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Herausgegeben von
Ernst Käsemann
Einführung 9
I. Awgewählte Aufsätze 13
GBRHARD GLOEGE, Zur Geschichte des Sduiftverständnisses . 13
HEBMANN STRA~, Die Krisis des Kanons der Kirdte 41
WERNER GEORG KÜMMEL, Notwendigkeit und Grenze des neutesta-
mentlichen Karions 62
ÜSIW\ CULLMANN, Die Tradition und die Festlegung des Kanons durch
die Kirche des 2. Jahrhunderts . 98
1-IANs FRHR. v. CAMPENHAUSEN, Die Entstehung des Neuen Testaments 109
ERNST las~, Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit
der Kirche? 124
KURT .Al.ANo, Das Problem des·neutestamentlichen Kanons . 1M
HERMANN DmM, Das Problem des Schriftkanons 159
HANs KÜNG, Der Frühkatholizismus im Neuen Testament als kontro-
verstheologisches Problem 175
PETER LENGSFELD, Katholische Sicht von Schrift, Kanon und Tradition 005
lhRBERT BRAUN, Hebt die heutige neutestamentlich-exegetische For-
schung den Kanon auf? . 219
WILLI MARxsEN, Das Problem des neutestamentlichen Kanons aus der
Sicht des Exegeten 233
CARL HEINZ RATScHow, Zur Frage der Begründung des neutesta-
mentlichen Kanons aus der Sicht des systematischen Theologen 247
WILFRIED JoEST, Erwägungen zur kanonischen Bedeutung des Neuen
Testaments 258
GEIUIARD EDELING, "Sola scriptura" und das Problem der Tradition 282
Ein sold:ter Entwurf würde jedoch ein ungewöhnlich hohes Maß von
Spezialkenntnissen in der allgemeinen Geistes- und Theologiege-
schichte voraussetzen, langjährige Arbeit erfordern, wenn ein Einzel-
ner sich dazu anschicken wollte, und den Rahmen eines einzigen Bu-
ches sprengen. In ein Dilemma würde aber auch der Versuch führen,
die heutigen Äußerungen zu unserm Thema systematisch zusammen-
zustellen und wenigstens fragmentarisch von da aus immer wieder
in die Vergangenheit zurückzublenden. Der unbefangene Leser wür-
de dem Chaos differierender und gegensätzlicher Meinungen aus dem
Widerstreit von Theologie und Gemeindefrömmigkeit, Konfessionen
und Denominationen, Exegese und Dogmatik, amtlimer Verlautba-
rungen, individueller Äußerungen und von Gruppen abgegebener
Bekenntnisse hilflos ausgeliefert. Der Sammler würde zu einer Aus-
wahl gezwungen sein, die ihn auch bei bestem Willen des unzurei-
chenden Überblicks und mangelnder Objektivität beschuldigen ließe.
Wie vielfach in unserer Situation wird man sich notgedrungen kon-
zentrieren, den Vorstoß in geschichtliche Tiefe und ökumenische Wei-
te äußerst reduzieren und verzichten müssen, auf den Altären wissen-
schaftlicher Vollständigkeit oder traditionell dogmatischer Fragestel-
lungen opfern zu wollen. Ein exemplarischer Ausschnitt aus der Dis-
kussion, der Dokumentation und kritische Analyse verbindet, ist mög-
lich, sinnvoll und vielleicht am hilfreichsten.
So werden im folgenden 13 Aufsätze zum neutestamentlichen Ka-
nonproblem aus dem deutschsprachigen Bereich und dem Gesichts-
feld historischer Bibelkritik wiedergegeben und anschließend auf ihre
Prämissen und Konsequenzen hin erörtert. Ein geraffter Oberblick
über die Rezeption und die Auslegung der Schrift in den verschiede-
nen Epochen der Kirchengeschichte wird vorangestellt, um in die ge-
genwärtige Problematik einzuführen. Den Abschluß bildet eine her-
meneutische Besinnung zum Thema "Schrift und Tradition" aus re-
formatorisch orientierter Sicht, welche in außerordentlicher Gründ-
lichkeit und Schärfe zum Ausgang des konfessionellen Streites um
die Bibel zurücklenkt, damit zugleich in das ökumenisd:te Gespräch
eingreift und die historische Kritik auf den ihr gebührenden Platz
eines Hilfsmittels in der Verständigung und Scheidung der Geister
verweist. Die Gesamtkird:te kann und darf sie nicht übersehen. Sie
kann und darf ihr aber auch nicht das letzte Wort überlassen, weil
ihre Einsichten und begründeten oder unbegründeten Folgerungen
wie der von da aus bestimmte Streit um den Kanon nur ein Aus-
sd:tnitt, eine Konsequenz und die heutige Signatur des Streites um
das Evangelium sind. Man hat dieses Evangelium nie ein für alle
Male, wenn daraus nicht eine religiöse Tradition unter andem wer-
den soll. Jede christliche Generation muß es neu für sich und die Welt
Einführung 11
GERHARD GLOEGE
1. Voraussetzungen
Der Umgang mit der Bibel setzt den Kanon voraus. Dieser hatte sich
als zweiteiliges Werk- bestehend aus dem Neuen und dem Alten
Testament - in Auseinandersetzung mit der Gnosis und vor allem in
der Abwehr Mareions durchgesetzt. Mit der Einheit des Kanons war
der Gedanke der einheitlichen Heilsgeschichte grundlegend gegeben:
in letzterer verwirklicht sich der Heilsratschluß des einen Gottes, der
die Welt schafft und erhält, erlöst und der Vollendung entgegenführt.
Alles Verstehen der Bibel war daher von vornherein heilsgeschichtlich
• Deutsche Fassung des Artikels "Bible use", in: The Encyclopedia of the Lu-
theran Church, ed. 1. Bodensieck (Minneapolis/USA), I, 249-262, erstmals veröf-
fentlicht in: G. Gloege, Verkündigung und Verantwortung. Theologische Traktate
II, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1967, ~292. Literatur zum Ganzen:
M. Kiihler, Art. Bibel, in: RE1 11, 686--691; G. Rietschel, Art. Bibellesen und Bi-
belverbot, ebd. 700-713; G. Heinrici, Art. Hermeneutik, ebd. VII, 718-750;
W. Schweitzer, Das Problem der Biblischen Hermeneutik in der gegenwärtigen
Theologie, in: ThLZ 75 (1950), 467--478; 0. Weber, Art. Hermeneutik, in: EKL II,
120-126; G. Gloege, Art. Bibel 111. Dogmatisch, in: RGG1 I, 1141-1147; C. Kuhl,
Art. Bibelwissenschaft I. Altes Testament, ebd. 1227-1235; W. G. Kümmel, Art.
Bibelwissenschaft 11. Neues Testament, ebd. 1236-1251; G. Ebeling, Art. Herme-
neutik, ebd. 111, 242-262 (besonders wichtig); M. Elzel H. Liebing, Art. Schriftaus-
legung IV, ebd. V, 1520-1535; A. Bea, Art. Biblische Hermeneutik, in: LThK1 II,
435--439; R. Simon, Histoire critique du Vieux Testament (1678); ders., Histoire
critique des principaux commentaires du Nouveau Testament (1693); L. Diestel,
Geschichte des Alten Testaments in der christlichen Kirche (1869); 1. Wach, Das
Verstehen. Grundzüge einer Geschichte der hermeneutischen Theorie im 19. Jahr-
hundert, 1-111 (1926-1933); B. Smalley, The Study of the Bibel in the Middle
Ages (Oxford [194{)] 1 1952); M. 1. Scheeben, Handbuch der katholischen Dogma-
tik I (1 1948), §§ 16-20 (Lit.); H. Grass, Die katholische Lehre von der heiligen
Schrift und von der Tradition (1954); E. G. Kraeling, The Old Testament since the
Reformation (London 1955); H.-1. Kraus, Geschichte der hist.-krit. Erforschung des
Alten Testaments von der Reformation bis zur Gegenwart (1956); W. G. Kümmel,
Das Neue Testament. Geschichte der Erforschung seiner Probleme, Orbis 111, 3
(1958); H. Beintker, Die evangelische Lehre von der heiligen Schrift und von der
Tradition (1961).
14 GEI\BAlU) GLOEGE [263/264)
1 P. Heinisch, Der Einfluß Philos auf die älteste christliche Exegese (1908); E. v.
Dobschütz, Vom vierfachen Schriftsinn. Die Geschichte einer Theorie, in: Hamack-
Ehrung (1921), 1-13; G. Zimmermann, Die hermeneutischen Prinzipien Tertul-
lians (Diss. Leipzig, 1937); W. den Boer, De Allegorese in het Werk van Clemens
Alexandrinw (Leiden 194{)); J. Danielou, Origene (Paris 1948); H. de Lubac, His-
taire et espriL L'intelligence de l'Ecriture d'apres Origene (Paris 1950); Fr. L.
Ripke, Paradoxe Einheit durch Interpretation bei Klemens von Alexandrien (Diss.
Göttingen 1955); vgl. ThLZ 81 (1956), 631 f.; H. Karpp, Schrift und Geist bei Ter-
tullian. BFChTh 47 (1955); P. Brunner, Charismatische und methodische Schrift-
auslegung nach Augustins Prolog zu De doctrina christiana, in: KuD 1 (1955) 59-
69, 85-103; R. Lorenz, Die Wissenschaftslehre Augustins, in: ZKG 67 (1955/56),
29-60; 21~251; G. Strauß, Schriftgebrauch, Schriftawlegung und Schriftbeweis
bei Augustin, BGH 1 (1958).
[264/265] Zur Geschimte des Sduiftverständnisses 15
liegen. So vermag die Bibel, die große Erzieherin, Stütze des Lebens
zu sein. AlsUrheberinder Wahrheit ist sie Quelle für die Verkündi-
gung wie auch Hilfe zur Ausformung des ethischen Ideals. - Ne-
ben die I Bibel tritt als zweite Quelle der Erkenntnis die Tradition
(xaQ<l&oou;), die als lückenlose Kette die Gegenwart mit der Vergan-
genheit verbindet. Auch in ihr waltet der göttliche Geist. Bibel und
Tradition gehören beide der Kirche, dem mystischen Leibe Christi,
zu. Von der kirchlichen Tradition unterscheidet Clemens noch eine
gnostische. Sie ist zum Verständnis der Bibel nötig, da die Bibel sym-
bolischen Charakter trägt. Die Bibel verhüllt die Wahrheit durch den
Buchstaben, wie der Logos (vgl. Joh. 1, 14) sich im Fleisch verhüllt.
DieBibel ist gleichsam die Fortsetzung der Inkarnation. Dem gewöhn-
lichen Auge verbirgt sich die Wahrheit in Gleichnissen. Der Geist er-
schließt sich nur dem Geistmenschen, dem Gnostiker. Er bedient sich
dazu der ungeschriebenen Tradition, die alle Erkenntnisse und An-
schauungen höherer Art enthält. Hier begegnet unter Hinweis auf
Jes. 8, 1 (I) das doppelte Schriftverständnis: das buchstäbliche (~) und
das geistliche (a). Dieses begreift durch Entzifferungder allegorischen
Geheimsprache das "Mysterium Christi" (Kol. 4, 5 f.).
Origenes (t 254), der große Schüler des Clemens, versteht die Bibel
ebenfalls spiritualistisch, wenn auch in einer Form, die dem Denken
und der Praxis der Kirche näher steht. Auch für ihn sind die hl. Schrif-
ten inspiriert. Kräftig arbeitet er die Verbindung von Altem und
Neuem Testament als heilsgeschichtlichen Gang von der Weissagung
zur Erfüllung heraus. Deutlicher unterscheidet er Wortsinn (ß) und
Geistsinn (a). Er handhabt die allegorische Methode planmäßiger. Er
stellt Kunstregeln der Auslegung (also eine Hermeneutik) auf. Nach
Prov. 22, 20 f. behauptet er - mit Hilfe der griechischen Trichotomie
(Leib, Seele, Geist) -einen dreifachen Schriftsinn: den buchstäblimen
(historisch-grammatischen) Wortsinn, den existentiellen (psychisdJ.-
moralischen) Lebenssinn, den spekulativen (allegorisch-mystischen
oder anagogischen) Geistsinn. Den Primat hat die allegorische Aus-
legung. Es steht fest: jedes Bibelwort hat einen geistlichen, nicht aber
jedes auch einen leiblichen Sinn. Die Bibel erzählt z. B. absichtlich
Unmögliches, um darauf aufmerksam zu machen, daß es leibhaftig
nicht geschehen sein könne (z. B. die Paradieserzählung; aber auch
Lk. 10, 4; Mt. 5, 29; 1. Kor. 9, 9). Diese spiritualistische Bibeltheorie
entspricht der Unterscheidung von zwei Gruppen von Christen, der
Masse der einfachen, die "nur" glauben, und der Schar der gebildeten,
die sich zu höherer Einsicht erheben. In der Kirche steigt man vom
Autoritätsglauben zur geistlichen Erkenntnis empor: für den Pneu-
matiker werden die einfachen Heilstatsachen zu Symbolen des Gei-
stes. Buchstäbliches Verstehen dagegen droht, zur Ketzerei zu führen. I
16 GERHAI\D GLOI!.GE
4. Frühe Abendländer
Standen sowohl die Alexandriner wie die Antiochener in einem kri-
tischen Verhältnis zum kirchlichen Gemeindeglauben, so wird diese
Spannung durch die frühen abendländischen Exegeten gemindert. Be-
reits Tertullian (f nach 222), der vom Wortsinn auszugehen rät, hatte
dem Schriftprinzip der Häretiker, die christliche Lehren mit philoso-
phischen Anschauungen vermischen, das Traditionsprinzip entgegen-
gestellt. Die von Christus der Kirche gelehrte Glaubensregel (regula
fidei), die Gesetz und Heil umschließt, garantiert die richtige Ausle-
gung. Nur innerhalb der auf apostolische Sukzession zurückgehenden
Kirche und ihres commonsensekann die Bibel sachgemäß gebraucht
werden.
Die allegorische Methode des Origenes gewann jedoch im Laufe der
Zeit, allerdings mit einem spürbar praktischen Einschlag, auch auf die
lateinische Kirche Einfluß. Für Ambrosius, Erzbischof von Mailand
(t 397), ist die Bibel voller Mysterien, die nur Erleuchtete verstehen.
Der Schriftsinn ist ein dreifacher: ( a) historisch-buchstäblich, (b) my-
stisch und (c) moralisch. Die Schrift selbst ist ja oft dreifach: (a) natu-
ralis in Gen., (b) mystica in Lev. und (c) moralis in Dt.; ein Gleiches gilt
für das Schrifttum "Salomos": (a) natürlich-vernünftig im Prediger, I
(b) mystisch-geistlich im Hohen Lied und (c) moralisch-praktisch in
den Sprüchen. Die Psalmen und Evangelien vereinigen alle drei
Arten.
[267/268] Zur Gesdllchte des Schriftverständnisses 17
5. Augustin
Der für Jahrhunderte wirksamste Bibelausleger wurde A. Augustin
(t 430). Sein Umgang mit der Schrift stellt eine Synthese zwischen
griechischer Spiritualität und lateinischem Realismus dar. Neuplato-
nisches Lebensbewußtsein öffnete ihm das geistliche Schriftverständ-
nis, insbesondere den Zugang zu der von den Alexandrinern gepfleg-
ten allegorischen Methode, die ihm von Ambrosius vermittelt wurde.
Der Manichäismus erregte ihn durch seine Bibelkritik, die besonders
den anthropomorphen Anschauungen des Alten Testaments (dem ver-
änderlichen, grausamen, lügnerischen Gott) galt; dagegen half die
Allegorese. Zugleich hat jedoch die christozentrische Frömmigkeit der
manichäischen Psalmen ihn "mystisch" beeinflußt. Als Lehrer der
Grammatik und Rhetorik ist er, ähnlich wie die Antiochener, an den
Texten als literarischen Größen interessiert. So ist Augustin Spiritua-
list (a) und Litteralist (ß) in einem. Bei ihm kann man zum ersten
Male von einer Henneneutik reden. Seine Beurteilung der Bibel wird
nur innerhalb seiner Wissenschaftstheorie verständlich. Göttliche
Wahrheiten und Tatsachen werden entweder(a) durch Autorität oder
(b) durch Zeichen erkannt. I
(a) Göttliche Autorität besitzt Gottes Offenbarung durch auser-
wählte Zeugen. Anschaulich und faßbar wird sie in der Gestalt Jesu
Christi. Die Bibel istNiederschlag aller Offenbarungserfahrungen und
folglich irrtumslos. Aber ihr kanonisches Ansehen hat sie nicht aus
2 Käsemann, Kanon
18 GEBHABD GLOEGE [268]
sich selbst, sondern dadurch, daß ihre Schriften apostolisch sind und
durm Oberlieferung (Sukzession) beglaubigt werden. Hinzu kommt
ihre Verbreitung unter vielen Völkern. Bibel und Kirche sind gleich-
rangige Zeugen der Wahrheit. Die Bibel ist gemäß der Glaubensre-
gel auszulegen. Freilich: die Kirche empfängt über die Bibel hinaus
Offenbarung. Von einem "sola scriptura" weiß Augustin nichts. Au-
torität und Vernunft sind aufeinander angelegt: die Bibel will Ein-
sicht ermöglichen.
(b) Augustins spiritualistisdte Tendenzen drücken sidt in seiner
Zeichen-Lehre bzw. seiner darin erscheinenden Sprachphilosophie
aus. Hier wird zwisdten Zeichen (signa) und Dingen (res), zwischen
Äußerem und Innerem unterschieden. Verstanden werden kann die
Bibel nur, wenn der menschliche Geist den Buchstaben der Texte
übersteigt und sich unmittelbar zu Gott erhebt. Das äußere Ohr hört
den Sprachklang des Wortes Gottes, das innere Ohr lauscht dem "ewi-
gen Worte". Die Worte der Bibel sind nur äußerer Anlaß, sozusagen
jenseits des Phonetisdten mit Gott Kontakt zu erlangen. Die Wort-
werdung des Geistes (Inverbation) entspricht der Fleischwerdung
Christi (Inkarnation).
Die inspirierte Bibel, deren grammatischer Wortlaut Zeichenhaft
den gegenwärtigen Herrn bezeugt, und der auf spirituelle Erkenntnis
angelegte Mensch gehören zusammen. Allerdings stellt hier die Kirche
den Raum dar, in dem sidt beide im Licht der göttlichen Liebe begeg-
nen: "Im würde dem Evangelium nicht glauben, wenn mich nicht die
Autorität der Kirche bewegte."
(a) Das Neue Testament wird bei einem sol<hen Verständnis zum
"neuen Gesetz" (nova Iex), das Jesus als Gesetzgeber (legislator)
brachte. Bereits die Apostolischen Väter (Anfang des 2. Jahrhunderts)
sehen die Bibel als einen Kodex der Frömmigkeit und der Sitten an,
der dem Christen die Vorschriften des Beispieles Christi einschärft.
Die Bibel ordnet das Leben der Kleriker und Laien, später das der
Mönche und Nonnen. Der Mönmsvater Joh. Cassian (t 435) formu-
liert erstmalig die Lehre vom vierfachen Schriftsinn. Alle Bewegun-
gen, die im Mittelalter den neutestamentlichen Ruf zum Nachfolgen
in den Begriff der Nachohmung (i.mitatio) verwandeln, stellen exi-
stentielle Exegesen der Bibel dar. Benedikt von Nursia (t um 547)
entnimmt der Bibel das Reglement für den geistlichen Kriegsdienst,
das zu Arbeit und Kontemplation aufruft. Für Bernhard von Clair-
vaux (t 1153), den einzigartigen Bibelkenner und Allegoriker, wird
die lmitatio Christi Mittel für Intuition und Ekstase, mit dem Ziel:
durch Weltentsagung die Welt zu heiligen, d. h. zu beherrschen.
Franz von Assisi (t 1226) predigt in der nüchtern-heiteren Art seines
Liebeschristentums den Grundsatz, die Bibel bumstäblich, ohne Zu-
satz, zu verstehen und zu praktizieren. Zu einer neuen Literaturgat-
tung wird das aus meditativer Mystik geborene "Leben Jesu" (z. B.
Ludolf von Sachsen, t 1377), das den Christen zu frommem Mitleben
und Mitleiden der Geschichte des Erlösers anleitete. Das Interesse er-
wacht, sich dem Menschen Jesus zu "konfirmieren", gleichzuformen
(Thomas von Kempen, t 1471).
Darüber hinaus wird die Bibel zur Grundordnung des Verhältnisses
von Kirche und Welt. Krise und Zerfall der Einheit des Mittelalters,
des Corpus Christianum, steigern ihre Geltung zum universalen Pro-
gramm. Die formalen Auslegungsprinzipien gestatten jedoch sehr
verschiedene Anwendung. Bei den Häretikern erhält die bumstäblim
zu verstehende Bibel kritisme und konstruktive Bedeutung als Le-
bensgesetz. Schon die Waldenser (gestiftet von Valdes 1176) stellen
unter der Losung "sola scriptura" die Autorität der Schrift der Autori-
tät der Kirche entgegen. Ihren Wortlaut kennen sie weithin auswen-
dig. Die Tradition, die bisher die Bibelauslegung normierte, erscheint
ihnen als Ursprung widerbiblischer Neuerungen: kirchliche Sitten
(Heiligenverehrung, Fürbitte für Tote, Fegefeuerlehre usw.), liturgi-
scher Pomp I (Meßgewänder, Horensingen, Altardienst), das Recht
der Kirme (Dekretalen, Banngewalt, Ablaß) wie der Welt (Smwören,
Kriegsdienst, Todesstrafe) sind aufgrund der Lehre der Bibel abzu-
smaffen. Was nam Christi Himmelfahrt eingeführt wurde, ist unver-
bindlich. Gottes Wort ist Anfang des geistlimen Lebens, das nam
der Bergpredigt (bes. Mt. 7, 12) auszurichten ist. Das Ideal des "apo-
stolischen Lebens", der "evangelischen Vollkommenheit" schließt frei-
2•
20 GERHARD GLOEGE [270/271]
willige Armut und mystische Vereinigung mit ein. Jedoch sucht man
die Welt, die man selbst verachtet, zu evangelisieren. Dennoch hält
man- der mönchischen Frömmigkeit aufgeschlossen- gut katho-
lisch an der doppelten Sittlichkeit ("nur" Glaubende und Vollk.om-
mene) fest.
TheologisdJ. gründlicher durchdenkt John Wyclif (t 1384) den Bi-
blizismus. Für ihn ist die Bibel das Gesetzes-Corpus der Christokra-
tie: Iex caritatis. Christus allein garantiert die Wahrheit der ganzen
Schrift. Das Neue Testament ist Iex gratiae, von den Evangelisten als
authentischen Notaren Christi aufgezeichnet, daher inspiriert, klar
und sidJ. selbst beglaubigend. Nur die Bibel ist Gottes Wort. Sie ent-
hält den Glauben der Kirche. Weil jeder Mensch ein Theologe und
Gesetzeskundiger (legista) sein soll, muß jeder sie kennen. Wyclif
übersetzte zum ersten Male die gesamte Bibel ins Englische (1380/82).
Kirche und Welt sind durch diese Magna Charta zu regieren. Sie ver-
bietet den geistlichen Herren, irdische Güter zu besitzen. Sie reinigt
das seit der Konstantmischen Schenkung (Donatio Constantini) ver-
giftete Leben der KirdJ.e.
J. Wyclifs Ideen werden durch die Hussiten zum revolutionären
Biblizismus radikalisiert. In Böhmen, wo separatistische Bewegungen
(Waldenser) wirkten, entsteht aus dem einheimischen Spiritualismus
der militante Biblizismus: J. Hus (f 1415) aktualisiert Wyclif: "Das
Gesetz Jesu Christi reicht aus, um die streitende Kirche zu regieren."
Nach seinem Märtyrertode versuchen die radikalen, chiliastisch ge-
stimmten Taboriten, der Welt das Evangelium mit Feuer und Schwert
aufzuzwingen. Gottes Gesetz soll das öffentliche Leben beherrschen,
die neue gesellschaftliche Ordnung schaffen. Könige, Herren, Adlige
und Ritter sind auszurotten wie Unkraut. Steuern fallen dahin. Für-
sten- und StadtredJ.te werden als Menschengesetze durch das Gottes-
gesetz gewaltsam ersetzt. "Verflucht ist jeder Gläubige, der sein
=
Schwert vom Blut der Widersacher des Gesetzes Christi [ der Bibel!]
fernhält." -Dagegen wollen die Böhmischen Brüder (seit 1447) die
Friedensethik des Neuen Testaments allgemein verwirklidJ.en und die I
verweltlichte KirdJ.e durdJ. das Liebesgebot zum "apostolischen Zeit-
alter" zurückführen.
Die römische Kirche versudJ.t, den häretischen Auswüchsen dadurch
zu begegnen, daß sie das Lesen der Bibel in der Muttersprache (vor
allem in Konventikeln) gebietsweise untersagt. Ein generelles "Bibel-
verbot" gibt es im Mittelalter jedoch nicht.
[271/272] Zur Geschichte des Schriftverständnisses 21
nimmt und variiert sie. Die areopagitsche Mystik prägt das Bibelver-
ständnis der Vi.k.torianer, vorab Hugos von St. Viktor (f 1141).1n der
Bibel findet dieser die Fülle der göttlicl:J.en Mysterien, Sakramente
und Symbole verborgen: ihre Summe ist- nacl:J. "Zeitenserie und Ge-
scl:J.lechterfolge" verscl:J.ieden- das Wacl:J.stum des Reimes Christi in
den Fortscl:J.rittsphasen des Natur-, Schrift- und Gnadengesetzes. Ihm
folgend bewundert Bonaventura (t 1274) an der Bibel nacl:J. Eph. 4,
14-17 ihre Weite (alles umfassend), Länge (universelle Gescl:J.icl:J.te),
Höhe (Herrlichkeit der Seligen) und Tiefe (Gottes Gericl:J.t).
J. Der theoretische Biblizismus: die Bibel als Corpus (a) der Lehre und
(b) des Naturrechts
(a) Der spekulative Trend wird durcl:J. die doktrinäre Reflexion ge-
dämpft. Der spanische Enzyklopädist lsidor von Sevilla (t 636) sieht
in der Bibel die Fundgrube einer Zahlenmystik, die auf alles real
Wißbare anwendbar ist. Der angelsäcl:J.siscl:J.e Hofgelehrte Alkuin (t
804) will die Bibel, die er als Kompilator überlieferter Auslegungen
kommentiert und deren lateinischen Text er revidiert, "katholiscl:J."
im Sinne des vulgär-augustiniscl:J.en Symbolismus verstanden wissen
und der nacl:J. Kulturwissen hungernden Zeit als Bildungsgut ersdilie-
ßen. Thomas von Aquino (t 1274) faßt das scholastische Bibelver-
ständnis zusammen: für ihn ist die Scl:J.rift der Autorität der Väter
und der Oberlieferung grundsätzlich übergeordnet. Der buchstäblime
Sinn bildet die Grundlage für den dreifachen geistlichen Sinn. Dieser
wird nacl:J. Augustin real-typologisch verstanden: Gott macht nimt
nur Worte, sondern aU<n Ereignisse zu Elementen seiner Rede und
verknüpft sie analogisch zu Beziehungen. Das Alte Testament ist Fi-
gur des Neuen Testaments (allegorisch); das Christusgeschehen be-
zeichnet das Handeln des Christen (moraliscl:J.); das Evangelium weis-
sagt die ewige Herrlichkeit (anagogisch). I
Unter dem Einfluß jüdischer Philologie, z. B. des Talmudisten Ra-
scl:J.i (t 1105), macht besonders Nikolaus von Lyra (t 1340) den gram-
matisch-historischen Sinn der Bibel geltend. Allerdings differenziert
er gerade hinsichtlich des Bucl:J.stabens zwiscl:J.en äußerer und innerer
Schrift (sensus litteralis historicus und sensus litteralis phropheticus).
Seine Bedeutung für die Reformation faßt später der Vers zusammen:
"Si Lyra non lyrasset, Lutherus non saltasset."
(b) Im späten Mittelalter wird dann die Beziehung Bibel und Tra-
dition in die von Bibel und Naturrecht modifiziert. Das Dekret Gra-
tians (um 11.W), das den ersten Teil des Corpus Juris Canonici bildet,
stellt zu Beginn die Identität von Bibel und Naturrecht fest. Thomas
von Aquino begründete diese von der Bibel, dem römischen Recht und
[273/274] Zur Geschichte des Schriftverständnisses
der stoischen Philosophie her. Nach Robert Grosseteste (t 1253) ist die
Bibel das Steuer, das Petri Schifflein zum Hafen des Heils lenkt. Das
in ihr erhaltene göttliche Recht ist mit dem Naturrecht identisch. Ro-
ger Bacon (t 1292) singt in seiner Epistel an den Papst das "Lob der
hl. Schrift" : Alle Weisheit ist allein in ihr zu finden. Sie ist Quelle und
Regel des Glaubens. Ihrer Lektüre muß man daher vor der dogma-
tischen Arbeit an den Sentenzen den Vorzug geben. Marsilius von
Padua (t ca. 1543) begründet mittels der Bibel und des kritisch an-
gewendeten Naturrechts die Theorie des Konziliarismus gegenüber
dem Episkopalismus. Die Bibel darf allein durch das Generalkonzil
ausgelegt werden. Für Ockham (t 1547) ist allein die Bibel irrtums-
lose Autorität, weil sie älter ist als alles Kirchenrecht. Ihr Inhalt deckt
sich mit dem Naturrecht und bildet die widerspruchslose Korrespon·
denz von Gottes Wort und Vernunft. Der ganzen Kirche gehört die
Bibel, wie auch ihre Auslegung. Theologie ist Bibelwissenschaft. Wi-
derspruch gegen die Bibel bedeutet Häresie. Die unfehlbare Bibel
steht über dem irrtumsfähigen Papst. -Nach dem Konziliaristen Job.
Gerson (f 1429) legt die Bibel sich selbst aus. Christi schlichtes Evan-
gelium bildet, gegenüber dem positiven Recht der Kirche, das Re-
formprogramm. Das göttliche oder Naturgesetz enthält die prinzi-
piellen Forderungen: Gott absolut zu gehorchen, ihn und die Men-
schen zu lieben, das Eigentum zu schützen, Gewalt und Unrecht ge-
waltsam abzuwehren. Pierre d' Ailly (t 1420) sieht zwar in den bibli-
schen Schriftstellern die Sektretäre des hl. Geistes, hält aber spirituali-
stisch die Bibel nur für ein Abbild des wahren Gesetzes, das dem Men-
schen von jeher übernatürlich eingepflanzt ist. - Mit der polemischen
Losung "Allein die Schrift" der Reformtheologen J. Pupper von Goch
(t 1475), J. v. Wesel (t 1481) und W. Gansfort (t 1489) klingt das
Mittelalter aus. I
(WA 7, 720 f.). Die Bibel ist für ihn nicht Corpus himmlischer Lehre,
"Lehr- und Lesebuch" (legibile), sondern "Predigt-, Höre- und Streit-
buch" (doctrinale, audibile, pugnax: WATR 2, Nr. 2185).
und a und kombiniert ihn mit der zum Hauptsinn erhobenen Tropo·
logie (a 2). Der "geistlirhe Burhstabe" (ß und a in einem: littera spiri·
tualis) enthält als Grundsinn das Zeugnis Jesu Christi, also das Heils·
handeln Gottes, das sirh mittels des tropologischen Gegenwartssinnes
(a 2) am Mensrhen verwirklicht. Derselbe Text, der das Handeln
Gottes in Christus verkündet, srhafft im Hörenden die neue Schöp-
fung. Der Verkündete wirkt den Glauben. Christus schafft den Chri-
sten. Wie Christus ganz Gottes Werk ist, so ist auch der Glaubende
allein Gottes Werk. Das Ergebnis dieser tropologischen Exegese, die
das Heilsgesrhehen von "damals und dort" im "heute und hier" ver-
gegenwärtigt, ist die Rerhtfertigungslehre (E. Seeberg).
Bereits Faber Stapulensis, dessen Psalterausgabe (1509) Luther für
seine erste Vorlesung (1513/14) benutzte, hatte den buchstäblichen
Sinn (ß) für den geistlichen (a) erklärt. Luthers Konzeption ist nur
darin neu, daß er und wie er die bereits vollzogene Identifikation mit
der tropologisch·existentiellen Auslegung verband. Neu ist auch die
Konsequenz, mit der er der Anagogie (a 3) und besonders der Allegorie
(a 1) den Abschied gibt. Jedenfalls sind beide nicht mehr für die Aus-
legung der Bibel konstitutiv. Luther bezieht die Bibel streng auf die
Christusbegegnung, so daß die Botsrhaft das Gewissen trifft und Glau-
ben schafft. Dadurch werden die "Leseworte" des Geschirhtsburhes zu
"lauter Lebensworten" (WA 31/1, 67). An die Stelle der Vernunft, des
Gesetzes und der Spekulation tritt der mit dem Evangelium iden-
tische Christus. Als der Person gewordene Freispruch, den Gott im
Gericht fällt, ist er der einzige Inhalt der Bibel und wird durch den
hl. Geist beglaubigt. Mit diesem Bibelverständnis ist der heilsge-
schichtlirhe Biblilzismus (s.o. II, 2) erledigt. Die Bibel ist für Luther
nicht das Compendium einer Gotteshistorie, die zu philosophischen
Spekulationen veranlaßt, sondern das prophetische Buch, das Jesus
als den Christus verheißt.
nur die Lehre der Kirche zu überprüfen ist, sondern auch jede Aussage
der Bibel selbst. So wird Luther zum Begründer einer christozentri-
schen Bibelkritik. Ist Christus "Herr und König der gesamten Schrift",
so bedeutet das positiv: Luther übernimmt den Kanon der Kirche (und
damit auch das Alte Testament) nicht aus Gründen der Pietät, son-
dern von seinem Christusverständnis her. Dadurch tritt er in Gegen-
satz zu Marcion, den Manichäem und Katharern, die den Wider-
spruch zwischen Altem und Neuern Testament dramatisieren, den
Gott des Alten Testaments veränderlich, grausam und lügnerisch fin-
den und das ganze mosaische Gesetz als vom Teufel gegeben verwer-
fen. Das christozentrische Kriterium bedeutet kritisch: als Herr der
Schrift ist Christus nicht nur Grund, sondern auch Grenze ihrer Au-
torität: Kanon im Kanon. In den Vorreden zum September-Testament
von 1522 steht der gewichtige Satz: "Das ist der rechte Prüfstein, alle
Bücher zu tadeln, wenn man siebet, ob sie Christus treiben oder nicht,
sintemal alle Schrift Christum zeiget, Röm. 3, und S. Paulus nichts
denn Christum wissen will, 1. Kor. 2. Was Christum nicht lehret, das
ist noch nicht apostolisch, wennsgleich S. Petrus oder Paulus lehrete.
Wiederumb was Christum prediget, das wäre apostolisch, wenns
gleid:J. Judas, Hannas, Pilatus und I Herodes tät" (WADB 7, 384: Vor-
rede auf die Episteln S. Jakobi und Judas). Damit verwandelt Luther
den historisch-formalen Begriff des Apostolischen (ob eine Schrift von
einem Apostel stamme) in ein Sachkriterium. Von daher ist seine chri-
stozentrische Kritik nicht nur an Büchern des Alten Testaments, son-
dern auch an denen des Neuen Testaments zu verstehen. Die später
von der Orthodoxie ausgebaute Unterscheidung von proto- und deu-
terokanonischen Schriften hat bei Luther ihren Ursprung. In der ge-
nannten Ausgabe des Neuen Testaments läßt der Reformator den Ja-
kobus-, Judas- und Hebräerbrief sowie die Apokalypse ohne Nume-
rierung und ohne Seitenzahl - wie eine Art Anhang - drucken. Be-
deutsamer ist aber noch die Konsequenz, mit der Luther dem rationa-
listisch-gesetzlid:J.en Bibelverständnis der Biblizisten die These entge-
gensetzt: "Wenn die Gegner die Schrift treiben gegen Christus, so
treiben wir Christus gegen die Schrift" (WA 39/1, 47). "Christus trei-
ben" heißt aber für Luther: die Rechtfertigung verkündigen.
ständnisses die altkirchlichen Symbole. über der Bibel als Corpus der
Lehre wird die Kirche zur Schule, die Theologie zur Scholastik.
(b) Matt. Flacius schafft in seinem "Clavis scripturae sacrae" (1567)
die erste lutherische Hermeneutik. Neben einem biblisch-theologi-
schen Wörterbuch umfaßt dies Standardwerk Abhandlungen, die
Grammatik, Rhetorik und Stilistik methodisch der Exegese dienstbar
machen wollen. Das Schriftganze tritt in den Blick; Zusammenhangs-
Exegese wird gefordert. Freilich trägt die Wiederaufnahme aristote-
lischer Begriffe und Denkstrukturen zur Rekonstruktion des verbal-in-
spirierten Bibelbuches beL Die Kirchenlehre wird zur norma normans
der Exegese, denn der Inhalt der Bibel ist mit dem orthodoxen Dog-
ma identisch. Aus der Schrift als dem Gnadenmittel wird die Bibel als
Erkenntnisquelle. I
(c) Unter großem Aufwand von Scharfsinn hat die lutherische
Orthodoxie eine systematische Lehre von der hl. Schrift erarbeitet.
Dabei bleiben kritische Gesichtspunkte, wie die Unterscheidung von
proto- und deuterokanonischen Schriften, wach. Auch verbirgt sich
hinter rationaler Doktrin wahre Frömmigkeit, die den Lobpreis der
Bibel singt und nicht nur denkerisch aus ihr lebt. Die Lehre von den
"Eigenschaften" (affectationes, z. B. Abr. Calov, t 1686) oder "Herr-
lichkeiten" (a\Jxi}J.W'ta, Job. Gerhard, t 1637) enthält unverlierbare
Erkenntnisse des Schriftverständnisses: Die Bibel setzt (a) ihre Wahr-
heit krafteigenen Spruches durch (auctoritas). Sie schließt (b) jede
andere sie zusätzlich beglaubigende Instanz (z. B. die Tradition) aus
(perfectio bzw. sufficentia). Sie deckt (c) dem Menschen in konkreter
Anrede das Dasein vor Gott in der Welt auf (perspicuitas). Sie läßt
(d) den Menschen in unausweichlicher Entscheidung die Rettung aus
Gottes Gericht ergreifen- oder verfehlen (efficacia).
(d) Eine beachtliche Intensivierung verdankt das Bibelstudium
dem Pietismus, der die Bibel in erster Linie "erbaulich" verstand. Von
spiritualistischen Motiven gespeist, hält er gegenüber dem Wiederauf-
kommen des doktrinären Biblizismus die Erinnerung daran wach,
daß der Ruf der Bibel das Leben des Menschen und der Gemeinschaft
angeht. So ·erscheinen in ihm fundamentale Erkenntnisse der tropo-
logischen Exegese Luthers wiedergewonnen (Ph. J. Spener, t 1705),
die innerhalb der Orthodoxie verlorenzugehen drohten. Grundlage ist
der buchstäbliche Sinn (ß), der zugleich übernatürlich und geistlich ist
(a). A. H. Francke (t 1727), Orientalist und Vorkämpfer für die Lek-
türe der hebräischen Bibel, wirkt auf Philologie und Textkritik anre-
gend. Der Außenseiter N. L. Graf von Zinzendorf (t 1760) antizipiert
- in den Spuren Luthers das Grundmotiv der Inkarnation für Sprache
und Schriftverständnis fruchtbar machend - Gedanken J. G. Ha-
manns, S. Kierkegaards und H. Bezzels: die Bibel ist Zeugnis des sich
GElUIAJ\D GLOBGE [282/283]
3 Kücmann, Kanon
GERHARD GLOEGE [284/285]
4. Kritische Bibelforschung
Im Gegenschlag gegen jedes dogmatisch gebundene Bibelverständ-
nis werden die Impulse des Humanismus und der durch ihn befruch-
teten I Sprachforschung, aber auch die des Sozianismus, des Arminia-
nismus (H. Grotius) und des englischen Deismus (Cherbury, J. Locke,
J. Toland, M. Lindal, Th. Chubb usw.) in allen Kirchen und Kon-
fessionen virulent. Wirkte der Rationalismus in den orthodoxen Sy-
stemen mehr konstruktiv, so trat fortan seine kritisch, destruktive
Kraft hervor. Der Jude B. Spinoza (t 1677) formuliert als erster die
Prinzipien der literar-historischen Bibelkritik. Der französische Ora-
torianer Richard Sirnon (t 1712) versteht die Bibel als Literaturwerk
und entdeckt hinter dem Werden ihrer Schriften die Entstehung
schriftlicher und mündlicher überlieferungen. Die Umwälzungen auf
den Gebieten der allgemeinen Welterkenntnis und der Naturwissen-
schaften (Kopernikus im 17., Kant im 18. und Darwin im 19. Jahr-
hundert) radikalisieren die neu entstehende historisch-kritische Bibel-
forschung, provozieren aber zugleich die negative Reaktion der Kirche.
Im Zuge der Aufklärung, die die Leitbcgriffe "Natur und Vernunft"
zum Siege führt, versucht J. S. Semler (t 1791) die biblische Geschichte
von dogmatischer überfremdung zu befreien und- wie bereits R. Ba-
con im Mittelalter- zwischen historischer und dogmatischer (bzw. er-
baulicher) Exegese zu unterscheiden. Indem man die Theorie von der
Verbalinspiration als biblische Randaussage erkennt, fmdet man zu-
gleich zurück zum geschichtlichen Charakter der Bibel und ringt um
Auslegungsmethoden, die ihrem Verständnis angemessen sind. Die
philosophisch-historische Forschung betrachtet die Bibel primär als
Quellensammlung. Rationalistische Elemente und Haß gegen die Re-
ligion (H. S. Reimarus, t 1768; Wolfenbütteler Fragmente 1774 ff.)
misd:J.en sich mit spiritualistischen Tendenzen und Liebe zur Wahr-
heit. FürG. E. Lessing gilt: "Der Buchstabe ist nicht der Geist, und die
Bibel ist nicht die Religion." Die Bibel enthält die Elementarbücher des
Alten und Neuen Testaments, über deren "Staffeln" die ewige Vor-
sehung die "Erziehung des Menschengeschlechts" betreibt, bis hin zur
höchsten Stufe der Aufklärung, der Zeit der Vollendung. J. G. Herder
(t 1803) lehrt die Bibel, als "ein Buch durch Mensd:J.en für Menschen
gesd:J.rieben", menschlich zu lesen und erlaßt das geschichtliche Mo-
ment kräftiger. Fr. D. Schleiermacher - nicht nur Wissenschaftler,
sondern auch bedeutender Prediger an der Berliner Dreifaltigkeits-
kirche (t 1834)- entwickelt aus der Analyse des Verstehens- Sprad:J.e
und Denken unterscheidend - zum ersten Male eine allgemeine mo-
derne Hermeneutik. Nach ihm begründet nid:J.t das Ansehen der hl.
Schrift den Glauben an Christus, sondern umgekehrt setzt jene diesen
J•
36 GERHARD GLOEGE [286/287]
voraus. Erst im 19. Jh. kommen infolge der sich verfeinemden histo-
rischen Methode rationalistische Postulate zur Wirkung: die Texte J
der Bibel sollen, wie andere Schriften des Altertums, mittels der Mo-
mente der Kritik, Analogie und Korrelation aus dem allgemeinen
Kausalzusammenhang immanenten Geschehens erklärt werden.
(b) Allerdings wird das historische Verstehen der Bibel zwiefach
getrübt: (1) durch das Aufkommen der modernen Wissenschaftsidee,
die seit dem 18. Jahrhundert an den Naturwissenschaften orientiert
ist und objektive Dinge exakt erfassen, logisch beweisen, mathema-
tisch formulieren will (R. Descartes, G. W. Leibniz, I. Kant) und in
der Bibel "ewige Wahrheiten" zu finden meint (Rationalismus). -
Die Bibel bezeugt aber den Ungegenständlichen, Unverrechenbaren,
Unverfügbaren, der nicht erklärt werden kann, sondern verstanden
werden will.
Die andere Trübung (2) erfolgt durch die Geistphilosophie, die neu-
platonischer Überlieferung entstammt, christliche Erfahrungen säku-
larisiert und die Bibel als Niederschlag antiker und spätantiker vor-
derorientalischer Religiosität auffaßt (Idealismus). - Die Bibel ist
aber etwas anderes und mehr als eine Sammlung religiöser Doku-
mente.- Beide Eintrübngen werden um so bedenklicher, als zu glei-
cher Zeit die Einheit des biblischen Kanons faktisch zerfällt. Das Aus-
einandertreten der Wissenschaft des Alten und der des Neuen Testa-
ments hat weniger methodische Gründe (Arbeitsteilung) als gnmd-
sätzlime. Durm sie wird die Preisgabe des biblischen Kanons dra-
stisch dokumentiert. Der Verbindung beider Eintrübungen liegen an-
tidogmatisme, aber dogmatism begründete Ressentiments zugrunde,
die unter dem mißverständlichen Begriff der "liberalen Theologie"
zusammengefaßt wurden.
f. Historisch-kritische Forschung
Noch unter ihrer Herrschaft kommt es zur echten Hinwendung zur
Geschichte, von der aus allein die Einheitlichkeit der Bibel wieder-
gewonnen werden kann. Sie vollzieht sich in drei Etappen:
(a) Die rein-historische Tendenzforschung bedient sich vorwiegend
analytism der Literarkritik. Im Alten Testament untersucht J. Weil-
hausen (f 1918) die Geschichte des Volkes Israel, im Neuen Testa-
ment D. Fr. Strauß (t 1874) das "Leben Jesu" und F. Chr. Baur (t
1860) die Entstehung des Urchristentums. Alle drei sind unterschied-
lich durm Hegels Geschichtsphilosophie beeinflußt. Individuen und
Institutionen müssen von Ideen her verstanden werden. Trotz der
Abwertung großer Teile der biblischen Überlieferungen als unhista-
risch bzw. mythoJlogisch bleibt als Ertrag die Einsicht in die Viel-
schichtigkeit der biblischen Quellen, die zeitlich z. T. weit auseinan-
[288/289] Zur Geschid:J.te des Sd:J.riftverständnisses 37
littera (ß) wider. Der Nachweis, daß die Bibel doch "recht hat", ist
nicht durch archäologische Funde zu erbringen (denn sie beziehen sidt
auf etwas, worüber uns die Bibel nicht informieren will), sondern
allein durch das Zeugnis der Verkündigung und den Glauben, der
sich freudig empfängt (denn sie beziehen sich auf die Rechtfertigung
des Menschen und der Welt durch Christus).
