müßten und wahrhaft göttliche Erleuchtung immer nur
auf dem Felde der Verlegenheiten erfolgt. Wer sich nicht hier einfin-
det, diskreditiert alle, die sich Christen nennen. Daß der Doketismus,
der zu viel vom Göttlichen und zu wenig vom Irdischen und Mensch-
lichen weiß, stets die größte Versuchung der Kirche und das sicherste
Mittel zur Fehlinterpretation der Bibel war, sollte uns endlich überall
beschäftigen und auch unsere Besinnung über den Kanon, die Tradi-
tion und die Kirche bestimmen. Doch wird es damit wohl noch eine
Weile dauern.
Daß Lengsfeld nach wie vor katholische Anschauung im allgemei-
nen repräsentiert, wird man ebenfalls dem eingangs (S. 9, Anm.) zi-
tierten Buche N. Appels über "Kanon und Kirche" entnehmen, das
hier wenigstens kurz gestreift werden soll. Denn in ihm führt die
Auseinandersetzung mit dem Protestantismus zu einer Verschärfung
selbst der Formulierungen, die sogar ein gemeinsames Gespräm sinn-
los werden läßt88 • Die exegetische Problematik spielt überhaupt keine
Rolle. Die Dogmatik definiert, was war und ist und bleiben wird.
Kontroverstheologie schafft den Hintergrund für die Feststellung,
daß das reformatorische Erleben des Christentums "durch das Fehl-
bare, das Katholische durch das Unfehlbare" bestimmt wird89, sofern
dem Christus solus dank der Inkarnation der Christus totus entgegen-
zusetzen ist90 und das Selbstbewußtsein der Kirche "schließlich das
Selbstbewußtsein des ganzen Christus", deshalb letzte Norm ist91 •
"Das wahre Verständnis der Heiligen Schrift ist dem charismatischen
Gesamtsinn der Kirche geschenkt" 92 , der als Produkt eines bereits im
Neuen Testament beginnenden Wachstums dessen letzte Phase bil-
det93, fides implicita als persönliche Teilhabe am Glauben des Leibes
88 Vgl. dazu die Besprechungen von W. Mansen, ThLZ 92 (1967), Sp. 604-606;
W. G. Kümmel, Mitte des NT, S. 80, denen ich leider uneingeschränkt zustim-
men muß.
81 Appel, Kanon und Kirche, S. 330. " Ebd. S. 555. 11 Ebd. S. 576
'1 Ebd. S. 575. ts Ebd. S. 361 f.
382 Kritische Analyse

Christi erfordert" und so mehr "als einen bloß menschlichen Glau-


ben" bewirkt95 , nämlidl den absoluten Gehorsam gegenüber dem im
authentischen kirchlidlen Bekenntnis konkret begegnenden testimo-
nium Spiritus Sancti96 • Entscheidender Inhalt der kirchlidlen Glau-
bensgewißheit wird dann "die besondere Führung des Heiligen Gei-
stes" sein97 und damit die successio apostolica98 , mit welcher die Ur-
kirdle als criterium canonicitatis und regula fidei für die Kirche aller
Zeiten akzeptiert ist91 •
Den Dialog mit solcher Position haben die katholischen Exegeten
zu führen, wenn sie nicht verurteilt sein wollen, dafür nadlträglidl
die biblische Begründung zu liefern und am Detail zu entfalten, was
die Kirche ohnehin bereits weiß. Beides dürfte ein undankbares Ge-
schäft sein, und jedes Ausscheren aus dem festgelegten Kurs muß
nicht bloß mit der Kirche, sondern auch dem hier beansprudlten Hei-
ligen Geist in Konflikt bringen, in einen armseligen menschlidlen
Glauben zurücksinken lassen. Der Protestantismus aber sollte sicl:t
nicht scheuen, dieser Vergötzung der Kirche entschlossen zu wider-
stehen und beim bloß menschlichen Glauben zu bleiben, welches Ri-
siko damit verbunden sein mag. Es ist schon viel gewonnen, wenn
klar wurde, wozu man von Anfang bis Ende schlicht neinzusagen hat,
und der Zug durch die Wüste selbst der Bibelkritik ist angesichts der
Fleischtöpfe Ägyptens unter allen Umständen fortzusetzen, wie viele
dabei auch fallen.

Die radikal-historische Kritik am Neuen Testament hat zum min-


desten das Verdienst, diesem Ruf auch in den letzten Jahren gefolgt
zu sein. Sie hat sich nochmals erheblich radikalisiert, wie die beiden
folgenden Aufsätze beweisen. Die Uneinheitlichkeit und Gegensätz-
lichkeit neutestamentlicher Theologie in allen wesentlichen Themen
wird von H. Braun als so selbstverständlich vorausgesetzt, daß der Be-
weis dafür kaum noch geführt zu werden braucht (S. 223 ff.). Weil
sie bereits im 1. Jahrhundert auftauchen, verfängt auch das Argu-
ment der zeitlichen Nähe zum ursprünglichen Christusgeschehen
nicht mehr, ist der "genuine Ansatz" bereits damals von seiner Nivel-
lierung her ausgelegt worden. Die Forderung eines Kanons im Kanon
ist unabweisbar (S. 227). Sie wird freilich unter die problematische
Devise gestellt, daß jeder, wenngleich auf andere hörend, den eige-
nen Weg zu gehen habe (S. 223), und sie meint jetzt tatsächlich einen
Ausscheidungsprozeß: Es kommt auf jene drei großen Blöcke im
Kanon an, welche durch die Namen Jesus, Paulus, Johannes gekenn-
zeichnet sind. Ihre Einheit liegt "beschlossen in der Art und Weise,
.. Ebd. S. 359. " Ebd. S. 109, 118 f. " Ebd. S. 120. 17 Ebd. S. 109.
18 Ebd. S. 225. " Ebd. S. 225, 227.
Kritische Analyse

wie der Mensd::J. in seiner Lage vor Gott gesehen ist" (S. 228). "Der
radikal geforderte und in Frage gestellte als der im Jesus-Gesd::J.ehen
radikal gehaltene Mensch, und zwar nicht im Sinne einer Idee oder
Lehre, sondern als Ereignis, das ist das neutestamentliche Grund-
phänomen, der Kanon im Kanon, von dem her rechte Kanonizität zu
messen und zu beurteilen ist" (S. 229). Während die urchristlid::J.e
Eschatologie in ihren verschiedenen Gestalten die "Andringlichkeit
der Forderung und die Radikalität der Befreiung" ausdrückt, sind
die Christologie und die Sakramente die "variable Verschlüsselung
für das extra nos, für das transpsychologisd::J.e Woher dieses Befreiungs-
geschehens" (S. 230). Für den Kanon als solchen folgt daraus, daß al-
les an dieser seiner Mitte, dem nur in ihm gegebenen Grundphäno-
men hängt, welches religionsgeschichtlich nicht verrechenbar ist und
von der die Schriften sammelnden Kirche kaum begriffen wurde.
Man respektiert ihn am meisten, wenn man sich für ihn als formale
Größe und für seine Abgrenzung nur relativ interessiert, dafür jedod::J.
leidenschaftlich auf die in seiner Grundtendenz liegende Freiheit
achtet (S. 229-232).
Braun scheint auf den ersten Blick meine Thesen zu variieren und
zuzuspitzen. So habe ich deutlich zu machen, wo unsere Wege sid::J.
trennen und Weichen anders gestellt werden. Exegetisch vermag ich
nid::J.t die drei Grundblöcke, sei es auch nur nach ihrer Grundtendenz,
derart aus dem übrigen Neuen Testament herauszuheben, wie das
bei Braun geschieht. Ihre Verkündigung unterscheidet sie voneinan-
der nach der Sache wie der Sprache, was natürlich nicht bedeutet, daß
sie theologisd::J. nicht Entscheidendes gemeinsam hätten. Doch ist ihre
Variabilität in der Anthropologie nicht geringer als in ihrer sonstigen
Thematik, und das sie untereinander Verbindende findet sich auch
anderswo im Neuen Testament. Was im "Mitte der Schrift" nenne,
läßt sich nicht auf literarisd::J.e Komplexe verengen und in einem Re-
duktionsprozeß gewinnen, obgleich es sich weithin nur andeutungs-
weise ausgesprochen findet, in bestimmten Schriften kaum von Be-
lang ist oder sogar durch ein anderes Zentrum ersetzt wird. Aus spä-
ter noch anzugebenden Gründen habe ich nicht bloß ein relatives In-
teresse am Kanon im ganzen und seiner Abgrenzung, sondern messe
dem selbst dogmatisches Gewicht bei.
Dem entspricht auf der andern Seite, daß "Kanon im Kanon" bei
uns etwas Verschiedenes meint. Der von Braun anvisierte anthropolo-
gische Sachverhalt kann auch von mir nicht übersehen werden. Doch
akzeptiere ich ihn nur als Ergebnis der christlid::J.en Botschaft, nicht
als ihr "Grundphänomen". Erneut sei festgestellt, daß Formeln wie
"Jesusgeschehen" für mich Chiffren sind, die mir als Theologen
nichts sagen, wenngleich ich begreife, daß damit etwas sonst nicht
Kritisdte Analyse

Ableitbares mit dem Nazarener zusammengebracht wird. Gerade der


Theologe hat hier auf Präzision und Definition zu bestehen, weil alle
möglichen Leute alles Mögliche mit diesem Nazarener verbinden,
was nach ihrer Meinung nirgendwo so gefunden werden kann, und
das bereits im Neuen Testament selbst geschieht. Der Versuch Brauns,
das Entscheidende zu sagen, befriedigt mich. nicht, weil das, jeden-
falls in dieser Formulierung und entgegen der ausdrücklichen Versi-
cherung des Kontrahenten, auch anderweitig abzuleiten ist, die Be-
ziehung auf das Jesusgeschehen also letztlich unklar bleibt. Von So-
kratcs würde ich ebenfalls als einem radikal geforderten und in Frage
gestellten wie radikal gehaltenen Menschen sprechen müssen, wenn
ich etwa an Platos Apologie denke. Auch dort geht es nicht bloß um
eine Idee oder Lehre, sondern um ein erstaunliches, durch Leben und
Sterben bewährtes Ereignis, auch dort um eine gehörte Gottesstimme,
die freilich nicht im Jesusgeschehen, sondern in Deiphi laut wurde.
Das Hören einer solchen Gottesstimme mit dem gleichen anthropolo-
gischen Effekt möchte ich mancherlei jüdischen und hellenistischen
Zeugnissen entnehmen. Das besagt nicht, daß es sich bei Jesus nicht
ähnlich verhalten könnte. Seine Unvergleichlichkeit würde damit
aber so wenig dargetan, wie wenn die Urchristenheit ihn als Wun-
dermann oder als Gottessohn bezeichnete. Daß Braun dies mit dem
Jesusgeschchen verbindet, ist nicht ohne Bedeutung, sondern Auswir-
kung des Evangeliums, leider aber theologisch unzureichend.
Die Formulierung gefällt mir auch in anderer Hinsicht nicht. Ist es
bloß ein Versehen, daß die Forderung und die Fragwürdigkeit der
Existenz dem radikalen Gehaltensein vorangestellt werden, ist es eine
Reminiszenz an die Reihenfolge in Luthers Kleinem Katechismus
oder bedeutet es schließlich, daß Jesus selber zutiefst als Verschärfer
der Tora betrachtet wird, der solche Funktion paradoxerweise jedoch
mit dem Zuspruch der Gnade verband, sofern man der Unerbittlich-
keit seiner Forderung und der Fragwürdigkeit des eigenen Seins
innewurde? Unmißverständlich wird im Neuen Testament die Rei-
henfolge umgekehrt, und zwar im Widerspruch zur Botschaft des
Täufers und bestimmter jüdischer Kreise. Schließlich verstehe ich
nicht, was mit dem Hinweis auf das Ereignis gewonnen ist. Es gibt
doch auch fatale Ereignisse und Proklamationen selbst in der Gestalt
christlicher und ihre Hörer faszinierender Predigten, während ande-
rerseits etwa nach den Synoptikern Jesu Lehre durchaus Ereignisse
bewirkte und die apostolische wie kirchliche Lehre sich stets als wirk-
sames Tun verstand. Ereignis ist in weltweitem Sinne und für Millio-
nen persönlich entscheidend schließlich die marxistische Ideologie ge-
nau so geworden wie für andere das Evangelium. Brauns Aversion
gegen die Lehre begreife ich nicht, weil er auf der andern Seite auch
Kritisdle Analyse