Für die gesamte Bibelforschung gilt es, in der Detailforschung den
Grundsatz zu erproben: die Bibel hat- analog der Gottmenschlich-
keit Jesu Christi - "zwei Naturen". Sie ist einerseits ganz und gar
"Bibel", d. h. Menschenwort, das Gottes einst ergangene Tatrede be-
zeugt, Sammlung von Glaubensaussagen und Berichten über Offen-
barung, Denkmal einer Vergangenheit. Und sie ist andererseits ganz
und gar "hl. Schrift", d. h. Gotteswort in menschlicher Knedltsgestalt,
Ausdruck seines Herrenwillens: bestimmende Macht für Gegenwart
und Zukunft. Das bedeutet praktisch für die Kirche wie für jeden ein-
zelnen Christen: "in, mit und unter" der Bibel (ß) als einer Samm-
lung antiker religiöser Urkunden glauben wir dem Rufe der Schrift
(a), in der Gott selbst redet durch den Sohn im hl. Geist. - Es ist
dreierlei zu bedenken:
(1) Die Bibel ist nicht Sammlung historischer Protokolle über die
Entstehung von Welt und Mensch, Natur und Geschichte zu lnfor-
mationszwecken, sondern das Buch der Kirche, "Urkunde für den
Vollzug der kirchengründenden Predigt" (M. Kähler). Ihr Redestil ist
nicht die informierendeAussage über etwas, sondern die appellierende
Ansage an den Menschen (Kerygma).
(2) Die Bibel ist begründet in Gottes geschehender Verkündigung
seines Gerichtes und Heiles (Gesetz und Evangelium). Sie zielt zu-
gleich auf Sendung, auf Missionierung der Welt. Als Mittel der uni-
versalen Botschaft der Kirdte ist sie das Buch der Menschheit (Mis-
sion).
(3) Die Bibel bedarf, indem sie Gottes Geschichte mit der Welt
immer neu aktualisieren will, ständig der rechten Auslegung. Der
Text Ihat seinen Sinn auszusagen, der Buchstabe den Geist zu entbin-
den, die "Note" den Ton hörbar zu machen (Interpretation).
Die Kirche weiß mit Luther, daß Gott und die Bibel wie Schöpfer
und Geschöpf voneinander zu unterscheiden (WA 18, 606, 11 f. =
BoA 3, 101, 4 f.: "duae res sunt Deus et Scriptura Dei"), aber auch
stets aufeinander zu beziehen sind. Daher weiß sie sich an die Ge-
schichte gewiesen, in deren Medium sich Gott und Mensch treffen.
Die Theologie sollte wissen, daß der geistliche Sinn der Bibel (a)
nicht am historisch überlieferten Text (ß) vorbei zu erfragen ist, son-
dern nur in ihm selbst gefunden wird. "Richtige Pneumatik und rich-
tige Historik sind unlöslich beieinander" (Ad. Schlauer).
IhRMANN STRATHMANN
bäude abtragen sollten, standen bereits vor der Tür. Hollatz' (1648
bis 1713) Zeitgenosse war Richard Sirnon (1638-1712), dessen kri-
tische Geschichte des Textes und der Obersetzungen des Neuen Testa-
ments schon 1689 und 1690 erschienen war. Ihre Ubersetzung ins
Deutsche zu veranlassen, hat Johann Salomo SemZer (1725-1791) im
Interesse seines Kampfes gegen die herrschende orthodoxe Bibeltheo-
rie noch nach Abschluß seines wichtigsten Werkes, nämlich der vier-
bändigen Abhandlung von freier Untersuchung des Kanon (1771 bis
1775), für nützlich gehalten (1776 f.).
li.
Joh. Sal. Semler war keineswegs der erste in Deutschland, der sei-
nen Angriff auf die orthodoxe Bibeltheorie richtete. Vor ihm tat das
z. B. Job. Gottl. Toellner (t 1774). Aber Semlers Angriff, mit umfas-
sender Gelehrsamkeit ausgeführt, war der wirksamste.
Doch war es ihm gar nicht um Angriff zu tun. Vielmehr war seine
Absicht, der Sache des Christentums zu dienen, indem er den Druck
der Scbwie1igkeiten beseitigte, durch welche nach seinen Erfahrun-
gen die orthodoxe Theorie jedenfalls die, welche auf eigenes Denken
und Urteilen nicht verzichten wollten, dem Glauben entfremdete. Er
sucht nichts "als die wahre und folglich leichtere Anempfehlung der
christlichen Lehre und eignen Religion unter unsern Zeitgenossen",
eine Aufgabe, die die Theologieprofessoren "zunächst befördern, und
alle ihre Bemühungen dazu heiligen und ernstlich anwenden sollen"
(I Vorr. 4 b). Er will mit seinen Untersuchungen über den Kanon
"vielen redlimen Zeitgenossen aus ihrer unaufhörlichen Unzufrie-
denheit und innerlichen Unruhe so helfen, daß sie die lebendige Er-
kenntnis Gottes, und die treue Anwendung der leichten und gött-
lichen Lehre Jesu, ohne Anstoß, zu ihrer großen Beruhigung und in-
neren Uberzeugung, anwenden können" (II 14). Seine offene und
ehrliche Prüfung langhergebrachter theologischer Theorien dient nur
"der leichten und praktischen Einsicht und Annahme der wesentli-
chen Grundsätze des Christentums" (II 15). Er hat nur "die erhabene
Absim t, die christliche wahre Religion nach ihrem göttlichen Grunde
zu verteidigen und leichter auszubreiten, mitten unter den sogenann-
ten Christen" (II 608. 581). Denn oft genug hat er beobachtet, daß
viele unter dem Einfluß der traditionellen Gleichsetzung von Bibel
und Christentum oder Bibel und Wort Gottes all' die Mängel, Schat-
tenseiten und Menschlimkeiten, die sie an der Bibel wahrnehmen,
für Mängel der christlieben Religion selbst halten und dann alles mit-
einander aufgeben (I 63 f.). Oft spricht Semler davon, daß er dieLe-
ser aus der "Unmhe und Angst" befreien will, "in welche man sie
46 [298/299]
der Alten Kirche über den Bestand des Kanons ist historisch haltlos.
Woraus alsbald das Recht des freien Urteils über den Kanon gefol-
.gert wird. Denn nach dem öfter zitierten Sprichwort "Tout ce qui
varie est faux".
Aber auch wenn die Dinge anders lägen, wäre damit noch nicht ge-
holfen. Denn die Aufstellung des Kanons hatte durchaus nicht den
Sinn, eine absolut unverbrüchliche Norm für Denken, Urteil und Ver-
halten der ganzen Gemeinde und jedes ihrer Glieder zu errichten. Sie
war vielmehr ein kirchenregimentlieber Akt, der nur die gemeinsame
öffentliche Religionsübung regeln wollte. Der Kanon war das kireben-
regimentliehe Verzeichnis der gottesdienstlichen Vorlesebücher, auf
.äußeren Zweckmäßigkeitsgründen und bischöflichen Abmachungen
beruhend, ·daher nur mit äußerlicher Verbindlichkeit (externa obli-
gatio li 513). Er war der Kanon der Kirchendiener, nicht aber der
Kirchenglieder (I 19 f.). Der Privatgebrauch religiöser Bücher, die
Privatreligion der einzelnen blieb davon unberührt. Nur der öffent-
lichen Verwirrung sollte durch den Kanon gesteuert werden. Er ist so-
mit ein Stück der kirchlichen Theologie. Aber diese ist nicht dasselbe
wie Religion. Diese ist im eigentlichen Sinne überhaupt nicht Sache
<ler Kirche, sondern des Individuums, welches somit der bindenden
Kraft des Kanons nimt unterworfen ist.
Zu dem gleichen Ergebnis führt die dogmatische Kritik. Stände es
nämlich auch mit den historischen Voraussetzungen der herkömm-
lichen Schrifttheorie besser, so wäre damit noch gar nichts gewonnen.
Denn es ist nicht einzusehen, inwiefern dergleichen Ubereinstim-
mung früherer Zeiten über den Kanon einen Grund dafür abgeben
könnte, daß wir heute ebenso urteilen und diesen Kanon beibehalten
müßten. Daß die Juden die 24 Bücher des Alten Testaments als ein
Ganzes von gleichmäßiger göttlicher Herkunft ansahen, kann kein
Grund für die Christen sein, ebenso zu urteilen (z. B. II 198,111 124 f.
u. oft). Dasselbe gilt aber auch von den Festsetzungen der christlimen
Kirme über den Bestand des Kanons, um.somehr, als sie je und dann
nam Ermessen geändert wurden (z. B. 111 97. 123). "Alles Zeugnis
also der sogen. jüdischen und christlichen Kirche ist für einen For-
-scher des Wahren, in Absicht solcher Bücher, die von Gott herkom-
men sollen, zur eigejnen Oberzeugung unzulänglich ... Er erfährt
was diese Parteien selbst sagen und glauben; aber hierdurch ist er von
<ler Same selbst, von der wirklimen Göttlichkeit, nicht gewiß gewor-
den ... Das Zeugnis der sogenannten Kirche kann also, wie ein jedes
historismes Zeugnis, nur von einer äußerlichen Begebenheit etwas
bejahen oder verneinen; die Frage aber, ob ein oder mehrere Bücher
.einen göttlichen Ursprung haben oder einem Verfasser eingegeben
worden sind, ist keine äußerlime Begebenheit; es gibt also auch da-
[301] Die Krisis des Kanons der Kirche 49
von kein äußerliches oder historisches Zeugnis" (I 28 f. 244, 111 353).
Ebensowenig vermag das Urteil von Kirchenversammlungen. Schon
Gregor von Nazianz sprach von den Konzilien seiner Zeit als Ver-
sammlungen von Gänsen und Kranichen, unter denen er sich schäme
zu erscheinen (I 230). Protestanten hätten vollends Grund, sich nicht
auf solche Autoritäten zu berufen. Auch Aussagen der Apostel selbst
sind in dieser Beziehung, wie Semler ausdrücklich hinzufügt, ohne
Beweiskraft. Mit der Menge der sonstigen Beweise der Dogmatik
steht es nicht besser. Man nennt die Wunder. Semler bestreitet sie
nicht, ob er auch sein Urteil zurückhält. Aber möchten auch hie und
da in der hl. Schrift enthaltene Lehren je und dann durch Wunder
bestätigt sein- was ist damit gewonnen für Ursprung und Autori-
tät des Buches, das von ihnen berichtet?- Man verweist auf die Er-
habenheit und Heiligkeit der Lehre. Wo aber wäre in den Büchern
Ruth oder Esra, dem Hohenlied oder dem Philemonbrief, ganz zu
schweigen von der Apokalypse - dieses Buch hat der rohe jüdische
Feuer- und Zorngeist ausgehaucht (I 252) - die Erhabenheit der
Lehre? - Man nennt die Weissagungen, die erfüllt seien. Aber selbst
wenn man sie zugeben wollte- wozu Semler keineswegs ohne wei-
teres bereit ist-, was beweisen die Weissagungen etwa der Genesis
für die Chronik? - Man spricht von der Bekehrungskraft der Bibel.
Spurgeon hoffte, im Himmel einmal Leute zu fmden, die durch die
Geschlechtsregister der Genesis bekehrt worden wären. Aber Semler
fragt, ob etwa durch diese Namenreihen, durch die Geschichten von
Jephta und Simson, durch die Berichte von Heiraten und Feldzügen,
wie sie jedes Volkes Geschichte aufweise, jemand zum Glauben ge-
bracht sei. -Der apostolische Ursprung! Aber haben die Apostel nicht
auch manche Zeilen gleichgiltigen Inhalts geschrieben? (vgl. z. B. 111
352). Übrigens stehe es mit der Überzeugung von der Göttlichkeit
dieser Schriften schlecht genug, wenn sie von der historischen Gewiß-
heit über die Verfasser abhänge. Denn hier blühte der Zweifel durch
Jahrhunderte (111 360). -Die stets herangezogene Bibelstelle 2. Tim
3, 16 aber beweist so wenig, daß Paulus hier vielmehr criteria inspi-
ratarum scripturarum hat an die Hand geben wollen (II 147) und so-
mit den größten Teil des Alten Testaments, nämlich alles, was nicht
zur Besserung nützlich ist, für nicht von Gott eingegeben erklärt! Wie
etwa der fanatische "Roman" des Estherbuches oder die Kultusvor-
schriften des Levitikus zur Besserung nützlich sein sollten, ist ja doch
nicht einzusehen I
So zerpflückt Semler ein Argument der üblichen criteria, an denen
sich die hl. Schrift als Wort Gottes bewähre, nach dem anderen. Ein-
zig das testimonium spiritus sancti, das innere Oberzeugtwerden von
dem Wahrheitsgehalt und Wert, die Förderung, welche man durch
4 Käscm:mn, Kanon
50 [301/300]
sie erfährt, kann die Autorität der hl. Schrift beweisen (II 39); viel-
mehr nicht der hl. Schrift, sondern nur der Stelle, um die es sich ge-
rade handelt. Auf Esther, Ruth oder die Erzählung von Bileams Ese-
lin wird sich dieses Argument nie erstrecken! "Dies ist der einzige
rechte Beweis des göttlichen Ursprungs der Begriffe und Lehren;
aber alle einzelnen Schriften und Teile derselben, die jetzt die Bibel
heißen, trifft er nicht. Ich glaube auch nicht, daß Luther oder Me-
lanchthon jemalen verlangt haben, Leser sollen sich überzeugen durch
göttliche Kraft und Wirkung, von dem göttlichen I Ursprung der Er-
zählungen von Philistern, Simson, Boas, Esther usw." (II 73).
Dies führt bereits zur religiösen Kritik hinüber. Gewiß hat auch
die traditionelle Theorie der Frömmigkeit dienen wollen. Aber sie
verkannte deren Bedürfnisse. Denn sie bedarf gar nicht solch eines
Kanons. Wohl bedarf sie des Wortes Gottes. Aber, wie Sem.ler nicht
müde wird zu wiederholen, das Wort Gottes ist nicht gleich scriptura
sacra. Das Ursprüngliche ist die mündliche Predigt (I 216 f.). Die ka-
nonischen Schriften sind nur ein Niederschlag des mündlichen Un-
terrichts. Des Kanons bedarf es also gar nicht. "Die Grundlehren des
Christentums an und für sich konnten auch ohne Schriften und Bü-
cher richtig und vollständig angenommen, verstanden und erklärt
werden" (111 99). Wie lange haben manche Kirchen nur ein Evan-
gelium gehabt! Aber sie entnahmen daraus dasselbe wie wir aus den
vieren, geschweige denn, daß die Frömmigkeit des ganzen jüdischen
Kanons mit seinen 24 Schriften bedürfte!
Aber dieser Kanon in seiner Gesamtheit ist auch durchaus unfähig
zu leisten, was man von ihm erwartet. Dienen etwa die Bücher Esra,
Nehemia, Esther, Ruth, Richter, Chronik der "moralischen Ausbesse-
rung"? Womit Semler bezeichnet, was man heute etwa sittlich-reli-
giöse Förderung nennen würde. Hat man etwa aus den Geschichten
von Jakob und Jephta einen inneren Gewinn? überhaupt- was geht
uns das Alte Testament an? Es enthält die Geschichte des jüdischen
Volkes. Aber das ist daher auch nur dessen Angelegenheit. Gewiß
enthalten die alttestamentlichen Geschichten manche Wahrheiten.
Aber sie sind verhüllt und verkapselt in Provinzialideen, Lokal-, Fa-
milien- und Zeitideen. Von alldem Vergänglichen sind sie nur schwer
zu lösen. Die zeitgeschichtliche Einkleidung, die Verbindung mit den
Idiotismen des jüdischen Wesens ist zu eng, Religion und bürgerliche
Sozietät sind zu innig miteinander verknüpft, als daß nicht die gleiche
Belehrung und Förderung anderwärts, zumal in der Geschichte der
Christenheit, viel besser gefunden werden könnte als in "ausländi-
schen", "hebräischen" Geschichten (z. B. I 65. 78 f. 239).
Doch nicht nur das. Der jüdische Kanon ist vielfach geradezu min-
derwertig und schädlich. Der jüdische Haß gegen alle anderen Völker,
[302/303] Die Krisis des Kanons der Kirche 51
wie ihn das BuchEsther atmet; die Hoffnung auf sinnliche Glückse-
ligkeit in diesem Leben; die erotischen Schilderungen des Hohen Lie-
des - dieses und vieles sonst ist für unser religiöses Leben vielmehr
nachteilig als förderlich. Bei den Juden selbst hat dieser Kanon viel-
fach den moralischen Fortschritt gehindert. "Für Christen aber ist es"
- der Ausdruck ist Semler nicht zu stark - "unleugbar unanständig,
eine so uneingeschränkte Hochachtung gegen alle Bücher, so die Ju-
den unter ihrer Mikra begreifen, zu hegen, als wenn, wo sie nicht
alle diese Bücher einem Einfluß Gottes beilegten und ihnen einen
unaufhörlichen Nutzen, geistliche Wahrheiten daraus geradehin zu
ihrer geistlichen Wohlfahrt zu lernen und anzuwenden, zuschrieben,
alsdann der christlichen Religion wirklich so und soviel zu ihrer wah-
ren Beschaffenheit und Brauchbarkeit fehlen würde" (I 108).
Aber auch vor dem Neuen Testament macht Semlers religiöse Kri-
tik durchaus nicht halt. Daß die Apokalypse "mit ihren groben und
z. T. albernen Bildern und Malereien", "die niemand ehrlicherweise
... in Lehrsätze und Begriffe der christlichen Heiligkeit verwandeln
kann" (I 155), im Neuen Testamente steht, ist ihm geradezu anstößig.
Aber auch bei Paulus findet Semler manche Stücke, die mit dem
wirklichen Christentum nichts zu tun haben, Reste jüdischen Den-
kens, Anschauungen, die nur als Akkomodation an den kleinen jüdi-
schen Geist zu begreifen sind. Die Beschreibung z. B. des Werkes
Christi als Erlösung vom Fluch des Gesetzes sei eine Anpassung an
den vom Gesetz geängsteten Geist des Judentums. Ähnlich steht es
mit den Relden Jesu selbst. Die von ihm wirklich oder scheinbar ge-
teilte Dämonenvorstellung z. B. ist eine bloße "Zeitidee" und als
solche heute wertlos.
Freilich hat man sich bemüht, durch Allegorese das Anstößige zu
beseitigen, das Unerbauliche erbaulich zu machen. Aberwas fürwun-
derliche Blüten sind dabei getrieben worden! Wenn doch z. B. die
Coccejaner die Schlacht bei Mühlberg, die Gefangennahme des säch-
sischen Kurfürsten unter Karl V. und die Befreiung der Niederlande
im - Hohenliede geweissagt fanden. Aber" wozu sollte denn jener Po-
et von diesen ausländischen Begebenheiten und nicht lieber ebenso gut
von der ostindischen englischen oder holländischen Kompanie den Ju-
den etwas vorsingen?" (I 83). Also die Allegorese ist nur eine leere
und verräterische Ausflucht. Denn in ihr liegt das Eingeständnis, daß
in den Texten selbst oft genug nichts Erbauliches enthalten ist (cf.
z. B. I 52).
Nun will Semler durchaus nicht bestreiten, daß auch die von ihm
als wertlos beurteilten Teile des Kanons mit ihren Gedanken zu ihrer
Zeit einen bestimmten Zweck hatten, ja daß sie unter göttlicher Lei-
tung den Menschen zugekommen sind. Deshalb sind sie aber noch
52 [303/304]
lange nicht "bis ans Ende der Welt zu der Menschen Seligkeit durch
Vermehrung und Ausbesserung moralischer Kenntnisse nötig und
nützlich" (II 152 f. ). Es gibt Fortschritt und Wachstum. Und das ist für
Semler ein weiterer Mangel der gegnerischen Theorie, daß sie die Un-
terschiede des geistigen und sittlichen Zustandes der Menschen nicht
berücksichtigt. Als ob die Bibel ein Buch wäre von gleichem Wert in
allen Teilen für alleund zu allen Zeiten! Aber die herrschende Theorie
vom Kanon hält alle auf der gleichen Stufe fest und hindert so den
Fortschritt - während doch "wahre Christen ... ihre große christliebe
Fähigkeit üben und anwenden und den alten Buchstaben, die Zeit, wo
der Glaube und der Geist noch nicht da war, den Schatten, das Nacht-
licht unterscheiden müssen" (II 95). Hat doch auch Paulus für die Kin-
der aaQXLXOO~ geredet, für die Erwachsenen aber vernünftig. So ist die
Lehre vom Kanon nur eine Bestätigung der häufig von Semler ge-
äußerten Meinung, daß nur sehr weniges von der Kirchentheologie
zur Förderung und "Erleichterung" der wahren, inneren Religion
dienlich ist.
Das Ergebnis der Semlerschen Kritik ist demnach dieses: die tradi-
tionelle Bibeltheorie ist unhaltbar. Sie steht im Widerspruch zur ge-
schichtlichen Wirklichkeit; sie ist religiös unmöglich.-
Die Wurzel des Ubels ist die Verwechselung von hl. Schrift und
Wort Gottes, die einander gleichgesetzt werden. Der Grundsatz der
Gegenseite lautet: Christiani citra ullam dubitationem aut demon-
strationem simpliciter credere debent, verbum dei esse verbum dei,
oder - was ja wohl dasselbe sei, canonem esse canonem. Das sei
Axiom. Denn auch die Lehre von den criteria der hl. Schrift (oben
(Sp. 297) wolle ja nur allerlei "Motive" aufzählen, durch welche den
noch Ungläubigen der Eindruck von der Göttlichkeit der hl. Schrift
vermittelt werden solle. Cum Christianis enim non de scriptura sed e
scriptura disputandum est. Gegen das apriorische Postulat dieses
Standpunktes- mit Semler zu reden: Dichtung in abstracto aus der
Mondwelt - richtet sich sein leidenschaftlicher Kampf. Er wird nicht
müde, gegen den Satz, verbumdeiesse verbum dei, zu protestieren.
Das Wort Gottes ist zwar im "Wort Gottes", nämlich der Bibel, "hie
und da enthalten" (I 48. 131 u. ö.). Abernicht scriptura sacra in einem
Bande genommen ist geradehin das Wort Gottes" (I Vorrede S. 9).
Das Wort Gottes ist "ein Mittel zu einer allgemeinen Absicht, für alle
Menschen, zu ihrer größten Vollkommenheit und Ausbesserung"
(111 598). Aber die jüdischen "Nationalnachrichten" haben damit
nichts zu tun. Die fides, "so sich auf der Menschen Seligkeit und Got-
tes Ehre bezieht", kann große Teile der hl. Schrift gar nicht zum Ge-
genstandehaben (II 18). Mögen Ruth, Esther, Hoheslied "zu der hl.
J
Schrift, wie dieser historische relative Terminus unter den Juden auf-
[304] Die Krisis des Kanons der Kirche
gekommen ist", gehören, so deshalb noch lange nicht zum Worte Got-
tes (I 75). Daher protestiert Semler gegen den Unfug, die ganze Bibel
wie sie ist, in Predigt oder Hausandacht durchzunehmen. Er wünscht
einen Bibelauszug, der fortließe, was nur den Juden gehört (z. B. I
70), und findet den Standpunkt der "papistischen Gelehrten" in die-
ser Beziehung durchaus verständig. Ein solcher Auszug werde posi-
tiv dieselben Dienste leisten wie die Vollbibel (III 541). Die "charakte-
ristischen, lokalen Teile" dienen doch nicht der inneren Förderung.
Das tut nur "das Allgemeine". Jenes ist nur für die Gelehrten (I 86).
Darüber aber, was zu diesem wertvollen "Allgemeinen" gehöre,
könne eine Unsicherheit nicht entstehen. Hier beruft sich Semler auf
die ursprüngliche Evidenz der sittlich-religiösen Erkenntnis: "Die,
die Gottes Eingebung zuerst erfahren haben, haben den göttlichen
Ursprung dieserneuen Vorstellungen und den Zusammenhang der-
selben mit Gottes Wirkung bloß aus dem Inhalt und aus der Erfah-
rung der neuen Wirkung abgenommen, wodurch ihre vorige Neigung
gebessert worden" (III 318). "Göttliche Wahrheiten empfehlen sich,
weil sie gemeinnützig sind, sogleich von selbst. Die Wirklichkeit ihres
Inhalts entdeckt sich ohne Untersuchung" (III 336).
Hiernach könnte es den Anschein haben, als ob für Semler doch
noch irgendwie ein Kern des Kanons übrig bliebe. In Wirklichkeit ist
das nicht der Fall. Vielmehr wird der Begriff des Kanons so erweicht,
daß man von seiner völligen Auflösung sprechen muß. Wertlos ist
das Historische, das Individuelle, das Lokale. Was aber ist das Wert-
volle, das bleibt? Semler sagt: das Allgemeine, nämlich was darum
von allgemeinem, an die Schranken von Ort, Zeit und Individuum
nicht gebundenem Wert ist, weil es "der moralischen Ausbesserung",
wir würden sagen: der geistigen und sittlichen Förderung dient. Sem-
ler denkt nicht nur an Tugendlehren und -vorbilder, sondern zu-
gleich an alle Wahrheiten, die ihm zu einer geläuterten Gotteser-
kenntnis gehören. Dringt man aber aufs Konkrete, so greift man ins
Leere. Materielle, allgemeingiltige Regeln für die Auswahl des als
bleibend wertvoll Anzuerkennenden gibt es für ihn nicht und kann
es nicht geben, weil der geistig-sittliche Stand der Menschen örtlich,
zeitlich und individuell verschieden ist (I § 5). Nur dann, so weit und
so lange hat man die Bücher des Kanon als göttlich zu beurteilen,
wenn, soweit und solange man sie ihrem Endzweck dienlich findet,
daß nämlich "Gott dadurch Menschen in heilsamen und notwendigen
Wahrheiten viel gewisser, leichter und nützlicher hat unterrichten
lassen wollen" (I 8). Darüber, wie weit das der Fall ist, muß jeder für
sim selbst entscheiden (II 123. 179. 281). Und auch sein Urteil wird
sich wandeln. Das Buch Ruth oder den Philemonbrief erklärt Sem-
ler nicht für durchaus nutzlos. Aber sie werden nutzlos, sobald jemand
54 HEI\MANN STRATHMANN [304/305]
die hier vertretenen Grundsätze schon selbst besitzt oder gar darüber
hinauswächst (I 25 f.). Der "Kanon" wird eine fließende Größe, und
da man geistig-sittliche Förderung keineswegs nur aus biblischen
Schriften empfangen kann, so schrumpft der Bibelkanon nicht nur
zusammen, sondern er verliert zugleich alles Spezifische gegenüber
der außerbiblischen Literatur, während andrerseits auch aus den spä-
teren Jahrhunderten immer Neues hinzutreten könnte.
Semler selbst will diese Folgerungen nicht ziehen. Aber entziehen
kann er sich ihnen nur durch Inkonsequenzen und - von seinen
Grundanschauungen aus geurteilt- willkürliche Einschränkungen.
Natürlich ist Semler der Meinung, daß Gott auch unter den Heiden
moralische Wahrheiten verbreitet, die geradezu als seine Eingebun-
gen anzusehen sind (z. B. IV 284. 326 f.). Aber "es ist keine Fantasay
und Einbildung, I daß Gott in den Christen durch größere geistliche
Wirkungen sich beweiset und offenbaret, als durch natürliche sonst
auch göttliche Religion je geschehen ist oder geschehen mag" (111
Vorr. S. 28). Ja, er statuiert, daß kanonische Schrüten nur aus der
apostolischen Zeit, nur aus den Schriften des Urchristentums stammen
dürften. Er statuiert es. Aber er begründet es nicht. Was ihn dazu be-
stimmt, ist nicht die Folgerichtigkeit seiner Theorie, sondern das
Schwergewicht der Tradition, die sein Gefühl beherrscht. Die Frei-
heit des geschichtslosen Individuums beugt sich unwillkürlich der Au-
torität der Geschichte.
Auch dem Einwand, daß es nach ihm des Kanonisierens kein Ende
sein werde (II 410), da z. B. das Kirchenlied eines Orthodoxen oder
auch eines Sozinianers, in dem Gottes Weisheit und Güte gepriesen
wird, für Semler Anspruch auf kanonisches Ansehen haben müsse,
kann er nichts Durchschlagendes entgegenstellen. Semler antwortet
zwar: Keineswegs; denn es sei nur die Rede von den in den vorigen
Zeiten in den Kanon gebrachten Schriften (II 413); auch erweise sich
der Inhalt einer Schrift nur dann als göttlich, wenn er neue, überna-
türlich entstandene Vorstellungen und Urteile enthalte. Neue mora-
lische Begriffe könnten sich aber in protestantischen Kirchenliedern
der Natur der Sache nach nicht fmden. "Es muß ... dieses Merkmal
(des Kanonischen) seine wahre Größe und Ausdehnung haben: meh-
rere moralische Wahrheiten, muß neue, vorher unbekannte Objekte
und Realitäten begreifen, neue Verknüpfung mit den schon daseien-
den Erkenntnissen; neue und mehrere Wirkungen, zu größeren und
mehreren moralischen, inneren Vollkommenheilen ... und nun muß
dies immer fortgehen ... so ist das der gewisseste und unfehlbare Be-
weis ... des göttlichen Ursprungs solcher Begriffe und der dazu ge-
hörigen Realitäten" (111 328; vgl. Il412. 596; 111 319). Es liegt auf
der Hand, daß von Semlers Grundstellung aus geurteilt es sich hier
[305/306] Die Krisis des Kanons der Kirche 55
um willkürliche Einschränkungen handelt, die den Zweck haben, nun
doch den biblischen Schriften eine Sonderstellung zu sichern.
Auch der Besorgnis, daß mit wachsender moralischer Vollkommen-
heit der Kanon einer fortschreitenden Schwindsucht anheimfallen
müsse, glaubt sich Semler entziehen zu können. "Allgemeine unauf-
hörliche Brauchbarkeit der Begriffe und Lehrsätze" (II 398) ist ihm
wesentliches Merkmal des Kanonischen, und er traut der Bibel in
hohem Maße diese dauernde Brauchbarkeit zu und beruft sich dafür
auf die Erfahrung aller christlichen Jahrhunderte (111 335 f.). Da er
aber gleichzeitig nicht müde wird, das ständige moralische Wachs-
tum - oder vielmehr den Wachstum - zu betonen, und sich auch
selbst über manche biblische Schriften, wie etwa Apokalypse und Phi-
lemonbrief, längst hinausgewachsen erscheint, so ist nicht einzusehen,
weshalb es schließlich mit den übrigen Schriften anders gehen sollte. -
SemZer hat demnach den herkömmlichen Kanonsbegriff, die her-
kömmliche Bibeltheorie wohl zersetzt, aber eine neue überzeugende
Begründung der dennoch fortbestehenden Autorität der Bibel in kei-
ner Weise zu geben vermocht, obwohl er gefühlsmäßig unter der Wir-
kung der Tradition dahin strebte. Seine Wirkung war darum nur eine
unterwühlende, auflösende, nicht eine aufbauende, trotz seiner ge-
genteiligen Absicht. Der Begriff des Kanons hatte in Wirklichkeit für
ihn nur noch eine historische Bedeutung. Er gehörte ihm der Vergan-
genheit an, wie er denn gelegentlich von dem "ehemaligen Kanon"
sprechen kann (I 174). Am besten überließe man "den ganzen Praß
vom canone der Kirchengeschichte" (III Vorr. S. 35).
Der Grund dieser Unfähigkeit Semlers liegt in dem juridisch-
doktrinären Religionsbegriff-den er als nicht weiter diskussionsbe-
dürftige Voraussetzung mit seinen Gegnern teilte. "Religio christiana
est ratio colendi verum deum in verbo praescripjta" formulierte Quen-
stedt. "Religio, quae est forma aut ratio colendi deum, ambitu suo
complectitur credenda et agenda" heißt es bei Hollatz. Dies konnte
Semler durchaus akzeptieren. Denn auch für ihn bestand die christ-
liche Religion aus Wahrheiten, Erkenntnissen, Lehrsätzen, die man
glauben und anerkennen muß und einem entsprechenden Verhalten.
Für den Inhalt beriefen sich seine Gegner auf das "Wort Gottes",
dessen Autorität entscheidend nur mit dem testimonium spiritus
sancti internum zu begründen war. Semler akzeptierte auch das, aber
so, daß er das Wort Gottes vom" Wort Gottes", nämlich der hl. Schrift,
unterschied, und das Argument, welches die Autorität der Bibel be-
gründen sollte, als kritischen Maßstab gegen sie wandte. Er verstand
das testimonium spiritus sancti internumals die Evidenz der sittlich-
religiösen Erkenntnis. Diese aber stützt die Autorität der Bibel nur
so, daß sie sie zugleich einschneidend - auf die einleuchtenden
56 [306]
I II.
schaft, sondern eine dogmatische, eine Magd der Dogmatik, wie den
Alten, nur in entgegengesetzter Richtung (ThStKr 1860 S. 12-20).
Aber die Belastung mit dogmatischen Folgerungen blieb ein schweres
Hemmnis für die Entwicklung einer unvoreingenommenen Erfor-
schung und Beurteilung des Ursprungs des urchristlichen Schrifttums.
Die dogmatisch-historische Problemverschlingung löste sich für das
theologische Empfmden nur sehr allmählich. Wenn man in Feines
"Einleitung" liest, es sei die Aufgabe der neutestamentlichen Einlei-
tungswissenschaft, den geschichtlichen Grund und das geschichtliche
Recht der Wertung des Neuen Testaments zu erweisen, die in ihm das
Buch sieht, das für die christliche Kirche Urkunde der Offenbarung
Gottes und Norm des Glaubens und Lebens bildet (8. A. 1936 S. 4), so
wird man darin einen letzten Ausläufer dieser verhängnisvollen
Problemverschlingung erblicken müssen. Wer wollte sagen, daß sie
im Bewußtsein der Heutigen nicht mehr nachwirkt?
Viel bedeutsamer aber ist die hemmende Wirkung, die von hier
aus auf die Klärung des Verhältnisses der christlichen Gemeinde zur
Bibel ausging. Denn ihre Gedanken über die Bibel wurden hierdurch
bei historistisch-dogmatischen Versuchen festgehalten und so der
Durchstoß zu einer klaren religiösen und zugleich echt geschichtlichen
Betrachtung verhindert.
Jene Bemühungen sind historistisch, sofern sie auf der I Vorstellung
ruhen, die Autorität der neutestamentlichen Bücher durch gesd:licht-
liche Einzelnachweise über ihren Ursprung begrenzen oder begrün-
den zu können oder auch nur etwas Entscheidendes hierzu auf diesem
Wege beizutragen. Hier müßte schon der Umstand zur Vorsicht mah-
nen, daß dann das Ansehen dieser Schriften immer von den schwan-
kenden Urteilen der "derzeitigen sicheren Resultate der historischen
Kritik" abhängig bliebe. Wie "derzeitig" diese Resultate großenteils
waren oder sind, bedarf keiner Erörterung. Abgesehen davon aber
kann das kanonische Ansehen der biblischen Bücher so nur durch Ver-
koppelung mit Residuen der alten Inspirationslehre begründet wer-
den. Gelingt es, die Herkunft dieser oder jener Schrift von Aposteln
oder Männem der apostolischen Zeit zu dem optimalen Grad von
Wahrscheinlichkeit zu erheben, der bei geschichtlichen Fragen der
Art überhaupt erreichbar ist, so ist das zwar historisch gewiß von
hohem Interesse. Es ist aber schlechterdings nicht einzusehen, inwie-
fern damit eine maßgebende religiöse Autorität, wie sie der Begriff
des Kanons in sich schließt, begründet wäre, es sei denn, daß im vor-
aus die entsprechende religiöse Autorität der Apostel oder der aposto-
lischen Männer feststeht, d. h. wenn sie in dieser ihrer Eigenschaft
und deren Betätigungen als inspiriert gedacht werden. Die Herkunft
der Schriften von Aposteln oder apostolischen Männem ist dann also
[308/309] Die Krisis des Kanons der Kirche 59
32, 15 denken; aber die sind zerbrochen) und kann keine geben. lg-
natius von Antiochien hatte ganz recht, wenn er seinen Gegnern zu-
rief: "Meine Urkunden sind Jesus Christus, ... sein Kreuz, sein Tod,
seine Auferstehung und der durch ihn bestehende Glaube" (Philad.
8, 2). Man sollte also diesen höchst konfusen Begriff fallen lassen. Die
neutestamentlieben Schriften sind Urkunden, nämlich Urzeugnisse
der glaubensvollen Verkündigung, aus der die Kirche erwachsen ist,
"Zeugnisse der kirebengründenden Predigt", wie M. Kähler zu sagen
pflegte. Das Zentrum dieser Zeugnisse bildet die Gestalt Christi -
und sonst nichts-, deren erlösende, lebenspendende Macht die Zeu-
gen als erlebte Wirklichkeit bekunden. Das geschieht in der Form von
Berichten über ihn, von mancherlei Bildern, Vergleichen und lehr-
haften Aussagen. Aber nicht diese Lehren, sondern die Gestalt, die
sie schildern und von deren Bedeutung sie handeln, bildet den Mit-
telpunkt. Die christliebe Gemeinde schätzt diese Schriften, weil sie
von der in ihnen bezeugten Gestalt zu dem Glauben überwunden
wurde, in dem sie den Frieden mit Gott und ewiges Leben fmdet.
Diese religiöse Lebensbeziehung erneuert sieb in ihr von Geschlecht
zu Geschlecht. Sie ist eine Lebensbeziehung der Gemeinde wie ihrer
einzelnen Glieder, die die Wahrheit von Job 6, 56 an sich erfahren
und daher von dieser Gestalt nicht loskommen. Der Christ glaubt
demnach, um abermals eine der präzisen Kählerschen Formulierun-
gen zu gebrauchen, "an die Bibel" (sofern man diesen ungenauen
Ausdruck einmal gelten lassen will) um Christi willen, nicht aber an
Christus um der Bibel willen. Da dieses Verhältnis zum Neuen Te-
stament geschichtlich erwachsen ist und sich im Lauf der Geschichte
immer wieder erneuert, ist es zugleich als religiös und geschichtlich
zu bezeichnen.
Das so begründete Verhältnis läßt eben darum zugleich die Frei-
heit zu völlig unbefangener Würdigung dieser Schriften sowohl nach
der religiösen wie nach der geschichtlichen Seite zu und macht zu-
gleich ihren doktrinär-juridischen Mißbrauch unmöglich. Da nämlich
der Glaube, um den es sich hier handelt, Glaube an die Gestalt Chri-
sti ist, kann niemals gefolgert werden, daß die Urzeugnisse dieses
Glaubens, in denen gewiß Gottes Geist, aber durch gläubige Men-
schen, zu uns redet, von dem Menschlichen dieser Zeugen nichts mehr
an sich tragen dürften und also alle Aussagen und Urteile unbesehen
als autoritativ übernommen werden müßten. Vielmehr ist es einzig
folgerichtig, alles vom Zentrum aus zu prüfen und zu beurteilen.
Mit anderen Worten: Was Luther in seiner Vorrede zum Jakobus-
brief über das Christum-Treiben gesagt hat, bringt mit der intuitiven
Sicherheit des Genius den Sachverhalt auf die schlechthin zutreffende
Formel. Auch nach der geschichtlichen Seite hin läßt das so verstan-
[309/310] Die Krisis des Kanons der Kirche 61
Die Frage nach dem Wesen und der richtigen Bewertung des neu-
testamentlichen Kanons steht heute nicht im Mittelpunkt der theo-
logischen Diskussion. Man nimmt in der Regel den Kanon als gege-
bene Größe hin, ohne sich über die Notwendigkeit des Vorhanden-
seins einer abgegrenzten Sammlung urchristlicher Schriften oder
über Recht und Unrecht der geschehenen Abgrenzung klare Vorstel-
lungen zu machen. Diese Unklarheit aber ist innerhalb einer Kirche,
die ihre göttliche Botschaft allein aus dem im Kanon gesammelten
urchristlichen Schrifttum (und erst in dessen Licht dann auch aus dem
Alten Testament) empfängt, nicht wohl tragbar, und so hat H. Strath-
mann1 diese Unklarheit mit Recht "eine schleichende Krankheit der
evangelischen Theologie und damit der evangelischen Kirche" ge-
nannt. Erhebt nämlich innerhalb einer an das Evangelium allein ge-
bundenen Kirche die theologische Lehre ebenso wie die praktische
Verkündigung den Anspruch, dem Menschen rettende Botschaft und
bindende Weisung nur darum verkünden zu sollen, weil Gottes Wort
sie dazu ermächtigt, so darf gerade die Frage nicht unbeantwortet
bleiben, wo dieses Wort sicher zu finden sei und wie man es in den
biblischen Schriften sicher finden könne. Diese Frage schien ja so
lange leicht zu beantworten zu sein, als die überzeugung herrschte,
"daß das Neue Testament seit unvordenklichen Zeiten der Kirche
den Dienst leiste", welchen es den Vätern der Kirche am Ende des
2. Jahrhunderts geleistet hat, als man begann, sich über den Umfang
des neutestamentlichen Kanons Gedanken zu machen2 • Diese Ober-
zeugung aber wurde unhaltbar, als durch Johann Salomo SemZer
• Aus: W. G. Kümmel, Heilsgeschehen und Geschichte. Ges. Aufsätze 1933 bis
1964, hg. von E. Grässer, 0. Merk und A. Fritz (Marburgcr Theologische Stu-
dien 3), Elwert-Verlag, Marburg 1965, S. 230-259 (Erstveröffentlichung in: ZThK
47, 1950, s. 277-313).
1 H. Strathmann, Die Krisis des Kanons der Kirche. Job. Gerhards und Job. Sal.
und seine Nachfolger der Nachweis geführt worden war, daß der Ka-
non des Neuen Testaments sich erst im Laufe des 2. Jahrhunderts all-
mählich zu formen begonnen hat und daß seine Abgrenzung zu
der uns geläufigen Form erst die Folge einer jahrhundertelangen
Auseinandersetzung innerhalb der Kirche gewesen ist. Damit stand
ja fest, daß Entstehung und Abgrenzung des Kanons innerhalb der
kirchlichen Entwicklung vom 2. Jahrhundert an vor sich gegangen
ist, daß der Kanon also zum mindesten in seiner endgültigen Form
eine I Schöpfung der Kirche und damit Resultat eines geschichtlichen
Werdeprozesses ist. Eine die geschichtliche Wirklichkeit ernst neh·
mende Theologie und Verkündigung sieht sich also im Kanon einer
geschichtlichen Größe gegenübergestellt, angesichts derer die Frage
nach ihrer Entstehung und nach der sachlichen Berechtigung ihrer
Entwicklung unausweichlich gestellt werden muß. Und es gibt keine
andere Möglichkeit, über Bedeutung und Umfang des neutestament-
lichen Kanons für die Kirche von heute Klarheit zu gewinnen als auf
dem Wege über die geschichtliche Frage nach dem Werden dieser
Schriftensammlung.
Diese geschichtliche Frage nach dem Werden des neutestament-
lichen Kanons, die Kanonsgeschichte, ist aber dann auch in doppelter
Hinsicht von aktueller theologischer Bedeutsamkeit. 1. Die Untersu-
chung der Kanonsbildung darf ihr Augenmerk nicht bloß auf die
wechselreichen Wandlungen in der Abgrenzung des Kanons richten,
sondern muß vor allem fragen nach den Motiven, die überhaupt zur
Bildung eines neuen Kanons und zur Ausschließung oder Einbezie-
hung der einzelnen Schriften in diesen Kanon führten. Denn der Ka-
non als geschichtlich gegebene Größe kann nur aus den bei seiner Bil-
dung bestimmenden Vorstellungen begriffen werden, die sachliche
Berechtigung oder Notwendigkeit gerade dieser Abgrenzung kann
ohne Kenntnis der dabei einstmals treibenden Motive nicht nachge-
prüft werden. Die bis heute umstrittene Frage, ob die Gesamtheit der
von der Alten Kirche kanonisierten Schriften mit Recht zum Kanon
gerechnet wird, kann man also nur unter Berücksichtigung des ge-
schichtlichen Werdens dieser Abgrenzung zu beantworten versuchen.
2. Viel wichtiger ist aber, daß die Einsicht in das geschichtliche Wer-
den und die geschichtliche Bedingtheit der Kanonsbildung die theolo-
gische Besinnung dazu zwingt, die Frage nach dem Recht, der Not-
wendigkeit und der bleibenden Bedeutung der Kanonsbildung über-
haupt zu stellen und von da aus die Frage zu klären, in welchem
Sinn dieser geschichtlich gewordene Kanon auch für uns heute nor-
mativen Charakter haben könne oder müsse. Denn es kann kein
Zweifel sein, daß mit der Erkenntnis vom geschichtlichen Werden
und damit der zufälligen Gestalt des neutestamentlichen Kanons sidl
64 WERNER GEORG KüMMEL (231/~]
die Frage stellen mußte und immer wieder stellt, ob der geschichtlich
so zufällig zustande gekommene Kanon überhaupt bleibende norma-
tive Bedeutung haben könne bzw. worin diese normative Bedeutung
begründet sei. Die Einsicht in die geschichtliche Zufälligkeit der über-
lieferten Gestalt des neutestamentlichen Kanons hatte ja schon loh.
Sal. Semler dazu geführt, den Kanon praktisch aufzugeben, da für
ihn nur noch das im Kanon als wertvoll bestehen bleibt, was der "mo-
ralischen Ausbesserung" dient3 • Und die kritische Theologie neigte
lange Zeit dazu, den Kanon nur noch als eine geschichtliche Gegeben-
heit zu werten, die durchaus zufälligen Charakter trage und dogma-
tisch keine maßgebende Bedeutung mehr haben dürfe4 • Die Einsicht
in die geschichtliche Bedingtheit und I Zufälligkeit des Kanons hatte
also die Aufhebung seiner Anerkennung als einer wesentlichen
Norm, die Bestreitung seiner Notwendigkeit zur Folge.
Aber so sehr die Einsicht in die geschichtliche Bedingtheit der Ka-
nonsbildung und Kanonsabgrenzung davon befreien mußte, "daß
dieser Kanon aus einer Stütze ein drückendes Joch werden- bleiben
durfte" 5 , so problematisch mußte doch die völlige Preisgabe des Ka-
nonsbegriffes für eine Theologie sein, die wieder darum wußte, daß
alle christliche Verkündigung ihre Begründung und Ermächtigung
allein durch das einmalige Handeln Gottes in Jesus Christus und den
Aposteln erhält, und der darum die Frage brennend ist, wo dieses ein-
malige Heilshandeln Gottes uns in unverfälschter Form faßbar sei.
Wenn wir uns an die geschichtliche Offenbarung Gottes in Jesus
Christus gebunden wissen, so müssen wir ernstlich fragen, ob der Ka-
non des Neuen Testaments nicht doch eine bleibende und unaufgeb-
bare Bedeutung habe. Darum ist eine Neubesinnung auf Notwendig-
keit und Grenze des neutestamentlichen Kanons eine unumgängliche
Aufgabe einer an das Evangelium gebundenen Theologie, eine Auf-
gabe, die freilich nur unter sorgfältiger Berücksichtigung der Ge-
schichte dieses Kanons in befriedigender Weise gelöst werden kann.
Es wird darum notwendig sein, der grundsätzlichen Besinnung über
a Siehe den Nachweis bei H. Strathmann, ThBl20, 1941, Sp. 298 ff.
4 Vgl. z. B. H.J. Holtzmann, Lehrbuch der historisch-kritischen Einleitung in das
NT, 18928, S. 186: "Damit ist aber der Begriff des Kanons in seiner scharfen dog-
matischen Umrissenheil überhaupt aufgegeben, und insofern hat die ,Geschichte
des Kanons' ihren unvermeidlichen Abschluß gefunden"; W. Wrede, Uber Auf-
gabe und Methode der sogenannten Neutestamentlichen Theologie, 1897, S. 11:
"Wo man die Inspirationslehre streicht, kann auch der dogmatische Begriff des
Kanons nicht aufrecht erhalten werden ... Wer also den Begriff des Kanons als
feststehend betrachtet, unterwirft sich damit der Autorität der Bischöfe und Theo-
logen jener Jahrhunderte. Wer diese Autorität in andem Dingen nicht aner-
kennt ... , handelt folgerichtig, wenn er sie auch hier in Frage stellt." Siehe auch
H. Weinel, Biblische Theologie des Neuen Testaments, 1921 1, S. 8 f.
1 A. Jülicher-E. Fascher, Einleitung in das Neue Testament, 19317, S. 558.
[232/ 233] Notwendigkeit und Grenze des neutestamentlichen Kanons 65
II
Jesus und die Urchristenheit haben das Alte Testament als Heilige
Schrift gekannt und anerkannt. Es ist aber äußerst fraglich, ob der
alttestamentliche Kanon zur Zeit Jesu in Palästina schon endgültig
abgeschlossen war, da wir erst gegen Ende des ersten Jahrhunderts
von der offiziellen Abgrenzung des palästinischen Kanons hören7, so
daß wir schwerlich das Recht haben, für die palästinische Urchristen-
heit die Vorstellung eines endgültig abgeschlossenen Kanons voraus-
zusetzen. Darüber hinaus steht Jesus der von ihm anerkannten Norm
der "Schriften" im einlzelnen durchaus frei gegenüber, weil er sich das
Recht zuerkennt, als der eschatologische Ausleger der Gottesworte in
eigener Vollmacht darüber zu entscheiden, was innerhalb der "Schrif-
ten" wirklich Gottes Wort ist8 • Indem Jesus so der überlieferten Schrift-
norm autoritativ gegenübersteht, wohnt der christlichen Stellung zur
alttestamentlichen Schriftnorm von vorneherein eine kritische Kom-
ponente inne: oberste Norm ist sachlich die Person Jesu selbst. Das
zeigt sich ganz ähnlich auch bei Paulus. Auch Paulus kennt die jü-
dische Bibel als Autorität und zitiert aus allen drei Teilen des hebräi-
schen Kanons9 • Da er das Alte Testament meistens nach der Septua-
ginta zitiert, jedenfalls nicht auf den Urtext zurückgreift, ist es äußerst
wahrscheinlich, daß für ihn das Alte Testament den Umfang der
Septuaginta hatte. Von einer Abgrenzung des jüdisch-hellenistischen
Kanons hören wir aber aus jüdischen Quellen nirgendwo etwas, und
als die ersten christlichen Kanonsverzeichnisse für das Alte Testament
aufgestellt wurden, wichen sie in den einzelnen Kirchenprovinzen
sehr stark voneinander ab 10 • Es ist darum sehr wahrscheinlich, daß
1 Für die Einzelheiten sei verwiesen auf die Darstellungen in den "Einleitun-
gen in das NT" von A. Jülicher-E. Faseher (19317), P. Feine-/. Behm (19368), W.
Michaelis (1946), ferner auf 1. Leipoldt, Geschichte des neutestamentlichen Ka-
nons I. II, 1907/08. Die beste Quellensammlung ist noch immer E. Preuschen, Ana-
leeta II: Zur Kanonsgeschichte, 191()1 (eine Neuauflage ist dringend erwünscht);
die kleinere Sammlung von F. W. Grosheide, Some Early Lists of the Books of
the New Testament, 1948, ist unzureichend.
7 0. Ei.ssfeldt, Einleitung in das AT, 1934, S. 618 ff.
8 Siehe W. G. Kümmel, Jesus und der jüdische Traditionsgedanke, ZNW 33,
1934, S. 105 ff.; A. Oepke, Jesus und das AT, 1938; ders., Studia Theologica II,
s.
1948/50, 136.
• 0. Michel, Paulus und seine Bibel, 1929.
10 A. Jepsen, Kanon und Text des AT, ThLZ 74, 1949, S. 65 ff. (68 f.).
5 Käscmann, Kanon
66 WERNl!.R GEORG KüMMEL [233/234]
ZNW 31, 1932, S. 84 ff.). Röm 16, 26 cpaVEQ<.Ot!vto~ 6! vüv 6..U n yQacp<i)v
XQOCinl'tLXÖJVmit seinem Hinweis auf christliebe Offenbarungsschriften erweist sieb
auch von hier aus als nic:bt-paulinisc:b und spät-nachapostolisch (vgl. M. Gogwl,
Introduction au Nouveau Testament IV, 2, 1926, S. 251 f.).
11 "Wie nun der Herr ohne den Vater nichts getan hat, mit dem er geeinigt ist,
weder in eigener Person, noch durch die Apostel, so tut auch ihr nichts ohne den
Bischof ... "
1' A. Jülic:lu!r-(E. Fascher), Einleitung in das NT, 19317, S. 405; ähnlich J. Lei-
poldt, Geschichte des neutestamentlieben Kanons I, S. 190 f.
11 Im Polykarpbrief 12,1 kann die Anführung von Eph 4, 26 als scriptura nur
ein Fehler der Oberlieferung oder ein Irrtum sein (s. 1. Leipoldt, aaO I, S. 191).
s•
68 WERNER GEORG KüMMEL [235)
hannes neben die des Kyrios gestellt wird. W. Bauer, aaO, S. 218macht darauf auf-
merksam, daß sich bei Justin aber keine Kenntnis der Paulusbriefe verrät.
70 WEBNER GEORG KÜMMEL (236/237]
rückten, welche Würde vorher den Worten des Kyrios und den An-
ordnungen der apostolischen Zeugen eingeräumt worden war. Die
Bildung eines neutestamentlichen Kanons hat sich also mit dem Ende
des urchristlichen Zeitalters als notwendige Formwerdung innerhalb
der Kirche vollzogen, und dieser Kanon hatte von Anfang an aus sach-
lichen Gründen die Tendenz, Evangelienschriften und Apostelschrif-
ten nebeneinander zu enthalten.
Nun war freilich etwa zur gleichen Zeit um die Mitte des 2. Jahr-
hunderts in Rom der Kleinasiate Markion aufgetreten und hatte nach
seiner endgültigen Trennung von der römischen Gemeinde für seine
Gemeinde unter völliger Verwerfung des Alten Testaments eine neue
Heilige Schrift geschaffen, die aus E'Öayylllov und W.:ocno).~ be-
stand, das heißt aus einem verkürzten Lukasevangelium und zehn
ebenfalls verkürzten Paulusbriefen (ohne die Pastoralbriefe). Die
Kirchenväter sind nun in ihrer Polemik gegen Markion von der An-
schauung ausgegangen, Markion habe aus einem bereits bestehenden
Vierevangelienkanon der Kirche ebenso wie aus einer umfanglreiche-
ren kirchlichen Sammlung der Apostelschriften eine willkürliche Aus-
wahl getroffen22 • Demgegenüber hat A. Hamack die Anschauung
vertreten, Markion habe als erster nicht nur den Gedanken eines
neuen Schriftenkanons, sondern auch die Zweiteiligkeil dieses Ka-
nons erfunden, und die Kirche ho.be beides von Markion übcmom-
men23; die Schaffung eines Neuen Testaments ebenso wie dessen Aus-
gestaltung in zweiteiliger Form wären demnach erst ein Gegenschlag
der Kirche gegen Markions grundlegende Schöpfung gewesen. Noch
einen Schritt weiter ist neuerdings J. Knox gegangen mit seiner
These, daß die Kirche durch Markions Kanon aus E'ÖayyULov und
W.:ootoA.o; gezwungen worden sei, dem Kanon Markions einen um-
fangreicheren Kanon aus vier Evangelien und einem erweiterten
Apostolos einschließlich der Apostelgeschichte gegenüberzustellen2'.
Nun kann ja keine Frage sein, daß Markion als erster einen geschlos-
senen Kanon geschaffen und an die Stelle des Alten Testaments ge-
11 Siehe besonders Iren. adv. haer. 111, 12, 15 (11, 67 ed. Harvey) und Epiph.,
haer. 42, 9 bei Prewchen, Analeeta II, S. 7 f. Ähnlich noch M. Meinertz, Einleitung
in das NT, 19334, S. 334.
11 A. v. Harnack, Die Entstehung des NT und die wichtigsten Folgen der neuen
Sdlöpfung, 1914, S. 40 ff.; ders., Marcion: Das Evangelium vom fremden Gott,
19241, s. 72 f., 210 ff., 441* ff.
14 J. Kno:r, Mareion and the New Testament. An Essay in the Early History of
the Canon, 1942. Kno:r behauptet sogar, Markions t:uayyH.tov gehe auf eine frü-
here Form des Lukasevangeliums zurück als das kanonische Lukasevangelium,
und das kanonische Doppelwerk Lukas-Apostelgeschichte sei erst im Gegensatz zu
Markions Kanon nach 150 durch Erweiterung des ursprünglichen Lukasevangeliums
geschaffen worden, um den Paulus kirchlich einzuordnen. Diese These, die für das
Lukasevangelium nur durch sorgfältige textkritische Untersuchungen ausreichend
[237 /238] ~otwendigkcit und Grenze des neutestamentlichen Kanons 71
stellt hat; dagegen ist es keineswegs sicher, daß Markion sein eines
Evangelium aus dem kirchlichen Vierevangelienkanon ausgesucht
und daß er mehr als die zehn von ihm aufgenommenen Paulusbriefe
gekannt hat25 • Daß Markions Kanon eine Auswahl aus dem schon
vorhandenen reicheren kirchlichen Kanon gewesen sei, wie es die
Kirchenväter wollten, widerspricht in der Tat allem, was wir von der
Stellung der Kirche zu den Schriften des späteren Neuen Testaments
aus der Zeit Markions wissen. Aber ebensowenig gibt es ausreichende
Beweise für die Annahme, erst Markions Kanon habe die Bildung
eines zweiteiligen Neuen Testaments oder gar des Vierevangelien-
kanons veranlaßt. Wir hören ja von der Zusammenordnung mehrerer
Evangelienschriften, wie wir sahen, schon vor der Mitte des 2. Jahr-
hunderts, und der Vierevangelienkanon hat sich gar nicht mit einem
Schlag, sondern nur zögernd im Laufe der zweiten Hälfte des 2. Jahr-
hunderts in der Kirche durchgesetzt28 • Und die schon vor Markion
nachweisbare Anschauung von der normativen Bedeutung der Lehre
der Apostel hat ebenfalls in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts
nur langsam dazu geführt, daß Zitate aus Apostelschriften den IEvan-
gelienzitaten gleichgestellt wurden27 • Markions Kanonsbildung hat
also weder die Entstehung eines Neuen Testaments noch die Bildung
eines Vierevangelienkanons noch gar die Nebeneinanderstellung von
Evangelien und Apostelschriften erst veranlaßt. Die Gleichstellung
von Evangelienschriften mit der Heiligen Schrift des Alten Testa-
ments und das langsame Einrücken apostolischer Schriften in die
gleiche Würde ergaben sich vielmehr aus dem schon im apostolischen
und nachapostolischen Zeitalter sich zeigenden Bedürfnis der Kirche
mit innerer Notwendigkeit. Aber das Vorhandensein des abgeschlos-
widerlegt werden könnte, ist weder durch die vorgelegte Wortstatistik bewiesen
noch in Obereinstimmung mit der Tatsache, daß die Apostelgeschichte die Samm-
lung der Paulusbriefe noch nicht kennt.
II Siehe W. Bauer, Rechtgläubigkeit und Ketzerei, S. 225 ff.
11 Noch Tatian konnte es wagen, die vier Evangelien in eines zusammenzuzie-
hen; die von Epiphanius als "Aloger" bezeichneten Gegner des Montanismus
konnten um 170 das Johannesevangelium und die Apokalypse als Werke des Gno-
stikers Kerinth verwerfen, ohne aus dem Rahmen der Kirche zu fallen (s. J. Lei-
poldt, Geschichte I, S. 43 ff., 146 ff.; W. Bauer, aaO, S. 209 f.).
17 Tatian hat auch eine sprachliche Überarbeitung der Paulusbriefe vorgenom-
men (Eus. h. e. IV, 29, 6); Athenagaras führt ein zusammengesetztes Pauluszitat
xa'ta 'tOV lut6a'toA.ov an (de res.18);Theophilus vonAntiochien stellt 'tO EÜayyt:A.LOv
und ln Jli!V xat 6 eEio~ >..6yo~ (zusammengesetztes Zitat aus Paulus) nebeneinan-
der (s. R. M. Grant, The Bible of Theophilus of Antioch, JBL 66, 1947, S. 173 ff.);
der Gnostiker Ptolemäus (s. A. v. Hamack, Ptolemäus, Brief an die Flora, 1912)
zitiert den xueLo~ und Ilaü>..o~ 6 ci1t6'toA.o~ in gleicher Weise (II, 4; III, 15; IV, 5).
Andererseits stellen die Märtyrer von Scili (um 180, s. Preusdten, Analeeta II,
S. 17) neben die libri, zu denen zweifellos auch die Evangelien zu rechnen sind,
die epistulae Pauli viri iusti.
72 WERNER GEORG KÜMMEL [238/239)
Grenze des Kanons 32 ; und T ertullian, der als erster ausdrücklich vom
Alten und Neuen Testament redet (deres. cam. 39), weiß, daß überdie
normative Geltung bestimmter Apostelschriften verschiedene Meinun-
gen herrschen33 • Man kennt also im Westen und in Ägypten am Ende
des 2. Jahrhunderts einen neuen Kanon, der unbestrittenermaßen aus
vier Evangelien und einem Apostelteil besteht, wobei der Apostelteil
noch keineswegs einheitlich begrenzt wird. Dieser Sachverhalt wird
bestätigt durch das älteste vorhandene Kanonsverzeichnis, das Mura-
tarische Fragment, das zweifellos den römischen Kanon vom Ende
des 2. Jahrhunderts wiedergibt34 • Auch hier zeigt sich das Bewußt-
sein, daß die Christen einen neuen Kanon besitzen {vgl. den Gegen-
satz der nach der Zahl vollständigen Propheten zu den apostoli in fine
temporum, Z. 79 f.); auch hier zeigt sich die Tatsache, daß es neben
den für den Verfasser unumstritten kanonischen Schriften noch solche
gibt, die darum kämpfen, "in die katholische Kirche aufgenommen
zu werden" (Z. 66), wozu der angebliche Laodizenerbrief des Paulus
(aus der markionitischen Kirche stammend) und der Hirt des Hermas
gehören, während an der Zugehörigkeit der Petrusapokalypse zum
Kanon der Verfasser im Gegensatz zu anderen Christen nichts aus-
zusetzen hat (Z. 71/3). Wichtiger aber ist, daß wir hier zum erstenmal
in die Motive bewußter Kanonsabgrenzung einen Einblick erhalten:
als kanonisch werden nur Schriften anerkannt, die von einem Apostel
stammen bzw. unter dessen Autorität geschrieben sind und die für
die ganze catholica ecclesiabestimmt sind. Damit ist von Anfang an
als maßgebendes, aber nicht streng durchführbares Motiv für die Zu-
lassung zum Kanon die Abfassung einer Schrift durch einen "Apostel"
zur Anwendung gekommen, das Neue Testament ist also durch einen
nach einem bestimmten Maßstab sich vollziehenden Ausleseprozeß
abgegrenzt worden, ohne daß die Abgrenzung des Apostelteils Ende
des 2. Jahrhunderts schon endgültig vollzogen gewesen wäre.
So ging denn in den beiden folgenden Jahrhunderten der Kampf
weitgehend um die Frage der endgültigen Abgrenzung des Apostel-
teils des neuen Kanons; doch war auch die Vierzahl der Evangelien
noch nicht endgültig überall anerkannt. Origenes hat noch das apo-
kryphe Hebräerevangelium zu den in ihrer kanonischen Geltung Ivon
manchen umstrittenen Schriften geredmet35 , und Ende des !2. Jahr-
hunderts mußte der Bischof Serapion von Antiochien in seiner Diözese
das Petrusevangelium wegen seiner doketischen Ansichten verbieten,
ohne daß das Buch darum aus dem kirchlichen Gebrauch verschwun-
den wäre38 ; in der syrisch sprechenden Kirche hat gar bis zum 5. Jahr-
hundert nur das Diatessaron Tatians in kirchlichem Gebrauch gestan-
den, und die syrischen Bischöfe des 5. Jahrhunderts konnten auch
dann nur unter Schwierigkeiten das Diatessaron durch den Vierevan-
gelienlmnon verdrängen37 • Doch sind das nur Einzelfälle, die zeigen,
daß das Bewußtsein noch längere Zeit nicht verlorenging, daß der
Vierevangelienkanon nicht von jeher bestanden hat und erst im Laufe
einer, wenn auch relativ kurzen, Entwicklung Anerkennung gefun-
den hatte. Dagegen blieb die Frage der Abgrenzung des Apostelteils
des neuen Kanons noch lange der eigentliche Gegenstand der Diskus-
sion, auf derenEinzelheitenhier nicht eingegangen zu werden braucht.
Das Kriterium, mit dem die Auseinandersetzung in erster Linie um
die kanonische Geltung des Hebräerbriefs, der Johannesapokalypse,
des !2. Petrus-, !2. und 3. Johannes-, Judas- und Jakobusbriefes geführt
wurde, ist auch weiterhin die Anerkennung oder Bestreitung der Ab-
fassung einer Schrift durch einen Apostel (vgl. Origcnes bei Eus. h. e.
VI, !25, 10), aber man sieht sich immer wieder zu dem Zugeständnis
gezwungen, daß über diese Frage in manchen Fällen verschiedene
Urteile möglich sind, und stellt darum letztlich auf das Urteil der
Mehrheit über diese Fragen ab (so besonders Euseb selber, z. B. h. e.
111, !25, 3 ff.). Diese Unsicherheit in der Abgrenzung des Apostelteils
des Kanons, die in Syrien besonders groß gewesen zu sein scheint38,
war unvermeidlich, wenn als maßgebendes Kriterium für die kano-
nische Geltung einer Schrift die apostolische Abfassung angewandt
wurde, eine Entscheidung über den Verfasser aber in manchen Fällen
15 M.-J. Lagrange, Histoire ancienne du canon du Nouveau Testament, 1933,
s. 96 f.
• Eus. h. e. VI, 12, 2 ff.; über den weiteren Gebrauch des Buchs in Syrien s.
J. Leipoldt, Geschichte I, S. 177 f.
17 S. J. Leipoldt, Geschichte I, S. 165 ff. und J. Schäfers, Evangelienzitate in
Ephräms des Syrers Kommentar zu den paulinischen Schriften, 1917.
18 Die antiochenischen Väter des 4. Jahrhunderts anerkannten teilweise nur
drei, teilweise gar keine katholischen Briefe als kanonisch und lehnten alle die
Apokalypse ab (s. J. Leipoldt, Geschichte I, S. 91 f., 247 f.). In der nationalsyrischen
Kirche finden sich vor der Peschitta (Anfang des 5. Jahrhunderts) keine katholi-
schen Briefe und keine Apokalypse im Kanon, und auch dort fehlten noch 2. Petr,
2. und 5. Job, Jud, Apk, die erst in die Philoxeniana (6. Jh.) zur Angleichung an
den Kanon der Griechen eingefügt wurden (s. W.Bauer, Der Apostolos der Syrer,
1903).
[240/241) Notwendigkeit und Grenze des neutestamentlichen Kanons 75
" K. Holl, Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte I, 19231 - 1 , S. 549, 560 f.;
G. Ebeling, Evangelische Evangelienauslegung, 1942, S. 402 ff.
4$ Lutlzer, Weimarer Ausgabe (WA), Deutsche Bibel (DB), Bd. 6 und 7.
41 "Vorrede an das NT", WA, DB 6, S. 2 und 6.
47 "Welches die rechten und edelsten Bücher des NT sind" (WA, DB 6, S. 10 f.);
III
Nach katholischer Anschauung hat die Kirche die neutestament-
lichen Bücher als von Gott inspirierte Schriften anvertraut bekommen
und nur diese ihr anvertraute Wahrheit durch Aufstellung eines Ver-
zeiclmisses dieser Bücher autoritativ verkündet, so daß der treue Sohn
der Kirche auf deren Autorität hin diese Wahrheit glauben kann55 •
Die Geschichte des Kanons beweist, daß diese Anschauung unrichtig
ist. Der Gedanke einerneuen Schriftautorität ist erst im Laufe des
2. Jahrhunderts aufgekommen, und die Kirche hat nicht nur mit
61Einige der schärfsten Urteile über den Jakobusbrief und die Apokalypse hat
Lut.her in den späteren Ausgaben der deutschen Bibel gestrichen (s. J. Leipoldt,
Geschichte II, S. 79 f.).
51 Zum Jakobusbrief vgl. bes. WA, Tischreden, Nr. 5443 (aus dem Jahr 1542);
noch 1543 wies Luther eine Berufung auf Jakobus gegenüber der übrigen Schrift
zurück (K. Roll, Gesammelte Aufsätze I, 1gz)!-1, S. 561 Anm. 6). Zum Judasbrief
vgl. die Zitate aus WA 14, S. 75 ff. bei J. Leipoldt, Geschichte II, S. 75 Anm. 1.
51 S. J. Leipoldt, Geschichte II, S. 127 ff.
14 Siehe K. Barth, Kirchliche Dogmatik, I, 2, 1938, S. 528 f.
16 M.-J. Lagrange, Histoire ancienne du canon, S. 5. 171 ("La verite qu'elle [sc.
die Kirche] a definie touchant les livres canoniques doit se trouver dans le depöt de
Ia revelation, scelle a la mort du dernier des Apötres").
78 WEI\NEI\ GE.OI\G KüMMEL [243/244]
die Lehre Platos. Der Kanon des Neuen Testaments enthält aber nicht
nur Worte Jesu und Berichte über Jesus, sondern in seinem Werden
wie seinem endgültigen Bestande nach eine Zusammenstellung von
EuayyH.lov und lm6otoAo~. Und der Kanon ist nicht als Sammlung ge-
schichtlicher Oberlieferungen entstanden, sondern aus dem Bedürfnis,
die Kunde von Jesus und das Zeugnis für Jesus als Norm für die
christliche Verkündigung weiterhin zur Verfügung zu haben. Worin
aber besteht diese nonnative Verkündigung des Neuen Testaments?
Nicht in einer unbeteiligten oder doch in der Hauptsache einfach be-
richtenden Überlieferung von Jesus, da ja durch die formgeschicht-
liche Arbeit an den Evangelien klargestellt worden ist, daß auch die
synoptischen Evangelien als ganze und in ihren wesentlichsten Be-
standteilen kerygmatischen Charakter tragen60. Vielmehr besteht die
grundlegende Verkündigung des Neuen Testaments in EuayyEAlOV und
lm6otoÄo~ in gleicher Weise in dem Zeugnis, daß der Mensch Jesus
von N azareth der Messias, der Menschensohn, der Gottessohn sei, weil
Gott den ans Kreuz Geschlagenen von den Toten auferweckte und
"sichtbar werden ließ nicht dem ganzen Volk, sondern den von Gott
vorher ausgewählten Zeugen" (Apg 10, 40 f.). Und die Schriften des
Neuen Testaments wollen im Leser diesen Glauben wecken und stär-
ken. Der Kanon des Neuen Testaments ist darum seinem wesentlichen
Inhalt nach nicht geschichtliche Mitteilung, sondern zeugnishafte Aus-
sage über ein geschichtliches Faktum. Solche zeugnishafte Aussage
über Gottes Tat in Jesus Christus ist aber auch das Wesen der Ver-
kündigung der Apostel und ihrer Schüler und Helfer gewesen, und
nur auf Grund solcher zeugnishaften Aussagen ist die Kirche entstan-
den61. Diese Verkündigung der Apostel und ihrer Schüler war zunächst
mündliche Verkündigung, aus dieser mündlichen Verkündigung er-
wuchs der Glaube der ersten Christengemeinden. Nur wo dieses Zeug-
nis gehört werden konnte, konnte Glaube und damit Kirche entstehen,
der Glaube war gebunden an die Zuverlässigkeit der Verkündigung
der apostolischen Zeugen. Nun konnte dieses Zeugnis gehört werden,
solange es Christen der ersten und zweiten Generation gab, die am
Christusgeschehen noch persönlich Anteil genommen oder direkt aus
dem Munde der ersten Zeugen davon gehört hatten62 • Dieses Zeugnis
konnte aber nach dem Aussterben der Christen der ersten und zwei-
ten Generation nur noch weiter gehört werden, wenn es in schrift-
licher Form niedergelegt und weitergegeben wurde. So trat völlig
notwendigerweise im Laufe des I 2. Jahrhunderts an die Stelle des
mündlichen Zeugnisses der ersten Christenheit das schriftliche Zeug-
nis aus der Apostelzeit als die Botschaft, an der allein der Glaube sich
entzünden und auf die allein der Glaube sich mit guten Gründen
stützen konnte, weil nur hier in ursprünglicher Weise von Jesus be-
richtet und von Jesus Christus Zeugnis abgelegt wurde. Dieses ur-
sprüngliche Zeugnis aber mußte für die Kirche erhalten bleiben, weil
der christliche Glaube nur möglich ist, wenn er Kunde hat von dem
geschichtlichen Heilshandeln Gottes, das das Wirken Jesu Christi
ebenso in sich befaßt wie die Schaffung der Gemeinde durch die Auf-
erweckung Jesu Christi. Die Kunde von diesem Heilshandeln Gottes,
die nie anders denn als Zeugnis von diesem Heilshandeln ausgespro-
chen werden konnte, war aber als menschliches Zeugnis Menschen-
wort und damit selbst eine geschichtliche Größe, die vor ständiger
Umbildung und damit Auflösung des Ursprünglichen nur bewahrt
werden konnte, wenn sie fixiert und dadurch vor Vermehrung, Ver-
minderung oder Veränderung geschützt wurde. Weil die Heilstat
Gottes sich in der Geschichte vollzog, war die Bildung einer neuen
schriftlichen Norm notwendig, die die Berichte von Jesus und die Be-
zeugung der Wirklichkeit des Auferstandenen und seiner Gemeinde
enthielt. Nicht deswegen mußten den Christen des 2. Jahrhunderts
die schriftlichen Zeugnisse der apostolischen Zeit maßgeblich sein,
weil in diesen schriftlichen Zeugnissen die ursprüngliche Ergriffen-
heit und Glaubenstärke der neuen Bewegung zu spüren war, sondern
weil die Männer der apostolischen Zeit die ersten Zeugen waren, die
darum dem Heilsgeschehen zeitlich am nächsten standen, und weil
so ihr Zeugnis der Verderbnis durch Mißverständnis oder Umbildung
am wenigsten ausgesetzt war83 • Weil die Apostel die Zeugen der er-
sten Zeit waren, die das Heilsgeschehen als einmaliges geschichtliches
Ereignis in sich barg, ist das Amt und die Funktion der Apostel, wie
immer man diesen Begriff begrenzen mochte, auch einmalig geblie-
ben und in der späteren Kirche mit Recht nicht fortgeführt worden64 •
11 Vgl. noch Papias' Prooemium (bei Eus. h. e. III, 39, 4): "\Venn aber irgendwo
ein Nachfolger der Ältesten kam, so forschte ich nach den Worten der Ältesten ...
Denn im glaubte nicht von dem, was aus Büchern stammt, so viel Nutzen zu haben
als von dem, was aus lebendiger, bleibender Stimme (ertönt)."
11 "Der Vorrang des apostolischen Zeugnisses ist nicht ein inhaltlidter, sondern
ein geschichtlicher, der der heilgeschichtlichen Ordnung" (P. Althaus, Die christ-
liche Wahrheit I, 1947, S. 179).
14 Siehe dazu besonders Ph.-H. Menoud, L'Eglise et lcs ministeres selon le Nou-
6 K3scmann, Kanon
82 WERNER GEORG KüMMEL [246/24-7)
Darum konnte aber auch nur eine Sammlung der schriftlich nieder-
gelegten Äußerungen der Männer der Apostelzeit in der Form eines
nicht mehr abzuändernden Kanons die apostolische Botschaft von
Gottes Heilstat späteren Generationen so unverfälscht wie möglich
weitergeben und so in die Nachfolge der Apostel eintreten81 , damit
auch die späteren Generationen die Möglichkeit hätten, ihren Glau-
ben auf die ursprüngliche Kunde von Gottes Heilstat aufzubauen und
ihre Glaubenserkenntnis an der apostolischen Botschaft zu messen.
Die Schätzung bestimmter urchristlicher Schriften als der alttesta-
mentlichen Norm gleichgestellt, ja übergeordnet, ist so notwendiger-
weise in der frühen Kirche entstanden, und die Abgrenzung gegen
die Irrlehre, besonders gegen Markion, hat die Kirche nicht erst ver-
anlaßt, einen Kanon zu schaffen, sondern nur das Bewußt!werden der
Kanonsbildung beschleunigt. Der Glaube, daß Gott sich in Jesus Chri-
stus einmalig offenbart hat, geht also der Einsicht in die Notwendig-
keit und den normativen Charakter des neutestamentlichen Kanons
von Anfang an voraus, zieht aber diese Einsicht notwendigerweise
hinter sich her. Nur der Glaube, der im Zeugnis der im Kanon enthal-
tenen urchristlichen Schriften der Botschaft von Jesus Christus begeg-
net ist, kann darum die Berechtigung und Notwendigkeit eines neu-
testamentlichen Kanons für die christliche Kirche erkennen und be-
jahen; wo Jesus nls Religionsstifter angesehen und das Urchristentum
als eine Zeit besonders lebendiger Religiosität gewertet wird, muß
die Notwendigkeit einer solchen Norm bestritten werden.
Ist so mit dem Glauben an die Einmaligkeit und Geschichtlichkeit
der Christusoffenbarung die Anerkennung der Notwendigkeit eines
neutestamentlichen Kanons gegeben, so kann auch die Notwendig-
keit nicht bestritten werden, daß dieser Kanon abgegrenzt sein muß.
Es ist geschichtlich nicht ganz sicher zu erkennen, wann und aus wel-
chen Motiven sich die Notwendigkeit einer genauen Begrenzung des
neuen Kanons zuerst ergeben hat. Die älteste uns bekannte Kanons-
liste, das Muratorische Fragment, erhebt den Anspruch, diejenigen
Bücher aufzuzählen, die in der Gemeinde dem Volk sich kundtun
dürfen (se publicare in ecclesia populo ... potest Z. 77 f.), betrachtet
also die als kanonisch anerkannten Bücher allein als diejenigen, die
im Gottesdienst vorgelesen werden dürfen; und wenn dann weiter
gesagt wird, daß ein nichtkanonisches Buch weder unter den zahlen-
mäßig abgeschlossenen Propheten noch unter den "Aposteln am
Ende der Zeiten" vorgelesen werden dürfe (Z. 78/80), so zeigt sich
hier deutlich das Bewußtsein, daß auch die Schriften der Apostel eine
grundsätzlich geschlossene Größe darstellen, ohne daß über den Um-
fang dieser Größe schon allgemeine Obereinstimmung herrschte. In
dieser Kanonsliste ist also am Ende des 2. Jahrhunderts die Vorstel-
lung deutlich vorhanden, daß das Neue Testament eine klare Abgren-
zung haben müsse. Und dieses Bewußtsein ist wohl auch schon etwas
früher zu erschließen, wenn Melito von Sardes (um 180) eine Liste
der alttestamentlichen Bücher aufstellt und sie bezeichnet als "die
Bücher des Alten Bundes" (Eus. h. e. IV, 26, 13 f.), wobei der Liste der
Bücher des Alten Bundes doch wohl eine aufzustellende Liste der Bü-
dler des Neuen Bundes entspricht. Völlig eindeutig ist diese Vorstel-
lung vom geschlossenen Kanon dann bei Tertullian vorhanden, der
die ganze Bibel als "totum instrumenturn utriusque testamenti" (adv.
Prax. 20) bezeichnet. Vor Melito können wir dieses Bewußtsein, daß
die neue Offenbarungsurkunde eine feste Grenze haben müsse, aber
nicht sichernachweisen68 • Die Annahme, daß die Kanonsbildung Mar-
kions die Kirche mehr oder weniger gezwungen habe, den Kanon
Markions durch einen umfangreicheren abgeschlossenen Kanon zu
überbieten67 , hat sich uns als unwahrscheinlich erwiesen, weil die
Kirche schon aus Iinneren Gründen auf dem Weg war, mehrere Evan-
gelienschriften und eine Sammlung von Apostelschriften zu einer
zweiteiligen schriftlichen Norm zusammenzuschließen, deren Sinn als
Bewahrung der Stimme der apostolischen Verkündigung notwen-
digerweise zur Ausschließung späterer Schriften und damit zu einer
gewissen Abschließung dieser Norm führen mußte. Markions Vor-
bild hat die innerkirchliche Entwicklung aber zweifellos beschleunigt
und bewußter gemacht. Wenn auf der anderen Seite A. v. Hamack
die These vertrat, daß der Kampf gegen die montanistische These vom
Weitergehen der Offenbarung im Parakleten allererst die Kirche ver-
anlaßt habe, den Kanon als instrumenturn novum ideell abzu-
schließen68, so ist auch diese Vermutung unwahrscheinlich, weil sich
schon bei Justin die Tendenz zeigt, neben die als Norm gewerteten
Evangelien Apostelschriften zu stellen, und weil man es andererseits
zur Zeit des beginnenden Montanismus gerade noch nicht gewagt
hat, den Apostelteil des neuen Kanons als wirklich abgeschlossen hin-
.. Zwischen Melito und Tertullian ist das Zeugnis des antimarkionitischen Ano-
nymus (Polykrates von Ephesus?, so W. Kühnert, ThZ 5, 1949, S. 436 ff.) bei Eus.
h. e. V, 16, 3 anzusetzen, der von der Gefahr der Zufügung zum "Wort des neuen
Bundes des Evangeliums" redet, was zweüellos auf "Schriften des Neuen Bundes,
und zwar nicht nur Evangelien führt" (so A. v. Harnack, Die Entstehung des NT,
1914, s. 27).
17 So J. Kno:r, Mareion and the New Testament, S. 32 ff.
• A. v. Hamack, aaO, S. 24 ff.
84 WERNEI\ GEOI\G KÜMMEL [248/249]
" Auffallend starke Variantenbreite zeigen die erst spät im 2. Jahrhundert ka-
nonisierte Apostelgeschichte (s. M. Dibelius, The Text of Acts, JR 21, 1941,
S. 421 ff.) und die pericope adulterae (Job 7, 53-8, 11), die erst im 4. Jahrhundert
aus der apokryphen Oberlieferung in den kanonischen Text eingedrungen ist (s.
Th. Zahn, Das Evangelium des Johannes 1921 1-., S. 723 ff.).
70 So sind z. B. die sachlich bedeutsamen Varianten Job 1, 13 (lS; ... lyEvvi)atJ,
s. die Erörterung der Bezeugung bei F.-M. Braun, Qui ex deo natus est, Aux sour-
ces de la tradition chretienne, Melanges offerts a M. Goguel, 1950, S. 11 ff.), Mt 27,
16 f. ('l11ooii'v BaQaßßäv, s. A. Merx, Das Evangelium Matthaeus, 1902, S. 400 f.
und B. H. Streeter, The Four Gospels, 19365, S. 87, 101), Gal2, 5 (Fehlen des ouöt,
s. H. Schlier, Der Brief an die Galater, 1949, S. 40 Anm. 2) genauso sicher für das
ausgehende 2. Jahrhundert bezeugt wie ihre breiter bezeugten Gegenlesarten.
[249] Notwendigkeit und Grenze des neutestamentlichen Kanons 85
IV
Ist so mit der Entstehung eines neuen Kanons das Wissen darum
gegeben, daß der Kanon auf das apostolische Zeugnis beschränkt und
71 "Da die Autorität des Neuen Testaments keine andere als die des Evange-
liums ist, beglaubigt sie sich auch nicht anders als so, daß das Evangelium sich mit
seiner Wahrheitsmacht bezeugt, d. h. Jesus Christus durch das Zeugnis von ihm
Glauben an sich wirkt. Es kann nicht die Autorität der Schrift vor und unabhängig
von der Autorität des Evangeliums begründet werden" (P. Althaus, Die christliche
Wahrheit I, 1947, S. 200).
71 So schon eindeutig die Professio fidei Tridentinae von 1546 (s. C. Mirbt, Quel-
weil das Urchristentum nur als "Zeitalter des Enthusiasmus" angesehen wird, muß
der Gedanke des Abgeschlossenseins des Kanons als bedauerliche Fehlentwicklung
beurteilt werden: "Das Zeitalter des Enthusiasmus ist geschlossen und für die Ge-
genwart der Geist wirklich- um mit Tertullian zu reden (adv. Prax. 1) - verjagt;
er in in ein Buch gejagt!" (A. v. Hamack, Die Enstehung des NT, 1914, S. 25).
86 WERNER GEORG KüMMEL [249/250]
dürfte auch K. Barth nicht nachher fordern, daß die Kirche "sich gegen weitere
Belehrung auch hinsichtlich des Umfangs dessen, was ihr als Kanon tatsächlich an-
vertraut ist, nicht zum vomherein verschließen" dürfe (aaO, S. 532, s. auch S. 526).
Der endgültig abgeschlossene Kanon muß vielmehr ohne Umschweife als der
Nachprüfung bedürftiges Werk der Kirche auf Grund des geschichtlichen Sachver-
halts anerkannt werden.
71 So ist in der nationalsyrischen Kirche des 3. und 4. Jahrhunderts der Phile-
monbrief als unerbaulich dem Paulus abgesprochen oder wenigstens als nicht inspi-
riert aus dem Kanon ausgeschlossen worden (s. J. Leipoldt, Geschichte I, S. 209 ff.);
so hat Dionysius von Alexandrien die Apokalypse dem Evangelisten Johannes
hauptsächlich aus stilistisch-sprachlichen Gründen abgesprochen, aber daneben auch
die irdisch-ausmalende Eschatologie gegen die Herkunft vom Evangelisten ange-
führt (Eus. h. e. VII, 25, 3 f.); und der Bischof Serapion von Antioc:hien hat am
Ende des 2. Jahrhunderts die zunächst gegebene Erlaubnis zur gottesdienstlichen
Verlesung des Petrusevangeliums zurückgezogen, nachdem ihm der doketisc:he
Charakter der Schrift durch eigene Lektüre deutlich geworden war (Eus. h. e. VI,
12, 3 ff.). J. Leipoldt, Geschichte I, S. 267 hat darauf verwiesen, daß auch ganz
gelegentlich einmal Kanonizität trotz fehlender Apostolizität behauptet worden ist.
71 Origenes (bei Eus. h. e. VI, 25, 13 f.) stellt fest, daß die Gedanken des He-
bräerbriefs paulinisc:h seien, die Sprache aber nicht; er will darum zulassen, daß
man man den Brief als Paulusbrief betrachte, wo man es bisher tat; "wer aber
den Brief geschrieben hat, weiß in Wahrheit Gott".
88 WERNER GEORG KüMMEL [251/252]
hat zu untersuchen, ob diese Schriften auch das an sich sind, was sie nach der
dogmatischen Vorstellung, die man von ihnen hat, sein sollen ... Thre erste Auf-
gabe ist die Beantwortung der Frage, mit welchem Recht sie sich für apostolische
Schriften ausgeben"; er redet dementsprechend von "jeder mit den besten kriti-
schen Gründen aus dem Kanon verwiesenen Schrift" (Theol. Jahrbücher 1850,
S. 478 und 472; auf diese Äußerung verweist H. Strathmann, aaO, Sp. 306 f.).
78 Siehe W. G. Kümmel, Kirchenbegriff und Geschichtsbewußtsein in der Ur-
gemeinde und bei Jesus, 1943, S. 5 ff. und besonders H. v. Campenhausen, Der
urchristliche Apostelbegriff, Studia Theologica I, 1947, S. 96 ff. und für die spätere
Zeit J. Wagenmann, Die Stellung des Paulus neben den Zwölf in den ersten
drei Jahrhunderten, 1926, S. 55 ff.
78 Die Zurückführung des Jakobusbriefes auf den Herrnbruder begegnet zum
erstenmal bei Eus. h. e. II, 23, 24, aber schon Origenes hatte den Verfasser ö än6a"to-
AO~ genannt, ohne über dessen Identität sich im klaren zu sein (s. A. Meyer, Das
Rätsel des Jakobusbriefes, 1930, S. 51 ff.); und so heißt der Verf. denn "Apostel"
in den abschließenden Kanonsverzeichnissen der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts
(Athanasius, s. Preuschen, Analeeta II, S. 44, und die römische Synode von 382,
s. Th. Zahn, Grundriß der Geschichte des neutestamentlichen Kanons, 19041, S. 85).
Es ist aber äußerst fraglich, ob Paulus den Jakobus zu den Aposteln gerechnet hat
(s. W. G. Kümmel, aaO, S. 45 Anm. 15), und im übrigen Neuen Testament erhält
Jakobus nirgendwo diesen Titel. - Der Judasbrief wird schon von Tertullian (de
culL fern. I, 3) auf einen Apostel, von Giemens von Alexandrien (adumbr. in epi-
stula Judae, Werke hrsg. von 0. Stählin 111, 1909, S. 206) auf den Herrenbruder
zurückgeführt; aber im Neuen Testament wird Judas nirgends Apostel genannL
[252/253] Notwendigkeit und Grenze des neutestamentlichen Kanons 89
defmieren, und schon darum ist die Anschauung, daß die Abfassung
durch einen "Apostel" Vorbedingung für die kanonische Geltung
einer neutestamentlichen Sduift sei, unhaltbar. Und wenn sich dar-
über hinaus aus den Diskussionen in der Alten Kirche ebenso wie aus
der modernen Einleitungswissenschaft ergibt, daß in mehreren Fällen
überhaupt nicht sicher festgestellt werden kann, wer eine bestimmte
neutestamentliche Schrift geschrieben hat, so ist es erst recht unmög-
lich, die Entscheidung über die Zugehörigkeit einer urchristlichen
Schrift zum Kanon von ihrer Abfassung durch einen "Apostel" ab-
hängig zu machen. Die Abgrenzung des neutestamentlichen Kanons
mit Hilfe der Rückführung jeder einzelnen Schrift auf einen Apostel
als Verfasser muß darum völlig aufgegeben werden.
Muß man so die Verkoppelung der Fragen nach der apostolischen
Abfassung und der Kanonizität einer neutestamentlichen Schrift auf-
geben, so ergibt sich ebenso unausweichlich die Folgerung, daß die
Frage nach der Grenze des neutestamentlichen Kanons nicht mehr
unter Weiterführung der Diskussionen des 3. und 4. und des 16. Jahr-
hunderts gestellt werden kann. Denn dort ging es ja fast ausschließ-
lich um die Frage, ob die sogenannten Antilegomena (Hehr, Jak, Jud,
2. Petr, 2. und 3. Job, Apk) auch wie die 20 unbestrittenen Schriften
des Neuen Testaments als kanonisch anzusehen seien oder nicht, und
die Entscheidung über diese Frage wurde, mit der einzigen Ausnahme
Luthers, letztlich nur von der Frage nach der apostolischen Herkw#\
dieser Schriften her zu entscheiden gesucht. Im Anschluß an diese alt-
kirchlich-humanistische Fragestellung sucht auch heute noch die Dog-
matik immer wieder die Richtigkeit der letzten altkirchlichen Ka-
nonsbegrenzung zu begrünlden oder in Frage zu stellen80 • Sucht man
aber von dieser Fragestellung aus die Grenzen des neutestament-
81 So redetE. Brunner, Offenbarung und Vernunft, 1941, S. 131 von einer "Ka-
nonsperipherie", "innerhalb deren etwa der 2. Petrusbrief, der Judasbrief, der Ja-
kobusbrief und die Apokalypse liegen". Und W. Elert, Der christliche Glaube,
194{), S. 221 ff. behauptet, die Theologie sei immer erneut vor die Frage nach der
Geltung der Antilegomena gestellt, und nennt für die Entscheidung der Kanons-
fähigkeit zwei Kriterien: "erstens, ob sich in ihrem Zeugnis die Verheißung erfüllt,
die Christus an die Sendung des Pneumas knüpfte, zweitens, ob es ursprüngliches
oder, anders gesagt, ob es kein abgeleitetes Zeugnis ist". Nun ist das erste Krite-
rium durchaus berechtigt, das zweite aber schwerlich durdtführbar, da literarische
Abhängigkeit, auch wo sie sicher nachweisbar ist, kein Argument gegen kanonische
Geltung zu sein braucht. Elert will denn von hier aus nur den Judasbrief als "nicht
ursprüngliches Zeugnis" gelten lassen, weil sein Inhalt fast ganz im 2. Petrushrief
enthalten sei. Aber wenn man schon dieses Kriterium der "Ursprünglichkeit" im
literarischen Sinne aufstellt, darf man die Frage der literarischen Priorität zwi-
schen 2. Petrus und Judasbrief nicht offen lassen, wie Elert es tut, weil ja bei der
wahrscheinlicheren Annahme der Abhängigkeit des 2. Petrusbriefes vom Judas-
brief diese aus anderen Gründen so problematische Schrift gerade als "ursprüng-
90 WEl\NEI\ GEORG KÜMMEL (253/254]
"wie hinsichtlich des Dogmas so auch hinsichtlich des Kanons als in Kraft und Gel-
tung stehend ansehen müssen" werde (so K. Barth, aaO, S. 530). K. Barth zitiert dar-
um zustimmend die in der Confessio Gallicana von 1559 erfolgte Festlegung des
Umfangs der Heiligen Schrift auf den altkirchlichen Kanon (aaO, S. 525), wäh-
rend die lutherischen Bekenntnisschriften mit Recht keine solche Festlegung vorge-
nommen haben (s. P. Althaus, Die christliche Wahrheit I, S. 199 und W. Eiert, Der
christliche Glaube, S. 221).
ea S. oben S. 242.
[255/256] Notwendigkeit und Grenze des neutestamentlichen Kanons 93
ee Die Forderung von P. Althaus (Die christliche Wahrheit I, S. 195), "die Nähe
einer Schrift zur Offenbarungsgeschichte, zu dem ursprünglichen missionarischen
Zeugnis der Apostel" müsse durch historische Untersuchung festgestellt werden,
ehe über die Kanonizität einer Schrift entschieden werden könne, ist nur dann
richtig, wenn man sie auf die historische Feststellung beschränkt, daß eine Schrift
vor etwa dem zweiten Viertel des 2. Jahrhunderts entstanden sei.
87 0. Cullmann, Die Pluralität der Evangelien als theologisches Problem im
Altertum, ThZ 1, 1945, S. 23 ff. (40 ff.) hat mit Recht die Mehrzahl der kanoni-
schen Evangelien mit der notwendigen Beschränktheit des einzelnen Christuszeug-
nisses begründet.
94 WEBNJU\ GEORG KüMMEL (256/257]
88 "Ist Gegenstand des Glaubens das Evangelium, also die Gestalt Christi in ih-
rer Heüsbedeutung, so wird die Autorität des einzelnen Bibelwortes oder -buches
um so größer sein, je näher es innerlich mit diesem Zentrum verbunden ist, und
sie wird abnehmen, je weniger das der Fall ist" (H. Strathmann, ThBl 21, 1942,
s. 37).