nicht den liberalen Enthusiasmus des Herzensglaubens akzeptiert


(S. 222). Auf der Hand liegt, daß systematische Erwägungen ihn
treiben, wenn er sein Kriterium bestimmt oder die drei Blöcke aus
dem Neuen Testament aussondert. Nicht weniger äußert sich dabei
persönliche religiöse Erfahrung, und zwar ausschlaggebend.
Faßt man all diese Einwände aufs schärfste zusammen, ist zu fra-
gen, wo und wie Braun sich von christlicher Mystik abgrenzt. Die Ter-
minologie vom radikalen Leben unter der Forderung, in der Frag-
würdigkeit, aus dem Gehaltensein dürfte sich unschwer bei Meister
Eckehart wiederfinden lassen, ebenso die Defmition Gottes als des
Woher und Wozu der Existenz, die implizite Christologie gegenüber
der expliziten Anthropologie, die Unschärfe der dogmatischen Aus-
sage, das Desinteresse an der nicht existentiell vernommenen Schrift
und die Kritik an der Gemeindefrömmigkeit und herkömmlichen
systematischen Lehre aus der persönlichen religiösen Erfahrung her-
aus. Hier hat jeder tatsächlich seinen eigenen Weg zu gehen, und
modern führt das über die radikale historische Kritik, in welcher sich
alles bis auf die Botschaft von der "gehaltenen Existenz" für den Ex-
tremisten aufgelöst hat.

Ein anderes Extrem vertritt W. Marxsen. Auch er spricht in einer


für die Zeit nach der Aufklärung typischen Weise aus der Erfahrung
des Einzelnen, der nun allerdings in der Gestalt des exegetischen Spe-
zialisten gesehen werden will und muß. Er selber hat diesen Aspekt
in dem Aufsatz "Der Exeget als Theologe" 100, der dem Sammel-
band101 seinen Titel gab, nachdrücklich herausgestellt. Als Theologe
kann und darf der Exeget "nicht die Dogmatik in seine exegetische
Arbeit hineinnehmen; er kann und darf das gerade um des Dogmati-
kerswillen nicht. Dieser muß ja alles Interesse daran haben, eine un-
dogmatische Exegese vorzufmden. Er kann die Normativität der
Schrift ja nur dann aus der Schrift erheben, wenn sie nicht schon
Voraussetzung der Exegese war", und beschäftigt sich mit der Ver-
bindlichkeit der Vergangenheit, nachdem der Ubersetzungsprozeß
geleistet worden ist102 . Solche Prämisse hat weitreichende Konsequen-
zen. Sie läßt den Exegeten einerseits gegen das Postulat des Kanons
im Kanon als Leitbild der Interpretation protestieren, andererseits
von den Ergebnissen seiner Arbeit her fragen, ob es eine Lehre von
der Schrift im traditionellen Sinne als einer dauernd gültigen Norm
101 Zuent endrienen in: Wort und Dienst. Jahrbuch der Theologisdlen Schule
Bethel, 1959, S. 147-158.
111 W. Mansen, Der Exeget als Theologe. Vorträge zum Neuen Testament,
1968. Dort S. 104-114.
•• Ebd. S. 106.

2S Kilc:mann, Kanon
KritischeAnalyse

außerhalb des römischen Katholizismus überhaupt nodt geben kann.


Marxsen bestreitet das und stellt dem gleich die eigene Position ent-
gegen: Man darf das Neue Testament nidtt überspringen. Verlegt
man jedoch die Norm in die Schrift, statt sie bei Jesus zu suchen, hat
man den Ort der Offenbarung in die neutestamentlich beginnende
Dogmengeschichte verlegt103.
Diese Äußerungen sind so gewichtig, daß man sie der Analyse des
abgedruckten Aufsatzes voranschicken muß. Von ihnen her ergibt
sich, wie der Exeget das Problem des Kanons einzig zu sehen und für
sich zu lösen vermag. Eingesetzt wird bei einer harten Alternative:
Wurde das Urteil über die Kanonizität von außen an die neutesta-
mentlichen Schriften herangetragen, nidtt in ihnen schon angelegt,
so ist es auch nicht an ihnen kontrollierbar, hat der Exeget zum The-
ma nichts mehr zu sagen, verführt es ihn nur zu unsachgemäßen Vor-
urteilen. Im andern Falle wird er beim Vollzug seiner Arbeit darauf
stoßen, ohne sich viel darum zu kümmern, wer Kanonizität endgültig
ausgesprochen hat. Dann wird er, das gängige Vorverständnis aufs
Spiel setzend, seinen Anteil zur eindeutigen Bestimmung des Begrü-
fes beizutragen haben. Er tut es schon, indem er defmiert, daß es bei
Kanonizität um das Problem der Übertragbarkeit von Autorität geht
(S. 236). Er stellt weiter fest, daß bei vielen Schriften dieses Problem
überhaupt noch nicht in den Blick kommt, weil es sich in ihnen nur
um vergangene Situationen ehemaliger Gemeinden handelt. Erst am
Rande des Kanons meldet sich, je weiter der Empfängerkreis wird,
die Frage als brennend (S. 236 f.). Die dritte bedeutsame Aussage be-
hauptet, daß dem vorgegebenen Text nicht als soldtem dauernde und
normative Autorität zugekommen ist, sondern nur sofern er der Ver-
kündigung diente. Mansen nennt das potentielle Kanonizität
(S. 238 f.).
Die urchristliche Entwicklung wird nun unter das Leitmotiv der
"Beziehungsbögen" gestellt, die von dem Ältesten als dem nicht wei-
ter Reduzierbaren ausgehen und immer größere Entfernungen im
chronologischen und sachlichen Sinne überspannen. Unaufgebbare
und unwandelbare Norm, also der eigentliche Kanon, ist allein der
Herr, weil von ihm alle Beziehungsbögen ihren Anfang nehmen und
auf ihn zurückweisen. Doch will dialektisch beachtet werden, daß die-
ser Herr faktisch immer nur in einem Beziehungsbogen begegnet,
obgleich er damit nicht identisch ist. Anders ausgedrückt: Mit den
Beziehungsbögen tritt die Offenbarung in den Bereich des Kontrol-
lierbaren, obwohl nicht sie selbst, sondern allein die Gestalt ihrer je-
weiligen Verkündigung kontrollierbar und durch ihre Wirkung aus-
weisbar ist. Marxsen liegt daran, daß alle christliche Rückbesinnung
IN Ebd. s. 107 f., 110.
Kritisd:J.e Analyse 387

bei Jesus beginnt und endet, umgekehrt aber Jesus einzig durch die
gemeindliche Verkündigung zugänglich wird und daß deshalb der
ältesten, nicht mehr reduzierbaren, auch apostolisch genannten Ver-
kündigung eine unvergleichliche Bedeutung zukommt: Von ihr span-
nen sich alle weiteren Beziehungsbögen aus und müssen an ihr ge-
messen werden. Daß es durch sie zur Bildung der Urgemeinde kam,
ist ihre einzige Legitimation, und zwar nach dem Verständnis dieser
Gemeinde selbst (S. 242 f.).
Die größte Schwierigkeit entsteht bei der Weitergabe der ersten
Verkündigung, sofern diese nicht nur in einen stets wachsenden Kreis,
sondern auch in eine neue Gegenwart hinein erfolgen muß, darum
nicht einfach Wiederholung sein darf. Sachgemäß ist ein Beziehungs--
bogen nicht schon um seiner Treue zum Ursprung willen, sondern
erst, wenn er die überkommene Sache in einer der neuen Situation
gemäßen Weise ausdrückt oder, falls sie verändert wurde, entspre-
chend zurechtrückt. Nicht Identität, sondern Korrespondenz ist also
das entscheidende Kriterium. Damit wird nicht bloß die Variabilität
des Kerygma begründet, sondern auch seine unvermeidliche Gegen-
sätzlichkeit in verschiedenen Zeiten. Was einmal rechte Verkündi-
gung war, kann in einer andern Situation zur "massiven Irrlehre"
werden (S. 246). So ist- gegen Dieml- das Neue Testament nicht
einfach Predigttext oder eine Summe solcher Texte, sondern Samm-
lung früher Predigten, meine Verkündigung demgemäß nicht Pre-
digt "über einen Text, sondern mit einer Predigt" (ebd.). Grundsätz-
lich braucht das nicht an das Neue Testament als solches gebunden
zu sein. Wichtig ist vielmehr die Sachentsprechung der Predigtgrund-
lage wie der daraufhin erfolgenden Weitergabe. Auf diese Sachkon-
trolle darf freilich nicht verzichtet werden. Deshalb muß immer wie-
der auf die apostolische Erstverkündigung zurückgegriffen werden,
für welche das Neue Testament nach Umfang wie Abgrenzung sich
als recht brauchbare Dokumentation erweist, selbst wenn man sie
nicht mit absoluter Exaktheit aus ihm herausarbeiten kann. Darüber
hinaus wird hier ein Paradigma geboten, an dem das Mögliche wie
Unmögliche ebenso wie die Notwendigkeit eines stets kritischen Ver-
haltens gelernt werden sollte (S. 245 f.). Denn es darf nicht vergessen
werden, daß die Schriften als solche nicht für uns kanonisch sein wol-
len, sondern Verbindlichkeit allein für die ehemaligen Leser bean-
spruchten10'. Theologisch läßt sich die Grenze der in der Kirche gülti-
gen Schriften nicht durch eine Liste festlegen. Das ist ausschließlich
eine Frage der Zweckmäßigkeit, solange die grundlegende Sache ge-
wahrt und angemessen weitergetragen wird. Den Vorwurf, daß da-
mit der Kanon aufgelöst würde, weist Marxsen zurück: Das könne
IN Der Exeget als Theologe S. 114.

2S•
Kritische Analyse

man nicht. Wir hätten den Kanon nicht zu retten, sondern zu begrün-
den, und möglich sei nur, daß wir das nicht ausreichend getan hätten
(S. 244).
An Klarheit und innerer Folgerichtigkeit läßt auch dieser Entwurf
nichts zu wünschen übrig, Radikalität und unkonventionelle Argu-
mentation zwingen zu eigener Besinnung. In einer Kirche, welche
ihre Amtsträger oft genug Hans Dampf in allen Gassen werden läßt,
sollte man die Stimme des Spezialisten aufmerksam hören, der seine
Kompetenz in keiner Weise überschreiten möchte. Dieser Spezialist ist
freilich ein sonderbarer Asket, sofern er seine Arbeit scharf von aller
Dogmatik trennt, zugleich aber sich unentwegt und mit Leidenschaft
kirchlich engagiert und den Dialog mit den Dogmatikern sucht, seine
Existenz also der Theorie seiner spezifischen Tätigkeit zu widerspre-
chen scheint. Auf der Hand liegt, daß er damit kein donum super-
additum zu geben gedenkt. Offensichtlich liegt ihm daran darzutun,
daß Kirche und Theologie um ihrer selbst willen auf den Historiker
nicht verzichten dürfen. Man wird jedoch fragen müssen, ob er den
Bogen nicht überspannt, mehr noch, ob er sich nicht einer Selbsttäu-
schung hingibt und gerade mit der Methodik und den Ergebnissen
seiner Arbeit beweist, daß es keine undogmatische Exegese gibt. Er
demonstriert, daß ihn kein heilsgeschichtliches Schema, keine konfes-
sionelle Systematik in seinem Tun leiten. Dogmatisch kann man aber
sogar als Profanhistoriker werden, wenn man sich dem Historismus
verschreibt, und genau das dürfte bei Marxsen der Fall sein.
Merkwürdig historistisch sind seine Terminologie und seine Aspek-
te. Es ist kaum zu übersehen, daß von den beschriebenen Vorgängen
absichtlich recht neutral und formal gesprochen wird und dem die
Darstellung im ganzen entspricht. Weder vom Evangelium noch vom
Geist braucht die Rede zu sein, und infolgedessen entfällt auch die
Problematik von Glaube und Aberglaube in ihrer Koexistenz, an de-
ren Stelle die der verschiedenen, sachgemäßen oder unsachgemäßen
"Beziehungsbögen" tritt. Vom "Kyrios" wie dem apostolischen Zeug-
nis werden charakteristische Merkmale nicht angegeben, obgleich
ausdrücklich zugestanden wird, daß beides nicht mit voller Klarheit
aus den Texten entnehmbar sei. Ist Jesus die einzige unwandelbare
Norm, muß präzis gesagt werden, in welcher Hinsicht das gilt. In der
Kirche sind sowohl über den Nazarener wie den erhöhten Herrn seit
je die unterschiedlichsten Ansichten umgelaufen. Welche teilt Man-
sen, welche nicht? Läßt sich das jedoch nur der apostolischen Erstver-
kündigung entnehmen, ist erneut zum mindesten klarzumachen,
worin diese Verkündigung ihre Stoßrichtung und ihre Kennzeichen
hatte, zumal wenn alle spätere Verkündigung sich gefallen lassen
muß, darauf zurückbezogen zu werden. Gehört Paulus in diese Erst-
Kritische Analyse 389