8' Auf die oft betonte Tatsache, daß historische Widersprüche oder Fehler den
normativen Charakter des neutestamentlichen Kerygmas nicht in Frage stellen, daß
aber um des geschichtlichen Charakters der neutestamentlichen Schriftenwillen die
historische Kritik unentbehrlich ist, soll hier nicht eingegangen werden. Siehe dazu
zuletzt E. Dinkler, Bibelautorität und Bibelkritik, ZThK 47, 1950, S. 70 ff.
10 P. Althaus, Die christliche Wahrheit I, S. 195 prägt darum die Formel: Scrip-
tura sacra sui ipsius critica.
[257 /258] Notwendigkeit und Grenze des neutestamentlichen Kanons 95
und reformatorische Deutung, ThBl 16, 1937, S. 209 ff., bcs. 216 f.); eine Aus-
malung der eschatologischen Ereignisse im Sinne der Apokalyptik ähnlich wie in
der Apokalypse fmdet sich auch Mk 13 und par. und in abgeschwächtem Maße bei
Paulus t.Kor 15 und 2.Thess 2; die eschatologische Naherwartung tritt auch im
Jobarmesevangelium völlig zurück.
13 K. L. Schmidt, Kanonische und apokryphe Evangelien und Apostelgeschichten,
1944, S. 33 f. hat darauf verwiesen, daß die Erzählung vom Tod des Täufers Mk 6,
17 ff. und par. "innerhalb der kanonischen Evangelien ein eigentliches Apokry-
phon" ist; der Mythos von der Hadespredigt Christi t.Petr 3, 19 f. hat im Neuen
Testament keine Parallele und ist eine sachlich problematische Erweiterung des
ältesten Kerygmas (s. den Nachweis in Abschnitt Il, b meines Aufsatzes "Mythos
im NT", ThZ 6, 1950, Heft 5, S. 321-337 [329 ff.]); Apg 20, 7 ff. und 28, 3 ff. fin-
den sich völlig profane und ohne jede erkennbare Beziehung zum Christuskerygma
stehende Wundererzählungen (s. M. Dibelius, Stilkritisches zur Apostelgeschichte,
Eucharisterion für H. Gunkel Il, 1923, S. 42 f., 45).
14 Die Vorstellung von der religiösen Unterlegenheit der Frau dem Mann ge·
genüber (1.Kor 11, 2 ff.) widerspricht der christlichen Einsicht des Paulus (Gal 3,
28; s. meine Bemerkungen in der 4. Aufl. von H. Lietzmann, An die Korinther I,
Il, 1949, S. 183 f.); in der Apostelgeschichte findet sich (17, 28 f.) die dem Men·
sehenbild des ganzen Neuen Testaments widersprechende Vorstellung von der
Gottverwandtschaft des Menschen (s. W. G. Kümmel, Das Bild des Menschen im
NT, 1948, S. 51 ff.); die Vorstellung von der NadLweisbarkeit der Auferstehung
Christi durch die Tatsache des Essens des Auferstandenen mit den Jüngern (Lk 24,
36 ff.) und durch die Wirklichkeit des leeren Grabes (Mt 27,62 ff.; 28, 11 ff.) wi-
derspricht der ursprünglichen Verkündigung, die nur eine Bezeugung der Aufer·
stehung Christi kennt (s. meinen in der vorigen Anmerkung genannten Aufsatz
und ThR N. F. 17, 1948/49, S. 6 ff.).
11 Siehe dazu meinen Aufsatz ThB116, 1937, S. 209 ff. und die Bemerkung von
P. Althaus, Die christliche Wahrheit I, S. 213: "Die evangelische Kritik an Rom
läßt sich nicht ohne Kritik innerhalb der Schrift vom Evangelium her vollziehen."
Vgl. auch Luthers oft zitierte These von 1535 (WA 39, 1, S. 47): "Scriptura est, non
contra, sed pro Christo intelligenda, ideo vel ad eum referenda, vel pro vera Scrip-
tura non habenda ... Quod si adversarii scripturam urserint contra Christum, ur-
gemus Christum contra scripturam" (von Althaus, S. 211 angeführt).
81 Es fehlen z. B. fast völlig Arbeiten, die den sachlich berechtigten Ausschluß
der "nachapostolischen" Literatur aus dem N'euen Testament nachweisen, etwa an
Hand des Moralismus und der Traditionslehre des 1. Giemensbriefes oder der will-
kürlichen Typologie des Bamabasbriefes. Ein wichtiger Vorstoß in dieser Richtung
[259] Notwendigkeit und Grenze des neutestamentlichen Kanons 97
hin grundsätzlich offenläßt, wie es E. Stauffer tut (Die Theologie des NT, 19484),
muß unvermeidlimerweise die urchristliche Botschaft von der frühkatholischen
Fortbildung des Urchristentums her uminterpretiert werden, und der Kanon ver-
liert seinen Charakter als Maßstab für die kirchliche Verkündigung (s. meine Be-
merkungen ThLZ 75, 1950, S. 424 ff.). Wo umgekehrt die "Einheitlichkeit" der
neutestamentlichen Aussagen als zu erstrebendes Ziel vorausgesetzt wird, wie etwa
bei M. Barth (Der Augenzeuge, 1946), da müssen nicht nur sich widersprechende
Aussagen gewaltsam zur Einheit geführt werden, sondern da wird auch die Wirk-
lichkeit nicht ernst genommen, daß der Kanon Zeugnis einer Entwicklung des
Christuszeugnisses ist, und die geschichtliche Wirklichkeit des sich wandelnden Ur-
zeugnisses muß ersetzt werden durch eine ungeschichtliche Konstruktion (s. dazu
E. Käsemann, ThLZ 73, 1948, S. 665ff.). Die Gleichwertigkeit des ganzen Kanons
ist zum Prinzip erhoben von 1.-L. Leuba, L'institution et l'evenement, Diss. Neu-
chAtel 1950, S. 6 ("Mais ce a quoi l'Eglise et le theologien se refuseront, c'est a
se confier a l'etude historique pour determiner ce qui est canonique et ce qui ne
l'est plus. La decision a ete prise une fois pour toutes. L'Eglise reformee, si fiere,
a juste titre, du fondement scripturaire de Sa theologie, fera bien de s'en SOUVenir,
Ia toute premierel"). Dagegen betont mit Recht im Sinne des oben Ausgeführten
E. Käsemann, Verkündigung und Forschung, 1950, S. 209 f., die Gefahr eines
"massiven und primitiven Kanonbegriffs" für die "sachliche Autorität des refor-
matorisch verstandenen Evangeliums".
7 Kisemann, Kanon
OsKAR CuLLMANN
nügen. Das Lehramt der Kirche hat mit dem entscheidenden Akt der
Kanonbildung nicht abgedankt, hat aber seine zukünftige Tätigkeit
von dieser Norm abhängen lassen.
Die katholische Theologie gibt zwar zu, um einen Satz von J. Da-
nielou zu zitieren4 , "daß die Festlegung des Kanons den Ort bezeich-
net, wo die eigentliche Offenbarung aufhört, doch leugnet sie, daß
dies den Sitz der Autorität verlege und von der lebendigen Kirche auf
den geschriebenen Bumstaben übertrage". Wir werden aber auch
nicht behaupten, daß die Autorität von der Kirche auf den Buchstaben
übergegangen ist; denn vor der Kanonbildung gab es noch keine ei-
gentlime Lehrvollmacht, wie es das Wuchern apokrypher Traditio-
nen im Smoße der Kirdie beweist. Unter den zahlreichen christlimen
Schriften haben sich die den zukünftigen Kanon bildenden Bücher der
Kirche lediglich Idurch ihre innere apostolische Autorität aufgedrängt,
so wie sie sich noch heute uns aufdrängen, weil Christus, der Kyrios,
in ihnen spricht.
Indem die Kirche des 2. Jahrhunderts einen Kanon forderte (es
geht hier um das Prinzip, nicht um die endgültige Bildung des Ka-
nons), bat sie nicht nur im Blick auf die auftauchenden Gefahren, vor
allem gegenüber der Gnosis, Stellung genommen. Sie hat einen die
ganze Zukunft der Kirche verpflichtenden Entscheid getroffen. Sie hat
nicht für die andern, sondern für sich selbst eine Norm aufgestellt
und bat die Kirche aller Zeiten dieser Norm unterworfen. Ohne sich
ihres Lehramtes zu berauben, hat sie dieses klar umschrieben: wahres
Lehramt wird es nur insofern sein, als es seinen Ausgangspunkt in
einem Akt der Unterwerfung unter die kirchliche Norm des Kanons
nimmt. Aus dieser Unterwerfung allein gewinnt es seine Kraft. Der
Heilige Geist wirkt dann auch in dieser Unterwerfung. In diesem
Rahmen wird die Geisteingebung der Kirche immer gewährt werden.
Ist es jedoch erlaubt, der Bildung des Kanons solche Bedeutung für
die Heilsgeschichte zuzuschreiben? Wird damit nicht der Kirche des
2. Jahrhunderts, der ja der Kanongedanke entsprungen ist, eine
außergewöhnliche Würde beigelegt? Man wird anerkennen müssen,
daß dies ein für die Zeit der Kirche entscheidendes Geschehen war.
Um 150 war man einerseits noch nahe genug bei der Zeit der Apostel,
um mit Hilfe des Heiligen Geistes die mündlichen und schriftlichen
Oberlieferungen zu sichten. Anderseits hatte das erschreckende Wu-
chern gnostischer und legendärer Traditionen die Kirche für diese
Tat der Demut, für die Unterwerfung aller späteren Eingebung un-
ter eine Norm, reif gemacht. Zu keiner andern Zeit der Kirche hätte
die Kanonbildung vollzogen werden können. Damals hat Gott die
• J. Danielou, Reponse a Oscar Cullmann, Dieu vivant, Nr. 24, S. 107 ff. (109),
im folgenden zitiert: Dan.ielou, Rep.
[4-7/48] Fcstlegung des Kanons durch die Kirche des 2. Jhs. 103
schichte Israels verstanden. Die I Kirche hat also damit den Aposteln
Treue bewiesen, daß sie dem Alten Testament in der apostolischen
Norm, im Kanon, einen Raum zugewiesen hat.
Damit drängt sich aber ein Einwand auf: wird die Geschichte des
alten Gottesvolkes normativ, wie sollte dies nicht auch für das neue
Gottesvolk, für die Kirche, zutreffen? Wird damit nicht die Zeit der
Vorbereitung auf die Fleischwerdung hin vor der Zeit ihrer Entfal-
tung, nämlich vor der Zeit der Kirche, bevorzugt?
Dieser Einwand ist in der Tat gegen mich erhoben worden8 • Da-
gegen ist daran zu erinnern, daß ja die Kanonbildung als Bestandteil
der Heilsgeschichte betrachtet werden muß. Die Festlegung dieser
Norm bedeutete gewiß nicht, entgegen der Ansicht vieler Protestan-
ten, die Heilsgeschichte stehe von nun an bis zur Wiederkehr Christi
still. Nein, das Volk des neuen Bundes ist im Gegenteil vor dem des
alten Bundes bevorzugt; denn es lebt bereits im neuen Aeon, obwohl
die Endvollendung noch aussteht. Der Heilige Geist, der sich im alten
Bunde nur in einigen Gottesmännem kundtat, ist von nun an allen
Gliedern der Kirche zugänglich; so wird in der Rede des Petrus (Apg.
2, 16 ff.) das Pfingstwunder durch die Joelweissagung ausgelegt: "In
den letzten Tagen werde ich ausgießen von meinem Geist über alles
Fleisch."
Damit ist ober noch nicht zugegeben, daß diese Zeit der Kirche
Norm wäre, trotz aller göttlichen Gnadengaben, die sie vor allem in
den Sakramenten besitzt. Dem oben erwähnten Einwand ist in erster
Linie entgegenzuhalten, daß die Voraussetzung, es habe im alten
Bunde ein unfehlbares Lehramt gegeben, nicht richtig ist. Man darf
Autorität des Alten Testamentes und unfehlbares Lehramt nicht ver-
wechseln1. Wohl gibt es schon im Volke Israel ein Wirken des Geistes,
aber kein unfehlbares Lehramt. Die Autorität des Alten Testaments,
das schon durch die Juden im wesentlichen als Kanon umgrenzt war,
hat sich der alten Kirche als ein Bestandteil der normativen Heilsge-
schichte in Christus aufgedrängt, ebenso wie sich ihr auch die Autori-
tät der einzelnen neutestamentlichen Bücher aufgedrängt hat. Die
Kirche hat dort die Gegenwart des Heiligen Geistes erkannt. Darum
betonen die alten I Glaubensbekenntnisse, daß er durch die Propheten
geredet hat. Das bedeutet mit anderen Worten: das Alte Testament
ist für die Kirche nur insoweit kanonisch, als es auf das Neue Testa-
ment hinzielt, d. h. als man annimmt, daß die Zeit der Inkarnation
auch für die ihr vorangehende normativ ist und so deren Auslegungs-
regel wird. Die apostolischen Schriften sind also nicht nur Norm für
• Durch J. Danielou, erst mündlich, dann in Rep., S. 111 ff.
7 Diese Verwechslung scheint mir Dan.ielous Einwand (Rep., S. 111 f.) zugnmde
zu liegen.
[50/51] Festlegung des Kanons durch die Kirche des 2. Jhs. 105
die nachapostolische, sondern auch für die vorapostolische Zeit. Be·
steht eine Entsprechung zwischen der kirchlichen Tradition und der
Schrift, dann nur zwischen der kirchlichen Tradition und dem Alten
Testament, die beide in den apostolischen Berichten des Neuen Testa·
mentes ihre Norm, ihren Kanon haben. Die Zeit der Kirche jedoch ist
nicht abgeschlossen, im Gegensatz zur Vorbereitung der Inkarnation
Christi in der Geschichte des Volkes Israel, die zur Zeit der Apostel
und der Kanonbildung abgeschlossen war.
Beweist dagegen nicht die Glaubensregel, daß die Tradition der
Kirche als Norm neben die Schrift tritt? Von Anfang an muß der Tat·
sachedie größte Beachtung geschenkt werden, daß zur gleichen Zeit,
nämlich gegen die Mitte des 2. Jahrhunderts, ilu wie dem Kanon nor·
mative Autorität zugeschrieben wurde. Durch irrige Vorstellungen
über die Tragweite gewisser Väteraussagen aus dem 2. Jahrhundert
verleitet, pflegen wir zu sehr, Glaubensregel und Kanon in Gegensatz
zu stellen, als ob die Glaubensregel die ununterbrochene Tradition
der Kirche bildete neben der abgeschlossenen Tradition, den Schrif·
ten der Apostel. In Wirklichkeit entsprach die endgültige Festlegung
der apostolischen Glaubensregel genau dem gleichen Bedürfnis wie
die Kanonisierung der apostolischen Schriften. Das Zeugnis der Apo·
stel ist nicht in ihr Credo und in ihre Schriften geschieden. Beides bil·
det ein Ganzes als apostolische Tradition im Gegensatz zur nachapo·
stolischen. Die apostolische Glaubensregel ist die Tradition, von der
die Väter des 2. Jahrhunderts reden8 • Ihre ursprüngliche Weitergabe
auf I mündlichem Wege ist weniger bedeutsam als die überzeugung,
daß ihr Wortlaut wie derjenige der kanonischen, neutestamentlichen
Schriften durch die Apostel festgelegt wurde. Nach der Oberzeugung
der Kirche des 2. Jahrhunderts handelt es sich nicht um eine geheime
Tradition, sondern um einen Text, der wie die neutestamentlichen
Bücher schon zur Zeit der Apostel feststand.
Dieses Credo war gleichermaßen eine apostolische Zusammenfas·
sung der neutestamentlichen Bücher, sozusagen eine apostolische
Auslegungsregel für alle unter sich so verschiedenen Bücher. Die Viel·
faltder apostolischen Schriften erforderte für die verschiedenen Be·
dürfnisse der Kirche9 eine kurze Zusammenfassung der ihnen ge·
meinsamen Wahrheiten. Um Auslegungsnorm zu sein, mußte dieses
1 Unter diesem Gesichtspunkte müßte man vor allem Irenäus studieren. übri-
gens müßte die vorliegende Arbeit durch eine Untersuchung über die Tradition in
der alten Dogmengeschichte ergänzt werden. Soeben ist das Problem in bezug auf
den Amtsgedanken im bedeutenden Werk von H. von Campenhausen, Kirchliches
Amt und geistliche Vollmacht in den ersten drei Jahrhunderten, 1953, S. 163 ff.,
behandelt worden.
1 Siehe 0. Cullmann, Die ersten christlichen Glaubensbekenntnisse, Aufl. 1949.
106 ÜSEAil CULLMANN (51/52]
11 Das habe ich schon in meinem Aufsatz in Dieu vivant, Nr. 23, S. 64, zugege-
ben, indem ich betonte, daß es nur um das Prinzip eines apostolischen Glaubensbe-
kenntnisses geht. Ich habe anderseits in meiner Arbeit über "die ersten christlichen
Glaubensbekenntnisse", 1949, die Beziehung zwischen den s<hon feststehenden
Formeln des Neuen Testamentes und dem zukünftigen Apostolikum näher be-
leuchtet. Deshalb kann ich den hier erhobenen Einwand Danielous, Rep., S. 115 f.
nicht recht begreifen. Selbstverständlich haben das Apostolikum und auch das alte
römische Symbol, aus dem jenes hervorgegangen ist, zur apostolischen Zeit noch
nicht bestanden. Doch sind ihr Prinzip und ihre wesentlichen Bestandteile schon in
den neutestamentlichen Formeln enthalten. Die Schwankungen gewisser Aussagen
besagen für unser Problem nicht mehr als die Jahrhunderte dauernde Auseinan-
dersetzung über die Aufnahme gewisser Bücher in den Kanon zur Zeit, da das Ka-
nonprinzip schon längst in Geltung stand.
[52/5~] Festlegung des Kanons durdt die Kin:he des 2. Jhs. 107
man festgestellt, daß mit Ausnahme der lgnatiusbriefe die Schriften
der sogenannten Apostolischen Väter (1. Klem.; 2. Klem.; Barnabas-
brief, Hirt des Hermas, Polykarpbrief), die nicht mehr dem aposto-
lischen Zeitalter, sondern dem beginnenden 2. Jahrhundert ange-
hören, trotz ihres theologischen Interesses sich vom Denken des Neuen
Testamentes beachtlich entfernen und in weitem Maße einem Mora-
lismus verfallen, der den für die apostolische Theologie so wichtigen
Begriff der Gnade, des erlösenden Todes Christi verkennt11 • Man hat
aum hervorgehoben, daß die Kirchenväter, die nach 150 geschrieben
haben, lrenäus und Tertullian, trotzihres zeitlim größeren Abstan-
des vom Neuen Testament den innem Gehalt des Evangeliums un-
vergleichlim besser erlaßt haben. Dieser smeinbar paradoxe Tatbe-
stand erklärt sim durchaus aus der für die Kirche so wichtigen Festle-
gung des Kanons als Norm aller Tradition. Die Apostolischen Väter
haben zu einer Zeit gesdtrieben, da die neutestamentlichen Schrif-
ten schon bestanden, Iaber noch nicht mit kanonischer Autorität verse-
hen, d. h. abgesondert waren. Sie verfügten demnach über keine Norm,
waren aber von der apostolischen Zeit zu weit entfernt, um unmittel-
bar aus der Quelle des Augenzeugnisses schöpfen zu können. Die Be-
gegnungen des Polykarp und des Papias mit apostolischen Persön-
lichkeiten konnten eine reine Obermittlung ursprünglicher Traditio-
nen nicht mehr gewährleisten: ihre literarische Hinterlassenschaft
beweist es.
Nach 150 war die Verbindung mit dem apostolischen Zeitalter
dank der Kanonbildung wieder hergestellt, dank der Ausscheidung
aller trüben, entstellenden Quellen. Es bestätigt sich hier, daß die
Kirche durch die Unterwerfung aller spätem Tradition unter den Ka-
non ein für allemal ihre apostolische Grundlage gerettet hat. Sie hat
es ihren Gliedern dadurch ermöglicht, stets aufs neue und zu allen
Zeiten das ursprüngliche apostolische Wort zu hören, ja noch mehr,
die Gegenwart Christi zu erfahren, ein Vorrecht, das keine durch
Polykarp oder Papias vermittelte mündliche Tradition ihr zusichern
konnte.
Wir haben gesehen, daß die Schrift ausgelegt werden muß. Die
Kirche soll sich für diese Auslegung verantwortlich fühlen. Sie muß
unter Umständen Stellung nehmen zu gewissen, von ihren Lebrem
oder von unabhängigen freien Forschern ihrer Zeit vorgeschlagenen
Bibelerklärungen. Dom ihre Verantwortlimkeit besteht in diesem
Falle darin, daß sie in der demütigen Unterwerfung unter die aposto-
lisme Norm des Kanons ein entscheidendes Wort spricht. Dies schließt
ein Doppeltes ein: daß sie erstens zukünftige Geschlemter nicht dazu
11 Siehe Th. F. Torrance, The Doctrine of Grace in the Apostolic Fathers, 1948.
108 ÜSJtAR Cuu.MANN [53/54)
Der Gegenstand, den wir betrachten wollen, ist keinem ganz unbe-
kannt und manchem wohlvertraut: das Neue Testament. Ich möchte
davon reden, wie das Neue Testament zu einer grundlegenden und
maßgebenden Urkunde geworden ist, die neben und vor dem Alten
Testament von allen christlichen Kirchen als verbindlicher "Kanon",
d. h. als Richtschnur und Norm ihres Lebrens und Lebens anerkannt
ist. Nun ist die Geschichte der Entstehung der einzelnen neutesta-
men'tlichen Schriften, ihres Zusammenrückens und ihrer abschließen-
den Bestätigung im Rahmen unseres Neuen Testaments, aufs Ganze
gesehen, kein Problem mehr. Alle Einleitungen und Kanonsgeschich-
ten geben darüber Auskunft, und die noch offenen Fragen betreffen
fast nur Quisquilien, die für den Nicht-Fachmann ohne Interesse sind.
Ich werde diese Dinge hier also nach Möglichkeit beiseite lassen und
mich dort, wo ich sie berühren muß, auf das Allernotwendigste be-
schränken. Es ist eine andere Seite des Geschehens, die immer noch
zur Betrachtung reizt und, wie mir scheint, noch nicht zur Genüge er-
forscht ist: die Frage nach den Voraussetzungen und nach den in-
neren Gründen, den bewußten oder unbewußten Motiven und Ab-
sichten, die für das Zustandekommen des Neuen Testaments entschei-
dend wurden.
Wir wissen, daß heilige Bücher ein weit verbreitetes religionsge-
schichtliches Phänomen sind, und es liegt scheinbar nahe, auch das
Faktum unserer Bibel nach einem aUgemeinen Gesetz religiöser Ent-
wicklung zu verstehen, wonach auf die Zeit der ursprünglichen, sou-
veränen Bewegung des Glaubens die Zeit der ängstlichen Sicherung
und Erstarrung folgt, auf die Herrschaft des Geistes die Knechtschaft
des Buchstabens, auf die Führung durch schöpferische Persönlich-
keiten die Tyrannei der Schriftgelehrten und Theologen. Aber so ein-
fach liegen die Dinge in Wirklichkeit nicht. Der Aberglaube einer
allgemeingültigen Wirkung vermeintlicher historisch-psychologischer
Gesetzmäßigkeilen ist hier wie überall das sicherste Mittel, die Er-
kenntnis der wahren Zusammenhänge, des eigentlich geschimtlichen
• Vortrag bei der Jahresfeier der Universität Heidelberg am 22. November 1962,
erstmals veröffentlicht in: Heidelberger Jahrbücher VII, Springer-Verlag, Berlin-
Göttingen-Heidelberg 1963, S. 1-12.
110 HANs FJ\EIHEBR voN CAMPENHAUSEN [1/2]
dem allein noch reiche und authentische Zeugnisse erhalten sind; das
ist der Apostel Paulus. Von Paulus wissen wir, daß er nach eigenem
Zeugnis bestimmte, geformte Texte über den Tod und die Aufer-
stehung Christi, über die Einsetzung des Abendmahls und vielleicht
noch weitere in seinem Sinne heilswesentliche Daten der Christus-
geschichte- obwohl selber Apostel- dennoch aus älterer Oberliefe-
rung "übernommen" und seinen Gemeinden förmlich weiter "über-
geben" hat, als festen, ökumenischen Besitz ursprünglich christlicher
Tradition. Diese Texte gelten ihrem sachlichen Gehalt nach als für
den Glauben grundlegend. Paulus fordert von seinen Gemeinden
ihre genaue Kenntnis und setzt sie auch außerhalb seines Missions-
bereiches als gegeben voraus. Er argumentiert mit ihnen, indem er sie
zitiert und von da aus weitergehende Folgerungen zieht, sei es prak-
tischer, sei es grundsätzlicher Art. Wir haben damit also schon das ty-
pische Verhältnis der sinngemäßen Anwendung und "Auslegung"
eines vorgegebenen, feststehenden Textes, der "kanonisch" ist. Aller-
dings ist der Text in diesem Falle noch kein schriftlicher Text- aber
dieser Unterschied spielt ja auch sonst grundsätzlich und praktisch
nicht die Rolle, die wir ihm heute zuzuschreiben gewohnt sind, und
gerade die christliche Oberlieferung ist gegen ihn so völlig gleichgül-
tig, daß wir den übergang von der mündlichen zur schriftlichen Uber-
lieferllllgsweise kawn jemals auch nur markiert finden. EnLscheidend
ist die feste Prägung, die geordnete Weitergabe und Kontrolle und
die unbestrittene, verpflichtende Autorität. Dazu käme noch das Mo-
ment der genauen Abgrenzung gegen weniger zuverlässige, "apo-
kryphe" Traditionen; aber Derartiges scheint Paulus noch nicht zu
kennen, und um so bedeutsamer ist der Nachdruck, den er dennoch
auf die Bewahrung der alten Traditionen legt. Wäre die Kirche in sei-
ner Bahn geblieben, so wäre sie wesentlich früher zu einem Kanon
der Christus-überlieferung gekommen, der wohl ärmer, dafür aber
im rein historischen Sinne zweifellos auch sicherer gewesen wäre als
unser heutiges Neues Testament.
Sie hat es nicht getan. Das zeigt nicht nur der Umstand, daß in der
Folgezeit alle ausdrücklichen Hinweise und Zitierungen, wie sie Pau-
lus bringt, völlig fehlen, sondern das beweist vor allem der Zustand,
in den die Überlieferung alsbald geraten ist und I in den apokryphen
wie in den später kanonisierten Evangelien heute noch vorliegt. Die
Abendmahlsberichte stimmen miteinander nicht mehr überein und
fehlen z. B. im Jobarmesevangelium vollständig, und gerade die Auf-
erstehung, auf deren ursprüngliche Bezeugung Paulus gepocht hatte,
erfährt unzählige, immer phantastischere Ausgestaltungen- von den
später einsetzenden Iegendarischen Geburtserzählungen nicht erst zu
reden. Derartiges wäre bei einer allgemeinen Normierung und text-
[4] Die Entstehung des Neuen Testaments 113
sächlichen Entscheidungen sind doch alle schon gegen Ende des zwei-
ten und zu Beginn des dritten Jahrhunderts gefallen. Seitdem gibt es
die Idee und den wesentlichen Inhalt unseres Neuen Testaments. Wel-
ches ist nun der ursprüngliche Sinn dieser größten und zweifellos fol-
genreichsten Schöpfung- nicht des Urchristentums, aber der frühen
Kirchengeschichte und der Geschichte des Christentums überhaupt?
Das Neue Testament ist kein Buch, das die alte Kirche sich selbst
nach ihrem Bedürfnis gezimmert hätte. Es ist kein Gesetzbuch, kein
Katechismus und keine Dogmatik - das sind gewiß auch sehr nütz-
liche und mehr oder weniger unentbehrliche Dinge, die aber - nach
Umständen wechselnd - durchweg neben dem Neuen Testament
entstanden sind und es wohl voraussetzen, aber in dem, was es eigent-
lich ist, niemals ersetzen können. Das Neue Testament wollte ur-
sprünglich die Sammlung der echten und alten Zeugnisse sein, der
historischen wie der lehrhaften, aus denen man erfahren konnte, wer
und was der wirkliche und wahre Jesus Christus gewesen sei, so, wie
er gelebt und gelehrt hat, gekreuzigt und auferstanden ist, und so,
wie er als Gottes Tat zu glauben und im Glauben zu verstehen und zu
bewähren ist. Insofern ist dieses Buch im ernstesten Sinne historisch
gemeint. Aus diesem doppelten Anspruch, die historisch wie theolo-
gisch ursprüngliche Kenntnis und Erkenntnis Jesu zu vermitteln, er-
klärt sich ebenso die zeitliche Grenze wie die inhaltliche Weiträumig-
keit seiner Auswahl.
Erhebt das Neue Testament diesen Anspruch aber nun wirklich zu
Recht? Man muß die Antwort auf diese Frage differenzieren. Blickt
man auf die Absicht und die Möglichkeiten der Kirche, die das Neue
Testament sammelte und konstituierte, so kann man, wie mir scheint,
getrost versichern, daß eine bessere Auswahl nach Lage der Dinge
damals weder zu erwarten noch zu erreichen war. Es ist immer wieder
erstaunlich, mit wie sicherem Instinkt die Christen noch zu Beginn
des dritten Jahrhunderts das alte und wesentliche Material, soweit es
zu haben war, ergriffen und festgehalten haben. Es sieht nicht danach
aus, als wäre in jener Zeit irgendwie noch weiteres, altes Gut vorhan-
den gewesen, das die Kirche aus dogmatischen Gründen preisgegeben
und verschmäht hätte. Selbst den Galaterbrief, den vielleicht über-
haupt erst Markion wieder entdeckt und absichtsvoll an die Spitze
seiner paulinischen Briefsammlung gestellt hatte, hat sietrotzseines
im höchsten Maße unbequemen Inhalts nicht verworfen, sondern auf-
genommen und anerkannt.!
Das, was uns an apokryphen Evangelien und Briefen heute noch
erhalten ist, kann andererseits das Urteil über ihre tendenziöse
Fremdartigkeit und historische Minderwertigkeit, aufs Ganze gese-
hen, nur bestätigen. Man kann höchstens im entgegengesetzten Sinne
[10] Die Entstehung des Neuen Testaments 121
Die Frage, ob der nt.liche Kanon die Einheit der Kirche begründe,
muß um der Variabilität der Verkündigung im NT willenvom Hi-
storiker verneint werden. Der Beweis für diese Behauptung kann im
Rahmen eines Vortrags nur entwurfartig, also unter Beschränkung
auf einfache Tatsachen und wenige Beispiele, geführt werden.
1. Es ist ein theologisches Problem, daß der Kanon uns vier Evange-
lien statt eines einzigen bietet und selbst die ersten drei in ihrer Ord-
nung, Auswahl und Darstellung erheblich divergieren. Natürlich
spielen die Verschiedenheit der jeweils benutzten Tradition und die
Eigenart der Evangelisten dabei eine Rolle. Doch kann nur allzu
vordergründige Betrachtungsweise, welche die Evangelien primär als
Tatsachenberichte versteht und ihren Verkündigungscharakter letzt-
lich ausschaltet, sich mit dieser Erklärung begnügen. Läßt sich doch
mit Sicherheit feststellen, daß kein Evangelist den historischen Jesus
selber gekannt hat. Für jeden von ihnen stand paradox ausgedrückt
der erhöhte und geglaubte Kyrios vor dem incarnatus auf dem Plan
und bestimmte den Aspekt, unter dem sie je auf ihre Weise den in-
camatus sahen. Dabei gehören alle der hellenistischen Gemeinde an.
Matthäus und Lukas setzen gemeinsam Markus und eine von uns
gewöhnlich als Logienquelle bezeichnete Vorlage, alle drei eine schon
vorhandene Passions-und Ostergeschichte voraus. Johannes benutzt I
zum mindesten eine verwilderte synoptische Überlieferung. Zeitlich
stehen sie alle nicht in solchem Abstand, daß erhebliche Differenzen
von da unvermeidbar würden. Gleichwohl folgen sie sämtlich einer
andem Tendenz. Schematisch formuliert: Zeigt Markus mit seinen
vielen Wundergeschichten die geheime Epiphanie dessen, der zu
Ostern seine volle Glorie erhält, so Matthäus den Bringer der messia-
nischen Thora, Johannes den Christus praesens, während Lukas hi-
storisierend und die Heilsgeschichte als Entwicklungsprozeß schil-
• Vortrag, gehalten am 20. Juni 1951 in der ökumenischen Vorlesungsreihe der
Theologischen Fakultät zu Göttingen, in: E. Käsemann, Exegetische Versuche und
Besinnungen I, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1960, S. 214-223 (Erstyeröf-
fentlichung in: EvTheol11, 1951/52, S. 13--21).
[215/216] Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche? 125
demd zum ersten Male ein sogenanntes Leben Jesu schreibt. Ein an-
deres Beispiel: Kein hellenistischer Christ hat je daran gezweifelt, daß
Jesus das Gottessohnprädikat in metaphysischem Sinn gebühre. Mar-
kus läßt in seiner Taufgeschichte zwar noch erkennen, daß eine äl-
tere Gemeindeanschauung wie in Röm. 1, 4; Apg. 2, 56; Hehr. 1, 5
eine adoptianische Christologie vertrat und die Taufe als Messias-
weihe verstand. Doch hat er selbst diese Anschauung bereits verwischt
und Jesus durchgängig in den Farben des hellenistischen theios an-
thropos gezeichnet. Die beiden andem Synoptiker sprechen schon
von der göttlichen Erzeugung Jesu, wobei Matthäus den Messias als
zweiten Moses und Retter des eschatologischen Gottesvolkes, Lukas
das göttliche Kind im Rückgriff auf den hellenistischen Mythos wie
die 4. Ekloge Vergils als Weltheiland darstellt. Im 4. Evangelium er-
scheint endlich auch das Motiv der Jungfrauengeburt für den unan-
gemessen, der als Logos vom Anfang an bei dem Vater und mit die-
sem eins ist, darum allein Offenbarer sein kann. Das allen gemein-
same Bekenntnis zur Gottessohnschaft Jesu wird also mit Hilfe einer
jeweils der Umwelt entnommenen Anschauung verschieden expliziert.
Ein theologischer Aspekt läßt in unsem Evangelien den incamatus
modifiziert verkündigen.
Weil es sich so verhält, können die Evangelisten einander auch
recht unbefangen kritisieren. Markus tat es schon der Quelle seiner
Taufgeschichte gegenüber, deren Christologie er nicht mehr tragbar
fand. Seine Nachfolger haben es nicht anders gehalten. Matthäus
nimmt z. B. Anstoß an der drastischen Weise, mit welcher Mk. 5, 27
ff. die Heilung der Blutflüssigen erzählte. Daß die Gewandung des
Wundermannes göttliche Kraft mitteilt, die bei Berührung über-
springt und zu heilen vermag, ist eine vulgär hellenistische Vorstel-
lung, die genauso im Bericht vom heilenden Petrussehatten und den
wunderwirkenden Schweißtüchlein des Paulus Apg. 5, 15; 19, 12 er-
scheint und später den Reliquenkult bestimmt. Matthäus korrigiert
diese grob magische Anschauung, indem er die Heilung nicht mehr
durch die Berührung des Gewandes als solche, sondern durch Jesu
Machtwort erfolgen läßt. Er reduziert überhaupt die breite Ausma-
lung der Wundergeschichten bei Markus, in der sich novellistische Er-
zählerfreude bekundet und selbst Motive profaner Erzählungstechnik
angeschlagen I werden, aufs äußerste, um die geheimnisvolle Hoheit
Jesu stärker herauszustellen. Zweifellos bewußt läßt Lukas die Ver-
wünschung des Petrus durch Jesus in Mk. 8, 33 aus, weil sie ihm un-
erträglich ist. Er hat ja anders als die übrigen Evangelien die Beru-
fung des Petrus zum Gegenstand einer eigenen Wundergeschichte
gemacht und dabei wie anderswo die weiteren Apostel in den Schat-
ten des Apostelfürsten gerückt, der für ihn der Repräsentant des kirch-
126 [216/217]
liehen Amtes ist. Ganz klar gestaltet Dogmatik den Aufriß des 4.
Evangeliums. Deshalb geht den beiden ersten Teilen in Kap. 2 und
15 eine symbolische Einleitung voraus. Die Hochzeit zu Kana und die
höchst eigenwillig an den Anfang gezogene Tempelreinigung charak-
terisieren Jesus als der Welt Heil und Krisis, die Fußwaschung illu-
striert, daß die vom Kosmos gehaßten Jünger in göttlicher Agape
stehen. So hat der Evangelist auch den aus den Synoptikern bekannten
Traditionsstoff durchweg als Anschauungsmaterial für die eigene
Verkündigung verwertet und ihm damit die Selbständigkeit genom-
men. Zeigt sich das bei den Wundergeschichten besonders deutlich,
so meldet sich dort zugleich am schärfsten johanneische Kritik gegen-
über traditionell kirchlicher Betrachtungsweise: Ihr gelten die Wun-
der Jesu als Symbole, die in 4, 48; 6, 26; 20, 29 ausdrücklich einer
christlich geläufigen Deutung als Glaubenslegitimation entzogen wer-
den. Solcher Nachweis läßt sich unabsehbar weiterführen und selbst
auf Stellen ausdehnen, in denen ein gleiches Wort durch einen andem
Zusammenhang eine andere Interpretation erfährt. Wir können aus
dem Gesagten bereits jetzt die Folgerung ziehen, daß die Differenzen
in unsem Evangelien und sogar die abweichende Auswahl des über-
lieferungsstoffessich weithin aus der verschiedenen theologisch-dog-
matischen Haltung der Evangelisten erklären.
2. Der Kanon erzeugt die gängige kirchliche und von theologischer
Systematik oft geförderte Meinung, daß das NT uns ein einiger-
maßen ausreichendes Bild von Geschichte und Verkündigung der Ur-
christenheit gewähre. Tatsächlich wissen wir davon unverhältnis-
mäßig mehr als von den meisten andem Dingen der Antike, weil die
Kirche ihre Tradition sorgfältig erhalten und weitergegeben hat. Doch
sollte uns das den fragmentarischen Charakter auch dieses Wissens
nicht vergessen lassen. Wir stoßen darauf besonders eindrücklich bei
dem Versuch, die authentische Jesusüberlieferung aus dem NT zu
eruieren. So gewiß man sagen darf, daß die große Masse dieser Ober-
lieferung uns nicht den historischen Jesus gewahren läßt, so erlauben
uns alle noch so vervollkommneten Methoden historischer Wissen-
schaft an diesem Punkte nur ein mehr oder minder zutreffendes
Wahrscheinlichkeitsurteil, wie man aus den vielen höchst disparaten
Darstellungen des Lebens und der Botschaft Jesu und der großartigen
Geschichte der Leben-Jesu-Forschung von A. Schweitzer erkennen
kann. Die notJwendige Rekonstruktion wird uns paradoxerweise gera-
de nicht dadurch erschwert, muß aber dadurch zuweilen fast aussichts-
los erscheinen, daß uns nicht zu wenig, sondern daß uns zu viel überlie-
fert wurde. Die urchristliche Gemeinde hat ja nicht wie wir zwischen
dem historischen und dem erhöhten Herrn unterschieden. Palästinische
wie hellenistische Prophetie sprachen im Namen des Erhöhten, was
[217/218] Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche? 127
Recht konnten sie es tun? Wer sind die Neider, welche zur Abfas-
sungszeit des Philipperbriefes die Gefangenschaft des Paulus gegen
den Apostel ausnützen? Wie fragwürdig muß seine Autorität zu sei-
nen Lebzeiten gewesen sein, wenn man das wagen konnte! Wie kam
es zur Ablösung des Petrus durch Jakobus in der Urgemeinde, mit der
sich gleichzeitig das Ende des palästinischen Enthusiasmus und das
Aufkommen eines christlichen Rabbinates ereignet zu haben scheint?
Welche Lehrunterschiede trennten die Palästiner und Hellenisten,
von denen Apg. 6 berichtet? Nur Lehrunterschiede begründen doch,
daß die letzten sich in Jerusalem nicht halten konnten, während die
gesetzesstrenge Richtung zum mindesten 15 Jahre lang relativ unan-
gefochten blieb. Aus welchem Milieu erwächst die rätselhafte Erschei-
nung des 4. Evangeliums oder auch des Jakobusbriefes? Diese belie-
big zu vermehrende Fragenkette zeigt, daß das NT eine unabsehbare
Fülle von ungelösten und teilweise wohl unlösbaren historischen und
theologischen Problemen enthält. Aus ihm sprechen eben nur die-
jenigen zu uns, die zu schreiben vermochten und genötigt waren, und
deren Schreiben aus irgendwelchen Gründen die spätere Kirche zu
bewahren für gut befand. Aber sie bilden eine verschwindende Mi-
norität den vielen gegenüber, welche die Botschaft weitertrugen, ohne
einen schriftlichen Niederschlag und damit ein bleibendes Gedächtnis
zu hinterlassen. Was berechtigt uns zu der Annahme, daß diese vielen
nichts anderes zu sagen wußten und gesagt haben als die Schriftsteller
des NT? Gelegentlich gewahren wir aus einem Echo auf ihre Stimme
das Gegenteil, das doch schon aus der Mannigfaltigkeit des NT selber
wahrscheinlich wird. Das heißt jedoch, daß uns im Kanon nur Fetzen
des in der Urchristenheit geführten Gesprächs erhalten geblieben
sind und daß die Variabilität des urchristlichen Kerygmas noch sehr
viel größer gewesen sein muß, als die Beobachtung des im Kanon er-
haltenen Tatbestandes wahn1ehmen läßt.
3. SolcheVariabilität ist jedoch bereits im NT so groß, daß wir nicht
nur erhebliche Spannungen, sondern nicht selten auch unvereinbare
theologische Gegensätze zu konstatieren haben. Ein im allgemeinen
nicht recht ernst genommenes Faktum mag den Weg zu dieser Ein-
sicht öffnen. Der 4. Evangelist bedient sich bekanntlich des literari-
schen Mittels, ein ihm wichtiges Thema durch ein Mißverständnis
der Jünger zu unterstreichen. Wirft er damit nicht ein höchst überle-
genswertes theologisches Problem auf? Unsere Überjzeugung, daß die
älteste Christenheit ihren Herrn bzw. die Überlieferung von ihm
durchgängig richtig verstanden und weitergegeben habe, ist keines-
wegs von vornherein stichhaltig und in nicht wenigen Fällen nach-
weislich falsch. Wenn Jesus in Mk. 7, 15 ablehnt, daß der Mensch von
außen her verunreinigt werde, so verläßt er damit grundsätzlich den
[219/220] Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche? 129
9 Käscmann, Kanon
130 [220/221]
sperrt hatte. Das Zerrbild des Pharisäers als eines Heud:llers ist der
Kirche selbst teuer zu stehen gekommen. Auch diese Beispiele sind aus
einer Fülle von andern herausgegriffen. Sie sollen beweisen, daß die
Geschichte der Christenheit und ihrer Lehrtradition nicht bloß in der
Kontinuität zu Jesus gesehen und besmrieben werden darf. Sie ist
genauso eine Geschichte der Diastase von Herrn und Jüngern. Be-
reits die älteste Gemeinde ist teils verstehende, teils mißverstehende
Gemeinde. Die Hoheit ihres Herrn wird von ihr zugleich bezeugt und
verdunkelt. Auch ihr Glaube barg sich im tönernen Gefäß ihrer
Menschlichkeit, und ihre Rechtgläubigkeit war genauso zweifelhaft,
wie Orthodoxie es stets ist.
Wird das jedoch zugestanden, so kann man sich nicht mehr darüber
wundern,daß auch im übrigen NT Lehrgegensätze hart aufeinander-
prallen. Mir scheint Luther die theologische Unvereinbarkeit von pau-
linischer Rechtfertigungslehre und derjenigen des Jakobusbriefes zu-
treffend beurteilt zu haben. Die Aussagen der Apostelgeschichte über
das paulinische Apostolat setzen keineswegs polemisch, sondern ganz
selbstverständlich das voraus, was Gal. 1 mit höchster Leidenschaft
bestreitet. Es ist mir unbegreiflich, wie man die Eschatologie des
4. Evangeliums und der Offenbarung ausgleichen will. Daß die "ein
für alle Male überlieferte Glaubenslehre" von Jud. 3 und die "vor-
handene Wahrheit" von 2. Petr. 1, 12 die Vorfindliehkeil der kirch-
lichen Tradition gegen die vom Geist immer neu geoffenbarte Wahr-
heit der Gnostiker ausspielen will und vielleicht ausspielen muß, liegt
auf der Hand. Es fragt sich jedoch, was es um eine kirchliche Tra-
dition ist, welche wie in Jud. 9 ff. unbefangen jüdischer Legende vom
Kampf um den Mosesleichnam zwischen Michael und Satan kano-
nische Autorität einräumt und ebenso unbefangen den Christen nach
2. Petr. 1, 4 durch die Taufe Anteil an der göttlichen Physis gewinnen
läßt. Es fragt sich weiter, ob mit solcher Polemik nicht auch die ur-
christliche, von Paulus und Jobarmes bezeugte und faktisch durch Je-
sus selbst vertretene Geistlehre verurteilt wird. Hier wirkt der Geist
ja nicht mehr auch durch die Überlieferung, sondern hier geht er in
der Tradition auf, ist deshalb wie bereits in den Pastoralen und der
Apostelgeschichte das kirchliche Lehramt Besitzer des "Amtsgeistes",
kann wie geradezu klassisch in 2. Petr. 1, 20 jede nicht autorisierte
Exegese und Interpretation der Schrift verboten werden. Hier gilt die
Ordination als Index eines Legitimitäts- und Sukzessionsprinzips,
kurz: ist die Grenze des Urchristentums überschritten und der Früh-
katholizismus Ietabliert. Die Zeit, in der man die Schrift als ganze dem
Katholizismus entgegenhalten konnte, dürfte unwiederbringlich vor-
bei sein. Mit dem sogenannten Formalprinzip kann Protestantismus
heute nicht mehr arbeiten, ohne sich historischer Analyse unglaub-
[221/222] Begründet der neutestamentlime Kanon die Einheit der Kirche? 131
nötig. Das Problem des Kanons ist nicht nur, wie mancher vielleicht
zu meinen geneigt sein könnte, ein Problem der protestantischen
Theologie oder der Kirchen außerhalb des römisch-katholischen und
orthodoxen Bereichs. Jener vorhin zitierte Aufsatz von vor 25 Jahren,
welcher von der Krisis des Kanons sprach, meinte, es handle sich hier
um "eine schleichende Krankheit der evangelischen Theologie und
damit der evangelischen IKirche". Das ist zwar richtig, aber eben nicht
nur sie, sondern alle Theologien aller Kirchen sind von dieser "Krank-
heit", wenn man so reden will, betroffen; sie alle geht, um es neu-
traler auszudrücken, die mit dem Kanon gegebene Problematik an,
wie sich im einzelnen noch ergeben wird.