verkündigung hinein, ist erheblicher Grund vorhanden anzunehmen,


daß sein Verständnis des Herrn und seine Botschaft sich wesentlich
von dem abhob, was Petrus erkannt hatte und verkündigte. Tut er es
nicht, ist er doch der älteste identifizierbare Zeuge. Hat die Oberlie-
ferung etwa der Logienquelle oder des ältesten synoptischen Gutes
über den irdischen Jesus den Vorrang vor ihm, dem ältesten identifi-
zierbaren Zeugen, weil er vom irdischen Jesus außer dem Sachverhalt
der Kreuzigung fast nichts zu berichten weiß? Was soll in diesem Zu-
sammenhang schließlich die Formel von dem "Nicht-reduzierbaren"
bedeuten? Der Liberalismus hat nicht nur Paulus zum ersten Dogma-
tiker der Kirche gemacht und die Verkündigung auf die Botschaft vom
irdischen Jesus reduziert, er hat auch aus den Evangelien ein Trüm-
merfeld von Traditionen werden lassen, aus dem wenig mehr für Je-
sus selbst gerettet werden konnte als die Predigt von Gottes Liebe. Ist
das mit dem nicht weiter Reduzierbaren gemeint oder was gehört
sonst noch dazu? Zu bedenken ist ebenso, daß schon die ältesten Zeu-
gen unter dem Einfluß der Osterereignisse Jesu Wort und Tat etwa
apokalyptisch interpretiert, vielleicht sogar mißverstanden haben.
Soll, kann, darf alles Spätere darauf zurückbezogen werden? Marx-
sen schweigt zu diesen Fragen. Wie kann man jedoch sachgemäß vom
Kanon sprechen, wenn man einerseits das Gewicht des Ursprungs so
stark betont, andererseits das Wesen dieses Ursprungs auf die beiden
Chiffren Kyrios und nicht weiter reduzierbare apostolische Verkündi-
gung bringt, unter denen man sich alles oder nichts vorstellen kann?
Hier wirdtrotzvernommenem Protest gegen solche Feststellung der
kirchliche Kanon tatsächlich nicht nur aufgelöst, sondern auch nicht
ausreichend begründet. Sehemalismen und Strukturen abstrahieren
von der Wirklichkeit, mit welcher der Historiker es doch zu tun hat,
wie denn ebenso die Rede von den Beziehungsbögen zwar die ge-
samte Kirchengeschichte, einschließlich aller Häresien und weltan-
schaulichen Auswirkungen, zu umspannen vermag, über die Eigen-
art des Christlichen, des Neutestamentlichen, des Evangelischen nichts
aussagt. Eine Funktionsreihe wird vorgeführt, die von der Sache
selbst nichts erkennen läßt.
Marxsen hat seine Betrachtungsweise verteidigt, indem er "inner-
kanonische Kritik" ausdrücklich ablehnte, weil sie vom Wunsch nach
einem System oder einer Harmonisierung geleitet sein müsse und be-
reits von einem dem Exegeten vorgegebenen Begriff des Kanon aus-
gehe. Er läßt stattdessen nur "vor-kanonische Kritik" in der Rückfrage
nach Norm und Ursprung gelten 105 • Wie gelangt man jedoch zu die-
ser, wenn die Sache immer nur in den Beziehungsbögen vorliegt, die
sich bereits im Neuen Testament überschneiden? Sie macht eine "in-
101 Der Exeget als Theologe S. 111.
390 Kritische Analyse

Derkanonische Kritik" unerläßlich. Wird der Charakter von Kanoni-


zität durch Übertragung von Autorität bestimmt, scheint eine exakte
Definition gegeben zu werden. Doch trügt auch das, weil wieder be-
stenfalls eine Funktion an die Stelle der Sache tritt. Der Prozeß, in
welchem Autorität übertragen wird, spielt sich überall im Leben ab.
Weiß man über das Problem des Biblischen nicht mehr zu sagen,
kommt es schlechterdings nicht zur Einsicht in dessen Eigenart. So
wird auch in Apokryphen oder in der Vorliebe, welche die Gnostiker
für Paulus und Johannes zeigten, dieser Prozeß sichtbar. Es muß doch
klargestellt werden, um welche Autorität es sich handelt, ohne daß
man sirh. dafür auf Chiffren zurückzieht. Daß vieles im Neuen Te-
stament bloß vergangene Situationen betrifft und die Schriften im
ganzen Verbindlichkeit für ehemalige Leser beanspruchten, ist rich-
tig. Gleichwohl hat srh.on die frühe Gemeinde diese Traditionen be-
wahrt, gesammelt und weitergereicht, weil sie darin paradigmatisch
Anweisung für Gegenwart und Zukunft, also kanonische Autorität
erblickte. Besagt das nur etwas für die betreffenden Gemeinden, nicht
für die Sache selbst, die von vornherein nicht auf Situationen be-
schränkt werden will und darf? Müßte man von da aus Kanonizität
nicht eher als Weitergabe einer letzten, für alle Zeit verbindlichen
Wahrheit statt als Ubertragung von Autorität definieren? Es wird
doch, gewiß in einer bestimmten Situation und gegenüber einer kon-
kreten Gegenwart und vielleicht auch einer nächsten Generation, ein
eschatologischer Anspruch erhoben, das "ewige Evangelium" nach
Apk 14,6 verkündigt. Wie kann man davon absehen, als ginge es nur
um Parolen für den Augenblick? Wie läßt sich, selbst wenn die Varia-
bilität und teilweise Gegensätzlichkeit der Verkündigung beachtet
wird, behaupten, rechte Predigt zu einer Zeit könnte in der andem
"massive Irrlehre" werden? Damit ist doch alles in den Bereich histo-
rischer Kontingenz und Willkür gesd:10ben und relativiert.
Es erscheint als Salto mortale, wenn Marxsen sich solmen Einwän-
den gegenüber in die Feststellung rettet, das Neue Testament sei eine
Sammlung früher Predigten. Das ist nur zu halten, wenn man den
Begriff "Predigt" ungewöhnlich ausweitet, indem man erbaulime
Erzählungen, die Einführung von Gemeindeordnungen, die Tradi-
tion paränetischen Spruchgutes, dogmatisme Meditationen unter die-
sen Titel stellt. Will man das akzeptieren, hängt man beim nächsten
Schritt wieder fest, daß nämlich alles Spätere Predigt mit einer Pre-
digt statt über einen Text sei. Wie läßt sich solche Alternative halten,
wenn schon Jesu Verkündigung im Anschluß an alttestamentliche
Texte, sei es selbst antithetisch, erfolgte, wenn zweifellos Paulus ne-
ben Jesusworten urchristliche Hymnen als Texte zitiert, die Deutero-
paulinen Oberlieferung ihres Meisters interpretieren, die pseudony-
KritischeAnalyse 391

men Schriften sich von vomherein in den Schatten apostolischer Au-


thenie stellen? Oberall wird dabei Tradition zum mindesten auch als
vorgegebener Text benutzt. Überallliegt dabei die Absicht vor, nicht
bloß Korrespondenz, sondern Identität zu wahren. Der Historiker
mag dartun, daß diese Absicht sich nicht realisieren ließ. Darf er von
ihr deshalb abstrahieren? Denn sie zeigt aufs neue, daß die Frage nach
der Wahrheit nimt der nachder Autorität untergeordnetwerden darf,
sondern über diese letzte entsmeiden läßt. Vom Neuen Testament wie
der Erstverkündigung wird eben nicht bloß "potentielle", sondern
"normative Autorität" beansprumt, wenngleich der Historiker ange-
sichtsseiner Detailkenntnisse das nicht mehr zu rechtfertigen vermag.
Der Exeget läßt sich vom Historiker überspielen, wenn er dessen Fest-
stellungen den Texten aufzwingt und deren Ansprüche durch die ei-
genen Einsichten ersetzt, die Sache sich einzig durch ihre Auswirkun-
gen legitimieren läßt und aus dem Neuen Testament nicht mehr ver-
nimmt, daß diese Auswirkungen sowohl Glaube wie Verstockungund
Aberglaube sein können. Mit gewissem Recht läßt sich tatsächlich be-
haupten, daß in den Beziehungsbögen jeweiliger Verkündigung die
Offenbarung in den Bereim des Kontrollierbaren rückt. Darf man je-
doch verschweigen, daß grundsätzlicher Kontrollierbarkeit faktisch
weitgehende Nichtkontrollierbarkeit gegenübersteht und der Exeget
jedenfalls seine vornehmste Aufgabe nicht in der Kontrolle der Vor-
gänge, sondern in der Interpretation seiner Texte und im Vergleich
der verschiedenen Texte zu erblicken hat? Dann wird er jedoch in die
Sache selbst mithineingezogen und kann sich nicht mit bloßen Be-
schreibungen begnügen.
Zum mindesten im vorliegenden Aufsatz bekundet sich nicht der
Exeget als Theologe, sondern der Historiker als Systematiker und
Apogolet einer bestimmten Methodik. Die Vorgegebenheiten ver-
wickeln ihn nicht in einen Dialog mit der Sache, die alle Beziehungs-
bögen aus sich heraussetzt, sondern in eine kritische und konstruktive
Analyse geschichtlicher Vorgänge, welche dadurch ausgelöst wurden.
Dabei interessieren fast ausschließlich Strukturen, als ginge ein Che-
miker oder Mathematiker ans Werk. Wenn urchristliche Oberliefe-
rung durch das Stichwort "Predigt" gekennzeichnet wird, genügt
solche Finnierung. Zur Begegnung mit dem sich darin bekundenden
Wort kommt es nicht. Aum diese Predigten sind geschichtliche Ob-
jekte, die man nicht auf ihre Sachbezogenheit, sondern auf ihre
Strukturzusammenhänge ins Auge faßt. Wenn man schließlich dem
praktischen Theologen erlaubt, mit diesen Predigten seinerseits zu
arbeiten, überläßt man ihn der Qual der Auswahl und der unver-
meidlichen Willkür entscheiden zu müssen, was sachgemäß oder nicht
sei, wobei ihm der Exeget außer mit unpräzisen Formeln nicht zur
392 KritischeAnalyse