Es ist, der gebotenen Kürze und Ubersichtlichkeit halber, vielleicht
zweckmäßig, unser Thema an Hand von Leitsätzen zu behandeln.
Einige (wenige) können ohne Kommentar stehen, die meisten benö-
tigen einer mehr oder weniger ausführlichen Erläuterung -, alle
Leitsätze zusammen mit dem Kommentar zu ihnen bedürfen der
Nachsicht, es handelt sich bei dem, was hier ausgeführt werden soll,
nur um einen V ersuch, das große Thema zu behandeln. Eine Polemik
gegen andere Auffassungen soll dabei nach Möglichkeit unterbleiben.
Für das Neue Testament selbst wie für die Kirche der Frühzeit bis
zur Ausbildung der Anfänge des neutestamentlichen Kanons ist
yQa<pi) = Altes Testament. Neben die Autorität dieser yQacpi) tritt das
Herrenwort, sowie in der ersten Zeit die unmittelbare Offenbarung
136 KURTAI..um [2/3]
durch den Herrn, wobei die Bezugnahme auf das Alte Testament et-
wa bei den Schriften der Apostolischen Väter unvergleichlich viel häu-
figer und umfangreicher ist als die auf Herrenworte.
Daß das Alte Testament von den Anfängen der Kirche, von Jesus
selbst an, heilige Schrift ist, bedarf keines Beweises. Man kann sogar
zugespitzt sagen, daß für die Frühzeit das Alte Testament an der-
selben Stelle stand wie für uns heute das Neue Testament. Das Alte
Testament ist für die junge Christenheit Bericht und Zeugnis vom
KUQLO~ 'll)ooü~ XQLOTO~. Daß diese heilige Schrift aber keine festum-
rissene und absolut festjstehende Größe war, d. h. daß es für die Ur-
kirche keinen feststehenden alttestamentlichen Kanon gab, scheint
ebenso simer. Anderslautende Behauptungen hätten nicht aufgestellt
werden dürfen. Die in den Evangelien von Jesus selbst gebrauchten
bzw. ihm in den Mund gelegten Zitate aus dem Alten Testament hal-
ten sich zwar im Rahmen des jüdischen Kanons, erlauben aber keinen
Rückschluß auf dessen damalige Existenz oder gar seine Gestalt im
einzelnen. Wenn im Judasbrief alttestamentliche Pseudepigraphen
zitiert werden, wenn Paulus nach dem glaubwürdigen Zeugnis des
Origenes dasselbe tut, wenn sich die Apostolischen Väter ebenfalls auf
Pseudepigraphen berufen, so ist das bereits der deutlichste Hinweis
darauf, daß die heilige Schrift des Alten Testaments für die Urzeit
noch nicht in einem festen Kanon existierte. Dazu kommt das reime
Material an Zitaten aus den Schriften des Alten Testaments, die nach
jüdischer Anschauung zu den Apokryphen zu rechnen sind. Die
Urzeit kannte ebensowenig einen festen Kanon des Alten Testa-
ments wie es einen festen Kanon für die Schriften gab, die sich diesem
Alten Testament in einem allmählichen Prozeß an die Seite zu stellen
begannen.
2. Sobald der Kanon als Ganzes gesehen wird, zeigt sich seine ma-
teriale Verschiedenheit. Die Bestimmung dessen, was im Alten Testa-
ment zum Kanon zu rechnen ist und was nicht, ist in den Kirchen von
heute durchaus unterschiedlich. Diese modernen Differenzen dürfen
uns jedoch nicht erschrecken; in ihnen spiegelt sich nur die Unter-
schiedlichkeit, welche in den frühen Jahrhunderten bis zum Ausgang
der alten Kirche in der Festlegung des alttestamentlichen Kanons
bestand.
Fragen wir nach dem Bestand des alttestamentlüften Kanons in
den wichtigsten Kirchen von heute, so ist die Antwort für eine Reihe
von ihnen leicht zu ermitteln. Für die katholische Kirche hat das Kon-
zil von Trient in seiner 4. Sitzung vom 8. April 1546 ein Kanonsver-
zeichnis festgelegt, welches über den jüdischen Kanon hinaus Tobias,
Judith, die Weisheit Salomos, Jesus Sirach sowie zwei Makkabäer-
[3/4] Das Problem des neutestamentlichen Kanons 137
bücherzum vollgültigen Bestandteil des Alten Testaments erklärte.
Die reformierten Kirchen haben mit eben derselben Eindeutigkeit in
der Confessio Gallicana von 1559 wie in der Confessio Belgica von
1561 (so eindeutig nach Artikel IV/V; Artikel VI gibt den Apokry-
phen zwar eine begrenzte Verwendungsmöglichkeit, hält sie aber
dennoch außerhalb des eigentlichen Kanons) übereinstimmend einen
Kanon des Alten Testaments festgelegt, welcher eben diese Apokry-
phen aus ihm ausschließt. Die Bekenntnisschriften der lutherischen
Kirchen, und zwar bis hin zur Formula Concordiae, enthalten ein sol-
ches Kanonsverzeichnis nicht; praktisch sind die lutherischen Kirchen
einen Mittelweg gegangen. Sie trennten die alttestamentlichen Apo-
kryphen zwar deutlich von den übrigen Schriften des Alten Testa-
ments ab, ließen ihnen aber einen Ort im Anhang der Bibel! ausgaben.
Die Church of England geht ebenfalls einen Mittelweg, wenn auch
auf andere Weise. In Artikel6 der 39 Artikel von 1571 heißt es in be-
zugauf die alttestamentlichen Apokryphen: "The Church doth read
(these other books) for example of life and instruction of manners;
but yet doth it not apply them to establish any doctrine." Die ortho-
doxe Kirche schließlich bietet eine noch andere Lösung. Die vom hl.
Synod der griechischen Kirche autorisierte Ausgabe des Alten Testa-
ments von 1950 enthält sämtliche Apokryphen, außerdem aber 2. Esra
und 3. Makkabäer; das 4. Buch der Makkabäer ist in einen Anhang
gestellt. Die 1956 in Moskau erschienene russische Bibel hat denselben
Bestand wie die Bibel der griechischen Kirche, fügt ihm jedoch 3. Esra
hinzu und streicht das 4. Makkabäerbuch.
Bereits aus dieser ganz kurzen übersieht wird deutlich, daß und wie
der alttestamentliche Kanon heute eine sehr variable Größe ist. Dem-
gegenüber scheinen manche Aussagen mancher Alttestamentler über
den alttestamentlichen Kanon von vornherein fragwürdig. Welchen
Kanon meinen sie, wenn sie Ausführungen über seine Gültigkeit
machen? Sie werden - wahrscheinlich - antworten, daß ihre Re-
flexionen und theologischen Uberlegungen sich auf den jüdischen
Kanon bezögen, daß sie sich also auf einem Gebiet aufhielten, das
von den Unterschieden der Auffassung des Kanons in den verschie-
denen Kirchen nicht berührt werde. Dem wäre zu antworten, daß die-
ser jüdische Kanon in der christlichen Kirche der Frühzeit zwar er-
hebliches Ansehen, aber faktisch keine Gültigkeit besessen hat. Er
kommt erst in der Reformationszeit zur Geltung und auch da nur im
reformierten Gebiet unverändert, wenigstens in der Theorie. Die
Praxis sieht selbst hier anders aus, wovon noch zu sprechen sein wird.
Versuche, ihn in der alten Kirche durchzusetzen, wie etwa der des
Hieronymus, blieben Episode und ohne Aussicht auf dauernden Er-
folg. Die christliche Kirche hat (von ihren allerersten Anfängen abge-
158 KuRTALAND (4/5]
sehen) in ihrer Frühzeit stets die LXX benutzt. Die Tatsache des Ge-
brauchs der LXX durch die Christen ist sogar offensichtlich einer der
Gründe für die Juden gewesen, sich von der griechischen Bibel auf
den normierten Text der hebräischen Bibel zurückzuziehen. Diese von
der alten Kirche gebrauchte LXX ist von der hebräischen Bibel nicht
nur im Gesamtumfang und im Aufbau ihrer Schriftengruppen unter-
schieden, sondern in einigen Büchern aum in bezug auf den Te:rtbe-
stand, ganz abgesehen von der Fülle der Differenzen zwischen dem
griechismen und dem hebräischen Text im einzelnen, die sich über
das ganze Alte Testament hin finden.
Vor allen Dingen aber ist der Kanon des griedtischen Alten Testa-
ments im 2. Jahrhundert offensichtlich noch eine variable Größe. Daß
er nicht dem hebräischen Kanon entspricht, beweisen bereits die Zi-
tate aus den alttestamentlichen Apokryphen und Pseudepigraphen,
die wir vom Neuen Testament an bei den Kirchenvätern des zweiten
und der folgenden Jahrhunderte in reicher Fülle fmden. Dabei wech-
selt der anerkannte Bestand I von Apokryphen bzw. Pseudepigraphen
offensichtlich von Fall zu Fall, soweit wir aus den überlieferten Zi-
taten Schlüsse zu ziehen in der Lage sind. Denn eine gewisse Zu-
fälligkeit hat offensichtlich bei diesen Zitaten stets gewaltet, keiner
der Väter beabsichtigt, dem Leser alle für ihn als heilig, als yQa«pi}
geltenden Schriften des Alten Testaments vorzuführen. Aber auch die
uns erhaltenen Kanonsverzeidtnisse bieten dasselbe wechselvolle Bild.
Selbst wenn wir den Bogen ganz weit spannen: von Melito und Ori-
genes über die großen Bibelhandschriften auf der griechischen Seite
bis hin zu Nikephorus, von Hilarius bis zum Codex Claromontanus
auf der lateinischen Seite, und die hier gebotenen Listen des alttesta-
mentlichen Kanons miteinander vergleimen, so ergibt sich, daß ei-
gentlich keines dieser Kanonsverzeimnisse des Alten Testaments dem
anderen genau gleich ist. Das gilt nicht nur für die Reihenfolge der
Aufzählung, sondern auch für den Bestand. Und keines der Kanons-
verzeidtnisse ist mit dem hebräischen Kanon identisch! Selbst wenn
man einmal glaubt, den hebräischen Kanon wiedergefunden zu ha-
ben, dann fehlt das BuchEsther oder ist doch ein Apokryphon (meist
Baruch oder die 'EmatoÄ~ des Jeremia) eingeschoben.
Das beginnt gleich beim ältesten Kanonsverzeichnis, dem des Me-
lito aus der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts (Euseb, h. e. IV, 26).
Was Melito - und zwar als Resultat von sorgfältigen Forschungen
anläßlich einer Reise in den Orient- aufzählt, entspricht zwar dem
jüdismen Kanon - aber es fehlt Esther, 1md zwar ganz offensichtlich
nicht aus Versehen. Denn oft genug, bis hin zu Grcgor von Nazianz
und Leontius (die beide sonst ebenfalls den hebräischen Kanon ha-
ben), wiederholt sim dieses Fehlen des Estherbuches. Das Kanonsver-
[5/6] Das Problem des neutestamentlichen Kanons 139
zeichnis des Origenes, das uns ebenfalls Euseb überliefert (h. e. VI, 25),
ist oft mißverstanden worden. Es handelt sich hier gar nicht um den
von Origenes selbst vertretenen Kanon; was er uns hier bei der Aus-
legung von Psalm 1 bietet, soll vielmehr ein Bericht über den hebräi-
schen Kanon sein (25, 2 vgl. 25, 1). Aber wie sieht diese Aufzählung
des jüdischen Kanons aus? Bei Jeremia erscheint mit offensichtlicher
Selbstverständlichkeit die ·EmaToA.~, und am Schluß wird hinzuge-
fügt: [~oo bE Toimov laTi. Ta MaxxaßaiY.a (25, 2).
Daß der jüdische Kanon, insbesondere bei gelehrten Theologen,
eine starke Beachtung fand und erheblichen Einfluß auf die Kanons-
verzeichnisse geübt hat, soll nicht geleugnet werden. Aber er war nie
stark genug, um die kirchliche Praxis, die ebenso wie die kirchliche
Tradition in andere Richtung ging, zu durchbrechen, auch bei Hie-
ronymus nicht. Die sog. Synode von Laodicea in der 2. Hälfte des
4. Jahrhunderts lehnte sich streng an den jüdischen Kanon an (auch
das BuchEsther ist hier aufgenommen). Aber bei Jeremia heißt es:
xat Bapoux, ßpfjvoL Y.at bnaToA.al (!). Der 39. Festbrief des Athana-
sius, dem eine besondere Bedeutung zukommt, steht ebenfalls stark
unter dem Einfluß des jüdischen Kanons. Er führt die Sapientia Sa-
lomonis, Jesus Sirach, Judith und Tobit zusammen I mit der Didache
und dem Hirten des Hermas als vom Kanon zu trennende Lesebücher
für Katechumenen an (die Makkabäerbücher u. a. m. werden über-
haupt nicht genannt). Aber auch das BuchEsther erscheint unter die-
ser Gruppe, und unter den kanonischen Schriften werden bei Jeremia
ebenso Baruch wie die 'EmaToA.~ aufgeführt. Wie die Praxis des
4. Jahrhunderts aussah, zeigen uns die großen Bibelhandschriften:
Der Codex Vaticanus enthält außer Baruch und der ·EmaToA.~ so-
wohl die Sapientia Salomonis wie Sirach, Judith und Tobit (nicht da-
gegen die Makkabäerbücher), der Codex Sinaiticus alle vier, zusätz-
lich aber noch das 1. und 4. Makkabäerbuch (über Baruch und die
•ExuJToA.~ ist keine Aussage möglich; nach den Klageliedern be-
ginnt eine Lücke). Und diese Schriften stehen nicht etwa in einem
Anhang, sondern mitten unter den anderen Büchern des Alten Te-
staments. Auf dieser Linie ist die Entwicklung weitergegangen.
zu. Eine Synode zu Hippo Regius von 593 wie Synoden zu Karthago
597 und 419 defmieren den Kanon des Neuen Testaments ebenso wie
Athanasius; lnnocenz I. erklärt dasselbe 405 in einer Verlautbarung
an den Bischof von Toulouse (ep. VI, 7), Pelagius kann schon 417 von
diesem Kanon als für die Gesamtkirche feststehende Tatsache reden
(libellus fidei 8). Nach langem Schwanken scheinen die Kirche des
Ostens wie des Westens in raschem Anlauf eine einheitliche Form des
neutestamentlichen Kanons erreicht zu haben, der nun durch die
Jahrhunderte bis auf den heutigen Tag Bestand hat.
Doch dieses schöne Bild täuscht. Vielmehr dauert es noch lange, bis
dieser feste Bestand überall erreicht ist, selbst in der lateinischen
Kirche, die ihrer ganzen Anlage nach zu festen Ordnungen strebt.
Daß Augustin sich mit einem Presbyter auseinandersetzen muß, der
in seinen Gottesdiensten nicht in den Kanon aufgenommene Schrif-
ten verlesen läßt (ep. 64, 5), mag noch angehen. Aber daß bei Augu-
stin selbst in seiner späteren schriftstellerischen Wirksamkeit eine
deutliche Zurückhaltung gegenüber dem Hebräerbrief spürbar ist,
gibt schon mehr zu denken. Jene Beschlüsse um 400 hatten den Hehr.
zwar in den Kanon hineinbringen können, aber damit war er noch
lange nicht in der abendländischen Kirche wirklich angenommen.
Daß Gassiodor noch um 550 keinen westlichen Kommentar zu Hehr.
ausfindig machen kann und deshalb den des Chrysostomus übersetzen
läßt, beleuchtet die tatsächliche Situation. Daneben darf nicht über-
sehen werden: daß man in manchen Teilen der Kirche bis ins 7. Jahr-
hundert hinein entweder einen verkürzten Kanon hatte (spanische
Synoden bekämpfen nach 600 noch Gegner der Apokalypse) oder
aber einen durch Aufnahme apokrypher Schriften erweiterten Kanon
anerkannte (selbst Gregor d. Gr. duldet den Laodicenerbrief), be-
weist, daß selbst im Westen auf die entscheidende sechste Etappe der
Rezeption des 27 Schriften-Kanons noch eine siebente folgte, in wel-
cher dieser Kanon erst Allgemeingut wird.
Noch deutlicher tritt diese siebente, abschließende Epoche in Er-
scheinung, wenn wir uns der griechischen Kirche zuwenden. Hier
kommt der I Autorität des Athanasius zwar eine ähnliche Bedeutung
zu wie der Augustins im Westen. Trotzdem aber ist viel Mühe und
Zeit erforderlich, bis der 27 Schriften-Kanon allgemein anerkannt ist.
Die antiochenische Theologenschule kennt damals überhaupt nur
zwei katholische Briefe und verwirft die Apokalypse nach wie vor.
Langsam setzt sich neben dem 1.Petr. und 1.Joh. dann der Jakobus-
brief durch, aber erst von 451 ab nimmt der Widerstand gegen die
Kanonizität von 2. Petr., 2. und 5. Joh. und Judas langsam ab. Die
Apokalypse braucht noch länger, um sich durchzusetzen. Erst um
500 beginnt das; aber noch das dem Patriarchen Nikephorus zuge-
[9/10] Das Problem des neutestamentlichen Kanons 143
schriebene Kanonsverzeichnis aus dem 9. Jahrhundert nennt die Apo-
kalypse in einem Atemzug mit der Apokalypse des Petrus, dem Bar-
nabasbrief und dem Hebräerevangelium unter den Antilegomena.
Und noch negativer ist das Bild in der syrischen Kirche. Hier ent-
hält der Kanon bis 400 das Diatessaron, nicht die vier Evangelien; es
fehlen außerdem sämtliche katholischen Briefe, es fehlt die Apoka-
lypse. Ja selbst die Paulusbriefe bieten ein anderes als das gewohnte
Bild: der Philemonbrief fehlt, dafür ist ein Schreiben der korinthi-
schen Gemeinde mit dem sog. 3. Korintherbrief als Antwort einge-
fügt. Dazu kommen schließlich Apokryphen verschiedenster Gattung.
Erst nach und nach wandelt sich die Situation in dieser Kirche, die ja
nicht gleichgültig ist, sondern von den ersten Anfängen an bis ins
5. Jahrhundert zu den Kerngebieten des Christentums gehört hat.
Allmählich muß das Diatessaron weichen. Der J akobusbrief, 1. Petr.
und 1. Joh. werden rezipiert. Aber noch fehlen die 4 kleineren katho-
lischen Briefe, noch fehlt die Apokalypse. In der westsyrischen Kirche
setzen sie sich vom 6. Jahrhundert ab langsam durch, aber viele Gene-
rationen sind dafür nötig; die ostsyrische, nestorianische Kirche
bleibt überhaupt bei einem Kanon ohne Judasbrief und Apokalypse.
So sieht in großen Zügen der Werdegang des neutestamentlichen
Kanons aus. Und diesen Werdegang muß man in Erinnerung haben,
wenn man grundsätzliche Aussagen über den neutestamentlichen Ka-
non machen will.
4. Weiterhin darf nicht übersehen werden, daß neben den sich in
der allgemeinen Schätzung als kanonisch durchsetzenden neutesta-
mentlichen Schriften lange Zeit hindurch, wenn auch in den verschie-
denen Kirchengebieten und Gemeinden in verschiedenartiger Zu-
sammensetzung, eine ganze Reihe von schließlich verworfenen Schrif-
ten volles oder teilweise kanonisches Ansehen besaß.
Darauf brauchen wir hier im einzelnen nicht einzugehen. Es ge-
nügt wohl, um die Situation zu beleuchten, auf die bekannte Tat-
sache hinzuweisen, daß der Codex Sinaiticus den Barnabasbrief und
den Hirten des Hermas enthält, der Codex Alexandrinus den 1. und
den 2. Clemensbrief. Der Codex Sinaiticus stammt aus dem 4., der
Codex Alexandrinus sogar I aus dem 5. Jahrhundert. Damals werden
diese Schriften in bestimmten Gebieten noch im Gottesdienst verlesen,
erfreuten sich also dort kanonischen Ansehens.
Einige grundsätzliche Bemerkungen sind jedoch erforderlich:
5. Der neutestamentliche Kanon nimmt seinen Anfang in einer Zeit
und als Zeichen einer Zeit, welche jene Unmittelbarkeit zum Herrn
zu verlieren sich bewußt war, die sich in steter neuer Geistoffenba-
144 KURTAL.um [10111]
rung und der durch sie geübten direkten Leitung der Kirche durch
den Herrn kundtat. Daß man im Kanon eine Schranke zwischen ech-
ter und unechter Offenbarung aufrichtet, wird außerdem befördert
durch die Erscheinungen des Montanismus und der Gnosis mit ihrem
Anspruch auf ein Mehr an göttlicher Offenbarung und Offenbarungs-
schriften auf der einen Seite und durch Mareion mit seinen Schülern
auf der anderen Seite mit ihrem V erlangen nach einem Weniger, als
die Kirche des zweiten Jahrhunderts ihrem Glaubensbesitz ent-
sprechen sah.
Dieses Gesetz, nach dem der neutestamentliche Kanon entstanden
ist, darf nicht übersehen werden. Und weiter:
6. Es kann nidzt bestritten werden, daß die von der alten Kirche
angewandten äußeren Maßstäbe für die Kanonisierung der neutesta-
mentlichen Schriften, von den modernen wissenschaftlichen Erkennt-
nissen aus betrachtet, unzureichend, nicht selten sogar falsch waren.
Die heutige Einleitungswissenschaft urteilt in vielen Fällen über Ver-
fasser und Entstehungszeit der neutestamentlichen Schriften anders
als die alte Kirche.
Ich brauche das hier im einzelnen nicht darzulegen. Wenn man die
äußeren Prinzipien, welche bei der Auswahl der kanonischen Schrif-
ten eine Rolle gespielt haben, in eine Formel zusammenfassen will,
kann man eigentlich nur vom "Prinzip der Prinzipienlosigkeit" spre-
chen. Man kann es etwa am Canon Muratori schön studieren, wie je-
des sichtbar werdende Prinzip für die hier getroffene Auswahl so-
gleich mit ausdrücklichen Worten wieder aufgehoben wird. Apostel
sollen die Verfasser der kanonischen Schriften sein: Lukas und Mar-
kus aber sind keine Apostel, Lukas nicht einmal Augenzeuge (6 ff.).
Es gibt Fälschungen von Apostelschriften (64 ff.), sie werden selbst-
verständlich verworfen; aber auch Schriften, an deren apostolischer
Abfassung nicht gezweifelt wird (wie die Apokalypse des Petrus),
werden von einigen nicht angenommen (72 f.). Die Sapientia Salo-
monis schließlich, die im neutestamentlichen Zusammenhang auf-
taucht, durchbricht den Zusammenhang völlig, ist sie doch nicht ein-
mal von Salomo selbst, sondern "von Freunden zu seiner Ehre" ge-
schrieben (69 ff.). An die ganze Kirche müssen die Schriften gerichtet
sein: aber Paulus schreibt doch nicht nur an einzelne Gemeinden (was
sich noch in das j Schema einfügen läßt, 55ff.), sondern sogar an ein-
zelne Personen (59 ff.). Einheitlich muß die Botschaft sein: aber die
principia ( = Anfänge oder = Grundsätze?) der Evangelien sind
doch verschieden (16 ff.). Alt müssen kanonische Bücher sein (73 ff.)
- das ist schließlich der einzige Grundsatz, der durchgehalten wird
- er wieder ist durch Irrtümer in der zeitlichen Ansetzung durch-
[11/12] Das Problem des neutestamentlichen Kanons 145
löchert. Bei allen andem Kanonsverzeichnissen würde ohne Zweifel
derselbe Tatbestand sichtbar werden, wären sie nicht so kurz ge-
halten.
Immerhin wird, sobald die Väter- und das gilt bis hin ins 4. Jahr-
hundert zu Euseb - sich ausführlicher über neutestamentliche Schrif-
ten äußern, ein Tatbestand deutlich, der wenigstens am Rande fest-
gestellt werden soll:
Man muß nur einmal lesen, wie Dionys von Alexandrien sich über
die Apokalypse äußert (Euseb, h. e. VII, 25), um den Abstand zu er-
messen, in dem die offiziellen kirchlichen Verlautbarungen, aber
auch die Äußerungen nicht weniger Theologen (Neutestamentler ein-
geschlossen) von heute sich zu jener Zeit vor 1700 Jahren befinden.
Hier werden die johanneischen Schriften, vom Evangelium bis hin zu
den Briefen, miteinander verglichen: in ihrem Sprachschatz usw. wie
in ihren theologischen Aussagen, unter Heranziehung aller sonstigen
Nachrichten und Hilfsmittel und vor allem mit einer Objektivität
und voraussetzungslosen Freiheit, daß nicht nur die Resultate ganz
modern klingen, sondern die Gesamthaltung in unsere Tage zu ge-
hören scheint- nicht wie sie sind, sondern wie sie sein sollten.
Aber kehren wir nach dieser Abschweifung zum 2. Jahrhundert
zurück. Man kann sich angesichts des Tatbestandes, den man hier
vorfmdet, des Eindrucks beinahe nicht erwehren, daß die hier ihr er-
stes entscheidendes Stadium erreichende Kanonbildung ein super-
additum darstellt, dessen das ausgehende 2. Jahrhundert eigentlich
nicht bedurft hätte. Denn fragen wir nach der letzten theologischen
und kirchlichen Instanz dieser Zeit, so ist das nicht die Schrift, son-
dern die regula fidei, die regula veritatis, der Kavoov tli~ tiÄT}'6Ela~.
Diese regula veritatis, dieser Kavrov stellt die Norm dar, an der alles
gemessen wird - auch die Bücher des sich bildenden Neuen Testa-
ments, sofern noch irgendwelche Zweifel an ihrer Allgemeingültig-
keit bestehen. Ob eine Schrift unter dem Namen eines Apostels wirk-
lich von der Kirche angenommen werden kann, entscheidet sich letzt-
lich daran, ob ihr Inhalt mit diesem Kanon übereinstimmt. Abfas-
sung durch einen Apostel, Alter und was dergleichen Gesichtspunkte
mehr sind, bedeuten demgegenüber nur Vorläufigkeiten. Die Ge-
schichte, die uns vom IBischof Serapion von Antiochien (ca. 190-211)
erzählt wird (Euseb, h. e. VI, 12), ist ganz charakteristisch. In Rhossus,
10 Käscmann, Kanon
146 [12]
Welche Rolle hat nun die Kirche bei der Entstehung des Kanons
gespielt? Wir brauchen nur das Fazit aus unserem Überblick über die
neutestamentliche Kanonsgeschichte zu ziehen: I
8. Die kirchlichen Instanzen des 2. und der folgenden Jahrhun-
derte vollzogen mit ihrer Festsetzung des Kanons die Entscheidungen
nach, welche bei den Gemeinden, genauer gesagt bei den einzelnen
Gläubigen, vorher vollzogen worden waren. Die verfaßte Kirche als
solche hat den Kanon nicht geschaffen, sie hat den geschaffenen Ka-
non anerkannt. Erst von der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts ab
setzt anläßlich des Abschlusses der Kanonsbildung eine Einwirkung
kirchlicher Instanzen ein.
Bei diesem Satz ist zu beachten, daß er von "kirchlichen Instanzen",
von "verfaßter Kirche" spricht, nicht von "Kirche". Natürlich hätte
auch dieses Wort gebraucht werden können; aber es hätte dann von
vornherein sichergestellt werden müssen, daß es hier in einem ver-
engten Sinne gemeint ist. Denn daß die Kirche= die Gesamtheit der
Gläubigen den Kanon geschaffen hat, versteht sich von selbst. Aber
dieser Kanon ist eben von unten her gewachsen, in den Gemeinden,
bei den Gläubigen, und dann erst von oben her amtlich legitimiert
worden, nicht umgekehrt, daß er von oben her, sei es von Bischöfen
oder von Synoden dekretiert und dann von den Gemeinden ange-
nommen worden sei.
Denken wir an die Anfänge der Kanonsbildung: Weder die Her-
renworte noch die Paulusbriefe noch die vier Evangelien erhalten
ihre Stellung durch den Spruch irgendeiner kirchlichen Instanz. Die
Herrenworte sind Autoritätkraft ihrer Herkunft, kraftihres vollmäch-
tigen Inhalts. Die Paulusbriefe werden von den Gemeinden ange-
nommen und anerkannt, an die sie gerichtet sind, im Normalfall
ohne weiteres, manchmal erst nach Schwierigkeiten (z. B. die Korin-
therbriefe). Wenn man sie ablehnt (mindestens bei einem Teil der
Empfänger des Galaterbriefes ist das der Fall gewesen), schließt man
sich damit aus dem Kreis der paulinischen Gemeinden aus und wird
zu einer Sondergemeinschaft, die anderen Autoritäten folgt. Man
hält die Briefe auch nach dem Tod des Paulus in Ehren und ist be-
müht, möglichst alle zu besitzen, um die Stimme des Paulus weiter
hören zu können. So entsteht das Corpus der Paulusbriefe.
Die vier Evangelien erwerben sich, jedes für sich allein, einen Kreis
von Lesern und Anhängern. Sie setzen sich gegenüber der erheb-
lichen Konkurrenz anderer Evangelien durch, weil sie sich den Gläu-
bigen als "wahr" erweisen, und zwar einer weit größeren Zahl von
Gläubigen und Gemeinden als die "Konkurrenzevangelien". Gno-
stische Evangelien und Briefe werden von denen, die in ihnen die
to•
148 KuRT .ALAND [13/14]
keiner der wz.s aus der Frühzeit der Kirche außerhalb des Neuen Te-
staments erhaltenen Schriften wird man urteilen können, daß sie
heute legitim dem Kanon hinzugefügt werden könnte; eine Revision
des neutestamentlichen Kanons wäre nur durch Abstriche an dem da-
mals für kanonisch Erklärten möglich, nicht durch Erweiterung, sei
es in welcher Richtung auch immer.
lien hinaus, zutage förderte - wenn wir dem Bericht des Euseb
(h. e. 111, 39) vertrauen können. Die Evangelienproduktion der Gno-
sis ist absolut unter dem Niveau der kanonischen Evangelien. Das
gleiche gilt von den Kindheitsevangelien. Wohin wir blicken, nir-
gendwo finden wir eine Evangelienschrift, die wir einem der vier ka-
nonischen Evangelien an die Seite stellen möchten, geschweige denn,
daß wir das Bedürfnis empfänden, sie an die Stelle eines der vier zu
setzen.
Was an Apostelakten und Apostelbriefen umläuft, ist im Normal-
fall auf den ersten Blick als reine Erfmdung gekennzeichnet, es war
als "christlicher Roman" dem Unterhaltungs- und Erbauungsbedürf-
nis des 2. Jahrhunderts interessant, mehr bedeutet es aber auch nicht.
Selbst die Apokalypse des Petrus steht weit hinter der kanonischen
Offenbarung zurück. Nehmen wir die Apostolischen Väter, von denen
der Barnabasbrief, die Klemensbriefe, die Didache, der Hirte des Her-
mas lange Zeit als kanonisch galten, so wird das Urteil ausnahmslos
dasselbe sein - und zwar ohne Rücksicht auf den theologischen
Standpunkt-, daß ihre Verwerfung zu Recht erfolgte. Die Didache
hat nach ihrer Wiederauffmdung im 19. Jahrhundert berechtigte
Sensation gemacht- aber lediglich als Dokument aus der Frühge-
schichte des Christentums; auf den Gedanken, daß sie dem Kanon
hinzugefügt werden müßte, ist selbst damals niemand gekommen,
genauso wie niemand ein Bedauern darüber zum Ausdruck brachte,
daß diese Schrift seinerzeit aus dem Kanon gestrichen worden ist. Die
einzige Gruppe in den Apostolischen Vätern, die nach Inhalt und
geistlicher Vollmacht weit über den Durchschnitt hinausragt, ist die
der lgnatiusbriefe. Gewiß -einen Vergleich mit den Paulusbriefen
können sie nicht aushalten, wohl auch nicht mit 1. Petr. und 1. Joh.
- aber Judas, I 2. 3. Joh. beispielsweise, auch 2. Petr. überragen sie
dodl offensichtlich. Weshalb die lgnatiusbriefe nicht in den Kanon
kamen, ist klar: die Angaben der Briefe ließen auch dem Leser, der
ihnen zum ersten Mal begegnete, keinen Zweifel darüber, daß es
sich bei ihrem Verfasser nicht um einen Apostel, sondern um einen
Mann späterer Zeit handelte. Zwar bestanden keine sachlichen Be-
denken gegen den Inhalt der Briefe, ihre nachdrückliche Empfehlung
des Bischofsamtes mußte sie etwa dem 2. Jahrhundert sogar beson-
ders empfehlen. Aber man kam eben wegen des offensichtlichen Man-
gels der Apostolizität gar nicht erst auf den Gedanken, die lgnatius-
briefe in den Kanon zu nehmen, während man beim Judasbrief (und
anderen) infolge der die tatsächliche Situation verhüllenden Verfas-
serangabe einen Apostel als Verfasser voraussetzte, so daß man den
Brief, da er inhaltlich keine Bedenken hervorrief, in den Bereich des
kanonischen Schrifttums aufrücken ließ. Ernsthaft wird jedoch auch
154 [19/20]
nicht den formalen Kanon als tatsächlich existent nehmen, wenn man
sieht, wie unterschiedlich er faktisch behandelt wird, mag man ihn
auch nirgendwo mit ausdrücklichen Worten außer Kraft setzen.
Luther hat das zwar bis zu einem gewissen Grade getan. Er dokumen-
tierte seine Haltung dadurch, daß er in seiner Ubersetzung des Neuen
Testaments den Hebräerbrief, den Jakobusbrief, den Judasbrief und
die Apokalypse in den Anhang stellte, mit der ausdrücklichen Erklä-
rung, daß sie nicht zu den "rechten, gewissen Hauptbüchern des
Neuen Testaments" gehörten (WADB 7, 344). Aber die Generationen
nach ihm haben diesen Schritt erst halb, dann ganz zurück getan,
wenn die Erinnerung an Luthers Haltung bei ihnen auch nie ganz in
Vergessenheit geraten ist; daß die lutherischen Bekenntnisschriften
bis hin zur Konkordienformel kein verpflichtendes Kanonsverzeichnis
bringen, ist von hier aus zu erklären. Man könnte für Luthers Hal-
tung sogar anführen, daß sie praktisch derjenigen der alten Kirche
um das Jahr 200 entspricht, und von da her ihre Wiederaufnahme als
Ausweg zur Lösung unserer Schwierigkeiten empfehlen. Aber erstens
deckt sich der Kanon Luthers eben nicht genau mit dem um 200: da-
mals sind die von Luther rezipierten 2. Petr., 2. und 3. Joh. nom
außerhalb des gemeinkirchlichen Kanons. Und zweitens bleibt auch
bei einem so gefaßten Kanon das Hauptproblem ungelöst. Selbst die
verbleibenden Teile des Neuen Testaments: Evangelien, Apostelge-
schimte, Paulus-, Petrus- und Johannesbriefe werden in den in Be-
tracht kommenden Kirchen und theologischen Schulen keineswegs
einheitlich interpretiert; auch bei ihrer ausschließlichen Berücksichti-
gung fallen formaler und faktischer Kanon in ihnen nach wie vor
auseinander.
Auch die erste Möglichkeit: wir nehmen die gegenwärtige Situa-
tion stillschweigend so hin, wie sie ist, scheint nicht annehmbar. Sie
würde den gegenwärtigen Zustand verlängern, der doch untragbar
ist. Dieser gegenwärtige Zustand der Zerspaltung der Christenheit in
verschiedene Kirchen und theologische Schulen ist die Wunde an
ihrem Leibe- die Verschiedenheit des faktischen Kanons in ihren ver-
schiedenen Ausprägungen ist nicht nur das maßgebliche Symptom,
sondern gleichzeitig auch die eigentliche Ursache ihrer Krankheit.
Diese Krankheit - die in schreiendem Widerspruch zu der in ihrer
Existenz angelegten Einheit steht- kann nimt hingenommen wer-
den. I
So bleibt als einzige Möglichkeit die vorhin als zweite genannte
übrig:
12. Unsere Aufgabe ist die Diskussion der richtigen Prinzipien für
die Auswahl aus dem fonnalen Kanon und die Auslegung des so Ent-
[22/23] Das Problem des neutestamentlichen Kanons 157
standenen mit dem Ziel der Erlangung eines gemeinsamen fakti-
schen Kanons und einer in den Grundsätzen gemeinsamen Auslegung
seines Inhalts. Diese Diskussion wird nicht nur den gegenwärtigen
Zustand zu umfassen haben, sondern auch seine Vorgeschichte, nicht
nur die heute gültigen Grundsätze für die Auswahl und Auslegung,
sondern auch ihr Werden. Denn nur eine Durchleuchtung der ge-
schichtlidzen Entwicklung kann zum Erkennen der Motive führen,
welche die verschiedenen faktischen Kanonsbildungen und Grund-
sätze der Schriftauslegung verursacht haben, und damit zu den Vor-
aussetzungen für ihre Uberwindung. Auf diese Weise rückt die Ka-
nonsfrage allerdings in das Zentrum der theologischen und kirch-
lichen Auseinandersetzung: sie ist nicht nur den Neutestamentlern,
sondern allen Theologen gestellt. Dreierlei ist erforderlich, wenn sie
im Hinblick auf eine mögliche Lösung behandelt werden soll: Infrage-
stellung des eigenen faktischen Kanons, Ernstnehmen des faktischen
Kanons der anderen, Ernstnehmen des formalen Kanons.
non den Ausgang für alles bildet, muß sich jeder schließlich die un-
ausweichliche Frage stellen, ob nicht dieser offizielle Kanon doch Be-
standteile enthält, die in der eigenen Kirche und Theologie zu Un-
recht vernachlässigt, übersehen, verworfen wurden, und die neu in
Kraft gesetzt werden müssen mit allen grundsätzlichen und prak-
tischen Konsequenzen, die sich daraus für diese Kirche und Theologie
ergeben.
Dieser Weg wird lang, mühsam und schmerzhaft sein. Aber er muß
gegangen werden, wenn die gegenwärtige Situation überwunden
werden soll. Das Ziel rechtfertigt alle Anstrengungen, alle Mühen
und alle Schmerzen. Denn wenn es uns gelingt, zu einem gemein-
samen faktischen Kanon zu kommen, bedeutet das die Erlangung der
Einheit des Glaubens, der Einheit der Kirche. Gewiß ist das ein fer-
nes Ziel, vielleicht ist es sogar utopisch, überhaupt davon zu sprechen.
Denn die Spaltung, in der wir leben, und die letztlich nichts anderes
als das Resultat des zwischen uns verschiedenen faktischen Kanons be-
deutet, dauert ja nicht seit gestern. Sie dauert auch nicht erst seit der
Reformation oder seit dem Schisma zwischen den Kirchen des Ostens
und des Westens von 1054, sie ist viel älter und geht in ihren Anfän-
gen bis in die alte Kirche, ja bis in die Tage zurück, als Urgemeinde,
paulinische Gemeinden und hellenistische Gemeinden auseinander-
traten. So werden wir uns mit Geduld wappnen und als erstes Ver-
ständnis und Duldung für den faktischen Kanon der anderen aufbrin-
gen müssen. Aber das ist nicht genug, sondern schafft nur die ersten
Voraussetzungen für Weiteres. Dafür allerdings brauchen wir nicht
nur alle Kraft, die uns zur Verfügung steht, sondern mehr. Der Apo-
stel Paulus hat davon gesprochen, daß wir den "Schatz in irdenen Ge-
fäßen" haben (2. Kor. 4, 7). Dieses Wort steht nicht nur über den
Schriften des Kanons, sondern auch über dem Kanon selbst, der diese
Schriften zusammenfaßt. Am Werden dieses Kanons hat ohne Zweifel
die confusio hominum mitgewirkt; seine Entstehungsgeschichte zeigt
uns das ebenso deutlich wie die Schicksale, die er nach seinem Ab-
schluß erlitten hat. Aber der Kanon ist eben nicht nur das Produkt der
confusio hominum, sondern zumindest in seinen entscheidenden Be-
standteilen ebenso Resultat des Wirkens der providentia Dei. Ange-
sichts der Größe und Bedeutung wie der langen Dauer des von der
confusio hominum angerichteten Schadens werden wir der Hilfe der
providentia Dei beim Versuch seiner Beseitigung unmöglich entraten
können. Deshalb muß die Anspannung aller unserer Kräfte begleitet
sein von dem Vertrauen auf die providentia Dei, von ihrer Unterstüt-
zung. Neben, ja vor unserem Bemühen muß das Gebet stehen: Veni,
creator spiritus. Nur der creator spiritus kann die Bewältigung un-
serer Aufgabe gelingen lassen.
Das Problem des Schriftk.anons*
Wir gehen von der Voraussetzung aus, daß uns der Kanon der Hei-
ligen Schrift immer nur im Zusammenhang mit dem Dasein und der
Verkündigung der Kirche gegeben ist. Man hat zwar gelegentlich für
den Gebrauch bei akademischen Diskussionen die Konstruktion eines
Bibellesers erfunden, dem die Bibel ohne die Verkündigung der Kirche
begegnet, etwa einen Neger, der an einer abgelegenen Stelle der afri-
kanischen Küste ein dort angeschwemmtes Exemplar der Bibel in die
Hand bekommt und es zufällig auch lesen kann, ohne von Kirche und
Mission je etwas gehört zu haben. Ob ein solcher Fall eintreten kann
und was dann geschehen würde, braucht uns nicht zu kümmern, da
wir jedenfalls nicht in dieser Lage sind. Außerdem werden wir sehen,
daß ein solcher Bibelleser im Neuen Testament gar nicht vorgesehen
ist und er darum nicht nur eine unnötige, sondern auch eine unsach-
gemäße Konstruktion ist.
Der Anspruch, der dem Bibelleser durch die Verkündigung der
Kirche in der Bibel begegnet, verlangt von ihm die Stellungnahme
zu einem historischen Geschehen, von dem behauptet wird, daß es ein
exklusives göttliches Offenbarungshandeln bedeute. Man wird ihm
nicht verbieten können, daß er von diesem Anspruch zunächst einmal
abzusehen versucht und die Bibel einfach als Historiker liest, für den
sie nichts anderes ist als eine Quellensammlung, aus der er jenes Ge-
schehen in seiner Tatsächlichkeil und in seiner Bedeutsamkeil zu re-
konstruieren versucht. Er wird dann seine erste Aufgabe darin sehen
müssen, die Entstehung jener Quellensammlung zu untersuchen und
dabei auch die Entstehung jenes Anspruchs historisch-genetisch auf-
zuklären. Ob und wie er auf diesem Weg dazu kommen kann, auch
zu dem Anspruch Stellung zu nehmen, den die Kirche mit der I Kano-
nisierung der Schrift erhebt, wird sich zeigen müssen. Jedenfalls kann
ihm die Kirche diese Untersuchung nicht verbieten wollen. Wenn sie
nicht behaupten will, daß der Kanon der Schrift als fertiges Buch vom
Himmel gefallen und damit jeder Diskussion über die Geschichte sei-
ner Entstehung entzogen sei, so ist diese auf der ganzen Linie und
ohne jeden Vorbehalt der historischen Untersuchung freizugeben.
11 Käsemann, Kanon
162 [6/7]
umgekehrt die Aufnahme in den Kanon: Um die Autorität des Ka-
nons zu sichern, wird dieser durch die angebliche apostolische Ver-
fasserschaft historisch begründet.
Das wären in Kürze die wichtigsten Ergebnisse, welche uns die hi-
storische Forschung über die Entstehungsgeschichte des Kanons lie-
fert. Besonders erstaunlich oder gar anstößig ist für den Historiker
an diesem Ergebnis eigentlich nichts. Was er feststellen kann, ist eine
Art von Wechselwirkung zwischen dem sich selbst durchsetzenden
Schriftkanon und der durch die Verlkündigung dieses Kanons kon-
stituierten und diesen umgekehrt wieder autorisierenden Kirche. Das
Ganze ließe sich religionspsychologisch und -soziologisch sehr wohl
erklären als ein Erstarrungsprozeß, bei welchem der ursprüngliche
Enthusiasmus durch schriftlich festgelegte Normen für die Verkündi-
gung abgelöst wurde, mit welchen die entstehende und immer mehr
anwachsende religiöse Gemeinschaft der christlichen Kirche ihren Be-
stand gegen alle Bedrohungen von innen und außen sicherte. Proble-
matisch wird die Sache erst dort, wo die Kirche für den Kanon den
offenkundig nicht gelingenden historischen Beweis der apostolischen
Verfasserschaft führen will.
Jener historische Beweis für die Gültigkeit des Kanons hat freilich
schon in der frühkatholischen Kirche und dann vollends im späteren
Katholizismus keine eigentlich tragende Bedeutung, sondern wir ha-
ben es hier mit einer eigenartigen Kombination von historischem und
dogmatischem Urteil zu tun. Machen wir uns das klar an dem be-
kannten Wort von Augustin: Ego vere Evangelio non crederem, nisi
me ecclesiae catholicae commoveret auctoritas. Das Wort könnte
seinen guten Sinn haben, wenn es nur auf jenen Zirkel zwischen
Kirche und Kanon hinweisen wollte, in welchem die im Ereignis ihrer
Verkündigung sich selbst durchsetzende Schrift sich selbst als kano-
nisch erwiesen hat und darum von der Kirche als kanonisch prokla-
miert wurde. Dann würde es nichts anderes sagen, als daß man dem
Zeugnis des Evangeliums nur glauben kann, indem man zugleich die
Kirche glaubt, welche von der Verkündigung dieses Wortes lebt und
durch ihr Dasein für dessen Gültigkeit zeugt. Das würde also heißen,
daß die Frage nach der Gültigkeit des Kanons außerhalb des Ereig-
nisses von Verkündigung und Glaube sachgemäß weder gestellt noch
beantwortet werden kann, daß also der nach dieser Gültigkeit Fra-
gende an die Verkündigung der Kirche in deren konkretem Vollzug
verwiesen werden muß, in der die Schrift sich selbst legitimiert. So
könnte Augustin selbst das Wort noch verstanden haben, denn ihm
war dabei noch nicht das Lehramt widttig, sondern die Verlängerung
der Stimme Christi in die Reihe der Zeugen hinein. In der katholi-
schen Kirche I bekommt das Wort dann aber den Sinn, daß man die
[8/9] Das Problem des Schriftkanons 163
unsichere Autorität der Schrift durch die sichere Autorität der Kirche
ersetzt und stärkt und die Auslegung der Schrift durch die Kirche ga-
rantiert. Damit hat sich ein scheinbar kleiner, aber äußerst folgen-
schwerer Bedeutungswandel vollzogen: Die Frage nach der Gültig-
keit der Schrift kann jetzt auch gestellt und beantwortet werden
außerhalb jenes Ereignisses von Verkündigung und Glaube. Der nach
jener Gültigkeit Fragende wird darum statt an den konkreten Ort der
Predigt jetzt an die Kirche als eine geschichtlich gewordene Institu-
tion verwiesen, die durch ihr Lehramt verbindlich redet. Für den Aus-
weis der Gültigkeit dieses Redens verläßt sich diese Kirche nicht mehr
darauf, daß ihr Wort sich durch den Heiligen Geist im Glauben des
Hörers selbst als wahr bekundet. Sie garantiert vielmehr vor und
außerhalb dieses Ereignisses die Wahrheit ihres Redens durch die
Vollmacht ihrer kirchenamtlichen Organe. Diese Vollmacht aber be-
gründet sie eben mit jener eigenartigen Vermischung von historischer
und dogmatischer Beweisführung: Die Heilige Schrift ist als die
summa veritatis ein Kompendium der Offenbarungswahrheit, in
welchem virtuell und implizit schon alles deponiert ist, was die Kirche
dann im Verlauf ihrer Geschichte aus der Schrift wie aus einem juri-
stischen Grundgesetz oder einer philosophischen Prinzipienlehre an
einzelnen Wahrheiten deduzieren wird. Da diese Wahrheit auf einer
übernatürlichen Offenbarung beruht, ist ihre Gültigkeit der Nach-
prüfung durch die Wahrheitskriterien der natürlichen Vernunft
grundsätzlich entzogen. Insofern ist sie eine dogmatische Wahrheit.