Hilie gekommen ist. Auf diese Weise wird die Einsicht in den Kanon
von der historischen Rückfrage nach dem Ursprünglichen und dem
Verständnis der jeweiligen Situation abhängig gemacht, die jeder
anders und keiner mit letzter Sicherheit oder auch nur hinreichender
Genauigkeit zu überblicken vermag. Die Exegese ist undogmatisch
in ihren Sachaussagen geblieben und hat dort nur Deskriptionen ge-
liefert. Sie ist jedoch höchst dogmatisch, sofern sie undogmatisch blei-
ben will, liefert sich nämlich einem Historismus und dem wirklichen
oder vermeintlichen Zwang seiner Methodik aus. Sie mag sich am De-
tail, ihren Konstruktionen und kontrollierbaren Beziehungsbögen er-
götzen. Ihr Selbstverständnis wird durch ihre Ergebnisse ad absur-
dum geführt: Der Exeget kann der Dogmatik um der ihm anvertrau-
ten Sachewillen nicht aus dem Wege gehen, ohne in Sehemalismen
zu verfallen, und er kann auf diese Weise ganz gewiß nicht zum Pro-
blem des Kanons Stellung nehmen, weil es sich dabei primär um eine
Frage der Sache und Wahrheit und allenfalls abgeleitet um eine
solche der Autorität und der Strukturen handelt. Eine Sammlung von
Predigten aus verschiedenen Generationen mag zu weiterem Ge-
brauch benutzt und abgewandelt werden, wie Prediger das tatsächlidl
immer wieder getan haben und tun werden. Man mag aus ihr ent-
nehmen, was möglich ist, und besonders, was man nicht tun darf.
Kanon läßt sich das ernsthaft nicht nennen, selbst wenn Einzelne,
Gruppen, Konfessionen oder gar die Ökumene davon sprechen. Der
Historiker, der seine Kompetenz nicht überschreitet, wird vom Para-
digma reden.
Die radikale Kritik ist in eine eigenartige Verlegenheit geraten.
Seit der Reformation haben dogmatische Grundeinsichten oder Sy-
steme sie in ihren Dienst genommen oder zum Widerspruch heraus-
gefordert, wobei seit der Aufklärung eine bestimmte Weltanschau-
ung oder ein spekulatives System die überkommene theologische Dog-
matik aushöhlen konnten. Der Positivismus des vorigen Jahrhun-
derts, dem auf kirchlichem Felde der Biblizismus entsprach, machte
deutlich, daß historische Arbeit sich der Führung durch jegliche Dog-
matik zu entziehen begann und sich nur bestimmten Methoden ver-
pflichtet fühlte. Die dialektische Theologie begehrte dagegen noch-
mals auf, endete jedoch mit dem Zerfall zwischen Dogmatik und Exe-
gese. Die historische Arbeit am Neuen Testament ist heute fast über-
all praktisch ohne systematische Führung und ohne dogmatischen
Gesprächspartner sich selbst überlassen. Dabei zeigt sich, daß ihre
Stärke im Widerspruch und in der Korrektur bestand. Ohne Kontra-
henten wird sie steril. Sie muß nun entweder positivistisch vom De-
tail, spekulativ von Einfällen leben oder durchaus unhistarisch die
Problemgeschichte der Auslegung überspringen und von einer be-
Kritisme Analyse 393
stimmten Methodik oder in der Auseinandersetzung mit philosophi-
schen oder weltanschaulichen Strömungen ihr eigenes System entwer-
fen. Das bedeutet, daß sie theologisch letztlich ratlos ist. Solche Krisen
gehören zum Leben und müssen ausgehalten werden. Man darf sie
aber nicht verschleiern. Wenn niemand sonst, hätte die Dogmatik die
Exegese zur Sache zurückzurufen.
Daß Systematik stattdessen, natürlich unter dem Mantel noch radi-
kalerer Postulate, die Auflösung fördern kann, beweist der Aufsatz
von W. Pannenberg: Die Krise des Schriftprinzips108, der als Pendant
zu Marxsens Vortrag, freilich mit anderer Schlußanwendung, er-
scheint. Er beginnt mit der Feststellung: "Die Auflösung der Lehre
von der Schrift bildet die Grundlagenkrise der modernen evangeli-
sdten Theologie. " 107 Sie wird als nidtt rückgängig zu mamen aner-
kannt, weil der Abstand zwischen Text und Gegenwart zu groß ge-
worden ist und die von Luther gemeinte Sache der Schrift, nämlich
Person und Geschichte Jesu, für unser historisdtes Bewußtsein nicht
mehr in den Texten selbst zu fmden ist, sondern aus dem, was hinter
ihnen liegt, erschlossen werden muß 108• Für uns ist Jesus auf sehr ver-
schiedene, nicht auszugleichende Weise bezeugt109, und keine Theo-
logie kann mehr im naiven Sinne biblisch sein, weil sie sonst ihre ei-
gene Gegenwartsproblematik verfehlen würde. "Einer sachlichen
Ubereinstimmung mit den biblischen Zeugen kommt die Theologie
vielleicht gerade dann am nächsten, wenn sie ganz auf die Fragen
ihrer eigenen Zeit eingeht, um darin das auszusagen, was die bibli-
schen Schriftsteller in der Sprache und Gedankenwelt ihrer Zeit be-
zeugt haben. " 110 Eine Revision der spezifisch protestantischen Tradi-
tion hat auf eine umfassende Theologie der Geschichte ausgerichtet
zu sein 111 • Denn es mündet "die Problemgeschichte des Schriftprin-
zips in die Frage nach der Universalgeschichte" 112 • Solchen theologi-
schen Astronauten ist Glück zu wünschen. Solange sie selbst ihr Un-
ternehmen unter ein "Vielleicht" stellen und uns statt des Evange-
liums nur ein Projekt vorlegen, wird man sich aber besser ihnen nicht
anvertrauen.

C. H. Ratschow stand vor einer schweren Aufgabe, als er Marxsen


zu antworten hatte. Was ist dabei herausgekommen? Erstaunlicher-
weise wird dem Gesprächspartner weitgehend zugestimmt, wobei
freilich zu beachten ist, daß der Systematiker sich von vomherein auf
den kirchlich abgeschlossenen Kanon beschränkt. Dieser Kanon kann
101 Verfaßt 1962, veröffentlimt in: W. Pannenberg, Grundfragen systematismer
Theologie. Ges. Aufsätze, 1967, S. 11-21.
117 Ebd. S. 13. 1• Ebd. S. 15. 101 Ebd. S. 16.
uo Ebd. s. 17. Ul Ebd. s. 20. Ul Ebd. s. 21.
Kritisd:teAnalyse

nicht aus exegetischen Erwägungen erklärt werden, und zu ihm


führte keine systematisch-theologische Einsicht oder Notwendigkeit.
Seine Entstehung ist der kirchlichen Praxis zu verdanken, liegt also
für die Systematik wie für die Exegese jenseits ihrer methodischen
Ansätze und Folgerungen (S.248). Legt man das Gewicht auf seine
Autorität, wird man wohl auf die viva vox rekurrieren müssen, die
ihr Spezifikum in der Bezogenheit auf Jesus hat. Tatsächlich können
wir auf die zeugnisweise Oberlieferung über das Heilsereignis in Je-
sus als ein raum-zeitliches Geschehen nicht verzichten und werden
insofern den Kanon notwendig nennen. Der Einmaligkeit und Un-
wiederholbarkeit dieses Ereignisses entspricht die Abgeschlossenheit
des Kanons (S. 252 f.). Kontingenz in Raum und Zeit verbindet bei-
des (S. 254). Das bedeutet jedoch, daß wir diese Kontingenz stehen
lassen und sie nicht durch erweisbare Autorität in Wirklichkeit um
ihren Charakter bringen. Deshalb ist zu fragen, ob die Reduktion der
kanonischen Autorität auf die Autorität des Wortes Gottes nicht ein
Kurzschluß ist, und festzustellen, daß die Suche nach einem Kanon
im Kanon, also den inneren Gründen der Einheit, auf der ganzen
Linie negativ verlief (S. 252, 253 f.). Der Kanon fixiert die Kontin-
genz der ersten Zeugenberichte, welche durch die experientia ecclesiae
in gottesdienstlicher Erfahrung ihre besondere Würde gewinnen
(S. 255 f.).
Kurz, es handelt sich um eine Dokumentation, die aus kirchlichen
Notwendigkeiten erwuchs und ihnen weiter dient. Der Exeget, dem
ihre Abgrenzung als Vorurteil erscheinen muß, behandelt sie wie jede
andere. Der Dogmatiker hat wie der Ethiker dagegen seine Lehre an
ihr als kirchlich auszuweisen (S. 256 f.). Man wird nicht behaupten,
daß diese Ausführungen sonderlich weiterführten. Im Grunde spricht
hier ein am Faktischen orientierter und es anerkennender Historiker.
Der Kanon ist ein Buch der Kirche, wenngleich von besonderer Bedeu-
tung, weil er an das einmalige und unwiederholbare Geschehen um
J esus und die U rchristenheit, also die Anfänge, erinnert. Na türlimläßt
sim das nicht bestreiten. Doch bleibt es reichlich dürftig, eine Basis, auf
der man sich mit jedermann treffen kann. Fragt man, wie es dazu
kommt, liegt auf der Hand, daß das mit jener seit der Aufklärung im
Protestantismus herrschenden Betrachtungsweise zusammenhängt,
welche die Geschichte ersetzen läßt, was vordem einmal als Wort Got-
tes oder Evangelium anvisiert wurde. Das ergibt notwendig die pro-
testantisch-rationalistische Variante der katholisdten Auffassungüber
die Bedeutung der Tradition. Das Sola Scriptura hat folgerichtig sei-
nen dogmatischen Sinn verloren. Es rechtfertigt einzig den kirchli-
chen Gebrauch. Theologisches Gewicht behält bloß die Kategorie der
"Kontingenz". Doch ist auch sie recht problematisch, wenn sie sowohl
Kritische Analyse 395

auf die Einmaligkeit der Offenbarung wie auf die Abgrenzung des
Kanons angewandt wird. Denn Einmaligkeit besagt im Neuen Testa-
ment das eschatologische "ein für alle Male", während es hier offen·
sichtlich historisch ein in Raum und Zeit begegnendes, nicht restlos
zu erklärendes oder überhaupt nicht zu begründendes Geschehen be-
zeichnet. Daß Geschichte nicht wiederholbar ist, leuchtet ein. Ganz so
einfach liegt es nad:t dem Neuen Testament aber nicht, weil Offen-
barung dort eben nicht, wie man es beim Kanon tun muß, als abge-
schlossen betrachtet wird. Das Stichwort "Kontingenz" wird also un-
reflektiert gebraucht und verdunkelt mehr, als es erhellt.
Immerhin konnte W. Marxsen von hier aus nochmals in dem Auf-
satz "Kontingenz der Offenbarung oder (und?) Kontingenz des Ka-
nons"113 nachstoßen. Der Exeget zeigt sich dabei interessanterweise
am dogmatischen Problem des Kanons stärker orientiert als der Syste-
matiker und betont deshalb entschieden, seinerseits keineswegs die
auctoritas canonica aufgeben zu wollen114 • Mit Recht wehrt er sich
dagegen, daß man einfad:t die faktische Vorgegebenheit des Kanons
hinnimmt, die Kontingenz der Offenbarung mit derjenigen der kirch-
lichen Entscheidung zu verbinden und die experientia ecclesiae zum
eigentlichen Kriterium zu machen sucht115 • So korrigiert er nun seine
früheren Bemerkungen, indem er die Frage nach einem Kanon im
Kanon für nicht so abwegig erklärt. Denn er will von einer Verlänge-
rung der Offenbarung nichts wissen. Ihm geht es um die viva vox Dei,
auf welche durch alle kird:tliche Tradition hindurch zurückgefragt
werden muß 118 und die ihren Niederschlag und Ort in der apostoli-
schen Erstverkündigung gefunden hat117 • Damit ist zum früheren
Aufsatz zurückgelenkt. Doch wird in der Auseinandersetzung schär-
fer, als vorher erkennbar war, der Akzent auf das Gegenüber des
Wortes Gottes zur kirchlichen Tradition gelegt, eine bloß historische
Betrachtungsweise also durchbrochen.
Ebenso deutlich wie dieses Anliegen ist freilich, daß die weiterhin
benutzten Kategorien und die ihnen zugrundeliegende Anschauungs-
weise solches Anliegen nicht angemessen herauszustellen vermögen.
Auf die Problematik der Rede von "apostolischer Erstverkündigung"
wird erneut nicht eingegangen. Was "Handeln Gottes in Jesus von
Nazareth" besagt, ist nicht geklärt. Stattdessen kann festgestellt wer-
den, der Kanon sei nichts anderes "als die Ur-Äußerung der Kirche",
die also vor dem Kanon existiert118, und von da aus findet sogar
Lengsfeld Zustimmung119• Vielleicht zeigt sich die Aphorie, in wel-
111 Zuerst in: NZsystTh 2 (1960), S. 355-364, zitiert nadJ. Mar.rsen, Der Exeget

als Theologe, 1968, S. 129-138.


s.
114 Ebd. 129 f. 11' Ebd.s. 131, 133. s.
111 Ebd. 137.
117 Ebd. S. 135 f. 118 Ebd. S. 136. 111 Ebd. S. 136 f.
Kritische Analyse

eher Marxsen steckt, nirgends deutlicher, als wenn er von der viva
vox Dei statt der viva vox evangelii spricht. Weil damit die früheste
Predigt anvisiert wird, diese Predigt aber an die ältesten Zeugen ge-
bunden bleibt und insofern kirchliche Äußerung ist, kann man sie
zwar von späteren kirchlichen Verlautbarungen distanzieren oder
durch Beziehungsbögen mit ihnen zusammenbringen, kommt man
jedoch aus dem Historismus nicht heraus. Im Gegenteil, man gestat-
tet ihm nun sogar, die viva vox evangelii, die doch zu allen Zeiten,
und zwar nicht bloß abgeleitet, ertönen soll, auf einen bestimmten
Zeitraum einzuschränken. Das Handeln Gottes in Jesus von Naza-
reth ist ebenso chronologisch fixiert wie die Erstverkündigung. Das
Evangelium hat seine ausgrenzbare Zeit. Der Kanon gilt darum als
abgeschlossen. Die späteren Geschlechter vernehmen nicht das eigent-
liche Evangelium, sondern so etwas wie den Widerhall der himmli-
schen Gottesstimme, von welchem das Judentum sprechen konnte.
Der Kritiker, der dem verzweifelten Bemühen zusieht, den Sach-
zwang historistischer Betrachtungsweise zu durchstoßen und die Au-
torität des Wortes Gottes gegenüber kirchlicher Überlieferung im all-
gemeinen geltend zu machen, fragt sich: Was in aller Welt veranlaßt
den Protestanten, die Formel viva vox evangelii zu vermeiden und zu
ersetzen? Er steht auf der Schwelle, tritt aber nicht ein. Denn mit
dem Stichwort "Evangelium" ist allerdings die strenge Bezogenheit
auf den Jesus von Nazareth verbunden, das Phänomen der Erstver-
kündigung nicht belanglos, aber auch nicht mehr letztlich entschei-
dend zu nennen. Kriterium wird jetzt die unverwechselbare Sache,
welche diesen Jesus mit seinen Jüngern und Zeugen zusammenbringt
oder von ihnen scheidet, eine Sache, die selbst historisch durch die
Firmierung "apostolisch" nicht gedeckt wird und den kirchlichen Ka-
non allerdings qualifiziert, ohne sich in ihm rein darzustellen oder ihn
in seinem faktischen Umfang zu legitimieren.

Es ist das Verdienst von W. Joest, diesen längst fälligen Sprung


endlich getan zu haben. Er tut ihn nach ungewöhnlich behutsamer
und gründlicher L'berprüfung der verschiedenen Argumentationen.
Die Frage nach dem historisch Ältesten und "Apostolischen" ist für
ihn zweitrangig, sofern sie überhaupt ausreichend beantwortet wer-
den kann. Umgekehrt wird die kirchliche Erfahrung mit der Schrift
auch in Gestalt des akzeptierten Kanons hervorgehoben. Ihr hat sich
dadurch Gottes Wirken "in, mit, unter" menschlichen Maßnahmen
bekundet, wenngleich sie daraufhin nur Glaubensurteile abzugeben
vermag, die nicht objektiv begründbar sind (S. 261 f.). Anlich stark
ist betont, daß die Bibel nicht irrtumsfrei ist, sondern Elemente eines
verdunkelten Glaubenszeugnisses enthält. Sie läßt sich nicht überall
KritischeAnalyse Y.Ji

predigen (S. 267 ff.). Die kritische Forschung vermag, sofern sie die
Beziehung zur wirklichen Geschichte des wirklichen Menschen auf-
deckt (S. 263), eine Hilfe gegen den Doketismus zu bieten (S. 270,
273). Ob man am Begriff "Kanon" festhalten soll, ist fraglich, weil
der Glaube sich nicht auf ein formales Prinzip richtet, Gottes Wort
nicht zuerst in Jesus inkarniert und später in der Bibel "inkodifiziert"
wurde (S. 264 f.).
Der vorhandene Kanon wird also dialektisch gesehen. Erweist sim
vor allem aus kirchlicher Erfahrung, daß Gott durch ihn als Werkzeug
seines Wortes handelt, so hat er es doch auch durch menschliche Irr-
tümer hindurch getan. Die Rückfrage nach dem Historischen und die
Einsicht in Unhistarisches bieten andererseits noch nicht als solche das
Kriterium des Maßgeblichen. Das ist vielmehr in der paulinisch-re-
formatorischen Rechtfertigungsverkündigung zu sehen, welche der
Sache nach wirklich die zentrale Auslegung des in Jesus gesprochenen
Gotteswortes darstellt. Allerdings muß auch diese These nochmals
dialektisch gesichert werden, und zwar in dreifacher Hinsicht: Erstens
darf die Rechtfertigung nicht von Jesus gelöst werden, sei es selbst
derart, daß man ihn bloß zu ihrem ursprünglichen Prediger macht.
Zweitens hat man nicht ausschließlich auf die Lehre von der Recht-
fertigung zu blicken, als wäre die Bibel ein Lehrbuch der Dogmatik.
Sie beschränkt sich nicht auf Aussagen über Christus und die Recht-
fertigung und trägt diese in verschiedener Terminologie und Gestalt
vor. Man hat drittens zu bedenken, daß im Verkündigungsgeschehen
neben situationsbedingten Divergenzen auch sachbegründete Para-
doxien zutagetreten, etwa in der Zuordnung vom Zuspruch der Gnade
zum Entscheidungsruf oder der Botschaft vom Gericht nach den
Werken neben der von der Rechtfertigung des Sünders. Tiefgreifende
geschichtliche Unterschiede in der Verkündigung dürfen nicht über-
sehen werden, eine logism-einheitliche Synthese ist nicht zu fordern.
Gegensätzliche Aussagen gerade auch im Zentralen können nimt
durch Option aufgelöst werden, sie sind vielmehr zusammenzuhalten
(S. 276 ff.).
Dieser Betrachtung entspricht es, wenn vor der Abstumpfung in
einem Systemdenken ebenso gewarnt wird wie wenn Umdeutung des
Textes als unerlaubt gilt und schließlim die Verwendung fragwürdi-
ger Schriftelemente zur Zerstörung der Kirche als Mißbraum abge-
lehnt wird (S. 279 ff.). Die Obereinstimmung mit Ebelings kontrovers-
theologisch-hermeneutischer Besinnung auf das Sola Scriptura ist in al-
len wesentlichen Zügen deutlich. Es ist absolut nicht einzusehen, daß
radikale historische Kritik am Neuen Testament nicht zum gleimen Er-
gebnis gelangen muß. Sie wird unter Umständen die Akzente im ein-
zelnen smärfer zu setzen haben als der Systematiker. Gerade der Hi-
KritischeAnalyse

storiker wird, sofern er es unentwegt mit dem Detail und den Nuan-
cen zu tun hat, jeglichem Systemdenken mißtrauisch gegenüberste-
hen und vor ihm geschützt sein. Er kann sich nicht einmal der Me-
thode des Konkordanzhörens verschreiben, so gewiß man Einzelhei-
ten immer nur im Zusammenhang nicht bloß des Kontextes, sondern
auch im Widerspruch anderer Stimmen exakt zu interpretieren ver-
mag. Er hat den möglichen Ausgleich ebenso zu bedenken wie die mit
jedem neutestamentlichen Text unvermeidlich gegebene Frontstel-
lung und wird so auf ein Ganzes schauen, für das Antithetik wie im
Leben selber kennzeichnend ist. Doch darf ihn das nicht dazu verfüh-
ren, Gegensätzlichkeiten allein aus der Verschiedenheit der Situatio-
nen oder der Polarität theologischer Aussagen zu verstehen, in denen
jede Seite notwendig eine Kehrseite hat und also komplementär, zu-
weilen auch paradox ergänzt und abgesichert werden muß. Umge-
kehrt behält im Ganzen nur dann das Einzelne seine Bedeutung,
wenn es nicht bloß die Logik, sondern möglicherweise selbst das je-
weilige theologische Zentrum zu sprengen vermag. Kontradiktorische
Gegensätze lassen sich im Neuen Testament nicht ohne weiteres aus-
schließen. Sie sind im Gegenteil dort von vomherein zu erwarten,
wenn anders es im Neuen Testament menschlich hergeht und der Do-
ketismus nicht doch versteckt siegen soll. Dann ist aber nicht auszu-
schließen, daß sogar kirchenzerstörende Aussagen, Texte und Schrif-
ten dort Platz haben. Ein solches Faktum wäre natürlich beunruhi-
gend und bewiese, daß das Neue Testament ein gefährliches Buch ist.
Wird jedoch Kirche nicht am ehesten zerstört, wenn diese Gefährlich-
keit ausgeklammert wird? Daß faktische Kirche gestört und zerstört
wird, besagt letztlich wenig, weil faktische Kirche nicht selbstver-
ständlich die Kirche Christi ist und selbst diese stets neu über Gräber
schreitet. Auch in der praktischen Anwendung der Bibel darf es nicht
zutiefst um die Ekklesiologie, hat es primär um die Christologie zu
gehen. Falls der Systematiker sich diese Interpretation seiner Inten-
tion durch den Exegeten gefallen läßt, erkläre ich mich völlig mit ihm
einverstanden.
lll. Zusammenfassung

In abscliließender Rückschau sollte man zunäd:tst feststellen, daß in


der protestantisd:ten Debatte zum Kanonproblem das Moment der
Lehre im Neuen Testament zu kurz kommt. Es war eine wichtige
Entdeckung gemacht, als man stattdessen vom Kerygma zu sprechen
begann. Denn wirklich dogmatische Auseinandersetzung erfolgt hier
erst an den Rändern und in ihrem Anfangsstadium, während Ver-
kündigung in vielfacher Gestalt das Feld beherrscht. Doch hat man
sid:t klarzumachen, daß Verkündigung vom ersten Augenblick an
ganz unbefangen eben auch in der Form von Lehre geschieht und
man beides nicht gegeneinander ausspielen darf. Angesichts der seit-
herigen Entwicklung ist es vielleicht sogar angebracht, den Akzent
nach der entgegengesetzten Seite zu verschieben: Die bereits bei
Strathmann sich äußernde Furcht vor Dogmatik und Doktrinarismus
ist zunächst Erbe des Liberalismus. Wo immer es auch um Lehre geht,
ist implizite Dogmatik mitgegeben. Solche Feststellung ist für uns
von größter Wichtigkeit. Das Kanonproblem wird nicht adäquat an-
gegangen, wenn man die Bedeutung der Lehre im Neuen Testament
relativiert oder beiseiteschiebt, ihr für das Geschehen der Kanonbil-
dung nicht genügend Beachtung schenkt und den Abschluß des Ka-
nons nicht auch eine Entscheidung über rechte Lehre sein läßt.
Das liegt eklatant zutage, wenn Mareion den ersten christlichen
Kanon geschaffen haben sollte, wofür immerhin erhebliche Gründe
spred:ten. Doch ändert sich daran nichts, falls man diese Hypothese
ablehnt. Denn es ist wesentlich der Gesimtspunkt der Lehre gewesen,
unter dem er zum mindesten den ersten abgeschlossenen Kanon schuf.
Dieses Interesse hat neben dem am Gewinn einer praktikablen Ge·
meindeordnung offensichtlich aber schon die Sammlung der Paulus-
briefe, die Anerkennung des Johannesevangeliums, die Abfassung
pseudoapostolischer Sd:triften bestimmt und die gottesdienstlime Le-
sung neutestamentlicher Schriften mitveranlaßt. Der heutige Spram-
gebraum und die herrschende Anschauungsweise sind von da aus zu
korrigieren: Die Kanonbildung ist nicht bloß ein Prozeß kirchlicher
Tradition oder Verkündigung, sondern wenigstens auch der Nieder-
smlag kirchlicher Lehrbildung. Sofern man für die Schriften Aposto-
lizität im engeren oder weiteren Sinne beansprud:tte, wollte man nicht
nur das Ursprüngliche, sondern auch rechte Lehre festhalten. Dieses
Anliegen ist völlig berechtigt. Es kann und darf nicht unterschlagen
werden, wo immer man vom Kanon sprimt, wenngleich eingeräumt
400 Zusammenfassung