Da die Quelle der Schrift aber zugleich das historische Zeugnis der
Apostel ist, in welchem diese offenbarte Wahrheit ihre geschichtliche
Trägeringefunden hat, ist sie zugleich historisch legitimiert. Und die
Kirche, die selbst eine dogmatische und eine historische Größe zu-
gleich ist, verbindet diese doppelte Legitimierung der Schrift da-
durch, daß sie durch die dogmatischen Entscheidungen ihres Lehr-
amtes je und je die in diesem geschichtlichen Ausscheidungsprozeß
rezipierten Wahrheiten und ausgeschiedenen Irrtümer dogmatisiert
oder anathematisiert. Das gilt ebenso I für das Dogma des Schriftka-
nons als ganzem wie für die daraus gefolgerten Einzeldogmen. Dabei
kann es gar nicht störend wirken, daß dieser Dogmatisierungsakt in
bezugauf den Kanon erst tausend Jahre nach dessen tatsächlichem
Absd:lluß durch das ökumenische Konzil von Florenz (1458-1445) er-
folgte. Der Schriftkanon kann ja faktisch längst die Norm für die
Dogmen der Kirche gebildet haben, und die eines in gewissem Sinn
zufälligen Tages erfolgte Dogmatisienmg des Kanons ist nur die
nachträgliche Bestätigung dafür, daß das in der Tat geschehen ist und
weiterhin geschehen soll. Wie für jedes einzelne aus dem Kanon ab-
geleitete Dogma gilt ja auch für den Kanon selbst, daß die Kirche ihn
u·
164 HERMANN DIEM [9/10]
nicht selbst geschaffen haben will, sondern nur eines Tages mit seiner
Feststellung das proklamierte, was die Kirdte von jeher virtuell und
implizit geglaubt hat.
Diese Kombination von historischer und dogmatischer Beweisfüh-
rung kann die Entstehungsgeschichte des Kanons ruhig der histori-
schen Forschung freigeben, ohne fürchten zu müssen, daß durch
deren Ergebnisse die Wahrheit des Kanons je in Frage gestellt wer-
den könnte. Dogmatisch "wahr" ist ja das in diesem geschichtlichen
Ausscheidungsprozeß Gewordene. Aber daß es so werden und gerade
diese Wahrheit sich eines Tages herauskristallisieren mußte und et-
was anderes gar nicht herauskommen konnte, das kann nidtt der Hi-
storiker feststellen, sondern nur die das Ergebnis dogmatisierende
K.irdte, die sich mitallihren Organen und Institutionen selbst als das
dogmatisdte Ergebnis dieses geschichtlichen Prozesses versteht und
ihn damit in seiner Gesamtheit als notwendig legitimiert. Daß dieser
Prozeß, der im Grunde einfach eine Fortsetzung und Verlängerung
der Offenbarung in die Gesdtichte der Kirche hinein bedeutet, so zu
verstehen ist, das kann durch keine einzelnen historischen Tatbe-
stände begründet oder in Frage gestellt werden, sondern das ist eine
Glaubensaussage über das Selbstverständnis der Kirche, die wiederum
nur geglaubt werden kann.
Diesem Glauben ist aber zugleich ein erkennbares historisches
Merkmal gegeben in der apostolischen Sukzession, welche die Identi-
tät der Kirche aller Zeiten mit der apostolischen Kirche I verbürgt und
als historisch aufweisbares Kriterium die Wahrheit und Unverfälscht-
heit der kirchlichen Lehren sichert. Steht diese apostolische Sukzes-
sion als Ganzes fest, dann kann die historische Frage nach der aposto-
lisd:ten Verfasserschaft der kanonischen Schriften im Einzelnen dog-
matisch irrelevant werden. Der Kanon ist im ganzen und in allen
seinen Teilen auf alle Fälle ein Moment in jenem Prozeß der Lehr-
offenbarung, die von Christus über die Apostel und ihre Schüler quasi
per manus tradiert und continua successione in der katholischen
Kirche konserviert wurde, wie das Tridentinum sagt (Denz. 783).
Dabei kann die Schrift für die Lehrverkündigung der Kirche wohl
eine relativ große, aber in keinem Sinn eine exklusive Bedeutung be-
kommen. Sie ist ein wesentlicher Bestandteil der Tradition, aber es
besteht unter den katholischen Voraussetzungen schlechterdings keine
Möglichkeit, sie zur Norm für die dogmatische Rezeption dieser Tra-
dition zu machen. Darum nimmt auch das Tridentinum die Rezeption
der Heiligen Schrift und der apostolischen Tradition ausdrücklich zu-
sammen, wenn es lehrt, daß die von Christus und den Aposteln ver-
kündigte Wahrheit enthalten sei in libris scriptis et sine scripto tra-
ditionibus, quae ab ipsius Christi ore ab Apostolis acceptae, aut ab
[10/11] Das Problem des Schriftkanons 165
ipsis Apostolis Spiritu Sancto dictante quasi per manus traditae ad nos
usque pervenerunt (Denz. 783). Man sollte deshalb auf evangelischer
Seite nicht so erstaunt sein, daß die römische Kirche die Begründung
für ein Dogma, wie zum Beispiel bei der leiblichen HimmeHahrt
Mariae, auch einmal nur der kirchlichen Tradition entnehmen und
auf den Schriftbeweis verzichten bzw. diesen nur in Form eines für
uns nichtssagenden Konnivenzbeweises führen kann.
Wo setzt nun der reformatorische Protest gegenüber diesem ge-
schlossenen katholischen System ein, das keine qualitative Unter-
scheidung von Schriftkanon und kirchlicher Tradition zuläßt? Das
geschieht überraschenderweise nicht, wie man vielleicht erwarten
könnte, mit einerneuen Schriftlehre, um jene dort unmöglich gewor-
dene Unterscheidung von Schrift und Tradition durchzuführen. Der
entscheidende Einwand gegen die römische I Kirche ist vielmehr der,
daß sie nicht mehr predigen kann. Die Stimme Christi ist durch die
Schrift und ununterscheidbar von dieser in die Tradition der Kirche
eingegangen, und sie kann jetzt bloß noch durch den Mund der Kirche,
aber nicht zu der Kirche reden. Die Verkündigung durch das kirch-
liche Lehramt, das Christus und den Heiligen Geist sich selbst einver-
leibt hat, kann nur noch von einem Selbstgespräch der Kirche mit
ihrer Tradition Zeugnis geben, aber dieses nicht durchbrechen. Dar-
um muß sich das ganze Interesse der Reformation darauf konzen-
trieren, durch die Predigt den echten Vorgang der Verkündigung wie-
der herzustellen. Die viva vox evangelii, welche die Stimme Christi
selbst ist, muß wieder in der Kirche gehört und von deren eigenem
Reden unterschieden werden können. Das geschieht aber nur im Er-
eignis der Predigt. Es ist vielleicht doch nicht zufällig, daß die Conf.
Aug., mit welcher auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung der
reformatorische Glaube bekannt wird, überhaupt keine Lehre von der
Schrift hat und nur in Art. V davon redet, daß das vom Predigtamt
verkündigte Wort des Evangeliums den Glauben schaffe. Es ging da-
bei primär um die Verkündigung als ein Ereignis, bei welchem das
Wort des Evangeliums als ein ZU hörendes verbum extemum dem
Menschen begegnet, der immer in der Versuchung des Schwärmers
ist, daß er "ohne das leiblich Wort des Evangelii den heiligen Geist
durch eigene Bereitung, Gedanken und Werk erlangen" will. Die
Front gegen die Schwärmer ist aber dieselbe wie gegen Rom. Es gilt,
jenes sachliche Gefälle wiederherzustellen, in welchem das der Kirche
vorgegebene Wort von deren eigenem Reden unverwischbar unter-
schieden bleibt. Ganz klar zeigt das wiederum der Art. VII De ecclesia,
wobei man nicht oft genug darauf hinweisen kann, daß dieser Artikel
von dem deutschen Text her verstanden werden muß, in dem es heißt,
die Kirche sei "die Versammlung aller Gläubigen, bei welchen das
166 [11/12/13]
dem hat scliließlich doch den alten stehen lassen. Er hat aber auch
nicht aus dem solus Christus oder dem sola gratia als "Materialprin-
zip", so wie man das heute da und dort mit Berufung auf ihn ver-
sucht, ein "hermeneutisches Prinzip" gemacht, um mit Hilfe dessen den
Kanon oder vielmehr einen Kanon im Kanon zu begründen und damit
das "Formalprinzip" des sola scriptura zu ersetzen. Wir können die
überaus verwickelte Geschichte des Kanonsverständnisses und die da-
mit aufs engste zusammenhängende Geschichte der Hermeneutik in
der evangelischen Kirche seit der Reformation nicht in extenso behan-
deln, sondern beschränken uns auf die Frage, was es zu bedeuten hat,
daß die evangelische Theologie sowohl das Formalprinzip des sola
scriptura als auch das Materialprinzip des solus Christus und sola gra-
tia in ihrer Lehre von der Schrift festgehalten hat. Dabei wollen wir
nicht vergessen, daß sowohl das Formal- wie das Materialprinzip nur
in strenger Bezogenheil auf das Ereignis der Verkündigung der
Schrift durch die Kirche verstanden werden kann.
Für das sola scriptura ist damit jede Auffassung ausgeschlossen, I
welche die Schrift dogmatisch als ein Kompendium von Offenbarungs-
wahrheiten betrachtet, als das Grunddogma, aus welchem die einzel-
nen dogmatischen Wahrheiten analog deduziert werden können wie
philosophische Sätze aus einer Prinzipienlehre. Dabei ist es gleich-
gültig, ob das in der Weise der römischen Theologie oder derjenigen
der altprotestantischen Scholastik geschieht, da auf beiden Seiten der
notwendige Weg über das Ereignis der Verkündigung ausfällt, und
Christus und der Heilige Geist in ein System von Wahrheiten einge-
gangen und darin gefangengencmmen worden ist. Ausgeschlossen
ist aber auch jene Auffassung des sola scriptura, welche die Schrift
historisch als die authentische Quellensammlung betrachtet, welche
wegen ihrer Ursprünglichkeit die Norm für die spätere Verkündi-
gung zu bilden hat. Auch das gilt gleicherweise gegenüber den ent-
sprechenden Versuchen der römischen Theologie wie denjenigen des
neueren Protestantismus. Auch hier fällt der Umweg über die Ver-
kündigung aus und wird, so wie im ersten Fall, durch ein dogmati-
sches, hier durch ein historisches Urteil ersetzt. Ausgeschlossen ist aber
auch die Kombination dieser beiden Möglichkeiten, wie sie in klassi-
scher Form in der römisch-katholischen Theologie, in manmerlei
Spielarten aber auch auf protestantischer Seite versucht wird.
Demgegenüber bedeutet das sola scriptura zunächst einmal das: Nur
diejenige Verkündigung der Kirche hat die Verheißung, daß durch sie
Christus selbst reden und durch den Heiligen Geist den Glauben wir-
ken will, welche das in dem Kanon der Schrift enthaltene Zeugnis wei-
terverkündigt. Positiv gewendet heißt diese Abgrenzung, daß der Ka-
non der Schrift die ganze Wahrheit von Christus enthält, wie das mit
[15/17] Das Problem des Schriftkanons 169
der Lehre von der sufficientia der Schrift zum Ausdruck gebracht wird.
Dafür gibt es keinen aus Prinzipien und keinen aus historischen Grün-
den zu führenden Beweis. Vielmehr ist die einzige Begründung da-
für das dogmatische Urteil der Kirche, das dafür einsteht, daß die
Kirdle exklusiv in diesen Zeugnissen das Wort Gottes gehört hat und
daß es durch diese Verkündigung weiter gehört werden kann, oder
anders ausgedrückt, daß die Kirche glaubt, daß diese I Schriften sich
deshalb als kanonisch durchgesetzt haben, weil sie kanonisch waren
und sind. Mehr kann dieses Formalprinzip des sola scriptura nicht
sagen wollen, denn jedes Mehr an prinzipieller oder historischer Be-
gründung wäre hier dogmatisch ein Weniger. Man wird also mit dem
sola scriptura nie eine prinzipielle, sondern immer nur eine faktische
Geschlossenheit des Kanons behaupten dürfen. Prinzipiell bestünde
darum immer die freilich wenig wahrscheinliche Möglichkeit, daß
die Kirche sich durch neue Schriftfunde veranlaßt sehen würde, ihren
Kanon zu erweitern. Dabei müßte diese Erweiterung auf genau die-
selbe Weise legitimiert werden wie der bisherige Kanon, und sie
dürfte ferner die sufficientia der Schrift in ihrem bisherigen Umfang
in keiner Weise in Frage stellen.
Schwieriger ist die Frage zu beantworten, die seit Luthers Minder-
bewertung einzelner biblischer Schriften gestellt ist, ob die Kirche
dann nichtgenauso eines Tages auch die Grenzen des Kanons ver-
engem könnte und bestimmte kanonische Schriften oder Teile von
diesen ausscheiden. Diese Frage ist durch die neuesten Ergebnisse der
neutestamentlichen Forschung, welche die großen theologischen Ge-
gensätze innerhalb des Kanons aufgezeigt haben, noch sehr viel drin-
gender geworden. Jene Zumutung ist zwar von diesen neutestament-
lichen Forschern noch kaum explizit gestellt worden; aber das könnte
ja auch nur darum unterlassen worden sein, weil sie jenes Formal-
prinzip des sola scriptura ohnehin für theologisch erledigt halten und
darum ihr ganzes Interesse nur noch auf das Materialprinzip des sola
gratia oder solus Christus konzentrieren. Auf diesem Punkt liegt
ohne Zweifel heute das Schwergewicht der theologischen Diskussion.
Fragen wir daher, was in jener von uns festzuhaltenden Bezogenheit
auf das Ereignis der Verkündigung unter jenem Materialprinzip ver-
standen werden soll.
Es kann dabei jedenfalls nicht primär darum gehen, einen Maß-
stab für die Ausscheidung des Kanons innerhalb des Kanons oder
weiterhin eine hermeneutische Regel für seine Auslegung zu gewin-
nen. Auch das mögen sekundär wichtige theologische Fragen sein.
Wo ihnen aber das primäre theologische Interesse I gilt, besteht die
Gefahr, daß das Materialprinzip an die Stelle des vermeintlich un-
haltbar gewordenen Formalprinzips tritt, und damit praktisch der
170 HElwANN DIEM [17/18}
eine Grenze gesetzt, als jeder dieser Zeugen von dem andem aner-
kennt, daß sich diesem das Geheimnis der Offenbarung Gottes durch
den Heiligen Geist so erschlossen hat, daß er davon reden kann, was
im neutestamentlichen Sinn bedeutet, daß er als ein "Inspirierter"
geredet hat, und darum sein Zeugnis in seiner konkreten Einmalig-
keit und Besonderheit als ein die Verkündigung der Kirche mitkonsti-
tuierendes Zeugnis zu respektieren ist. Die Auseinandersetzung zwi-
sd:ten den Zeugen und dann weiterhin zwischen den ihr Zeugnis aus-
legenden Theologen wird dann darin bestehen müssen, die einzelnen
Zeugnisse, die jeweils durch die historische Situation, die Begriffswelt
und die Individualität des Zeugen bestimmt sind, zu vergleichen, sie
auf ihre Ubertragungsfähigkeit I in andere Konkretionen kritisch zu
prüfen und auf diese Weise einen Maßstab für das Allgemeingültige
im Konkret-Einmaligen zu gewinnen.
Aber ebenso wie dieses Bemühen um den Kanon im Kanon nicht
durch harmonisierende Nivellierung der konkreten einzelnen Zeug-
nisse, sondern gerade umgekehrt nur durch deren möglichst scharfe
Erfassung in ihrer profilierten Konkretheil geschehen kann, so darf
aud:t der Ausleger nicht von seiner eigenen historischen Situation ab-
sehen wollen. Diese wird ihn ganz von selbst veranlassen, bestimmte
Zeugnisse in deren besonderer Gezieltheil zu bevorzugen und andere
zurückzustellen. Das kann in einer besonders polemisd:ten Situation,
wie etwa in der Reformationszeit, so weit gehen, daß er versucht ist,
gewisse Zeugnisse wegen ihrer aktuellen Gefährlichkeit sogar auszu-
scheiden bzw. seine Kirche zu veranlassen, das zu tun. Wenn diese recht
beraten ist, wird sie das aber unterlassen, denn mit dem Bemühen
um die rechte Auslegung und Verkündigung des Kanons der Schrift
bemüht sie sich zugleich in aller Freiheit um das Stehen in der Ein-
heit und Kontinuität mit der Kirche Christi auf Erden an allen Orten
und zu allen Zeiten. Diese Einheit, die ihr vorgegeben ist in dem ei-
nen Christus, kann freilich nicht durch den Schriftkanon begründet
und in dem Sinne garantiert werden, daß sich durch den Rückgang
auf die Schrift die Einheit der Kirche von selbst realisieren müßte.
Aber umgekehrt wird man jedenfalls sagen müssen, daß eine Kirche,
welche die ganze Mannigfaltigkeit des biblischen Kanons nicht mehr
ertragen könnte und ihn, vielleicht durchaus im Wissen um die Mitte
der Schrift und aus der Sorge um deren rechte Bezeugung, vielleicht
aber auch nur aus einem gewissen theologischen Purismus heraus ver-
engern würde, damit die rechteFreiheil zu demRingen um die Einheit
der Kirche verloren hätte und so, möglicherweise aus den theologisch
respektabelsten Gründen, bereits auf dem Weg zur Sekte wäre.
Man wird darum auf alle Fälle den Kanon selbst stehen lassen müs-
sen und sich damit begnügen, daß bei unserer Aufgabe, in seiner
[21/22) Das Problem des Schriftkanons 173
Auslegung die Stimme Christi gegenüber der kirchlichen I Tradition
zu Gehör zu bringen, je nach unserer kirchlichen Situation und unse-
rer theologischen Erkenntnis die Akzente anders gesetzt werden müs-
sen. Es gibt keinen für alle Zeiten gültigen Maßstab für die Feststel-
lung des Kanons im Kanon, und wenn es der Gesichtspunkt wäre,
"was Christum treibt". Denn die Frage, wo in der Schrift Christus
getrieben wird oder wo der fromme Mensch sein eigenes Wesen
treibt, ist für die Auslegung nicht nur immer wieder neu, sondern
aud:l immer wieder ganz anders gestellt und erfordert darum eine im-
mer neue Antwort durch die immer bessere Erkenntnis der Zeugnisse
in ihrer konkreten Textgestalt, durch die sie zu uns reden, und gewiß
auch ein immer neues Bemühen um das Verständnis des Hörers in
seiner jeweiligen kirchlichen und menschlichen Situation.
Damit ist bereits auch das Wesentliche zu dem heute so vielverhan-
delten hermeneutischen Problem gesagt. Wir sahen, daß es keinen
bestimmten und für alle Zeiten gültigen Maßstab zur Feststellung
des Kanons im Kanon gibt, sondern daß sich aus unsem Bemühungen
um das rechte Hören der Stimme Christi in der Schrift immer wieder
neu ein Maßstab für die rechte Auslegung des Kanons ergeben wird.
Darum mußten wir uns auch eine Verengerung des Schriftkanons
nach den Maßstäben einer bestimmten Erkenntnis von dem ihm im-
manenten Kanon verboten sein lassen. Nur so konnten wir die Frei-
heit der Schrift, sich selbst zu interpretieren, respektieren. Hätten
wir dagegen versucht, durch einen solchen Kanon im Kanon das rech-
te Verständnis sicherzustellen, so hätten wir damit gerade die Freiheit
des Redens Christi durch die Schrift und damit deren Freiheit, sich
selbst zu interpretieren, durchkreuzt und unterbunden. Und wir hät-
ten damit zugleich uns selbst der Freiheit begeben, die ganze Schrift,
auch in deren uns vielleicht jetzt noch dunklen Teilen zu hören. Das
schließt nicht aus, daß wir uns immer wieder um die bestmögliche
hermeneutische Methode bemühen müssen. Im Gegenteil: diese Auf-
gabe wird für jede Zeit immer wieder neu gestellt sein. Aber auch
hier wird immer wieder die Gefahr bestehen, daß man sich mit Hilfe
eines unfehlbaren hermeneutischen Prinzips der Stimme Christi zu I
bemächtigen und die rechte Auslegung sicherzustellen sucht. Weil es
schon wegen der Mannigfaltigkeit der biblischen Zeugnisse einen sol-
chen "Hauptschlüssel", der das Verständnis aller Stellen gleicher-
weise ausschließt, nicht gibt, ist man gezwungen, ihn zunächst dort
anzuwenden, wo er zu passen scheint, und erhält so einen kritischen
Maßstab zur Auslegung der übrigen Zeugnisse. In gewisser Weise
wird das jeder Ausleger tun, da der Zugang zur Schrift für ihn im-
mer über die schon hellen zu den noch dunklen Stellen geht. Aber er
wird sehen müssen, daß er dabei stets in Gefahr ist, die einzelnen bib-
174 HERMANN DmM [22/23]
12 Käscmann, Kanon
178 HANs KüNG [128/129]
u•
180 HANs KüNo [130/151]
risch auflösen darf) der Geist sich manifestiert und immer neu und
gegenwärtig in alle Wahrheit führt. Nur in dem nach dem Geist ver-
standenen Kanon redet Gott an und manifestiert er sich gegenwärtig.
Das bedeutet, "daß der Kanon nicltt einfaclt mit dem Evangelium
identisch und Gottes Wort nur insofern ist, als er Evangelium ist und
wird. Insofern begründet dann auch er Einheit der Kirclte. Denn allein
das Evangelium begründet die eine Kirche in allen Zeiten und an
allen Orten" 28 •
Dies also bedeutet die Unterscheidung der Geister: Verstehen der
Schrift von ihrer sachlichen Mitte her, von der Botscltaft her, deren
Niederschlag sie ist29 • Also kritisches Verstehen der Schrift vom "Evan-
gelium" her, das weder von der Schrift getrennt noclt mit ihr einfach
identifiziert werden darf. Es gilt, von dieser Mitte her den reforma-
torischen Weg der Mitte zu gehen zwischen dem schwärmerischen
Enthusiasmus links (zu dem auch die protestantische Aufklärung ge-
rechnet werden muß), der sich des Evangeliums über die Schrift hin-
weg zu bemächtigen versucht, und dem katholischen Traditionalismus
rechts (zu dem auch weithin die protestantische Orthodoxie gehört),
der das Evangelium einfach in der Schrift vorfmdbar und verfügbar
wähnt, ohne die Schrift immer wieder an der kritisclten Instanz des
Evangeliums zu messen. Schrift und Evangelium, Kanon und Evan-
gelium stehen in einer dialektischen Spannung, die für die evange-
lisclte Theologie eine dauernde Aufgabe bedeutet: als stete Neube-
sinnung auf das Evangelium in der Schrift, das dieser Schrift, die an
skh nur eine ehrwürdige historische Urkunde ist, die Autorität für
den Glaubenden verleiht30 .1
Was ist nach Käsemann das "Evangelium"? Diese Frage kann
nach ihm nicht der Historiker allein beantworten, sondern nur der
18 Aa0223.
11 Vgl E. Käsemann, Zum Thema der Nichtobjektivierbarkeit, in: E:~:egetisc:he
Versuche und Besinnungen I (Göttingen 1960) 224-236, bes. 229-232.
• Vgl. auch W. G. Kümmel, Notwendigkeit und Grenze des neutestamentlichen
Kanons, ZThK 47 (1950), S. 311 f. [ = o. S. 96): "Die eigentliche Grenze des Kanons
läuft also durch den Kanon mitten hindurch, und nur wo dieser Sachverhalt wirk-
lidl erkannt und anerkannt wird, kann die Berufung katholischer oder sektiereri-
scher Lehren auf bestimmte Einzelstellen des Kanons mit wirklich begründeten
Argrunenten abgewehrt werden." H. Braun, Hebt die heutige neutestamentlich-
cJ:egetische Forsdlung den Kanon auf?, Fuldaer Hefte 12 (1960), S. 23 [ = u.
S. 231]: "Die E:~:egese, die auf die Botschaft merkt, paralysiert die Sdllak-
ken im Kanon und macht die Begrenzung des Kanons, was das Einzelne anlangt,
fraglich. Sie sagt also nicht Ja zum Kanon als ganzen, nicht Ja, weil es der Kanon
ist. Sie nimmt ihn kritisch, aber unter Verwendung jenes Sadlkriteriums, das dem
Neuen Testament selber entstammt. Und darum hängt sie am Kanon, was seine
Mitte, was das neutestamentliche Grundphänomen betrifft. Sie hat dies ja nur im
Kanon, später doch schon gar nimt; wenn auch im Kanon nicht rein und unver-
mischt."
182 HANsKüNo [132]
Glaubende, sofern er vom Geist überführt auf die Schrift hört. Der
Glaubende vernimmt das Evangelium, das sich ihm kundtut, ihn trifft
als Rechtfertigung des Sünders. Die Rechtfertigung des Sünders ist
die Mitte der Schrift: "Die Bibel ist weder Gottes Wort im objektiven
Sinn noch das System einer Glaubenslehre, sondern Niederschlag der
Geschichte und Verkündigung der Urchristenheit. Die Kirche, welche
sie kanonisierte, behauptet jedoch, daß sie eben auf diese Weise Trä-
gerin des Evangeliums sei. Sie behauptet das, weil sie die hier festge-
haltene und sich bekundende Geschichte unter den Aspekt der Recht-
fertigung des Sünders gestellt sieht, und kann es nur insofern be-
haupten. Da ihre Behauptung jedoch Zeugnis und Bekenntnis ist, ruft
sie zugleich damit auf, uns selber mit unserer eigenen Gesdlichte
ebenfalls unter das Geschehen der Rechtfertigung des Sünders zu
stellen. Damit werden wir in eine Entscheidung nicht nur darüber ge-
führt, ob wir dies letzte annehmen wollen oder nicht, sondern ebenso
darüber, ob mit solchem Bekenntnis die Mitte der Schrift richtig er-
faßt sei. " 31
Das also ist Käsemanns Antwort auf die Frage "Begründet der neu-
testamentliche Kanon die Einheit der Kirche?" Eine Antwort, die für
den tiefen Ernst und die radikale Ehrlichkeit dieses Exegeten zeugt.
Es wäre falsch und ungerecht, wenn man bei ihm das in die Augen
springende Kritisch-Destruktive als das eigentliche Anliegen ansähe,
wie dies inquisitorische Glaubensbrüder (es gibt auch eine Inquisition
von unten!) getan haben. Sich-betroffen-sein-Lassen vom Evange-
lium ist das zentrale Anliegen dieses Theologen, der seinen evangeli-
schen Glauben nicht nur im vieljährigen Pfarrdienst, sondern auch in
der Verfolgung bewährt hat. Von seinen Erfahrungen in der Be-
kennenden Kirche her dürfte es kommen, daß Käsemann in der Bult-
mannschule sich durch ein besonderes Interesse an der Ek.klesiologie
auszeichnet31 • Dabei ist sein I theologisches Anliegen nimt etwa die
II AaO 232; vgl. die beiden AufsätzeE. Käsemanns: Zum Verständnis von Römer
3,2+-26, ebd. I, ~100; und: Gottes Geredttigkeit bei Paulus, in: Zeitschrift für
Theologie und Kirche 58 (1961) 367-378. Gerade dieser letzte Aufsatz, ein Kurz-
vortrag auf dem Oxforder Kongreß über "The New Testament to-day" am 14. 9.
1961, kommt einem vertieften katholischen Verständnis der Rechtfertigung des
Sünders außerordentlich nahe.
11 Daß Käsemann die Leistungen der neueren katholischen Exegese zur Kennt-
nis genommen hat, sei hier nur am Rande vermerkt. Vgl. E. Käsemann, Neutesta-
mentliche Fragen von heute, in: Zeitsdtrift für Theologie und Kirche 54 (1957) 2:
.,Gerechtigkeit verpflichtet uns zuzugeben, daß die moderne katholische Exegese
zum mindesten in Deutsdtland und seiner näheren Umgebung ebenfalls ein Ni-
veau erreicht hat, das dem der protestantischen Arbeit im allgemeinen nicht mehr
nachsteht, sie an Sorgfalt sogar nicht selten übertrifft. Dieser Vorgang beweist, daß
die historisch-kritische Methode grundsätzlich Allgemeingut geworden isL Sie
kennzeichnet nicht mehr ein theologisches Lager der Exegese, sondern sdteidet fak-
[1M] Der Frühkatholizismus im NT als kontroverstheolog. Problem 183
Es ist von daher nach Diem durchaus zu begrüßen, daß die histo-
risch-kritische Wissenschaft Kirche und Theologie gezwungen hat,
ihre Schriftlehre zu überprüfen. Für das heutige Stadium der Diskus-
sion "ist bedeutsam, daß die in dieser Sache heute besonders aktiv ge-
wordenen neutestamentlichen Historiker nicht so leicht als von außen
kommende Eindringlinge in die Theologie angesehen werden kön-
nen, wie das früher vielleicht gelegentlich nahelag. Das liegt einmal
daran, daß die neutestamentliche Wissenschaft heute auf Grund ihrer
Forschungsergebnisse allgemein den Verkündigungscharakter der
neutestamentlichen Schriften betont und damit bei den Reformato-
ren steht und deren Schriftgebrauch bestätigt. Dazu kommt, daß ihr
Haupteinwand gegen den herrschenden Schriftgebrauch die dogma-
tische Bevormundung der Schriftauslegung ist, also gerade an dem
Punkt einsetzt, wo wir den Abfall der Reformation zur altprotestan-
tischen Dogmatik feststellten. Man wird daher jedenfalls prüfen müs-
sen, ob hier der reformatorische Schriftgebrauch nicht besser gewahrt
wird als von den nachreformatorischen Dogmatikem" 37 •
Aber so entschieden Diem die These vertritt: "Kein einheitliches
neutestamentliches Lehrsystem!", so entschieden die andere: "Kein
Kanon im Kanon!" Hier bricht der Konflikt Diems mit Käsemann auf,
bzw. hier wird der Konflikt von neuem sichtbar, der den Kirchen der
Reformation immanent ist und in jeder Phase ihrer Geschichte beob-
achtet werden kann.
"Käsemann hat hier in prägnanter Weise auf den Begriff gebracht,
was heute vielen Neutestamentlern in der Abwehr jener nachreforma-
torischen Dogmatiker als die neue Lösung der Kanonsfrage vor-
schwebt: die Gewinnung eines Kanons im Kanon mit Hilfe der Recht-
fertigung als hermeneutischem Maßstab. Damit will man aber im
Grunde nichts Neues bringen, sondern beruft sich auf Luther, der die
Schrift daran gemessen haben wollte, was in ihr ,Christum treibt',
womit er letztlich ja auch das sola gratia und sola fide verstanden hat.
Man meint also, zu dem reformatorischen Schriftgebrauch vor dessen
Entartung durch die altprotestantische Dogmatik zurückgekehrt zu
sein. Ist das richtig?" 38 NachDiemist das nicht richtig. Gewiß ist I die
Rechtfertigung des Sünders keine Lehre, sondern ein Geschehen, in
welchem der Hörer durch die Verkündigung des Evangeliums die Ge-
rechtigkeit in Christus zugesprochen wird. Wenn Käsemann aber for-
der Glaube im Verhältnis zur Schrift wandeln: Es wurde nicht mehr auf Grwul
der verkündigten Schrift dem von ihr bezeugten Geschehen in seiner Heilsbedeu-
tung geglaubt, sondern es mußte primär in einem Akt des Glaubens als fides quae
creditur an die Göttlichkeit der Schrift und alle daraus sich ergebenden oder dazu
für notwendig gehaltenen Prädikate der Schrift geglaubt werden."
n AaO 199. 18 AaO 202.
[135/136] Der Frühkatholizismus im NT als kontroverstheolog. Problem 185
dert, daß wir uns selber mit unserer eigenen Geschichte unter das Ge-
schehen der Rechtfertigung des Sünders stellen, so ist Diems Frage,
"ob er (Käsemann) sich denn eigentlich dieser Verkündigungsge-
schichte tatsächlich noch stellt und stellen kann, oder ob er dieses in
der Verkündigung der Schrüt auf ihn zukommende Geschehen nicht
in seinem ihn verpflichtenden Geschehensein dadurch paralysiert und
paralysieren muß, daß er es erst durch seine Zustimmung in kritischer
Sichtung zu einer für ihn verbindlichen Geschichte macht" 39 •
Die Verkündigungsgeschichte muß als verpflichtendes Geschehen
ernstgenommen werden, gerade dadurch, daß die von der Kirche an-
erkannte faktische Grenze des Kanons beachtet wird: "Dieses uns ver-
pflichtende Geschehen der Verkündigungsgeschichte besteht darin,
daß die Kirche exklusiv in der Verkündigung dieser Zeugnisse das
Wort Gottes gehört hat und wir es darum ebenfalls exklusiv durch
diese Zeugnisse weiterverkündigen und hören sollen. Dieses Faktum
kann man nur anerkennen, aber auf keine Weise prinzipiell recht-
fertigen. Die einzige hier mögliche theologische Rechtfertigung be-
steht darin, daß man von dem Schriftkanon sachgemäßen Gebrauch
macht, indem man ihn im Vertrauen auf seine Selbstevidenz predigt.
In diesem faktischen Gebrauch der Schrift liegt auch ihre theologisch
einzig mögliche Abgrenzung gegen die kirchliche Tradition. Damit
stehen wir wieder bei der Reformation. uco
Nur auf diesem Hintergrund läßt sich nach Diem die Einheit der
Schrift richtig sehen. Diese liegt nicht in einer einheitlichen Lehrge-
stalt, sondern in der Selbstevidenz der verkündigten Schrift, in deren
Zeugnissen Jesus Christus sich selbst verkündigt und als solcher von
der Kirche gehört wirdu. Gewiß sind die Unterschiede der einzelnen
Zeugnisse innerhalb der Einheit der neutestamentlichen Verkündi-
gung beträchtlich. Diese Unterschiede ergeben sich aus der je verschie-
denen Verkündigungssituation: die neutestamentlichen Zeugnisse
sind Zeugnisse bestimmter Menschen in bestimmten Situationen mit
bestimmten Zielrichtungen42 • Eine Um-, Weiter- und Neubildung
der Botlschaft drängte sich damals ebenso auf, wie sich heute eine je
neu vollzogene Ubersetzung dieser Zeugnisse in die heutige Verkün-
digungssituation hinein aufdrängt. Die konkrete Verkündigungssi-
tuation kann erfordern, daß in einer bestimmten Situation bestimmte
Zeugnisse bevorzugt und andere zurückgestellt werden, wobei jedoch
die Grenze des Kanons zu beachten ist, die auch den von uns zurück-
gestellten Zeugen als echten Zeugen der Botschaft Christi anerkennen
läßt: "Es wird hier eben alles darauf ankommen, daß jene situations-
bedingte Wertung nicht zu einer prinzipiellen wird, daß also der Ka-
non der Schrift der Text ist, der auf alle Fälle stehen bleiben muß,
und alle unsere Auslegungsversuche dagegen nur Kommentare sind,
die sich mit ihren stets wechselnden Ergebnissen nicht an die Stelle
des Textes setzen können."" Gerade so hat der Kanon nicht nur eine
prohibitive, sondern zuerst eine positive Bedeutung: er schützt den
Ausleger vor dessen eigener subjektiver Willkür".
Diem wendet sich also mit Käsemann gegen die Schrift als einheit-
liches Lehrsystem, hält a her gegen Käsemann an der Einheit der ver-
kündigten Schrift fest, um von daher - gegen alle Willkür des ein-
zelnen Auslegers - die Einheit der Kirche zu verstehen. Es muß aner-
kannt werden, daß sich Diem durch sein ganzes dogmatisches Werk
hindurch eine für einen Systematiker keineswegs gewöhnliche Mühe
gibt, sich mit den Problemstellungen der heutigen Exegese ausein-
anderzusetzen. Er tut dies nicht vorwiegend apologetisch, sondern un-
ter Verwertung mancher Ergebnisse der Exegese durchaus konstruk-
tiv. Die Uberbrückung der gegenwärtigen Kluft zwischen Exegese
und Dogmatik ist eines seiner zentralen theologischen Anliegen.
Doch Diems und Käsemanns theologische Grundansätze stehen sich
-oder täuschen wir uns?- unversöhnlich gegenüber: Wie für Käse-
mann Diems "Kanon" nie zum "Evangelium" werden wird, so für
Diem Käsemanns "Evangelium" nie zum "Kanon". Auch der katho-
lische Kollege vermag kaum zu ihrer Versöhnung beizutragen, viel-
leicht aber zur Klärung der Standpunkte. Dies, und nur dies, soll jetzt
- auf knappem Raum - versucht werden.
Neue Testament als Ganzes kann man sich ja, nachdem man seine
Katholizität preisgegeben hat, nicht mehr berufen.
Was übrig bleibt, ist - gegen den Willen derer, die sie üben-
dodt die mehr oder weniger große subjektivistische Willkür: "Für
Luther war diese Mitte, von der her er alles beurteilte, wohl Paulus
oder, noch enger, dessen Rechtfertigungslehre. Andererseits war für
Luther das Johannesevangelium das einzige ,zarte rechte Hauptevan-
gelium'. Ebenso beurteilte und verteidigte F. Schleiermacher dieses
gleiche Evangelium ob seines geistigen Gehaltes als das wesentliche
Evangelium. In der historisch-kritischen Theologie zu Beginn unseres
Jahrhunderts waren die Herrenworte in der Synopse das Maß des
Echten. Für R. Bultmann ist wohl das Jobarmesevangelium das Zeug-
nis des gültigen Evangeliums als Evangelium des Wortes allein und
jetziger existentieller Entscheidung, wenn angebliche spätere kirch-
liche Zusätze über die Sakramente und die künftige Eschatologie aus-
geschieden werden. Müßte man nicht vielmehr, als das NT von einer
solchen Norm her zu messen, die kritische Norm am Reichtum des NT
messen und ihr darnach allenfalls ein relatives Recht zuerkennen ?" 52
Das kühne Programm "Kanon im Kanon" fordert nichts anderes
als: biblischer zu sein als die Bibel, neutestamentlicher als das Neue
Testament, evangelischer als das Evangelium und sogar paulinischer
als Paulus. Radikales Ernstmachen ist die Absicht, radikale Auflö-
sung die Folge. Im Gegensatz zu aller Hairesis, die in ihrer Selbstver-
absolutierung, ohne es zu wollen, zur Hybris wird, versucht katho-
lische Haltung, sich die volle Offenheit und Freiheit für das Ganze
des Neuen Testaments zu I bewahren. Das scheint oft weniger konse-
quent und imponierend zu sein als das kraftvoll-einseitige Heraus-
stellen einer Linie; Paulus allein kann ja unter Umständen konse-
quenter und imponierender wirken als das ganze recht vielfältige
Neue Testament, und der (von "Sakramentalismus" und "Mystizis·
mus" purifizierte) paulinistische Paulus unter Umständen wiederum
konsequenter und imponierender als der ganze Paulus. Aber der
wahre Paulus ist der ganze Paulus, und das wahre Neue Testament
das ganze Neue Testament.
4. Faktische Auswahl: Das ist die Auswahl, die in der Interpreta-
tion des neutestamentlichen Kanons ein formales Deutungsprinzip,
das sich als materiales Selektionsprinzip erweist, grundsätzlich ab-
lehnt, faktisch jedoch einzelne Zeugnisse des neutestamentlichen Ka-
nons (durch. übersehen oder Unterinterpretieren) nicht emstnimmt.
Beispiel für diese Art der Auswahl ist H. Diem. Diem geht durch seine
ganze Dogmatik hindurch zur Abgrenzung gegenüber der katholi-
61 K. H. Schelkle, Die Petrushriefe (Herders Theologischer Kommentar zum
Neuen Testament XIII, 2. Freiburg-Basel-Wien 1961) 245.
[143/144] Der Frühkatholizismus im NT als kontroverstheolog. Problem 193
13 Käscmann, Kanon
194 HANs KüNG [144/145]
lJ•
196 HANs KüNG [146/147]
134-139. Zur Deutung des Petrusbekenntnisses vgl. von katholischer Seite: F. Ob-
rist, Echtheitsfragen und Deutung der Primatstelle Mt 16, 18 f. in der deutschen
protestantischen Theologie der letzten dreißig Jahre. Ntl. Abh. XXI, 3-4 (Mün-
ster/W. 1961). - Für Diems Vernachlässigung des kirchlichen Amtes ist seine Stel-
lung zur Entstehung des Kanons besonders aufschlußreich. V gl. Dogmatik (Mün-
chen 1955, 1 1957) 171-195, bes. 179. Gegen Diem macht f/. Braun, Hebt die heu-
tige neutestamentlich-exegetische Forschung den Kanon auf? (Fuldaer Hefte 1!2,
Berlin 1960, 11 [ = u. S. 221 ]) geltend, daß sich die Kanonabgrenzung nicht ein-
[147/148] Der Frühkatholizismus im NT alskontroverstheolog. Problem 197
tun übrig, was in der evangelischen Theologie oft getan wird: neute-
stamentlichen Sätzen die Spitze abzubrechen und das Katholische
des Neuen Testaments entweder zu übersehen70 oder unterzuinterpre-
tieren71. Das Katholische des Neuen Testaments kann nur der Katho-
lik ernst nehmen.
f. Das Protestantische und das Katholische: Käsemann und Diem
nehmen, so sahen wir, in der entscheidenden Frage des Katholischen
im Neuen Testament diametral entgegengesetzte Standpunkte ein.
Sie sind in einer gewissen, wenn auch verschiedenen Hinsicht- Käse-
mannbezüglich des "Frühkatholizismus" im Neuen Testament, Diem
bezüglich des verpflichtenden neutestamentlichen Kanons- dem Ka-
tholiken näher, als sie sich gegenseitig sind. Aber dieser Gegensatz
ist nicht zu dramatisieren. Wir machen uns keine Illusionen: Worin
stimmen Diem und Käsemann nun doch zutiefst überlein? Sie stim-
men darin überein, daß sie nicht gewillt sind, das Neue Testament
kath·olou zu verstehen. Es fehlt ihnen die volle Freiheit und Offen-
heit für das Ganze der neutestamentlichen Botschaft. Ihr stillschwei-
gendes, aber selbstverständliches Apriori ist - bei allem ernsten und
intensiven Bemühen um das Neue Testament - das Protestantische.
Und das heißt: Es gibt in ihrer Exegese und Theologie von vome-
herein keinen Weg nach "Rom". Viele und recht gegensätzliche Wege
sind einem Protestanten offen; eine Freiheit und Offenheit für einen
Weg nach "Rom" aber gibt es nicht. Was bleibt also zu tun übrig,
wenn man - was für einen Katholiken keine überraschung bedeutet
fach selbst in der Kirche durchgesetzt habe, sondern in den letzten Abgrenzungen
(Heb, ein Teil der katholischen Briefe und Apk) von der Kirche dekretiert wurde:
"Der definitive Charakter dieser Abgrenzung ist kirchliches Dekret."
" Ein bezeichnendes Beispiel liefert P. Feine, der die obengenannten drei klas-
sischen Stellen für die Ordination in den Pastoralbriefen durch seine ganze Theo-
logie des Neuen Testaments hindurch nicht nur nicht erklärt, sondern nicht einmal
erwähnt. Und bezüglich 2 Pet sagt E. Käseman.n: "So möchte man es fast sympto-
matisch nennen, daß, von der pflichtgemäßen Behandlung in den Kommentaren
abgesehen, über unsern Brief zumeist geschwiegen wird" (Eine Apologie der ur-
christlichen Eschatologie, aaO I, 135).
71 So bedeutet das Verbot der "eigenen Interpretation" in 1 Pet 1,20 für R. Krwpf
nur:"Mit Ehrfurcht, mit Zurückhaltung und Bescheidenheit sollen also die Chri-
sten an die Prophetien des AT gehen", und für G. Wahlenberg und A. Sc:hlatter:
die Weissagung erfährt ihre Auslegung und Erfüllung aus der Geschichte heraus
(nach E. Käsemann aaO I, 152). Ein Beispielliefert auch W. Fürst, Kirche oder
Gnosis? Heinrich Schliers Absage an den Protestantismus (München 1961) 36: "So
wird man etwa die Pastoralen nicht behaften bei ihrem zweifellos ,katholischen'
Amts- und Traditionsbegriff, sondern wird in ihnen hören auf den Anspruch des
Wortes, unter den eine in solchen Entwicklungen stehende und ruhende Christen-
heit gerufen wird." Zu W. Mar:rsens Unterinterpretation katholischer Texte im
Neuen Testament vgl. F. Mußner, "Frühkatholizismus", in: Trierer Theologische
Zeitschrift 68 (1959) 237-245.
198 HANs KüNG [148/149]
Heinrich Schlier freimütig zu: "Unsere eigene Gespaltenheil dürfte der wunde
Punkt sein, an dem uns Schliers Anfrage als Infragestellung am empfindlichsten
trifft. Sind wir uns untereinander, wie wir es nach reformatorischem ,Prinzip' doch
sein müßten, wenigstens darin einig, worin wir mit Schlier, dem Anschein nach,
einig sein können: daß das Neue Testament für die Entscheidungen maßgebend
ist? Schlier glaubt uns nicht, daß das Hören auf die eine Schrift hinter den so ver-
sd:tiedenen Auskünften steht, die wir geben, und man kann ihm das kaum ver-
übeln. Hätte uns seine Konversion, die so bedrohlich an allen Grundlagen unserer
Tradition rüttelt, nicht längst nötigen müssen, die unter uns immer wieder aufge-
sdlobenen Bereinigungen schleunigst nachzuholen? Solange wir sie nicht angehen,
werden wir kaum in der Lage sein, Schliers Herausforderung erfolgreich zu parie-
ren. Der hier zu unternehmende Versuch steht unter der Last des Unerledigten
und muß sich seiner Vorläufigkeit auch in dieser Hinsicht bewußt sein" (Kirche
oder Gnosis? Heinrich Schliers Absage an den Protestantismus (München 1961] 7).