wird, daß es nicht ausschließlich zu sehen ist, unter Umständen nicht


einmal den ersten Platz verdient. Hat neutestamentliche Verkündi-
gung im allgemeinen das Evangeliwn bringen wollen und haben sich
seine Schriften teilweise schon selbst als Evangelium verstanden, wie
es auch die Paulusbriefe tun, setzt sich dieses Evangelium nicht allein,
aber auch in Gestalt von Lehre und sogar Dogma fort. Denn es gibt
das Evangelium nie anders als in Auseinandersetzung mit falscher
Heilsverkündigung und Lehre, und das führt notwendig zu Bekennt-
nissen, zur Theologie, zur Dogmatik.
Die Aversion des Protestantismus gegenüber dieser Betrachtungs-
weise stammt aus der Fehde der Aufklärung - und des Pietismus I -
mit der Orthodoxie und hat darin geschichtliches Recht für sich. Dom
wird jedes Recht mißbraucht. Das geschah in der protestantischen
Debatte um den Kanon mindestens in dem Augenblick, als die Ge-
schichte mehr als den Horizont des Kanonproblems abgab, nämlich in
sein Zentrum rückte.
Man wird hier wohl vor allem Herder zitieren müssen: "Ist die Bi-
bel lebendige Darstellung, allweite höhere Natur, Geschichte Gottes
über Völker und Zeiten: welch ein Zuschauer dieser Natur, dieser
höhem Darstellung und Geschichte, der nicht jedes auf seiner Stelle,
jedes Geschöpf auf seiner Wurzel, in seiner Kraft, in seinem Daseyn
betrachten wollte? Welch ein Wahnsinniger, der alle Kräuter fräße,
weil sie alle Kräuter Gottes sind, undistsEin Grad mindern Wahn-
sinns, wenn man die Bibel ohn' allen Unterschied und überlegung,
ohne die mindeste Rücksicht, wer? oder was er spreche? wie man
meint, als Gottes Wort, d. i. als Unsinn aus den Wolken, unmensch-
lich lieset?" 120 Die Antithese des letzten Satzes ist entscheidend. Sie
wird am Alten Testament exemplifiziert: "So ist endlich auch der
Geist dieser Schriften wahr, denn er ist nur Geist des Volks und seiner
Geschichte ... Die Geschichte beweiset die Schrift, die Schrift die Ge-
schichte."121 Summiert wird: "Thatsache ist der Grund alles Göttli-
chen der Religion, und diese kann nur in Geschichte dargestellt, ja sie
muß selbst fortgehend lebendige Geschichte werden. Geschichte ist
also der Grund der Bibel ... "122
Es braucht kaum ausdrücklich vermerkt zu werden, daß diese Be-
trachtungsweise einen außerordentlichen Fortschritt für die Ausle-
gung der Bibel bedeutet hat, alle spätere Interpretation und Exegese
ermöglichte und sich auf keinen Fall rückgängig machen läßt. Nur in

1• Lieder der Liebe, ein biblisdles Buch, 1776. Herdcrs Sämtl. Werke, ed.
Suphan, 1877 ff., Bd. 8, S. 631.
111 Briefe, das Studium der Theologie betreffend (1780), 1 1785. Sämtl. Werke
Bd. 10, S. 140.
111 Ebd. S. 257 f.
Zusammenfassung 4{)1
diesem Horizont ist auch die Frage des Kanons anzufassen. Erneut
muß aber das Unrecht der These in ihrer Verabsolutierung erblickt
werden, wie das schon gegenüber dem Aspekt der Lehre geschah. Das
Motto: "Die Geschichte beweiset die Schrift, die Schrift die Geschich-
te" wird zum Leitmotiv der Auslegung bis in die Gegenwart. Dieses
Thema wird variiert, wenn man von Heilsgeschichte spricht oder wie
Pannenberg die Universalgeschichte postuliert. Es klingt zum min-
desten an, wenn stattdessen von Verkündigungsgeschichte die Rede
ist, obgleich dann das Gewicht wieder auf das Wort Gottes und die
von ihm hervorgerufene Predigt zurückfällt. Die Gefahr dieser An-
schauung liegt darin, daß, wie Herder das Alte Testament auf den
"Geist des Volks" zurückführte, die urchristliche Botschaft mit dem
Geist der Kirche, in ihrer Variation mindestens mit dem Geist der Ge-
meinden identifiziert oder aus ihm abgeleitet wird. Evangelium und
kirchliche Tradition verschmelzen miteinander, und der Kanon wird
zur mehr oder minder bewußt ausgewählten, mehr oder minder kon-
tingenten Dokumentation dieser Tradition in ihrem frühesten Sta-
dium. Selbst das Verständnis der Botschaft als "sich selber durchset-
zend" denkt noch aus einem Schema der Kontinuität und Konkordanz
der Zeugnisse heraus, welche durch kirchliche Erfahrung verbürgt
werden.
Die Analyse hat darauf aufmerksam machen wollen, in welche hi-
storischen und theologischen Schwierigkeiten wir geraten, wenn wir
in dieser Weise die urchristliche Geschichte in das Zentrum der Ka-
nonproblematik rücken. Wir müssen das mit fragwürdigen Postula-
ten unterbauen, nivellieren die neutestamentliche Verkündigung,
können das Entscheidende nur durch vieldeutige Chiffren umschrei-
ben. Keine Historie läßt sich jemals so weit aufhellen, daß sie letzte
Kriterien an die Hand gäbe und letzte Entscheidungen im Vertrauen
auf sie ermöglichte. Es ist ein Irrtum, wenn man meint, mit der
christlichen Geschichte verhielte es sich anders. Will man Eindeutig-
keit von hier aus gewinnen, muß Ekklesiologie dafür sorgen und ent-
sprechend in die Mitte gestellt werden. Nun ist nicht im mindesten
daran zu rütteln, daß der Kanon wirklich das Buch der Kirche ist, in
seinen Schriften frühchristliche Tradition zu Worte kommt, ihre
Sammlung wesentlich unter dem Gesichtspunkt ihrer Bewährung im
Gottesdienst erfolgte, die Aufnahme der Antilegomena kirchlicher
Auswahl und kirchlichen Kompromissen zu verdanken ist. Umge-
kehrt wird die ekklesiologische Betrachtungsweise natürlich weder
Christologie noch die Lehre vom göttlichen Worte ausschalten. Wie
zumeist in der Theologie geht es um die Setzung der Akzente. Es ist
ein alles bestimmender Unterschied, ob Christus der Kirche als Haupt
integriert wird oder als ihr Richter und Herr gegenübersteht, ob das
26 Käsemann, Kanon
Zusammenfassung

Wort Gottes in ihrer Tradition aufgeht, wenigstens als Ursprung und


Maß in sie eingeht und sie faktisch sanktioniert, oder ob von vom-
herein die Möglichkeit und sogar Notwendigkeit offengehalten wird,
daß es diese Tradition auch desavouiert und als Verfälschung des
Evangeliums sichtbar macht. Um dieses letzte Problem ging es, wenn
ich feststellte, der vorliegende Kanon legitimiere in seiner Faktizität
alle Konfessionen. Im verschärfe das noch, um keinen Zweifel daran
zu lassen, daß ich die Aussage weiterhin nicht aufzugeben gedenke:
Er legitimiert als sol<her aum mehr oder weniger alle Sekten und Irr-
lehren. Wo man die Losung der tota scriptura antithetisch der andem
sola scriptura gegenüberstellt, faktisch also den Bestand im ganzen
wie in seinen Einzelheiten zur Norm werden läßt, ändern selbst
smarfe Differenzierungen zwischen Mitte und Rändern, Ursprüngli-
chem und Abgeleitetem, dauernd Gültigem und Situationsbeding-
tem nichts daran, daß der Kanon sein Kriterium von der kirdtlimen
Tradition her empfängt, für welche diese Untersmiede tatsächlich
relevant sind. Genau dieses Kriterium sollte ad absurdum geführt
werden. Denn aus der kirchlichen Tradition läßt sich so gut wie alles
rechtfertigen. Selbst die römische Kirche toleriert jedom nimt alles.
Gerät ihre eigene Ekklesiologie in Gefahr, wird sie sehr intolerant
und konfessionell.
Mit Remt hat G. Ebeling herausgestellt, daß es dem radikalen Pro-
testantismus nicht darum geht, Tradition als solche abzulehnen oder
zu bestreiten, das Evangelium habe sich von Anfang an in der Gestalt
kirchlicher Uberlieferung bezeugt. Auch der Protestantismus lebt aus
und in Tradition und Traditionen. Sola scriptura meint keineswegs
die Aussmeidung des Kanons aus dem Bereim kirdtlicher Tradition.
Es meint jedoch die Unterscheidung echter und falscher, angemesse-
ner und unangemessener Tradition, die Prüfung der Geister aum im
Blick auf die kirchliche Überlieferung, die als solche eben nicht ein-
fam repristiniert und nimt einmal bloß der jeweiligen Situation mo-
difiziert verständlich gemamt wird. Es hebt die Losung tota scriptura
nimt auf, setzt sie vielmehr voraus. Doch ist diese Losung für refor-
matorismes Christentum nimt Norm, wie sich im Streit um die Apo-
kryphen oder in der Aufnahme der altkirchlichen Auseinanderset-
zung um die Antilegomena zeigt. Dann würde letztlich die kirchliche
Tradition über den Kanon entscheiden, und folgerichtig müßte die
Auslegung des Neuen Testamentes dessen letzte Schriften, wie abge-
leitet sie sind, derart berücksichtigen, daß von dort auch dessen Mitte
tangiert werden würde. Die Aufnahme etwa der Paulusbriefe in den
Kanon beweist dann bloß die Vielfalt und den Reichtum wie der
Scl:uift, so der kirchlichen Oberlieferung und der Kirche selbst. Kontra-
diktorische Gegensätze können nicht anerkannt, sie müssen harmoni-
Zusammenfassung

siert werden. Die ganze Schrift und damit die Vielfalt kirchlicher
Tradition wird vom Protestantismus festgehalten, wie Bekenntnisse
und Dogmen festgehalten werden: Damit wurde gegenüber drohen-
den Fehlentwicklungen oder Überwucherungen der rechten Tradi-
tion eine Grenze gezogen, und zwar aus kirchlicher Erfahrung her-
aus, durch faktische oder grundsätzliche Entscheidungen, an denen
wir als der Stimme der Väter und Markierungen inmitten eines Wi-
derstreites nicht achtlos vorübergehen können. Wir respektieren sie
sogar zunächst, weil wir auch in der Kirche von Vorgegebenheiten
tmd Vorentscheidungen nicht abstrahieren dürfen und wollen. Wir
sind nicht zuerst auf dem Plan gewesen und haben weder die Fähig-
keit noch die Absicht, die Vergangenheit zu überspringen, unsere
Welt und unsern Kanon neu zu schaffen.
Es wirdangesichtsbestimmter gegenwärtiger Radikalismen sogar
gerechtfertigt sein, die Autorität kirchlicher Vergangenheit für un-
sere Gegenwart anzuerkennen und Vertrauen für sie zu fordern. Mit
den Bilderstürmern wollen wir keineswegs verwechselt werden, so ge-
wiß die herrschenden Zustände immer wieder Verständnis für sie zu
wecken vermögen rmd gelegentlich selbst Bildersturm der Kirche
dienlich ist. Wennall das gesagt ist, muß aber ebenso deutlich hervor-
gehoben werden, daß kirchliche Autorität, Bekenntnisse und Dogmen
für uns nicht letzte Instanz sind, gegen welche es Appellation nicht
mehr gibt; daß infolgedessen auch die Losung tota scriptura für uns
nicht bedeutet, wir wollten alles und jedes in der Schrift akzeptieren
und insofern ihre Gesamtheit als solche zur letzten Norm werden
lassen. Die ganze Schrift hat kirchliche Autorität für sich. Alle kirch-
liche Autorität muß sich jedoch an derjenigen Christi messen, von ihr
her richten lassen. Sie hat den Herrn nicht so integriert, daß er sie nur
oder im allgemeinen zu sanktionieren hätte, sie allenfalls auch refor-
mieren ließe. Sie hat stets diesen Herrn als letzte Appellationsinstanz
sich gegenüber und so faktisch sogar gegen sich. Grundsätzlich be-
kundet er seine Autorität immer sowohl durch sie wie gegen sie. Das
gilt auch für den Kanon.
Sola scriptura meint, daß wir die ganze Schrift behalten, um nicht
dem Individualismus der Einzelnen, der Gruppen und Konfessionen
zu verfallen, daß wir jedoch andererseits die ganze Schrift stets neu
und nun auch von den Einzelnen, den Gruppen, den Konfessionen her
zu befragen haben, ob und wie weit sie "Christum treibet", weil wir
in Dingen des Glaubens uns nicht einer fides implicita überlassen
wollen, ständig für ihn persönlich verantwortlich sind und kirchli-
chem Zufall, kirchlichen Kompromissen, der Willkür der Institutionen
uns ebenso wenig ausliefern wie unserm eigenen Gutdünken. Wird
damit aber nicht die Quadratur des Zirkels gefordert? Das ist nicht
Zusammenfassung

der Fall, wenn sich klar und ausreichend bestimmen läßt, "was Chri-
stum treibet". Die wirkliche und permanente Krise der Christenheit
besteht darin, daß sie solcher Aufgabe gegenüber stets in Verlegenheit
geriet, wie bereits das Neue Testament beweist. Man kann die Ekkle-
siologie schon darum nicht zum Hauptproblem in der Kanonfrage
machen, weil diese Verlegenheit sich durch unsere ganze Geschichte
hindurchzieht, sich in den Divergenzen und Widersprüchen des Neu-
en Testamentes ebenso äußert wie die Notwendigkeit, in veränderter
Situation dasselbe auf andere Art sagen zu müssen. Wo nur noch For-
meln und Chiffren auf das "Christusgeschehen" deuten, wo die um-
strittene Geschichte notgedrungen das Evangelium einzig in seinem
jeweiligen Niederschlag umschreiben muß oder sogar ersetzt, wird
bestenfalls ein Wegweiser mitten in den Dschungel gestellt, der Rich-
tung angeben mag, aber nicht garantiert, daß man auf dem Wege
bleibt und das Ziel findet.
Der Kanon erhebt im ganzen den Anspruch, Gottes Wort zu sagen
oder es zu kommentieren. Das Neue Testament will tatsächlich im
ganzen als Christuszeugnis verstanden werden. Wir müssen das ge-
hört haben, wenn das Evangelium vernommen werden soll. Nicht die
Geschichte, sondern die Verkündigung steht für Wahrheit ein, so daß
sie darauf auch zur Rechenschaft gezogen werden kann und muß. Die
Geschichte offenbart Vielfältigkeit und Vieldeutigkeit. Sofern Gottes
Wort oder das Evangelium in die Geschichte eingehen, partizipieren
ihre Dokumentationen an dieser Vielfalt und Vieldeutigkeit. Man
kann diese Aporie nicht überwinden, indem man nun auf Lehre im
Rahmen einer harmonisierenden oder auswählenden Systematik re-
kurriert. Dabei kommt es tatsächlich wieder nur zur Vielzahl der Kon-
fessionen und Denominationen, und die Verweise auf die Geschichte
oder das Kerygma haben ihre Berechtigung darin, uns vor solchem
Doktrinarismus zu schützen. WasChristum treibet, wird ebenso wenig
einfach aus der Erfahrung der Einzelnen, der Gruppen oder der Kir-
chen ablesbar. Denn die gemachten Erfahrungen widerstreiten ein-
ander mindestens so oft, wie sie zusammentreffen. Offensichtlich kann
es klar und ausreichend nur christologisch bestimmt werden. Doch ge-
nügt das nicht. Denn es gibt viele Christologien im Neuen Testament
und heute noch, so daß sich hier das Dilemma der Lehre nur konkre-
tisiert.
Verschiedene Christologien sind nicht ohne weiteres gegensätzlich,
sondern mögen sich, im einzelnen mehr oder weniger angemessen,
ergänzen, situationsbedingt andere Züge betonen. Das Gewicht muß
hier offensichtlich weniger auf Ausdrucksweise und umfassende Dar-
stellung als auf das christologisch Unverwechselbare und schled:J.ter-
dings Unvermeidbare fallen. Christologisch unverwechselbar und un-
Zusammenfassung

vermeidbar sind allein solche Aussagen, welche Botschaft und Werk


des Nazareners nicht überspringen und die Herrsmaft des Gekreuzig-
ten bezeugen. Sie sind umgekehrt ausreichend, um das, was Christum
treibet, klar herauszustellen. Weil es sich so verhält, ist die Recht-
fertigung des Gottlosen jene Mitte aller christlichen Verkündigung
und darum ebenfalls der Schrift, auf welche unter keinen Umständen
verzichtet werden darf. Denn sie ist nicht bloß eine Möglichkeit der
Lehre und des Kerygmas unter andern. Weil in ihr Jesu Botschaft und
Werk als Botschaft und Werk des Gekreuzigten, seine Herrlichkeit
und Herrschaft sich unverwechselbar von allen andern religiösen Aus-
sagen abheben, muß sie als Kanon im Kanon betrachtet werden, ist
sie das Kriterium zur Prüfung der Geister auch gegenüber christlicher
Predigt in Vergangenheit und Gegenwart schlechthin.
Diese Feststellung bedarf nun der Abschirmung gegen Mißver-
ständnisse nach vielen Seiten. Vor allem andem kommt es darauf an,
die unlösbare Verbindung dieser Christologie und der Rechtferti-
gungsbotschaft darzutun. Wie es immer Christologien gegeben hat,
welche von der Rechtfertigung absahen, so wird auf der andem Seite
immer wieder aus der Rechtfertigungsbotschaft eine Theologie abge-
leitet werden, welche in Jesus bloß den Initiator eines diristliehen
Selbstverständnisses erblickt. Man hat streng zu beachten, daß beides
sich gegenseitig interpretiert: Jede Christologie, welche nicht an der
Rechtfertigung des Gottlosen orientiert ist, abstrahiert vom Nazare-
ner und seinem Kreuz. Jede Rechtfertigungsverkündigung, welche
nicht christologisch verankert bleibt und dauernd sich auf die Herr-
schaft Jesu Christi zurückbezieht, mündet in einer Anthropologie
oder Ekklesiologie, etwa in einer Glaubenslehre, die auch anders be-
gründet werden können. Das Werk des Christus ist die Rechtferti-
gung der Gottlosen, diese bleibt umgekehrt allein sein Werk und
kann nur von ihm her begründet und akzeptiert werden.
Ist das klar, hat man der heute sich vielfach äußernden Sorge Rech-
nung zu tragen, daß damit einem Dogmatismus die Türen geöffnet
würden. Es ist tatsächlich nötig zu sagen, daß lebendige und kon-
krete Verkündigung nicht durch eine dazu noch extrem einseitige Sy-
stematik abgelöst werden sollen, obgleich mir scheint, daß diese Ge-
fahr nicht ernsthaft zu befürchten sei, wo das skizzierte Wechselver-
hältnis von Christologie und Rechtfertigungsbotschaft festgehalten
wird. Wir glauben nicht an eine Idee, ein System oder ein Programm,
sondern an diesen Herrn, welcher der Nazarener war, und sprechen
deshalb von seinem Werk an uns, das nicht in einer Idee, einem Sy-
stem, einem Programm sich erschöpft, sondern geschieht, wo immer
man es mit ihm als Herrn zu tun bekommt. Deshalb sind wir auch
nicht an eine feste Terminologie und nicht einmal an eine gleichblei-
Zusammenfassung

bende Christologie und Dogmatik gebunden. Das Neue Testament


dokumentiert, daß man die anvisierte Sache in verschiedenen Räu-
men und Zeiten verschieden ausgedrückt hat, und nur theologisdl.er
Purismus ist daran interessiert, Verkündigung uniformierend und
reduzierend auf ein einziges Schema zu bringen, das notwendig zu
einer Sprache Kanaans, sei es auch in der theologischen Zunft, führen
müßte.
Umgekehrt wird jetzt wichtig, was früher über die Bedeutung der
Lehre für die Urchristenheit wie die Kanonbildung festgestellt wurde.
Es ist allerdings theologische Aufgabe, so präzis wie möglich das Ent-
scheidende zu formulieren, sogar zu definieren, damit unsere Fahrt
sich nicht im Ozean der Möglichkeiten und des Mißverständlichen
verliert. Theologie führt zu Dogmatik und hat es ansatzweise bereits
im Neuen Testament getan. Unsere Verkündigung darf nicht in For-
meln aufgehen. Theologie, welche Formeln und Definitionen verach-
tet, bleibt nicht sachgebunden. Die Rechtfertigungslehre soll nicht
Verkündigung ersetzen und Geschehen am ganzen Menschen redu-
zieren auf das, was wir denken. Wo die Lehre jedoch nicht mehr die
Funktion hat, Verkündigung zu orientieren und Geschehen zu defi-
nieren, mag etwa aus der Rechtfertigung der Gottlosen die der From-
men werden, wofür es wieder bereits im Neuen Testament Ansätze
und Vorbilder gibt. Theologie löst nicht das Zeugnis, die Erfahrung,
die Wirklichkeit eines andauernden Geschehens ab, hat aber dafür zu
sorgen, daß Klarheit, Richtung, Anstoß und Fronten nicht in Erbau-
lichkeit und allgemein religiösen Aussagen oder Erlebnissen unterge-
hen. Man muß mit einem Satz sagen können, was Christum treibet,
oder man wird überhaupt nichts Entscheidendes zu sagen haben. Das
Evangelium hat eine unerschöpfliche Variationsbreite, es hat aber
ebenso eine Unverwechselbarkeit, die es durch den Nazarener und
Gekreuzigten empfängt und die sich in provokativ zugespitzten Aus-
sagen äußert.
Das bedeutet weiter, daß es theologische Aussagen gibt, welche sich
nicht mit dem Evangelium vereinigen lassen. Gedacht ist dabei nicht
an die von Joest zitierten Paradoxien, die sich durchaus als notwendig
begreifen lassen. Rechtfertigung des Sünders schließt Nachfolge im
Gehorsam ein, wenn Christus der Rechtfertigende und darum Herr
bleibt. Sie schließt nicht einmal die Verwendung des jüdischen Ge-
dankens von dem Gericht nach den Werken aus, wenn darunter in
christlicher Modifikation und recht paradox gemeint ist, daß der
Rechtfertigungsglaube sich im Verhalten des Christen zu äußern hat
und wir dafür verantwortlich gemacht werden. Unvereinbar mit dem
durch die Rechtfertigungsbotschaft charakterisierten Evangelium ist
jedoch eine Verkündigung der Rechtfertigung, welche allein den
Zusammenfassung