200 HANs KüNo [150/151]
6. Katholizität als Aufgabe: Bevor aber ein Katholik bei dieser Lage
der Dinge selbstbewußt und überheblich frohlockt, möge er beden-
ken: Gewiß, nur katholische Haltung vermag die protestantische Auf-
lösung vom Evangelium her zu überwinden. Gewiß, die Katholizität
in der Interpretation des Neuen Testaments ist ein großartiges Pro-
gramm. Aber ist sie mehr als ein Programm? Die Aussage: "Das Ka-
tholische ist das Evangelische", kann im Formelhaften stecken blei-
ben, kann in der kritischen Situation der gegenwärtigen Exegese und
Dogmatik als träge beschwichtigender Indikativ statt als die Ausfüh-
rung des Programms fordernder Imperativ verstanden werden. Un-
sere Darlegungen haben nicht den Zweck, die katholischen Theologen
vor der aufgebrochenen neutestamentlichen Problematik zu beruhi-
gen, sondern sie zur entschiedenen Inangriffnahme der katholischen
Aufgabe aufzurufen. Dadurch, daß man nur behauptet, das Katho-
lische sei das Evangelische, hat man die außerordentlich schwierigen
exegetischen und dogmatischen Probleme noch nicht gelöst, die uns
die gegenwärtige neutestamentliche Forschungslage aufgibt. Das ka-
tholische Programm hat sich in der gründlichen, ernsthaften, ehr-
lichen exegetischen wie dogmatischen Durchführung bis in die unge-
zählten Einzelprobleme hinein zu bewähren.
Man wird nicht behaupten können, daß wir Katholiken die Katho-
lizität in der Interpretation des Neuen Testaments genügend vorge-
lebt hätten. Wer von uns wagte zu behaupten, daß bei uns jene ka-
tholische Freiheit und Offenheit für das ganze Neue Testament den
anderen Christen glaubwürdig ad I oculos demonstriert worden sei?
Wäre es sonst möglich gewesen, daß sich die katholische Exegese der
letzten Jahrhunderte dauernd im Schlepptau der evangelischen Exe-
gese befunden hätte, daß sie sich im Grunde dauernd ihre Probleme,
Methoden und Lösungen von der evangelischen Exegese geben ließ,
daß grundlegende exegetische Werke wie das "Wörterbuch zum
Neuen Testament" meist Werke evangelischer Exegese sind? Man
wird sich hüten, den einzelnen katholischen Exegeten deswegen Vor-
würfe zu machen; wer käme auf die Idee, katholische Exegeten seien
weniger intelligent oder arbeitsfreudig. Sicher ist, daß unseren Exe-
geten die volle katholische Freiheit und Offenheit für das ganze Neue
Testament oft nicht gelassen wurde74 • Nicht in einer Atmosphäre der
7• Was viele leise sagen, spricht der Tübinger Alttestamentler H. Haag offen aus:
"Mit größter Besorgnis wird in Kreisen der Exegeten beobachtet, daß die Freiheit,
die das Rundschreiben ,Divino afflante Spiritu' der katholischen Bibelwissenschaft
einräumte, von neuem bedroht zu sein scheint. Wieder kommt es vor, wie es in den
letzten fünfzig Jahren nur zu oft vorgekommen ist, daß ein Exeget wegen Äuße-
rung einer Auffassung, die in Rom als irrig oder sehr oft auch nur als inopportun
angesehen wird, seines Amtes enthoben und mit Rede- und Schreibverbot belegt
wird, und dies ohne daß er in der Sache gehört worden wäre und auch ohne daß
[151/152] Der Frühkatholizismus im NT als kontroverstheolog. Problem 201
lischen, Wahrheit in der Fülle. Nur einen Teil gelten zu lassen, ist
Wahl, d. h. Häresie. Und wenn dieses NT in seinen späteren Teilen
zum Frühkatholizismus überleitet, dann wird katholische Exegese
sich bemühen, zu zeigen, bei wahrhaft geschichtlichem Verstehen ge-
schehe hier nicht Verkehrung des Ursprünglichen und Wahren, son-
dern echte und gültige Entwicklung. Das wird nicht hindern, das Spä-
tere mit dem Früheren zu vergleichen und jenes an diesem zu mes-
sen, so wie dies alle echt kritische Theologie- auch katholische- un-
ternimmt. " 78
Gibt es auch in der Ekklesiologie, wo alle Auseinandersetzungen
zwischen Katholiken und Evangelischen sich scharf zuspitzen und zu-
spitzen müssen, einen Weg zur Wiedervereinigung? Es gibt ihn. Er
besteht darin, daß die katholische Theologie das Neue Testament in
evangelischer Konzentration, die evangelische Theologie das Neue
Testament in katholischer Weite immer mehr ernstzunehmen ver-
suchen. In diesem Sinne können Katholiken, die oft von einem Zu-
viel belastet sind, und Evangelische, die oft unter einem Zuwenig
leiden, voneinander lernen und einander helfen. Ist es nicht das, was
im Grunde bei aller Kontroverse heute immer wieder geschieht I und
immer deutlicher geschieht? Ziel unserer Ausführungen und ihrer
deutlichen Konfrontation war nicht, eine Diskussion abzuschließen,
sondern auf die dahinterliegende große gemeinsame, ökumenische
Aufgabe so eindringlich als möglich aufmerksam zu machen. Und
ist es nicht ein hoffnungsvolles Zeichen, daß man in Tübingen, hat
man sich gründlich auseinandergesetzt, sich immer wieder friedfer-
tig, einträchtig und gut gelaunt zusammensetzt?
Postskriptum 1970
Seit 1962- vor dem Vatikanum II- ist viel Wasser nicht nur den Tiber,
sondern auch den Neckar hinuntergeflossen. Die katholische Polemik von
damals gegen - ebenfalls polemisch bestimmte - protestantische Einsei-
tigkeiten, Engführungen, Exklusivitäten war notwendig. Vieles wäre heute
anders zu sagen, einiges hat sich, von beiden Seiten her, erledigt. Wie indes-
sen die damals anvisierten Probleme nicht nur kritisch verschärft, sondern
positiv und konstruktiv gelöst werden können, versuchte ich nicht nur durch
ein erneutes Bedenken der hermeneutischen Grundfragen, sondern durch
eine vom Neuen Testament und seiner christologischen Mitte (!) her be-
gründete und durchgeführte ökumenische Ekklesiologie - gewiß "nur"
programmatisch- zu begründen; dabei wird die katholische Tradition nur
als nonna nonnata zur Geltung gebracht (vgl. Die Kirche 1967). Zum
Primat der Christologie vgl. neuerdings: Menschwerdung Gottes. Eine Ein-
führung in Hegels theologisches Denken als Prolegomena zu einer künfti-
gen Christologie (1970).
71 K. H. Schelhle, Die Petrushriefe (Freiburg-Basel-Wien 1961) 245.
PETER LENGSFELD
aber ist sie allein schon auf Grund dessen gegeben, daß die göttiim-
apostolische Oberlieferung nicht erzeugter Inhalt (im Sinne Söhn-
gens), sondern Gegenstand des kirchlichen Glaubensbewußtseins ist.
Von daher muß die bei Möhler anscheinend ungebrochene Identi-
fikation von Kirche-Leib Christi und Offenbarung, wie sie sich im
folgenden Satz findet, kritisiert werden: "Die Kirche ist (!) der Leib
des Herrn, sie ist ( !) in ihrer Gesamtheit seine sichtbare Gestalt, seine
bleibende, ewig sich verjüngende Menschheit, seine ewige Offenba-
rung" (Symbolik S. 356). Gerade im Hinblick auf die "Tradition im
subjektiven Sinn des Wortes" wird man so nicht gut reden können,
da ja der "eigentümliche, in der Kirche vorhandene und durch die
kirchliche Erziehung sich fortpflanzende christliche Sinn" (357) nidtt
unbedingt immer den ganzen Gehalt der göttlich-apostolischen Para-
dosis zum Bewußtseinsinhalt hat. Wenn Möhler gerade hier von dem
"kirchlichen Bewußtsein" (356) spricht und in diesem Zusammen-
hang die Kirche als "sichtbare Gestalt" des Herrn und als "seine
ewige Offenbarung" bezeichnet, so kann das leicht zu dem Mißver-
ständnis führen, das Karl Barth zu seiner so ungeduldig und scharf
klingenden Kritik in KD I, 2, 624-628 herausgefordert hat8 •
In der seit Irenäus verfolgbaren Entwicklung des katholischen Tra-
ditionsprinzips (bis hin zu Möhler) sieht Karl Barth einen Prozeß,
der in I zunehmendem Maße alle ursprünglich der Kirche gegenüber-
stehende Autorität in Kirchenautorität verwandelt (KD I, 2, 629/630).
Im Blick auf Möhler glaubt er die katholische Theologie der "Gleich-
setzung der Kirche, ihres Glaubens und ihres Wortes mit der siebe-
gründenden Offenbarung" (627) anklagen zu können, wobei sich in
dieses kircheneigene Wort nicht nur menschliche Instanzen wie Ver-
nunft, Philosophie und Geschichte hinterrücks einschleichen, sondern
durch Möhler und das Vatikanum sogar noch auf den Thron gehoben
werden. Bereits im Tridentinum stand hinter der Definition der Tra-
dition jene verhängnisvolle "Identifikation von Schrift, überliefe-
rung, Kirche und Offenbarung" (KD I, 2, 613), welche die Gehorsams-
haltung der Kirche unter Gottes Wort aufhebt und die Kirche in
einem unkontrollierbaren, unfruchtbaren Selbstgespräch (KD I, 1,
107; I, 2, 651 u. öfter) befangen sein läßt. Nicht so sehr die Mündlich-
keil der Tradition bildet das Ziel der Barthschen Kritik, sondern dies,
daß eine derart mündlich-geistige Größe, die schließlich "das Ganze
1 Zum Verständnis Möhlcrs vgl. J. R. Geiselmann, Lebendiger Glaube aus ge-
heiligter überlieferung, Mainz 1942, 449-479, besonders 450, und ders., Der Ein-
fluß der Christologie des Konzils von Chalkedon auf die Theologie J. A. Möhlers:
Chalkedon 111, 341-420, vor allem 404 ff. -Mähler selbst schränkt bereits in sei-
ner Symbolik (Regensburg 1882 [dritter Abdruck], S. 300) die scheinbare Identifi-
kation ein, indem er sagt, daß die Kirche nur "von einer Seite betrad1tet, auf eine
abbildlim-lebendige Weise" Christus sei.
[108/109] Katholische Sicht von Schrift, Kanon und Tradition
des kirchlichen Lebens ... für mit Gottes Offenbarung identism er-
klärt" (KD I, 2, 607), nun nodl Kanon, Regel, Richtschnur und Maß-
stab des Glaubens eben dieserKirmesein könnte. "Man wird nicht
bestreiten können, daß es etwas Derartiges (sei. ungeschriebene pro-
phetisch-apostolische Tradition) in der Kirche außer dem wirklichen
Kanon gibt. Man wird aber sagen müssen: Sofern es Gott gefallen
hätte, diese ungesdlriebene geistig-mündliche Oberlieferung zum Ka-
non seiner Kirche zu machen, dann wäre der Kanon vom Leben der
Kirche selbst so wenig zu unterscheiden, wie wir etwa das in unseren
Adern rollende Blut unserer Väter von unserem eigenen Blut zu un-
terscheiden vermögen, d. h. aber, die Kirche wäre dann doch wieder
mit sich selbst allein und auf sich selber, auf ihre eigene Lebendigkeit
angewiesen" (KD I, 1, 107).
Dazu ist zunächst zu sagen, daß Barth den Einfluß Möhlers auf die
Theologie der Gesamtkirche und auf die Vorbereitung des Vatika-
nums und damit die repräsentative Bedeutung Möhlers wohl sehr
überschätzt (die Konzeption Scheebens als Schüler von Franzelin und
beider Einfluß auf die Gesamtkirche war sicherlich größer und re-
präsentativer und würde überdies dieses Mißverständnis bei Barth
nicht geweckt haben). Zweitens hat die Kirche sich niemals in dieser
Weise mit der Offenbarung identisch erklärt, deren Hüterio und Ver-
kündigerio, Bewahrerio und Auslegerio sie ja ist; das zeigt jede Dog-
matik in der Erklärung von "depositum fidei", Lehramt, Kirche und
Offenbarung sowie die Definition des Vatikanums (D 1836 "traditam
per Apostolos revelationem ... sancte custodire et fideliter exponere"
nicht "novam doctrinam patefacere" ist Aufgabe der Kirche). M.
Schmaus: "Die göttliche Seihstierschließung wird über Christus hin-
aus nicht verlängert; sie wird weder wiederholt noch fortgesetzt. " 7
Drittens bleibt die Kirche immer Werkzeug in der Hand Christi:
"Nur im Hinblick auf die lebendige Wahrheit zwischen Christus und
der Kirche, nicht aber im Sinne einer formalen Einheit, wie sie zwi-
schen Seele und Leib besteht, kann Christus als Seele der Kirche be-
zeichnet werden. Sonst würde man die Kirche direkt vergöttlichen.
Sie würde statt Werkzeug in der Hand Christi geradezu die Verkörpe-
rung Christi sein, so daß auch all ihr Tun unabhängig von einer po-
sitiven Anordnung des Herrn göttlichen Charakter haben müßte. " 8
Pius XII. drückt diesen Gedanken so aus, daß er vor einem falschen
Mystizismus warnt und das Bild der Kirche als mystischen ( = "trans-
lata tantummodo significatione") Leib Christi ergänzt wissen will
7M. Schmaus, Geschichtliches Ereignis und übergeschichtliche Wahrheit im
Christentum: Stud. Gen. 4 (1951), 558-364 (360).
8 So B. Paschmann in dem die dogmatischen Grundlagen darstellenden 1. Teil
seines Werkes "Die katholische Frömmigkeit", Wünburg 1949, 61.
14 Käsemann, Kanon
~10 PBTER LE.NosFELD [109/110]
durm jenes andere von der Kirme als Braut Christi: Hier ist das Ge-
genüber von Kirche und Christus deutlim ausgespromen. Paulus "al-
terum tarnen alteri, ut Sponsum Sponsae, opponit", cf. Eph 5,22-231.
Viertens: Wenn schon ein anthropologismer Vergleim herangezogen
werden soll, dann nimt der von der Ununtersmeidbarkeit des über-
kommenen zum eigenen in den Adern kreisenden Blut. Man könnte
sagen: Die göttlim-apostolisme Paradosis steht der Kirche "gegen-
über" ähnlim wie der Mensm, einmal als Mensch geboren, seinem
menschlimen Wesen gegenübersteht und darin die Norm für sein
Handeln vorgezeichnet findet; er kann sein Wesen verwirklichen10 -
oder aum nimt, während die Kirmeder ihr vorgegebenen Wesens-
konstitution stets entsprimt. Sie verwirklicht ihr Wesen "im wesent-
lichen" immer, kann gar nicht "unkirchlich" handeln (wie der Mensch
ja unmenschlim handeln kann, aber sein Wesen verleugnet dabei),
da eben gerade dazu ihr der göttliche Beistand gegeben ist, daß sie
ihrem- vorgegebenen!- Wesentreu bleibe. Der Vergleich gilt also
nur soweit, wie wir sagen, der einzelne Mensch "ist" nicht sein We-
sen, nimt seine Natur, sondern hat sie zu verwirklichen11 .1n diesem I
Sinne ist die Kirche nicht Offenbarung, Paradosis etc., sondern hat sie
in sich, trägt sie durch die Zeit, schützt sie, bewahrt sie und verkündet
sie. - Damit haben wir im Grunde nur einen anderen Vergleim her-
angezogen, der die gleime Konsequenz wie Söhngens Unterscheidung
zwischen Inhalt und Gegenstand eröffnet: Die Kirche kann der ihr
übergebenen Paradosis wirklich gehorsam sein, da diese ihr gegen-
übersteht und nimt unterschiedslos und ununterscheidbar in ihrem
Eigenleben aufgegangen ist.
In der grundsätzlichen Unterscheidbarkeit des kirchlich-mensch-
lichen Eigenbewußtseins (und Eigenlebens als soziologischem Ge-
bilde) von der ihr anvertrauten Paradosis zeigt sich bereits die Be-
deutung der Tatsache, daß die göttiim-apostolische Oberlieferung
• Enzyklika "Mystici corporis", n. 85.
11 Vgl. art. "Anfang" (A. Darlapp): LThK 11, 5~ ff., und art. "Anthropologie"
(1. ScJunid, A. Halder, K. Rahner), ebd., 604 ff.
11 Man könnte wohl auc:h sagen, daß Gott allein im strengen Sinne "ist". Der
Mensch "wird", indem er ständig darauf aus ist, sein Wesen zu verwirklic:hen. Erst
im Endzustand des Seins in Gott kann man sagen: Auc:h der Mensc:h "ist". Ahnli-
mes kann man von der Kirc:he sagen: Sie "ist" eigentlic:h noc:h nid:lt, sondern sie
streckt sic:h ständig darauf aus, einmal in Vollgestalt die zu "sein", die Christus
will als Braut ohne Fehl und Makel. Mensch und Kirche stehen unter dem Gesetz
des Werdens, da sie ihr vorgegebenes Wesen noc:h zu verwirklimen haben und es
noc:h nic:ht ohne Rest "sind". Damit ist nichts gegen die Göttlic:hkeit der Institution
oder gegen das schon jetzt (analog, aber wirklim) realisierte "Sein" der Kirc:he ge-
sagt: ein in der Zeit noc:h werdendes, aber auch sc:hon wirklimes Sein. Sie "ist"
Leib Christi, indem sie stets neu und immer mehr Leib Christi "wird", um (im
Telos) dann nur noc:h Leib Christi zu sein.
[110/111] Katholische Sicht von Schrift, Kanon und Tradition 211
nicht als ständig neu erzeugter Inhalt (im Sinne Söhngens) des in der
Kirche waltenden Glaubensbewußtseins weitergetragen wird, son-
dern als vorgegebener, stets anzueignender und bis zum Zeitenende
nie allseitig und völlig (bewußtseinsmäßig) angeeigneter Gegenstand
überliefert wird. Daraus ergibt sim als weitere Folge jene Funktion
der schriftgewordenen Paradosis gegenüber der mündlichen Tradi-
tion, die Söhngen so beschreibt: "Das apostolische Lehrwort (hier
gleich: die apostolische Verkündigung) als bewußtseinsunabhängiger
Gegenstand der kirchlichen Oberlieferung macht uns den tiefsten
Grund sichtbar, warum wir außer der mündlichen Oberlieferung
noch eine zweite und ebenfalls selbständige Quelle für unsere Er-
kenntnis der Offenbarung besitzen in der Heiligen Schrift. Ohne das
Schriftwort würde das Gegenübersein des apostolisd:ten Lehrwortes
in die reine Bewußtseinsgegebenheit der Oberlieferung aufgehen ...
Das Schriftwort ist vergegenständlid:ttes Apostelwort, objektiviertes,
nicht nur objektives wie das mündlid:t überlieferte ... Oberlieferung
bedarf der Vergegenständlid:tung durd:t Geschriebenes, damit die Ge-
genständlichkeit des überlieferten klar und deutlich werde. Was wäre
auch Oberlieferung ohne klare und deutliche Gegenständlid:tkeit?" 12
Was hier ein Bedürfnis der Oberlieferung genannt wird, meint den-
selben Sachverhalt wie Scheebens Rede von der relativen Notwendig-
keit der Schrift. Gerade um der Reinerhaltung der mündlichen Ober-
lieferung willen ist die Schrift nötig13 - I immer noch abgesehen von
11 G. Söhngen, Oberlieferung und apostolische Verkündigung: Einheit in der
Theologie, 322.
11 Eine aufschlußreiche Ansicht finden wir bei Job. Chrysostomus vertreten:
Einerseits legt er den Hörern seiner Predigten dringend ans Herz, doch die Heilige
Schrift zu lesen, nicht nur oberflächlich, sondern mit Eifer, ja als "Heilmittel für
eure Seele"; wenigstens das NT sollen sie sich anschaffen oder den Apostel, denn
die Schrift sei wie eine gute Hausapotheke, in der für die Seele Trost, Mut, Kraft,
Heilung und das wichtigste Hilfsmittel zum Oberstehen der Drangsal zu finden
ist (Kolosserkommentar, 9. Homilie; MG 62 [Chrys. XI], Sp. 359-361); "Die Hei-
lige Schrift macht den Sünder gerecht ... " (Zu Ps. 49; MG 55 [Chrys. V], Sp. 251,
zit. bei Soiron, Das hl. Buch, Freiburg 1928, S. 7), verscheucht seine Bosheit und
bringt die Tugend zur Reife etc. Andererseits sieht er die lD. Schrift nur als einen
Notbehelf an: Eigentlich müßte das von Gottes lD. Geist in unsere Herzen ge-
schriebene Gesetz genügen zu einem christlichen Leben. Ent als die Juden in den
Abgrund der Sünde gestürzt waren, "da gab Gott ihnen Schriften und Gesetztafeln
zur mahnenden Erinnerung". Auch die Apostel erhielten nichts Geschriebenes,
sondern die Gnade des lD. Geistes. "Nachdem aber die Christen im Laufe der Zeit
auf Abwege geraten waren, die einen in Glaubenssachen, die anderen in ihrem
Lebenswandel, da bedurfte es wiederum der Ermahnung durch das geschriebene
Wort" (Matth. Komm., 1. Homilie; MG 57 [Chrys. 7, 1], Sp. 1~14). So sieht also
ein Kirchenvater die "relative Notwendigkeit" der Schrift als Schrift begründet in
dem Faktum der Bosheit des menschlichen Herzens, das nicht, de facto nicht im-
stande ist, die göttliche Paradosis unverfälscht zu bewahren und rein und lauter
weiterzugeben: eine Mahnung für uns Katholiken, die Bedeutung der Trad. als
212 PETEil LENGSFELD [111/112]
erhält Gott das, was er einmal gestiftet hat, und er erhält es darum,
weil er es einmal so und nicht anders stiften wollte. Von uns aus ge-
sehen: Die Urkirche (deren Stiftung selbstverständlim innerweltlim
nicht auf einmal, an einem Datum, geschah, sondern eine gewisse
"Zeit" beanspruchte; daher: Urkirche = Kirche im Werden, im Ent-
stehen ihrer konstitutiven Elemente) ist nicht nur die zeitlich erste
Periode der Kirchengeschichte, sondern jener allmählich (auctore
Deo) alle wesentlichen Elemente herausbildende Grund, jenes maß-
gebende Fundament, jener Maßstab ("Kanon"), auf dem alles Spä-
tere gründet und an dem es gemessen werden muß. "Zu den Kon-
stitutiven dieser Urkirche als des qualitativ einmaligen Werkes Gottes
und als des bleibenden ,kanonischen' Ursprungs für die spätere Kirclle
gehört nun auch die Scllrift. " 111 Diese Schrift, in der die göttlich-apo-
stolische Paradosis bleibend fixiert ist, gehört einerseits mit zu den
durch Gottes Urheberschaft gesetzten (Deus auctor!) VerwirklichUD-
gen seines Stiftungswillens (darin gründet die Tatsache der Inspira-
tion), und ist doch andererseits ein Lebensvorgang der Urkirche selbst,
die ihren Glauben, ihre Predigt, ihre mitgegebene Paradosis, ihre
(wenn auch noch so "zufälligen") Lebensäußerungen dorthinein aus-
drückt - und darum vermag die spätere Kirche jene Schriften der
Urkirche auch als ihren Kanon zu erkennen. "Indem die Kirche (ge-
meint ist die Urkirche) ihre Paradosis, ihren Glauben und ihren
Selbstvollzug schriftlich konkretisiert, also Schrift in sich bildet, wen-
det sie sich als die maßgebende Urkirche an ihre eigene Zukunft, und
umgekehrt: indem sie sich als das maßgebende Gesetz, nach dem alle
Zukunft der Kirche angetreten ist, für diese Zukunft konstituiert,
bildet sie Scllrift" (Rahner, ebd. 56-57). Da die Urkirche als solche
Maß, Richtsmnur und eben "Kanon" für alle künftige Kirche ist-
weil ja Gottes Handeln hier heilsgeschimtliche Konktretheiten ein für
allemal neu hervorbringt -,können überhaupt die sich damals her-
auskristallisierenden konstitutiven Elemente der Kirche jenen für
alle Zukunft maßgebenden, also kanonischen Charakter haben. Ne-
ben anderen Elementen (Sakramente, Prielstertum, Sukzession, Para-
dosis, Geistempfang, göttliches Recht, gesellschaftliche Struktur der
Kirche und Primat z. B.) gehört nun dazu "unbeschadet des Vorrangs
der mündlichen Paradosis in der noch werdenden Urkirche, welche
mündliche und doch autoritative, also unfehlbare Paradosis der Scluift
vorausgeht, nach dem freien, aber sachlim verstehbaren Willen Got-
tes auch die Schrift" (Rahner, ebd. 55). Weil es die Schrift der Urkirche
ist, diese Urkirche aber in besonderem Maß die Garantie der reinen
Selbstdarstellung und der reinen Darstellung ihrer Paradosis hatte,
darum ist diese Scluift Kanon schlechthin.
11 K. Ralmcr, über die Sduiftinspiration, 55.
[114/115] Katholisdle Sicht von Sduift, Kanon und Tradition 215
Uns bleibt die Frage, wie die spätere Kirche diesen Kanon erkennen
konnte. Denn die apostolischen Schriften, die um ihrer Verfasser wil-
len Geltung in der Kirche hatten, und die Schriften ihrer Schüler, die
um der inhaltlidlen Obereinstimmung mit der überlieferten Glau-
benspredigt in der Kirche Ansehen genossen, waren ja nicht von vom-
herein zum Kanon zusammengefaßt, noch war die Kanonizität der
einzelnen Schriften jederzeit unbestritten. Die Kirche konnte zur Er-
kenntnis der Kanonizität (und lnspiriertheit) dieser Schriften nur
durdl Offenbarung!O gelangen. Eine explizite, satzhafte Mitteilung
ist uns nicht bekannt21 , bleibt also nur eine implizite Offenbarung.
Daß diese vorliegen muß, dafür bürgt dem Katholiken das Lehramt,
das ja sonst den Kanon nicht hätte definieren könnenn. Aber wie ist
sie (historisch und dogmatisch) einsichtig zu machen? Nach Rahnen
These, der wir auch hier folgen wollen, können wir so sagen: "Diese
(ursprüngliche, noch nicht reflex satzhaft gewordene) Offenbarung
geschieht einfach dadurch, daß die betreffende Schrift als echter We-
sensvollzug der Urkirche entsteht ( ... ). Die sich selbst darlbietende
Tatsache (die durch ein übernatürliches heilsgeschichtliches Wirken
Gottes gesetzt ist) kann dann auch in nadlapostolischer Zeit noch re-
flex erfaßt und ausgesprochen werden, ohne daß dadurch eine neue
Offenbarung geschieht ( ... ). Die vom Geist erfüllte Kirche erlaßt
in "Konnaturalität" etwas unter den Schriften als das ihr Wesensge-
mäße. Ist es dann noch gleichzeitig "apostolisch", d. h. ein Stück des
Lebensvollzugs der Urkirche als solcher und als solches erlaßt, dann
ist es unter den in unserer Theorie gemachten Voraussetzungen eo
ipso inspiriert" und kanonisch (174 f.).
M Alle historisdlen Urteile und Kriterien, die protestantisdlerseits vorgetragen
werden- sei es ein Rechnen mit Generationen, sei es Rede von Ursprünglichkeit,
Originalität, zeitlicher Frühe etc. -, können ja doch nur eine hütorüche Vorord-
nung dieser Sduiften gegenüber später entstandenen herausbringen, nie aber eine
dogmo.tische, mit Absolutheitsanspruch Glauben fordernde und das Künftige reso-
lut beurteilende Kanonizität.
11 Zumal es "historisdl wahrscheinlich" ist, daß ein Apostel von seiner eigenen
Inspiriertheit, beim Philemonbrief etwa, nichts wußte; wie wäre eine Mitteilung
über einzelne Schriften und ihre Kanonizität zu denken, geschweige denn für den
ganzen Kanon? Vgl. Rahner, ebd. 55.
11 B. Brinkmann SJ meint, daß die kirchliche Kanonfeststellung nur die Konsta-
tienmg einer dogmatisdlen Tatsache (wie es etwa die Rechtmäßigkeit eines Kon-
zils aum ist) und kein Dogma sei, also gar nicht (auch nicht einsdllußweise) auf
Offenbarung zurückgeführt werden muß. Er unterscheidet die Zugehörigkeit einer
Sdlrift zum Kanon (darüber entsdleidet die Kirche kraft ihrer Unfehlbarkeit als
über eine dogmatische Tatsame = Kanonizität in actu secundo) und der Inspira-
tion und der (mit ihr) gegebenen Kanonizität (in actu primo): die Erkenntnis der
letzten Eigenschaften einer Sduift führt auch er auf Offenbarung zurück. Vgl.
B. Brinkmann SI, Inspiration und Kanonizität der ID. Schrift in ihrem Verhältnis
zur Kin:he: Scholastik 33 (1958), 208--233, bes. 214 f., 230 ff.
216 PETER LENGSFELD [115/116]
11 Vgl. K. Rahner, Schriften zur Theologie I, Einsiedeln 195+, 61. 64. - Der recht
gegenständlich-objekthafte Ausdruck sollte nicht vergessen lassen, daß es sich im
Gnmde um die Beziehung zu einer Person (Logos, Pneuma) handelt. Es ist aber
weniger die psychologische und reflexe Seite dieses Bezuges, sondern zuerst die
reale, ontische und - insofern "sachliche" - Seite anvisiert.
14 J. von Görres, Die Triarier, Regensburg 1838,69-70 (Hervorhebung von mir).
[116/117] Katholische Sicht von Schrift, Kanon und Tradition 217
setzt er äußerlich den Kanon25 , und in dem Kanon ist wieder das
Zeugnis der Urkirche über die Kirche enthalten, im Kanon setzt Gott
die Kirche. -Sobald diese Dreiheit (Gott-Kirche-Kanon) um ein Glied
verringert wird, muß ein logisch und dogmatisch verfänglicher Zir-
kelschluß herauskommen: Wird die Kirche (Urkirche und spätere
Kirche) ausgeschieden, dann erscheint die Schrift (dogmatisch- trotz
der historischen Mitwirkung von Menschen) als ein schier unversteh-
bar vom Himmel gefallenes und nun rein menschlicher Nutzung (und
Willkür) preisgegebenes "bonum derelictum." 28 Wird dagegen Got-
tes Kirche und Kanon durch- und ineinander setzende Funktion über-
sehen, dann müßte das "Wechselverhältnis" so gesehen werden, daß
die Kirche erst den Kanon hervorbringt und dann anerkennt, sich
selbst aber nur durch den von ihr erzeugten und mit Autorität ver-
sehenen Kanon beglaubigen und ausweisen kann27 • Nur die unge-
kürzte und (wie oben) differenzierte Dreiheit von Gott-Kanon-Kirche
(und Gott-Kirche-Kanon, gemäß der Görres'schen Unterscheidung
innerlicher und äußerlicher Setzung) scheint eine dogmatisch befrie-
digende Bestimmung der "Wechselwirkung" zu ermöglichen. - Ge-
rade daraus ist nun auch erklärlich, daß es sich bei der Aufstellung
des Kanons durch die I Kirche und ihrer Erkenntnis des Kanons ver-
mittels der ihr eingebildeten göttlich-apostolischen Tradition (Ver-
bal- und Realtradition) nicht um eine für den Kanon lebensgefähr-
liche Umklammerung durch kirchliche Tradition handeln kann. Was
tut die Kirche, wenn sie den Kanon aufstellt? Sie erlaßtreflexund
ausdrücklich, promulgiert und bekennt sich zu den unter Gottes Au-
torschaft in ihr entstandenen Schriften als zu dem ihre Paradosis gül-
tig aussprechenden Kanon. Sie registriert den von Gott (implizit
dmch die de-facto-Entstehung dieser Schriften in derbereits "Kanon"
seienden Urkirche) offenbarungsmäßig gegebenen Kanon als das von
11 Indem er Vertreter der Urkirche zu den menschlichen Verfassern seiner Schrift
mamt, die Kirche aber diese Schriften als ihre Wesensäußerungen und damit als
Kanon erkennen läßL
" Scheeben, Dogmatik I, n. 257; man kommt auch bei Barth nicht ganz um die-
senEindruck herum: Er übertreibt das Gegenüber so sehr, daß die Schrift nach
ihm zwar die Kirche "begründet", "begrenzt" und "konstituiert" (KD I, 2, 600),
aber gleichsam als ein der Kirche nur gegenüberstehendes, immer außerhalb ihrer
bleibendes Prinzip. Mit Bultmanns Worten müssen wir ihn fragen, wie er denn
den historischen Befund, daß die Bibel auch eine "original christliche Schöpfung"
(Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition, Göttingen 19571, 398) ist,
dogmatisch zu verwerten vermag.
17 Dann bestünde auch das von protestantischen Augen gesehene Zerrbild der
katholischen Position zu Recht, wonach die Kirche (mit ihrer Tradition) erst die
Schrift garantiert, um sich dann von der Schrift beglaubigen zu lassen - und um-
gekehrt; vgl. Barth, KD I, 2, 595 (Kleindruck); H. Rückert, Schrift, Tradition und
Kirche, Lüneburg 1951, 8; vgl. dagegen Scheeben, Dogm. I, n. 414, u. a.
218 PETEl\ LENGSFELD (117/118]
nun an auch explizit gültige Gesetz, nach dem sie für alle Zukunft
angetreten ist18• Und nochmals: Woher weiß die Kirche das? Wie ver-
mag sie das zu erkennen? Sie bezeugt und erkennt den Kanon als
ihren Kanon a) aus dem lebendigen Sachbezug, den sie zu der in
ihrem Schoß und mit ihr selbst geschehenen "Sache" der göttlich-
apostolischen Paradosis, der Realtradition, hat, und b) aus der in ihr
bis dahin bereits gültigen, normativen göttlich-apostolischen Verbal-
tradition (Glaubensformeln, regula fidei, Credo). In diesem Sinne ist
richtig, daß die Kanonfeststellung der Kirrhe ein (authentisches) Re-
gistrieren des sich aufdrängenden, sich imponierenden Kanons ist und
daß es sich dabei um ein "Glauhenszeugnis" der Kirche im "Glau-
bensgehorsam" gegenüber Gottes Wort handelt". So verstanden,
können wir auch E. Kinders Satz bejahen: "Die Umgrenzung des Ka-
nons ist eine Glaubensentscheidung der Kirche, ein Bekenntnisakt
der Kirche aus innerer Verbundenheit mit dem Sachgehalt der
Schrift. " 30 Auf unserem Hintergrund läßt sich auch Otto Weber ak-
zeptieren: Die Kirche "hat für das, was in der Fülle der überlieferten
Schriften ,original' war (wir: ihre ,origo' wesensgetreu wiedergibt),
ein eigentümlich sicheres Gemerk besessen31 ". Aber wohlgemerkt:
Jenes "eigentümlich sichere Gemerk" und jene "innere Verbunden-
heit mit dem Sachgehalt der Schrift", welche der den Kanon festle-
genden Kirche eigen ist, wird man auf protestantischer Seite wohl
nicht hinreichend erklären können ohne die Anerkennung einer nor-
mativen Glaubenstradition, auf welche die Kirche gleidlsam reflek-
tierend zurückgreifen kann, wenn sie sichangesichtsder (durm Jahr-
hunderte hindurch um Ansehen ringenden) Kanonizität begehrenden
Schriften vor die Frage nach ihrem Kanon, nach I ihrem Grundgesetz
gestellt sieht31• Wer die historische Entwicklung im Auge hat und
nicht von vornherein auf eine dogmatische Verbindlichkeit des Ka-
nons verzichten will, muß das wohl zugestehen.
• Aus: H. Braun, Gesammelte Studien zum Neuen Testament und seiner Um-
welt, J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1962, S. 310-324 (Erstveröffentli-
chung in: Fuldaer Hefte 12, 1960, 9-24).
1 Für die Kanonsgeschichte s. die diesbez. Arbeiten von Zahn, Harnack, Leipoldt
und Lietzm.ann sowie die kanonsgeschichtlichen Abschnitte in den Einleitungen;
instruktiv auch die historisdlen Rmunes in dem Aufsatz von W. G. K.üm.mel, Not-
wendigkeit und Grenze des neutestamentlichen Kanons, ZThK 47 (1950), S. '1:17
bis 313.
220 lhRBERT BRAUN [311/312]
auf die apostolische Herkunft der Schriften wird man sich heute bei
der Verteidigung des Kanons nidtt einmal mehr für die Evangelien,
gesdtweige denn für die katholische Briefliteratur ernsthaft beziehen
können. So nimmt denn audt ein so grundsätzlicher Befürworter des
streng abgegrenzten Kanons wie H. Diem die Kanonsgesdlichte ruhig
zur Kenntnis; nur läßt er im letzten Abschnitt mit dieser Gesdtichte,
im 4. und 5. Jahrhundert, die dekretierende Willkür der Kirdte in
den Hintergrund treten". Er kämpft auch nicht mehr- auf dem Bo-
den der Einleitungswissensdtaft - streng für die apostolische Her-
kunft der einzelnen Schriften, sondern er betont- für historisch-kri-
tische Argumente offen - bei der apostolischen Herkunft besonders
die Einbeziehung der Apostelschüler5; was historisch-kritisch freilidt
nur angeht, wenn man "Apostelschüler" sehr weit einfach als Glieder
der 2.-4. Generation der Kirche faßt. Er gibt schließlich - historisdt-
kritisch gesehen mit Recht - jenen Gesichtspunkt der Alten Kird:J.e
von der apostolischen Verfasserschaft grundsätzlich ganz auf, wenn er
- sachlich ridttig - erwägt, die Abfassungszeit einer Schrift lasse
sich als Kriterium für die Kanonizität überhaupt nicht verwenden,
weil ältere Schriften unkanonisch geblieben, jüngere kanonisch ge-
worden seien8 • Gerade die Argumentation dieses jüngsten Befürwor-
ters eines streng abgegrenzten Kanons macht deutlich: die Frage nadt
dem Kanon ist eine Frage nach dem Inhalt des Kanons und nadt der
Einheit dieses Inhalts geworden. Nicht mehr die Einleitungswissen-
sdtaft, die Exegese hat nun in Fragen des Kanons das erste Wort. Hier
stehen wir heute. I
II
War für jene eben behandelte liberale Generation der Kanon letzt-
lich deswegen unwesentlidt geworden, weil man den Gegensatz von
Geist und Buchstaben fälschlicherweise als den Gegensatz der Inner-
lichkeit, des Herzensglaubens und der Äußerlichkeit der religiösen
Autorität verstand und mit der ersten Seite das Rechte zu wählen
meinte, so brachte das Inführunggehen der Exegese ein erneutes Hö-
ren auf die Inhalte des Neuen Testaments und zerstörte die lllusion,
als lebte der Glaube vom Enthusiasmus des Herzens und nidtt von
der Botsdtaft. Dies erneute Wichtigwerden neutestamentlicher ln-
halte rückte für Jahrzehnte die formalen Fragen der Einleitung und
der Kanonsgeschichte an den Rand des allgemeinen Interesses. Und
doch ist das nur der täusdtende Außenaspekt der Lage. Das "Merken
auf das Wort" triebes-in der religionsgesdtichtlichen Vergleichung
und in der formgesdtichtlichen Analyse- im "Merken" nämlich so
weit, daß das Neue Testament aus seiner Einheit sich in eine Vielheit
von Schichten und Aspekten zerlegte. Diese Schichten und Verschie-
denheiten betreffen gleichzeitig Schilderungen von Tatsächlichem wie
auch theologische Aussagen. Die einzelnen Dinge fügen sich aller-
meist nicht, wie Mosaiksteine, zu einem bereicherten Ganzen zusam-
men, sondern bergen Gegenstände untereinander, welche, wird jede
Seite für sich betrachtet, sich ausschließen. Das Neue Testament- so
stellt es sich heraus - hat in zentralsten Stücken weder eine Aussage-
Einheit hinsichtlich der tatsächlichen Vorgänge nom eine Lehr-Ein-
heit hinsichtlich der Artikel des Glaubens. Die Frage des Kanons ist
somit erneut aufgebrochen; diesmal nicht wie in der früheren Etappe
von außen her in den formalen Fragen nam Verfasser und Abfas-
sungszeit; sondern gefährlicher, von innen her, unter dem Gesimts-
punkt der nicht vorhandenen Einheit, der unvereinbaren Gegen-
sätze. Besteht die Behauptung der Uneinheitlichkeit des Neuen Testa-
mentes zu Recht? 7
Der Sinn dieser meiner Ausführungen kann hier nicht der sein, daß
ich nur eine Synopse über die Meinungen der heutigen Neutestament-
ler liefere. Hier kann nur jeder, den andern mithörend, in seinem Ver-
stehen des Neuen Testamentes den eigenen Weg zu gehen versumen.l
In den Ausführungen über das Gesetz, über die letzten Dinge, über
Kirme und Amt, über die Christologie und über die Sakramente
scheint es mir ausgeschlossen, eine wirkliche Einheit des Neuen Testa-
mentes zu behaupten. Die folgenden Zusammenfassungen können in
diesem Rahmen natürlich nur skizzieren, nicht detailliert beweisen.
Die Lehre vom Gesetz. Jesus von Nazareth hat die üblichen Tara-
forderungen verschärft. Einige dieser seiner Verschärfungen sprengen
den Rahmen des in der Tora Gebotenen: die Ablehnung jedes
Schwurs und der Wiedervergeltung, das Gebot der Feindesliebe, das
Verbot der Ehescheidung und der Besitzverzimt. Er hat die rituelle
Reinheit vergleichgültigt. Er hat herausfordernd den Mitmenschen
über den Kulttag gestellt; auch damit wird die Tora in ihren rituellen
Teilen von Grund auf getroffen. Das alles wird bei ihm freilich nicht
grundsätzlich als neues Lehrsystem proklamiert: die jüdische Kon-
zeption vom Taragehorsam als dem Wege zum Lebensmeint bei ihm
erhalten geblieben zu sein. Von innen her ist diese Konzeptiondom
entscheidend angetastet: wenn gerade die Tarakorrektheit dazu füh-
ren kann, Gottes nicht mehr zu bedürfen, wenn J esus als Freund von
Zöllnern und Sündern den religiös Deklassierten die Aufnahme ins
7 Hier ist vor allem zu verweisen auf die Arbeiten von E. Käsemann, Begründet
der neutestamentlühe Kanon die Einheit der Kirche?, EvTh 11, 1951/52, S. 13
bis 21; Eine Apologie der urchristlichen Eschatologie, ZThK 49, 1952, S. 272--296;
Zum Thema der Nichtobjektivierbarkeit, EvTh 12, 1952/53, S. 455--466.
HERBERT BRAUN [315/316]
10 S. R. Bultmann, Die Theologie des Neuen Testaments, 1953, S. 443 f., 453.
15 Käscmann, Kanon
HERBEBT BRAUN [317/318]
schon im Neuen Testament hört sie auf, bloß Ausdruck für ein Ge-
schehen zu sein. Die Christologie des Neuen Testaments ist in sich
selber voller Spannungen.
Die Sakramente. Auf jüdischem Boden ist die Taufe wesentlich
Reinigungsbad zur Sündenvergebung, das Herrenmahl Tischgemein-
schaft im Blick auf den baldigst kommenden Messias. Auf hellenisti-
schem Boden wird die Taufemysterienhaft Anteilgabe an Tod und
Auferstehung Christi, das Herrenmahl zum cpQQJ.LaXOV atavaata;. Nur
ist Paulus, mit der hellenistisch-mysterienhaften Auffassung grund-
sätzlich einig, dabei bestrebt, das massiv-naturhafte Verstehen in
einen aus dem Rechtfertigungsglauben fließenden rechten Wandel zu
überlführen. Dazu kommt, daß das vierte Evangelium es wagt, auf
die Begründung des Herrenmahls durch die Kultlegende von einem
Stiftung werdenden letzten Mahle Jesu mit seinen Jüngern ganz zu
verzichten. Die Spannungen auch in der Sakramentslehre des Neuen
Testaments mögen damit wenigstens angedeutet sein.
Ich breche hier ab, obwohl hier noch vieles Einzelne zu ergänzen
wäre. Lassen sich diese bis in die ganz zentralen Aussagen des Neuen
Testaments hineinreichenden Spannungen auflösen? Ehe wir dieser
Frage nähertreten, mögen noch einige Antworten durchdacht werden,
die sich mit der Frage des disparaten Kanonsinhaltes beschäftigen.
Kümmel gelangt in seinem oben genannten Aufsatz letztlich zur
Forderung des Kanons im Kanon 12 ; das halte ich grundsätzlich für
richtig, zumal ich die Vehemenz der Spannungen innerhalb des Neuen
Testaments offenbar kräftiger empfinde als er1 3 • Unbeschadet dieser
Forderung meint er aber auch, eine gewisse zeitliche Nähe der neu-
testamentlichen Schriften zum Leben Jesu und zum Anfang der
Kirche sichere diesen Sduiften ihren Glauben begründenden, Garan-
tie gewährenden Charakter'. Das halte ich für abwegig; denn derbe-
endete Überblick stellte Spannungen heraus, die sich sämtlich in Tex-
ten bereits des ersten Jahrhunderts finden, ja die auch in Paulus sel-
ber, wohl aum sogar in einer kritisch rekonstruierten Verkündigung
Jesu enthalten sind. Aber letztlich kommt Kümmel dann ja dom auf
den Kanon im Kanon und sieht von der Abfassungszeit als einem
braumbaren Ausgrenzungsprinzip ab. Unverständlich dagegen bleibt
mir der Lösungsversum von Diem. Sympathism ist an ihm der kri-
tisme Verzicht darauf, die vorhandenen Gegensätze im Neuen Testa-
ment apologetism zu retuschieren15, rimtig simer auch die Betram-
tung der Kanonsgeschichte als der Geschimte des gepredigten Tex-
11 W. G. Kümmel, aaO, S. 308-313 [= o. S. 92-97].
sa W. G. Kümmel, aaO, S. 310 f. [= o. S. 95 f.].
u W. G. Kümmel, aaO, S. 296 f., 305 f. [ = o. S. 81 f., 90 f.].
11H. Diem, aaO, S. 205; ders., Die Einheit der Schrift, EvTh 13, 1953, S. 395.
u•
lb.aBEl\T BRAUN [319/320]
tes16, wofern Predigt und Lesung nicht unterschieden wird, was Diem
wohl auch konzedieren würde. Aber völlig ratlos stehe ich vor Diems
Erklärung, die lnbetrachtziehung der jeweiligen Verkündigungs-Si-
tuation gewinne dem Neuen Testament die auf dem Felde der Lehre
fehlende Einlheit zurückP. Meint Diem denn im Ernst, der Moralis-
mus, zu dem ich von Paulus kommend Nein sage, könne von mir be-
jaht werden, wenn ich etwa bestimmte Texte der Acta höre und wei-
tersage? Meint er denn, es würde ein sinnvolles Predigen, wenn der
Prediger heute paulinisch, am nächsten Sonntag nach Jak 2 von den
Werken und vom Glauben predigt? Muß nicht das von Diem für den
Exegeten und Prediger geforderte "Mithören" der andem Seite der
Schrift18 notwendigerweise zu jener Charakterlosigkeit der Predigt
führen, die Diem selber bestimmt gerade nicht will?! Die Kirche, die
im Kanon die heute vorliegende complexio oppositorum zusammen-
band, war doch die Kirche der Apologeten und des Irenäus, in der die
Weichenstellung auf den Moralismus und das Institutionelle hin be-
reits kräftig vollzogen wurde; jene Weichenstellung, an deren Aufhe-
bung den Reformatoren ebensovielliegt wie auch Diem selber. Und
der Entscheidung und dem Hören ;ener Kirche soll ich das von ihr als
Kanons-Einheit Benutzte und dann auch Dekretierte abnehmen kön-
nen? Im zweiten Jahrhundert und später, aber auch schon im ersten
legt sich nicht, wie Diem meint, der Kanonsinhalt, damit seine Ein-
heit dartuend, selber aus19, sondern bereits so früh wird ein genuiner
Ansatz im Laufe der weiteren Entwicklung von seiner Nivellierung
her ausgelegt.