Frommen widerfährt, und jede Lehre, welche darauf aufgebaut ist,


daß der Mensch sich selbst transzendieren könne. Unvereinbar mit ihr
ist es ebenso, wenn die Rechtfertigungsbotschaft, die jedem einzeln
gilt, durch kultische, institutionelle Ordnungen in den Schatten ge-
riickt wird. Man wird diese Sachverhalte am. Exempel der alttesta-
mentlichen Tora, aber amh am. Verhältnis von Paulus und Lukas,
Paulus und Jakobus zu veranschaulichen und zu überprüfen haben,
ins Christentum ständig eindringende Gesetzlichkeit und Schwärmerei
bereits im Neuen Testament verifizieren und deshalb von dem unbe-
greiflichen, aber bei Theologen und in Gemeinden grassierenden
Aberglauben abrücken, im Kanon bekunde sich überall nur echter
Glaube, wenn vielleicht auch in nicht ganz adäquater Form.
Die Rechtfertigung des Gottlosen hat etwas mit dem 1. Gebot zu
tun und ist dessen anstößigste und soteriologisch eindeutigste Expli-
kation. Das besagt jedoch, daß es geschichtlich Jahwe nur im Streit
mit Baal, Jakob nur in Bindung und Auseinandersetzung gegenüber
Esau gibt, Christ und Antichrist stets gleichzeitig auf dem Plane sind,
deshalb auch Glaube und Aberglaube, Kirche und Gegenkirche zwar
unterschieden, aber nicht irdisch sauber getrennt werden können.
Man verkennt den Kanon, wenn man sich einbildet, in ihm sei dieser
Streit nicht im Gange, deshalb ihm gegenüber die Prüfung der Gei-
ster nicht notwendig. Das gilt nicht bloß von den Rändern, sondern
grundsätzlirh von jedem Text. Es gilt ebenso grundsätzlim wie die
entgegengesetzte Feststellung, daß in der Sduift ausreimend und
klar zutagetritt, auf was es ankommt, also das Evangelium. Weil das
Kanonproblem nicht bloß historisch behandelt werden kann, sondern
zugleich die Geltung der Schrift in der Kirche, ihrer Verkündigung
und Lehre zur Debatte stellt, ist das Kanonproblem zutiefst das Pro-
blem seiner rechten Interpretation. Keine kirchliche Entscheidung,
Tradition und kein Vorurteil nehmen uns die Verpflirhtung ab, diese
rechte Interpretation aus der Srhrift heraus zu lernen, obgleich sie uns
Hilfestellung dabei leisten mögen. Auch exegetisrh und historischläßt
sirh die Aussage vertreten, daß die Schrift mit hinreimender Klarheit
auf diese ihre eigene Mitte im Evangelium hinweist, aus welcher sie
interpretiert werden will.
Worum es jetzt aber geht, ist die Einsicht, daß wir dabei auf einen
Kampfplatz gestellt werden. Hier wird nun die Geschimte bedeut-
sam, welrhe nicht an die Stelle des Evangeliums gesetzt werden sollte,
jedodl das Feld des Evangeliums oder sein Horizont bleibt. Nimt sie
bestimmt und interpretiert das Evangelium. Sie kann das nimt, weil
sie aus und in sich selber vieldeutig ist, wie Historiker und Exegeten
unablässig erfahren. Umgekehrt aber bestimmt und interpretiert das
Evangelium die Geschichte, nämlim eben als Kampfplatz zwischen
Zusammenfassung

Gott und Abott, Christus und Antichrist, Glaube und Aberglaube, Kir-
che und Gegenkirche, wobei die Gestalten und Fronten dieses Kampfes
dauernd sicl:t ändern. Als geschicl:ttlichesDokument bekundet auchdie
Schrift solchen Kampf und zieht uns mit ihrer Verkündigung in ihn
hinein. Anders werden Bibel und Predigt doketisch betrachtet, und
erfahren wir aus ihnen nicht, was es um den wirklichen Menscl:ten,
was es um uns selber ist, selbst um christliche Existenz. Der Kanon
wird als solcher dadurch legitimiert, daß er uns in jene durch Christus
und die Rechtfertigungsbotschaft bestimmte Wirklicl:tkeit stellt und
sie durch die frühchristliche Oberlieferung exemplarisch verdeutlicht.
Es ist nicht die Wirklichkeit allein des rechten Glaubens, die es in die-
ser Isolation irdisch nie gegeben hat und geben kann. Es ist die Wirk-
lichkeit, in welcher Glaube angefochten bleibt und sich ständig dem
Aberglauben zu widersetzen hat, in welcher es deshalb auch echte
Predigt und Lehre nur in der Auseinandersetzung mit tmangemesse-
ner und falscl:ter gibt, in welcher es schließlich das Evangelium nicht
ein für alle Male als Destillat aus Sätzen und Texten, sondern nur in
der viva vox evangelii quer durch den Raum anderer Heilslehre gibt.
Wenn wir auf den Gedanken kämen, die Schrift auf das Evangelium
reduzieren zu wollen, würde zuletzt von der Schrift nichts mehr übrig
bleiben. Theologisch aber wäre der Himmel zum Ort des Evangeliums
gemacht, während es doch die Erde sein muß. Das Recht des Kanons
besteht gerade darin, daß er uns in irdische Wirklichkeit zurückstößt,
wenn wir wie die Glossolalen allein auf das Vernehmen himmlischer
Stimmen und ihre reine Wiedergabe bedacht sind. Weil die irdische
Wirklicl:tkeit der Ort des Evangeliums ist, sind Kanon und Evange-
lium nicht identisch, aber zusammengehörig. Der Kanon gibt das
Evangelium so wieder, wie es in die Geschichte eingegangen ist. Er
bezeichnet den Raum des Evangeliums exemplarisch in ausgewählter
urchristlicher überlieferung. Dazu hat die Reformation mit ihrem
Sola Scriptura jagesagt.
An dieser Stelle mag man sich nochmals an Mareion erinnern.
Auch er hat den urchristlich qualifizierten Raum des Evangeliums
anzeigen wollen. Er hat es jedoch unter dem Gesichtspunkt der un-
vermischten reinen Lehre getan und konnte deshalb nicht einmal die
Paulus-Uberlieferung unkorrigiert aufgreifen. Er ragt aus seiner Zeit
hinaus, weil es ihm um das unverfälschte Evangelium ging. Gerade
das verführte ihn aber dazu, dem Evangelium den Lebensraum zu
nehmen, die Wirklichkeit und die Geschichte. So gehen diesem zu-
gleich die Freiheit und die Angefochtenheit verloren. Evangelium
und Kanon dürfen sich nicht decken, wie Mareion es wollte. Denn das
Evangelium bleibt nicht länger es selbst, wenn es allein auf dem Plan
steht. Es wird zur lebensfremden und lebensfeindlichen Doktrin.
Zusammenfassung 409

wenn es den Ort in der Welt nimt mehr innehat, von dem aus es der
Welt widersprimt. Die Alte Kirche hat mit Remt den Kanon Mareions
durm ihren ersetzt, obgleich dieser das Evangelium viel tiefer in ir-
dische und geschichtlime Problematik zog. Genau das ist nimt nur
historisch, sondern auch theologisch notwendig, weil die viva vox
evangelii nimt irdischer Widerhall himmlismer Stimmen, sondern
Gottes Herausforderung an Mensmen und Welt ist, jeden irdischen
Platz und jede neue Zeit angreifend und durchdringend, darum kein
depositum fidei, das selber unangreifbar wäre, sondern von glauben-
den Menschen nach ihrem Verständnis und Vermögen bezeugt, vom
Unglauben verworfen, vom Aberglauben verfälsmt.
Das Evangelium entreißt nicht dem Kampffeld der Erde, sondern
stellt in es hinein, und der Kanon bekundet das, wahrt insofern den
Charakter des Evangeliums, das eben nicht eine Summa theologica
ist. Grundsätzlim gesehen war es nimt notwendig, den Kanon auf das
Zeugnis der Urdtristenheit zu beschränken. Jede Zeit bietet den Kon-
text zum Evangelium. Doch war es weise, solme Begrenzung vorzu-
nehmen, weil kirchliche Tradition immer komplexer und undurch-
smaubarer wird, je weitere Kreise das Evangelium zieht, und alles
Leben aus der Rückbesinnung auf das Vorgegebene seiner selbst be-
wußt wird. Der abgegrenzte Kanon ist das Zeichen dafür, daß wir
ständig zwar aufs neue und für uns persönlich zu glauben lernen
müssen, unser Glaube jedoch nimt durch uns und unsere Situation
begründet wird, sondern sich am vorgegebenen Evangelium und jenem
Christus orientiert, welcher der gekreuzigte Nazarener ist. Dessen Be-
deutung für die verschiedenen Generationen wird auf verschiedene
Weise je nach der Situation verkündigt werden, wie es smon die Va-
riationsbreite des urchristlimen Kerygmas erkennen läßt. Anders
käme es nicht zur viva vox evangelii, die durdt Schallplatten, Formeln
der Theologie und Gemeindefrömmigkeit, dogmatische Doktrinen
nimt zu ersetzen ist. Christi Bedeutung für Mensmen und Welt wird
aum angemessener und unangemessener heraustreten, je nachdem
wir mehr durch überkommenes Erbe oder Bedrängnis der Gegenwart
bestimmt werden, unsere Sendung durch private oder institutionelle
Introvertiertheil bedroht ist, die Gegner wechseln. So ist die verkün-
digende Gemeinde nicht bloß Werkzeug des Evangeliums, sondern
steht ihm immer auch im Wege, weil sie das corpus permixturn bleibt.
So kommt es endlich dazu, daß diese Gemeinde, die in der Welt lebt,
sich von ihrer Umwelt Formen und Inhalte der Verkündigung auf-
zwingen läßt, welche den Glauben faktisch zum Aberglauben werden
lassen. All diese Möglichkeiten werden bereits im uns vorgegebenen
Kanon als einer geschichtlimen Dokumentation simtbar. Sie müssen
es werden, wenn er nicht das vom Himmel gefallene Buch, die durm
410 Zusammenfassung

ihn sprechende und ihn akzeptierende Gemeinde die Schar der Ange-
fod:ltenen und noch nicht Vollendeten ist. Historische Analyse und
theologische Kritik sind darum der Bibel gegenüber erforderlich. Sie
werden beide auf ihre verschiedene Weise zu einem Kanon im Kanon
führen, wie es selbst die antithetisch verwandte Losung tota scriptura
ist. Es gibt kein Verstehen eines geschichtlichen Zusammenhangs, das
nicht von einer Mitte aus erfolgen müßte. Es gibt keine historische
Analyse und theologische Kritik, die sich nicht stets neue Oberprü-
fung gefallen lassen müßten. Doch ändert das darin nichts, daß beide
nicht zum Verstehen führen, wenn sie über dem Detail kein Zentrum
mehr anzugeben wissen. So vollzieht sich Interpretation historisch,
indem sie die Gewichte richtig einschätzt und verteilt, theologisch dem
Neuen Testament gegenüber, indem sie Kanon und Evangelium so-
wohl unterscheidet wie beieinanderhält.
Oberspitzt zusammengefaßt läßt sich sagen, daß über dem d:uistli-
chen Kanon die Oberschrift stehen könnte: Dem unbekannten Gott.
Mareion hat das richtig gesehen, daraus nur falsche Folgerungen ge-
zogen. Die lukanische Areopagrede andererseits beweist, daß der in
dem gekreuzigten Nazarener offenbarte unbekannte Gott in christ-
licher Predigt und so schon im biblischen Kanon oft genug die Züge
und das Wesen der Juden und Heiden durchaus bekannten Gotthei-
ten erhielt, weil sich das Evangelium in Welt und Geschichte einließ
und so von seiner jeweiligen Umwelt her interpretiert werden konnte,
auf die es bezogen werden mußte. Der Kanon ist die durch frühchrist-
liche Zeugnisse begrenzte Dokumentation des Widerstreites zwischen
Evangelium und Welt, kein Lehrbuch der pura doctrina, nicht bloß
oder vomehm.lim die Zusammenfassung apostolischer Tradition und
insofern wimtigste dogmengeschichtliche Urkunde, erst remt nicht
primär privates oder kirchliches Erbauungsbuch. Er ist die Dokumen-
tation jener Geschimte, in welcher das Evangelium vom unbekannten
Gott erstmalig in die Welt der Götter stieß.

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