111
Gibt es, inmittenallder dargestellten disparaten Lehren und ge-
geneinander abzuhebenden Schichten, eine Einheit im Neuen Testa-
ment, eine innere Mitte, von welcher her wenn auch nicht das Ganze,
so doch wesentliche Teile zu begreifen sind?
Ich meine, ja. Bei den drei großen Blöcken, in der Jesusverkündi-
gung, bei Paulus und im vierten Evangelium- hier grenze ich also
etwas anderes ab als Kümmef.2° - liegt die Einheit beschlossen in der
Art und Weise, wie der Mensch in seiner Lage vor Gott gesehen ist.
Der Mensch ist Übertreter und böse gerade auch in seinem frommen
11 H. Diem, Theologie als kirchl. Wissenschaft, II, S. 191; EvTh 13, 1953, S. 387
bis 391.
n H. Diem, Theologie als kinhl. Wissenschaft, II, S. 204-208; EvTh 13, 1953,
s. 394.
18 H. Diem, Theologie als kirchl. Wissenschaft, II, S. 207 f.; EvTh 13, 1953,
s. 403 f.
1' H. Diem, Theologie als kirchl. Wissenschaft, II, S. 196.
:!0 W. G. Kümmel, aaO, S. 310 [= o. S. 94 f.].
[321 /322] Hebt die heutige neutestamentl.-exegeL Forschung den Kanon auf? 229
ben. Damit ist die Beweglichkeit gewonnen für die heute immer neu
zu findende Ausdrucksform, in welcher dies Grundphänomen zu sa-
gen und ins Geschehen zu überführen ist: Eschatologie in ihrer als
Fehlrechnung erwiesenen zeitlichen Fassung des Endes wie in ihrer
aktualen johanneischen Form drückt die Andringlichkeit der Forde-
rung und die Radikalität der Befreiung in der Freigabe der mensch-
lichen Zukunft aus. Die Christologie wie die Sakramente aber sind
die variable Verschlüsselung für das extra nos, für das transpsycholo-
gisdte Woher dieses Befreiungsgeschehens. Der Kanon im Kanon,
dies aus dem Zentrum des gepredigten Neuen Testamentes fließende
Grundgeschehen, ist also gegen das Neue Testament selber im of-
fenen und kritischen Hören zur Geltung zu bringen. Der hierin lie-
gende Zirkel- der Maßstab entspringt dem Neuen Testament und
wendet sich gegen das Neue Testament- ist unvermeidbar, weil der
Kanon die genannten Gegensätze in sich selber birgt.
Diems Insistieren auf der Kontingenz21 ist richtig, sofern die Kon-
tingenz sich auf dies Grundgeschehen bezieht; denn dies ist in der
Tat unbegründbar und unableitbar und muß es seinem Wesen nach
sein. Für den Kanon ist die von Diem behauptete Kontingenz nur
bedingt und partiell richtig, sofern in den großen drei genannten
Blöcken des Kanons dies kontingente Grundgeschehen einigermaßen
rein zum Ausdruck kommt. Für die moralisierenden Tendenzen im
Kanon, vor allem für die Schriften aus der Zeit des Frühkatholizismus
ist Diems Betonung der Kontingenz des Kanons falsch; diese Züge
und Teile des Kanons entspringen nicht jener Kontingenz, in welcher
der Vater dem heimkehrenden Sohne die Arme öffnet. Ich meine also
- gegen Diem -, man könne den Kanon des Neuen Testaments nur
dann richtig lesen, wenn man- durch das Neue Testament- vom
Kanon im Kanon weiß. Hier stimme ich mithin Kümmel wie Käse-
mann grundsätzlich zu. Nur kann ich ein Bedenken gegen Käsemann
nicht ganz unterdrücken. "Der neutestamentliche Kanon begründet
als solcher nicht die Einheit der Kirche. Er begründet als solcher, d. h.
in seiner dem Historiker zugänglichen Vorfindlichkeit, dagegen die
Vielzahl der Konfessionen. " 22 Das stimmt. Aber nun sieht I es, wenn
dann der Leser und Hörer von Käsemann zur Entscheidung für die
Rechtfertigung des Sünders gerufen wird 23 , fast so aus, als sei diese
Entscheidung ein willkürliches Herausgreifen der einen Seite im
Neuen Testament. Ich weiß nicht, ob Käsemann es so meint. Ich je-
denfalls könnte solche - wie ich zusammen mit Käsemann denke -
rechte Entscheidung für das neutestamentliche Grundphänomen nicht
11 H. Diem, Theologie als kirdll. Wissenschaft, li, S. 190-201.
11 E. K.äsemann, EvTh 11, 1951/52, S. 19 [= o. S. 131].
11 E. K.äsemann, EvTh 12, 1952/53, S. 463.
[323/324] Hebt die heutige neutestamentl.-exeget. Forschung den Kanon auf? 251
die Mitte richtet, von der die Hauptteile des Kanons regiert werden,
auf jene Schriften, bei deren Abfassung an Kanonisierung noch kein
Gedanke war. Von jener Mitte, dem neutestamentlieben Grundge-
smehen, wird der Prozeß der Sammlung des Kanons ja doch kaum
nom bewegt. Bereits die Kirche des zweiten Jahrhunderts, die den
Kanon in seinen wesentlichen Stücken gesammelt hat, ahnte kaum
nom, welmes Dynamit siede facto in ihr Gepäck aufnahm. Ich glaube
an die Botsmaft nicht, weil sie im Kanon steht. leb respektiere den
Kanon, weil er- freilim nur: auch- die Botschaft enthält. Und darum
reicht mein Respekt so weit, wie ich die Botschaft im Kanon verneh-
men kann. Denn ein impliziter Glaube dürfte nimt geraten sein.
WILLI MAP.xsEN
nis die komplexe Arbeit, in deren Rahmen die Exegese geschieht, mit
bestimmten Akzenten versehen wird.
Eben darum aber kann der Exeget diesem Vorverständnis nicht
gleichgültig gegenüberstehen. Er muß nach seiner Herkunft fragen
und bei diesem Fragen im Auge behalten, ob er selbst irgendwie be-
teiligt ist. I
Wir fragen nun also nach der Herkunft des Urteils "kanonisch"
bzw. "nichtkanonisch". Zwei Möglichkeiten sind zu unterscheiden.
a) Das Urteil ist nicht in den Schriften selbst angelegt, ist vielmehr
von außen an die Schriften herangetragen.
b) Das Urteil ist aus den Schriften gewonnen.
Bedenken wir zunächst die erste Möglichkeit. Ist das Urteil "kano-
nisch" von außen an die Schriften herangetragen, dann ist das Pro-
blem unseres Themas für den Exegeten wieder erledigt. Es existiert
für ihn höchstens als Gefahr, als Versuchung. In diesem Falle hätte ja
doch irgendeine Instanz (die Kirche, eine Synode, ein Bischof oder wer
auch immer) u. U. unter Einbeziehung bestimmter Voraussetzungen
oder Sicherungen (etwa: Beteiligung des heiligen Geistes) eine be-
stimmte Gruppe von Schriften für kanonisch erklärt. Diese Entschei-
dung wäre (eben weil sie nicht in den Schriften angelegt ist) auch
nicht an den Schriften kontrollierbar. Man könnte die anderen Vor-
aussetzungen überprüfen; aber das wäre keine Aufgabe des Exege-
ten als Exegeten.
Immerhin muß man aber sagen, daß in diesem Fall die Kanonizi-
tät der Schriften bereits Deuterokanonizität wäre. Wirklich kanonisch
wäre ja die Instanz, die die Kanonizität behauptet und festgelegt hat.
Es ist nur folgerichtig, daß dann gelegentlich auch auf die Schriften
verzichtet werden kann, denn Deuterokanonizität dieser Art ist tat-
sächlich Pseudokanonizität.
Den Exegeten brauchte das nicht zu tangieren - wenn er nun nicht
seinerseits in der Gefahr wäre, seine Exegese nicht vom Text, son-
dern von der Instanz abhängig zu machen, die die Kanonizität festge-
legt hat. Diese Instanz hat ja sicherlich nicht willkürlich irgendwelche
Schriften kanonisiert, sondern solche, von denen sie bereits ein be-
stimmtes Wissen oder Verständnis hatte oder zu haben meinte. Sie
will dann natürlich auch, daß die Exegese das ergibt, was sie selbst
voraussetzt. Das Vorverständnis würde in diesem Fall zum Vorurteil.
Das Vorurteil ist aber für die Exegese eine Gefahr. Der Exeget
muß sich darum davor hüten, durch das Vorverständnis als Vorurteil
in unsachgemäßer Weise die Methode seiner Arbeit beeinflussen oder
gar die Ergebnisse bestimmen zu lassen.
Das alles gilt, wie gesagt, unter der Voraussetzung, daß die Kanoni-
zität der Schriften nicht aus ihnen selbst abgeleitet ist, sondern als
[92/93] Das Problem des neutestamentlichen Kanons
Freilich kommt man damit nun doch nicht sehr weit, denn es gibt
ja nahezu überhaupt keine Schriften, die nicht in irgendeiner Weise
(wenn auch gelegentlich nur mittelbar) den Anspruch erheben, für
die Leser Autorität (auf je ihrem Gebiet) zu besitzen. Das gilt für
eine moderne politische Erklärung nicht weniger als für Luthers
Schriften, das gilt für die Didache nicht weniger als für den 1. Kle-
mensbrief; ja, man wird sogar sagen müssen, daß der nichtkano-
nische 1. Klemensbrief seinen Charakter als autoritative Anrede un-
gleich stärker zum Ausdruck bringt, als es etwa der kanonische Phi-
Jemonbrief tut.
Aber es ist ja nun doch sofort klar, daß diese Autorität, die der Exe-
get hier feststellt, noch nicht das ist, was üblicherweise unter kanonisch
verstanden wird. Denn diese Autorität ist ja begrenzt auf den Leser-
bzw. Empfängerkreis der Dokumente. Die kanonische Autorität will
aber gerade über diese Begrenzung hinaus.
Wir können zunächst einmal so formulieren: Wenn wir nach der
K.anonizität fragen, dann haben wir es zu tun mit dem Problem der
Ubertragbarkeit der Autorität. I
Dieses Problem kommt bei einer Reihe von "kanonischen" Schrif-
ten (bei allen echten Briefen) noch gar nicht in den Blick. Der Ga-
laterbrief, der 1. Thessalonicher- und die Korintherbriefe meinen
immer eine ganz bestimmte Gemeinde in einer ganz bestimmten Si-
tuation. Man kann also geradezu sagen, daß sie sich der Ubertragung
der Autorität und damit der Kanonizität widersetzen.
Bei anderen Briefen ist dann der Empfängerkreis nicht mehr so
scharf abgegrenzt. Nennt z. B. der 1. Petrushrief (doch recht sum-
marisch) ganze Landsdlaften bzw. Provinzen, dann der 2. Petrus-,
der Judas- und der Jakobusbrief in verschiedenen Umschreibungen
die ganze Kirche. In anderen Schriften wie etwa der Didache (aber
man muß hier wohl aw::h die Evangelien nennen), wo kein beson-
derer Empfänger angegeben ist (der Lukasprolog meint wohl auch
keinen Empfänger im engeren Sinne), wird man auch an die Kirche
bzw. eine Kirchen"provinz" oder einen Kirchen"typ" zu denken
haben. - Bezeichnend ist also dieses Gefälle: Je mehr wir uns dem
Rande des neutestamentlichen Kanons nähern, um so weiter wird der
Empfängerkreis gefaßt, für einen um so größeren Kreis wird Autori-
tät beansprucht; anders formuliert: um so näher kommt die Autori-
tät der Kanonizität.
Man wird hier eine weitere Uberlegung einbeziehen müssen.
Wenn auch Briefe an einen begrenzten Empfängerkreis sich eigent-
lich der Kanonizität widersetzen, so implizieren sie doch auch eine
entgegengesetzte Tendenz. Wenn nämlich ein bestimmtes Problem
sehr konkret angesprochen wird, dann liegt (u. U. unausgesprochen)
[94/95) Das Problem des neutestamentlichen Kanons 237
den Kanon als Grundlage bezeichnet. Die Autorität liegt nicht in der
Formulierung der Texte, nicht im Wortlaut (dann wäre ja nur eine
einfache Wiederholung des Wortlautes nötig), sondern diese Autori-
tät ist eine gleichsam potentielle. Die Grundlage bleibt erkennbar;
sie wird aber umgesprochen, wird neu gerahmt, wird kommentiert,
zum Teil auch geändert. In dieser Form begegnet sie dann als neue
Aussage mit dem Anspruch auf Autorität.
Wir sehen also, daß in der zweiten Generation ältere Dokumente
eine bedingte kanonische Bedeutung bekommen, indem sie als
Grundlage benutzt werden, von der aus durch Interpretation eine
Aussage mit Autorität neu geformt wird. Diese Interpretation aber
ist nötig, um die Grundlage für die neue Gegenwart wirksam zu
machen.
Die Autorität dieserneuen Schriften (die abgeleitete Autorität) be-
steht also darin, daß eine Grundlage (die frühere Autorität) durch
Interpretation in die neue Gegenwart hinein verlängert wird. Da
es sich hier um die Herstellung einer Beziehung handelt, nenne
ich diese Verlängerung von der früheren Autorität mit Hilfe der
Interpretation in die neue Gegenwart hinein kurz den Beziehungs-
bogen.
Ich sagte: In der zweiten Generation bekommen einige ältere
Schriften eine bedingte kanonische Bedeutung. Das ist eine Feststel-
lung, die wir bei der Exegese der jüngeren Schriften gemacht haben.
Zu fragen ist nun aber, ob und wie dieser Charakter bereits in den
älteren Schriften selbst angelegt ist. Es wiederholt sich nun also inner-
halb des Neuen Testaments das gleiche Problem, das wir vorher am
ganzen ("kanonischen") Neuen Testament erörterten: Woher kommt
das Vorverständnis, das einige Schriften als kanonisch bezeichnet; ist
es in ihnen angelegt oder von außen an sie herangetragen?
Wenn wir nun aber Kanonizität so sehen gelernt haben, daß eine
Autorität übertragbar war und übertragen wurde sowohl im Blick
auf einen erweiterten Personenkreis als auch im Blick auf spätere
Zeiten, dann taucht nun die Frage auf, ob diese zweite Perspektive,
nämlich die Ubertragung der Autorität in eine weitere Zukunft hin-
ein, überhaupt denkbar ist zu einer Zeit, in der man noch nicht mit
einer längeren Dauer der Kirche rechnet.!
Nun ist die Frage der Naherwartung der Parusie, ihrer Verzöge-
rung und der Aufgabe der Naherwartung heute ja sehr umstritten.
Ich selbst glaube nicht, daß man ihr leicht zuviel Bedeutung zumißt;
aber ich will hier dennoch vorsichtig sein. Bei aller Divergenz der
Meinungen wird man sich doch wohl darin verständigen können, daß
es eine Naherwartung der Parusie in der Urgemeinde gegeben hat,
daß Paulus (ich will vorsichtig sein: wenigstens einige Zeit) damit ge-
240 WILLI MARxsEN (97/98]
rechnet hat und daß einige synoptische Traditionsstücke das noch er-
kennen lassen.
Dann stehen wir aber vor einem eigenartigen Sachverhalt. Die
frühen Schriften, die für die spätere Kirche Autorität sein sollen, kön-
nen das noch gar nicht selbst sein wollen (wenigstens nicht nach der
Intention ihrer Verfasser), weil das Problem einer längeren Dauer der
Kirche noch nicht expliziert ist, da die Kirche die Zeit für sich noch
nicht als Dauer erfahren hat, damit dann auch noch gar nicht die Not-
wendigkeit einer für spätere Generationen verbindlichen Norm ge-
sehen werden kann.
Dann müssen wir aber doch wohl fragen, ob sich jetzt unsere Vor-
aussetzungen nicht aufheben. Wir stehen ja, daran sei noch einmal
erinnert, als Exegeten vor dem Problem des Kanons. Wenn die Exegese
es damit zu tun hat, die Aussage des Verfassers eines Dokumentes
nachzusprechen, dann wird sie gerade bei den Schriften, die poten-
tiell kanonisch benutzt werden, diese Kanonizität nicht erheben kön-
nen. Die Kanonizität ist ihnen in der Tat erst beigelegt worden, als
man sie potentiell kanonisch benutzte. Das geschah aber erst, als es
nötig wurde, weil die ältere Aussage in ihrer Formulierung nicht mehr
ausreichte in der neuen Situation.
Dann wäre die zweite Generation die Instanz, die eigentlich kano-
nische Bedeutung hat, weil sie Schriften, die das von Haus aus nicht
sein wollen, kanonisch benutzte. Wir sahen aber schon, daß man in
diesem Fall nicht mehr ernsthaft vPn der Kanonizität der Schriften
reden kann, es sich vielmehr um die Kanonizität einer "Institution"
handelt.- Wenn wir diesen Weg nicht gehen wollen (also: wenn wir
der Schrift keine Institution überordnen wollen), dann gibt es nun
m. E. keinen anderen Weg als den, das traditionelle Kanonsverständ-
nis gründliehst zu revidieren.
Die exegetische Fragestellung hat uns zwei miteinander zusam-
menhängende Ergebnisse gebracht:
a) Das Problem des Kanons ist (zunächst einmal grob formuliert)
ein Problem der ausgebliebenen Parusie, ein Problem also der Zeiter-
fahrung, ein Problem der zweiten Generation. Etwas präziser (wie
ich gleich noch zeigen will) wird man es ein Problem des zweiten
Gliedes nennen müssen, ein Problem des Traditionsbeginns.
b) Zugleich brachte die exegetische Frage eine Korrektur des Be-
griffs des Kanonischen. (Wir hatten ja auch damit von Anfang an in-
sofern gerechnet, als wir eine zu frühe Definition des Begriffs vermie-
den haben.) Die zweite Generation, das zweite Glied usw. benutzen
die ältere Autorität nicht in einem normativ-lautoritativen Sinn als
kanonisch, sondern (ich umschrieb es:) potentiell kanonisch. Poten-
tiell kanonisch, das heißt hier: die frühe Autorität enthält die Mög-
[98] Das Problem des neutestamentlichen Kanons 241
lic:hkeit (vorläufig noch genauer: sie ist dazu benutzt worden), mit
Hilfe eines Beziehungsbogens für eine spätere Zeit zu einer Aussage
mit Autorität zu werden.
An einem einfachen Beispiel sei das eben illustriert. Für Lukas ist
das Markusevangelium nicht in dem Sinne kanoniscll, daß es in einer
späteren Zeit unverändert Autorität besitzt, sondern die Autorität
kommt gerade erst dadurch zustande bzw. mit-zustande, daß das Mar-
kusevangelium einen Beziehungsbogen bekommt. Autorität hat also
für Lukas die Textvorlage zusammen mit dem Beziehungsbogen,
also: sein eigenes Werk! - Ganz allgemein ausgedrückt heißt das:
Autorität ist nicht der Text, sondern die Predigt mit diesem Text.
Eine dauernde Autorität ist gerade nicht vorhanden. Man kann
diesen Text, diese Grundlage nur insofern Kanon nennen, als er die
Möglichkeit enthält, mit einem Beziehungsbogen zusammen als Ver-
kündigung benutzt zu werden. In solcher Verkündigung ist dann der
Text auch noch in späterer Zeit wirksam.
Es scheint mir wichtig, darauf hinzuweisen, daß es sich hier um die
Darlegung eines Befundes handelt, dessen theologisclle Relevanz mit
der Konstatierung dieses Befundes aber noch keineswegs gesichert ist.
Andererseits scheint es mir von unseren Voraussetzungen aus nur
konsequent, daß sich die theologische Relevanz nicht außerhalb, son-
dern nur innerhalb des Befundes zeigen lassen kann.
So ergeben sich - nach den eben dargelegten Ergebnissen - nun
zwei Fragen:
a) Gibt es Kriterien dafür, zu bestimmen, ob die Grundlage, der
Text, die frühe Autorität (wenn auch nicht nach ihrer eigenen Ab-
sicht, so doch in der Praxis der späteren) zu Recht als solclle Grund-
lage benutzt wurde? Es könnte ja doch sein, daß man von einer fal-
schen bzw. nicht tragfähigen Grundlage ausging.
b) Gibt es Kriterien dafür, zu prüfen, ob der Beziehungsbogen von
dieser Grundlage aus als sachgemäß oder unsachgemäß zu bezeich-
nen ist?
Die erste Frage führt uns schließlich ganz an den Anfang zurück
- bis hin zur nicht mehr reduzierbaren Verkündigung. Denken wir
hier an die erste Generation, dann könnte man etwa sagen: Es han-
delt sich um die paulinischen Briefe und das frühe synoptische Tra-
ditionsgut. Aber das ist ja nur eine sehr ungenaue Angabe. Paulus
kann sicll, wenn er beansprucht, als Autorität gehört zu werden, auf
die unmittelbare Offenbarung durch den Kyrios berufen. Zugleich
zeigen aber seine Briefe, daß er auch ältere, vor ihm formulierte Tra-
ditionen weitergibt. So ist er beides: Als Apostel ist er erstes Glied
einer Traditionskette, als Tradent aber zweites Glied. Er ist Zeuge,
dessen Zeugnis nicht-reduzierbare Verkündigung ist; und er ist zu-
16 Kiscmann, Kanon
WILLI MAnsEN [98/99]
Da nun, wie ich meine, der Kanon zu begründen ist, halte ich die
Diskussion über die Grenze (auch die dauernd wiederkehrende Beto-
nung, sie sei prinzipiell fließend) für bestenfalls sekundär, denn die
Differenz der Meinungen kann vielleicht an der Grenze deutlich wer-
den, liegt aber beim Begriff und der Vorstellung vom Kanonischen.
Da man nun unschwer zeigen kann, daß diese Beziehungsbögen
an der sogenannten Kanonsgrenze keineswegs aufhören, möchte ich
behaupten: Die Grenze einer Liste in der Kirche gültiger, zum Ge-
brauch zugelassener Schriften läßt sich theologisch nicht festlegen. Wo
man aufhört (wo man die Kanongrenze alter Art setzt), ist (mit einer
gleich noch zu besprechenden Ausnahme) eine Frage der Zweck-
mäßigkeit, die ihrerseits allein orientiert ist an der Frage, was man
mit einer solchen Liste erreichen will, - und was man mit ihr er-
reichen kann. Damit sind wir aber bei der Frage, was denn kanonisch
inhaltlich bedeutet.
Ich setze ganz innen an. Ich habe zu zeigen versucht, daß die Be-
ziehungsbögen die Offenbarung weiter wirken lassen sollen und wol-
len. Die Legitimität der ersten Beziehungsbögen liegt darin, daß sie
die Offenbarung so hinstellen, daß Gemeinde entsteht. Die Legitimi-
tät der weiteren Bögen liegt darin, daß sie die Sache der ersten Bö-
gen, also die Offenbarung, so weitersagen, daß die Sache in anderer
Umgebung, in späterer Zeit erhalten oder wiederhergestellt wird.
Alle Beziehungsbögen, die das nun sachlich richtig tun (und hier
liegt die Grenze) sind "legitim". Das gilt auch von den sogenannten
nachkanonischen Schriften, I von Predigten Augustins, Luthers und
solchen in der Gegenwart. Ihre "Mächtigkeit" macht diese Be-
ziehungsbögen "legitim", weil sie die Sache der Offenbarung brin-
gen, weil sie die Offenbarung "ereignen". Aufnahme in die Liste ver-
dienen also nicht etwa Schriften, die sich predigen lassen (Diem), die
also zu etwas gebraucht werden können, sondern, die zu etwas ge-
braw:ht worden sind: die sachgemäßen Predigten.
Die sachgemäßen! Das aber kann (abgesehen von ihrer Wirkung,
die nicht alleiniges Kriterium sein kann) nur geprüft werden an der
Korrespondenz (nicht: an der Identität) zu den ersten Beziehungs-
bögen.
Ich betone ausdrücklich: an der Korrespondenz, nicht an der Identi-
tät, denn ich habe den Eindruck, daß manche moderne Kanonskritik
dies übersieht oder durcheinanderwirft. Nicht erheblich ist, welche
Vorstellungen und Begriffe überhaupt benutzt werden (nicht erheb-
lid:t ist: "was geschrieben steht"), sondern es kommt darauf an, was
damit gesagt wird, erreicht werden soll, d. h. es kommt daraui an,
ob der Beziehungsbogen recht gesetzt wird, ob die Begegnung der
Verkündigung mit dem (konkreten) Hörer die red:tte Sache bringt.
246 WILU MARXsEN [102/103]
Alten Kirche als certa fidei et vitae regula et norma, ad quam omnis
alia doctrina, quae de ratione consequendi salutem proponitur, eri-
genda sit atque düudicanda. Buddeus erörtert einzelne Fragen der
Kanonbildung und kommt zu dem Urteil: Totius enim ecclesiae con-
sensu definitum esse, quinam. bibli canonici esse debeant, quinam
non, numquam probari potest. Die Kirche habe daher die kanonische
Autorität nicht gesetzt- das sei vielmehr durch die Inspiration ge-
schehen- aber sie habe sie festgestellt.
Obwohl also in der Orthodoxie Schrift und VVort Gottes auf dem
Grunde der Inspiration identifiziert wurden, wurde gleichwohl nach
dem Schema extemum und intemum, normativa und causativa -
auch nach materia und forma - die Unterscheidung von Schrift und
Wort distinctive nach wie vor markiert und damit zugleich in ihrer Zu-
sammengehörigkeit fixiert. Der Kanon aber wird in seiner Autorität
für sich behandelt. Er gründet zwar in jener General-Autorität des
Heiligen Geistes. Er ruht aber auf einem kirchlichen Votum, und wo
man von Kanon redet, reicht die Beziehung auf jene auetorilas verbi
divini zur Definition nicht aus.
Wir hätten von hier aus zu erwägen, ob die Reduktion der kanoni-
schen Autorität auf die Autorität des Wortes Gottes, wie sie von W.
Marxsen im Vorstehenden vorgenommen wurde, nicht ein "Kurz"-
Schluß ist, der dann die Folge hat, daß der Kanon nun in jedem "Be-
ziehungsbogen" angesetzt werden muß- auch in Predigten Luthers
und Augustins-soweit sie sich an der Erstverkündigung analogice
und nicht identice (S. 149 [ = o. S. 245]) messen lassen können.
111.
Gehen wir von unserer Beobachtung aus, so ist zunächst zu fragen,
ob denn ein Kanon überhaupt notwendig sei. Dies kann nicht geleug-
net werden, weil wir es bei dem Heilsereignis in und durch Jesus von
Nazareth mit einem Ereignis in Raum und Zeit zu tun haben, auf
dessen zeugnisweise Überlieferung wir als Christen nun einmal an-
gewiesen sind. Das Verbum extemum korrespondiert dem actus Dei
in Raum und Zeit. Wie jenes Ereignis Gottes in und durch Jesus von
Nazareth raumzeitlich war, so ist es diese Uberlieferung, die als Zeug-
nis geschieht. Zu dieser Oberlieferung aber gehört auch das Moment
der Abgeschlossenheit, dem die Alte Kirche durch den Charakter der
Apostolizität Ausdruck gab. Wie jenem Heilsereignisse selbst, so eig-
net den Aposteln "Einmaligkeit" in strengem Sinne. Nach dem Tode
der Apostel gab es keine neuen Apostel. Der Apostolizität eignet auch
Geisterfülltheit. Aber hier braucht uns zunächst nur dies Moment
ihrer Unwiederholbarkeit zu interessieren. Es I ist sachgemäß, wenn
[156] Zur Frage der Begründung des neutestamentlichen Kanons 255
W. G. Kümmel sowohl den Kanon selbst wie die Abgeschlossenheit
des Kanons als mit der Eigenart der Offenbarung in Raum und Zeit
gegeben ansieht5 • Es widerspricht offenbar der Stringenz dieser Ein-
maligkeit der Offenbarung, wo der Kanon nicht fixiert und die Ab-
geschlossenheit des Kanons nicht mehr postuliert wird.
Es ist keine Frage, daß dabei die Teile dieses Kanons nicht gleich-
wertig und nicht gleichgewichtig sind. Uns ist die Möglichkeit verlo-
ren, diese Schriften auf eine gemeinsame Basis, wie die Inspiration,
zu beziehen. Aber solche Beziehungen würden wir ja auch wohl gar
nicht wünschen dürfen, denn es soll sich in diesen Schriften um Ober-
lieferung handeln, die uns mit jenem Ereignis zeugnisweise in Ver-
bindung hält. Zeugnisweise bedeutet ja immer auch berichtweise,
denn es geht um jenen Jesus von Nazareth und nicht um geisthaft all-
gemeine Wahrheiten. Zeugnisweise, das bedeutet aber auch in ge-
wiesener Stellvertretung, denn das Ereignis selbst ist nicht zur Aus-
sage gekommen. Also es geht allerdings um einen "Beziehungsbo-
gen" als Zeugnis, d. h. Verweis an Jesus von Nazareth, als Bericht
und als Hinweis auf ihn. Aber dieser "Beziehungsbogen" ist für uns
da als Zeugnisbericht von Menschen, die ihr Verständnis ihrem Zeug-
nis unterlegten, und dies Verständnis ist ja weder gleichwertig
noch gleichgewichtig. Es ist daher sicher richtig, wenn Käsemann die
Variabilität im Kanon stark betont8 • Es ist auch wohl richtig, wenn
auch überspitzt formuliert, daß der Kanon nicht die Einheit der
Kirche, sondern die Vielzahl der Konfessionen begründet7 • Das kann
ja doch nicht anders sein, wenn man diese Schriften als das wertet,
was sie sind, nämlich als zeugnisweise Aussage über jenes Heilser-
eignis, wie Menschen der ersten Generationen sie taten, die verschie-
dener Herkunft und Bildungslage in verschiedenen Situationen und
aus verschiedenem Anlaß ihre Aussagen machten.
Muß nun also oder sollangesichtsdieser Variabilität der Schriften
des Kanons nach einer "sachlich" erhebbaren Einheit gesucht wer-
den? Die Alte Kirche hat, als sie den Kanon nach und nach fixierte,
offenbar nach "äußerlichen" Gesichtspunkten geurteilt, wobei erstens
jene Apostolizität und zweitens dann der kirchliche Gebrauch Grund-
lagen für das Urteil gaben. Sollen wir nach "inneren" Gründen su-
chen? Diese Frage muß gestellt werden, denn was nicht nach "inne-
ren" Gründen entstand, sondern von "innen" gesehen kontingent
IV.
Drei Momente begründen den Kanon: ein kontingentes komplexes
Vielerlei menschlicher Zeugnisberichte, ein geistliches Erfahren in
der I gottesdienstlichen Übung der Kirche und ein kirchliches Ent-
scheiden auf diesem Boden! Das erste ganz äußerliche Moment der
Setzung nach Gesichtspunkten, die wir heute nicht mehr vertreten,
d. h. nach der Apostolizität, hat den Anstoß zur Kanonbildung gege-
ben. Die Auswahl geschah in jenem langen Prozeß der geistlichen Er-
fahrung. Die Fixierung aber war eine "kirchenamtliche" Setzung auf
jenem Boden von Erfahrung. Exegetisch überprüfbar ist hieran jenes
erste Moment als Einleitungsfrage. Jedoch mit der einsichtigen Fest-
stellung, daß jener Apostel- und Apostel-Schüler-Gesichtspunkt so
nicht durchzuhalten ist, wie man im zweiten Jahrhundert meinte, ist
ja gegen den Kanon nicht viel ausgerichtet. Damit fällt der Kanon
nicht. Es haben manche Schriften, wie wir wissen, in diesem "Geruch"
gestanden und sind gleichwohl abgetan. Das Schwergewicht des Ka-
nons liegt fraglos auf dem zweiten und dritten Momente. Diese aber
entziehen sich der exegetischen Beurteilung. Ob an Hand des Phile-
rnon-Briefes das Wort von der Erlösung "wirksam" verkündigt wer-
den könne, das entzieht sich der exegetischen Beurteilung. Zwar kann
und muß man exegetisch fragen, wie der Philernon-Brief im Grund-
zusammenhange der neutestamentlichen Botschaft vom Heil in Chri-
sto steht. Aber das besagt über jene experientia ecclesiastica nicht viel,
denn sie basiert auf dem wiederumkontingentenGeschehen des Gei-
stes bei dem Worte. Das dritte Moment aber ist als kirchliche Ent-
scheidung der exegetischen Uberprüfung entzogen. Diese Entschei-
dung hat den Kanon geschlossen. Sie hat das vollzogen, was implizit
im Anstoße des Ganzen im Apostolischen angelegt war. Die Exegese
wird daher den Kanon hinnehmen müssen, sofern der Exeget als
Glied einer evangelischen Kirche diese Schriften in ausgezeichnetem
kirchlichem Gebrauche fmdet. Jedoch der Exeget wird eine kano-
nische Schrift nicht nach anderen Maßstäben behandeln, als er es mit
außerkanonischen Schriften tut. Wenn er nach jener Autorität so
fragt, wie W. Marxsen das tut, so ist das eine fruchtbare und wohl
auch notwendige Fragestellung, aber wie man sieht, muß tmd kann
11 W. Eiert, Der christliche Glaube, 2. Aufl. 1941, S. 180.
[159/160] Zur Frage der Begründung des neutestamentlichen Kanons 257
17 Käsemann, Kanon
WILFIUED JoEST
• Erstmals veröffentlicht in: Kerygma und Dogma 12, Vanr!enhoeck & Ruprecht,
Göttingen 1966, S. 27-47.
(27/28] Erwägungen zur kanonismen Bedeutung des NI' 259
Gott selbst hat im Werden dieser Schriften wahres Zeugnis von Jesus
als dem Träger seiner Selbsterschließung entstehen lassen; er selbst
gebraucht diese Schriften als Werkzeug, um das wahre Zeugnis seiner
Selbsterschließung in alle Zeiten und Phasen kirchlicher Entwicklung
hinein immer wieder geltend zu machen: rechten Glauben erweckend
und erhaltend, kritisch einredend in die Verfremdungen dieses Glau-
bens in Lehre und Leben der Kirche.
Wir sind uns allerdings im klaren darüber, daß diese Beurteilung
des Vorgangs der Kanonsbildung selbst ein Glaubensurteil ist und den
Charakter eines Bekenntnisses hat, für das sich keine "objektiven"
Begründungen geben lassen. "Objektiv" betrachtet könnte man ja
jene geistliche Wirksamkeit des Neuen Testamentes in der Kirche,
die als Wirksamkeit historisch unbestreitbar ist, als geistliche in Frage
stellen. Jeder Christ kann im Grunde diesem Urteil nur zustimmen
aus seiner eigenen geistlichen Erfahrung mit dem Neuen Testament
und der vom Neuen Testament geleiteten Verkündigung der Kirche.
Dann aber wird die Frage nach dem historisch Ältesten und im
personellen Sinn Apostolischen im Neuen Testament zweitrangig.
(Wird die Bedeutung der Kanonsbildung nur in der historischen Rück-
frage als kirchliche Maßnahme gesehen, so bleibt sie die über die ka-
nonische Bedeutung entscheidende Frage.) Sie wird nicht einfach
gleichgültig, denn das wahre, dem Gottessinn der Sendung Jesu ge-
mäße Christuszeugnis kann als solches nicht im inneren Widerspruch
zu der wirklichen Geschichte des wirklichen Menschen Jesu stehen.
Darum ist es von Bedeutung, daß wir im Neuen Testament auch den
erreichbar ältesten Reflex dieser Geschichte haben und das Spätere
in ihm mit dem Altesten zusammenhalten können. Aber diese Frage
verliert den Charakter einer Grenzangabe für das eigentlich Kano-
nische im Kanon. Als von Gott gewirktes Glaujbensverständnis der
Geschichte Jesu Christi geht das neutestamentliche Christuszeugnis
in den als historisch exakt erweisbaren Momenten der Berichterstat-
tung dieser Geschichte nicht auf. Auch "gemeindetheologische" Bil-
dungen können in ihrem Aussagesinn wahres, von Gott gewirktes
Glaubenszeugnis Jesu und seiner Sendung aussprechen. (Wiederum:
die Frage, ob man postulieren kann, daß alle gemeindetheologischen
Bildungen des Neuen Testamentes dies tun, lassen wir noch offen.)
Geht es hier nicht nur um das Älteste, historisch Exakte, personell
Apostolische als solches, sondern um das durch Gott gewirkte wahre,
exemplarische Glaubenszeugnis, so sind wir von der Vorstellung be-
freit, als kanonisch nur das annehmen zu können, was bestimmten
Ansprüchen an historische Echtheit oder apostolische Verfasserschaft
genügt.
(31/32] Erwägungen zur kanonischen Bedeutung des NT 263
li. Die Frage der Inspiration
Eben das, was wir jetzt behauptet haben: daß im Werden des neu-
testamentlichen Kanons in dem kirchlichen Nachfrage- tmd Feststel-
lungsvorgang zugleich eine besondere Gabe Gottes, in seinem Wirken
als Kanon ein besonderes Wirken Gottes an der Kirche geschah und ge-
schieht, wollte auf ihre Weise die Inspirationslehre der altprotestan-
tischen Orthodoxie zum Ausdruck bringen. Darin liegt ihr berechtig-
ter Sinn. Aber man wird hier unterscheiden müssen: Das kanonische
Wirken des Neuen Testamentes und darüber hinaus der ganzen
Schrift, und damit meinen wir: das erweckend-erhaltend-kritische
Wirken Gottes durch das Werkzeug der Schrift, ist eine geistliche Er-
fahrung der Kirche. Die Inspirationslehre als solche, in der Theologie
des Spätjudentums gebildet, in der christlichen Tradition weiterge-
tragen und im alten Protestantismus zu letzter Schärfe ausgearbeitet,
ist keine geistliche Erfahrung. Sie ist eine theologische Theorie, von
der man vielleicht sagen kann, daß sie zur Erklärung jener geistlichen
Erfahrung gebildet wurde. Theologische Theorien sind unentbehr-
lich, aber nicht unkorrigierbar. Wir haben zu fragen, inwiefern die
Theorie der Inspirationslehre (deren klassische Gestalt wir als be-
kannt voraussetzen dürfen) der Wirklichkeit, die sie umschreiben
sollte, angemessen oder unangemessen ist; in welchem Sinn wir sie
also festhalten sollten und in welchem nicht. Dabei gehört für uns
zur Wirklichkeit der neutestamentlichen Schrift ebenso ihre geistliche
Wirksamkeit, von deren Erfahrung durch die Kirche und den ein-
zelnen Christen wir sprachen, wie andererseits auch die menschliche
Gestalt, die sie dem historischen Betrachter zeigt und die wir als die
von Gott selbst nun einmal akzeptierte Gestalt dieses Werkzeugs auch
unsererseits akzeptieren sollten.
Unter Voraussetzung der vorstehenden Uberlegungen zum theo-
logischen Verständnis der Kanonwerdung erscheint der Begriff der
Inspiration in folgendem Sinn verwendbar:
a) wenn damit gesagt sein soll, daß Gott selbst im Werden der neu-
testamentlichen Schriften wahres, exemplarisches Zeugnis der Sen-
dung Jesu und der Glaubenserkenntnis seiner Selbsterschließung in
Jesus entstehen ließ; I
b) wenn ferner gesagt sein soll, daß Gott selbst im Vorgang der
Sammlung und Herausstellung dieser Schriften als Kanon die Kirche
zur Anerkennung dieses exemplarischen Zeugnisses geführt hat;
c) wenn endlich gesagt sein soll, daß Gott selbst im fVirken dieser
Schriften schon vor ihrer formellen Anerkennung als Kanon und dann
danach erweckend, erhaltend und kritisch am Glauben und Leben
der Kirche und ihrer einzelnen Glieder gehandelt hat; und wenn die
Erwartung ausgedrückt werden soll, daß er dies auch ferner tun wird.
WILFIUBD JoEST [32/33)
daß wir von Voraussetzungen aus, die nicht die der Verfasser waren,
Texte umdeuten.
Es ist klar, daß kritische Forschung unter dieser Fragestellung
kirchlich und theologisch keineswegs belanglos ist. Indem historisch-
kritisch die ursprüngliche Meinung des Textes herausgestellt wird,
kann dies dem Treffen des Wortes Gottes durch das Wort der Schrift
dienen. Die kritische Verdeutlichung seines ursprünglichen Sinnes
kann einen Text zunächst fremd erscheinen lassen; aber gerade so
kann es dazu kommen, daß dieser Text zum Werkzeug der Einrede
Gottes selbst in das eigene oder traditionelle Gedankengefälle wird-
daß er also wirklich in seine "kanonische" Funktion eintritt. Als Bei-
spiel sei an Luthers Entdeckung des genuinen Sinnes von dikaiosyne
theou im Römerbrief erinnert; oder auch an die starke theologische
Wirksamkeit, die von der Wiederentdeckung des Eschatologischen
im Neuen Testament durch die religionsgeschichtliche Schule (und
z. T. gegen deren eigene theologische Intentionen) ausgegangen ist.
Daß diese Wirkung eintritt, ist freilich kein methodisch zu errei-
chendes Forschungsergebnis. Die historische Forschung kann ja immer
nur zeigen, was Menschen, nämlich die biblischen Schriftsteller, da-
mals wirklich sagen wollten und gesagt haben. Daß und was Gott
selbst durch dieses geschichtlich genau gehörte Menschenzeugnis ge-
sagt hat und der Kirche heute zu sagen hat, entzieht sich der wissen-
schaftlichen Feststellung. Diese muß also nicht zum neuen Reden und
Hören des V\'ortes führen, sondern es kann ihren Ergebnissen gegen-
über bei der Befremdung über den ursprünglichen Sinn des Textes
bleiben, oder beim rein historischen Interesse. Unterlassen wir aber
die Frage nach der ursprünglichen Meinung des Textes, so schieben
wir, so viel an uns ist, auch seinem Treffen als Werkzeug des Wortes
Gottes einen Riegel vor. Denn wenn Gott durch dieses Werkzeug re-
det, so doch durch das, was Paulus, Johannes usw. wirklich sageil
wollten- nicht durch das, was wir (auf Grund einer Tradition, diE
ja gerade dem kritischen Wirken der Schriftzeugnisse ausgesetzt wer·
den soll) meinen, daß sie hätten sagen wollen. Es sei zugegeben, daE
auch historische Forschung meinen kann, etwa als die ursprünglichE
Meinung des I Textes festgestellt zu haben, was in Wahrheit aus de1
Meinung des Exegeten darüber stammt, was der Verfasser allein ge·
meinthaben könne. Dann wird solche Forschung unkritisch. Aberdaf
dies faktisch geschehen kann, entbindet nicht von der Feststellung, da{
die kritische Frage nach dem historisch ursprünglichen Sinn der Texte
möglich und theologisch notwendig ist. Abusus non tollit usum.
c) Eine dritte Schicht kritischer Fragestellung kommt in Frage
sofern es sich in den Texten um Berichte über ein Geschehen handelt
im Neuen Testament also vor allem den Evangelien gegenüber. Di~
[40/41] Erwägungen zur kanonischen Bedeutung des NT
18 Käsemann, Kanon
274 W.ILFIUED JoEST [41]
I&•
276 WILFRIED J OEST [42/40]
Einseitigkeit frei: wir bleiben die Menschen unserer Zeit und ihrer
Fragen. Erst recht kann unmittelbare Verkündigung nicht allseitig
reden, sondern muß das Wort, das Christum und zu Christo treibt,
den Hörenden auf ihren geschichtlichen und persönlichen Ort zu-sa-
gen. Dabei muß u. U. einseitig geredet werden, so wie es dem Men-
schen an diesem seinem Ort nötig ist, ohne daß ihm das "Komplemen-
täre" sofort hinzugesagt werden kann. Das ist eine Erfahrung des
Predigers und Seelsorgers. Wer in der Gefahr steht, die Gnade zu
dem Prinzip zu machen, das die Sünde deckt, dem muß das Gericht
gepredigt werden. Wer unter dieses Gerirht gebeugt ist, dem kann
die Gnade verkündigt werden, die das Gerirht aufhebt. Die Zucht-
losen und Ekstatiker müssen zur Ordnung der Gemeinde gerufen
werden, den Gesetzlirhen muß die Freiheit und der Geist gezeigt
werden, ohne den diese Ordnung zum Schema wird. Da das Neue Te-
stament nicht ein Lehrbuch der Dogmatik, sondern der Niederschlag
vielfältiger Verkündigung auf vielfache geschichtliche "Orte" hin ist,
kann es nicht anders sein, als daß in ihm die eine Botschaft die viel-
fache Gestalt situationsbedingter Divergenzen annimmt, und daß
auch das, was wir sachbegründete Paradoxien genannt haben, nicht
immer so erscheint, daß die Sache selbst in beiden Polen gleirhzeitig
(also in einer dialektisch-systematischen Zusammenschau) zur Sprache
kommt. Es kann ein Wort, ein Kapitel, vielleicht ein ganzer biblis~er
Autor einseitig reden - unter Umständen so, daß diesem Autor selbst
das, was hinzugesagt werden muß und an anderer Stelle der neute-
stamentlichen Zeugnisse auch hinzugesagt ist, nicht I reflex gegen-
wärtig ist. Gerade so aber können diese Zeugnisse jenes Werkzeug
des Handeins Gottes an der Kirche werden, die ja ihrerseits nicht ein
einheitliches Auditorium, sondern geschichtliche Bewegung ist, in der
Gemeinden und Einzelne an den mannigfaltigsten "Orten" stehen.
Nur durch ein vielfältiges Zeugnis hindurch können diese Orte er-
reicht werden.
Nach dem Durchgang durch diese Erwägungen versuchen wir ab-
schließend, zu der Bedeutung der Ergebnisse kritischer Forschung
hinsichtlich der theologischen Divergenzen des Neuen Testamentes
Stellung zu nehmen. Auch dies soll wieder in der Form einiger The-
sen geschehen, die weiterer Ausarbeitung bedürfen.
a) Sofern diese Forschung zunächst die theologische Verschieden-
heit neutestamentlicher Verkündigung unterscheidend feststellt,
kommt ihr die große Bedeutung zu, eben auf deren konkreten, situa-
tionsbezogenen Verkündigungscharakter aufmerksam zu machen. In
dem Maße, in dem sich die Theologie dieser theologischen Vielgestal-
tigkeit des Neuen Testamentes aussetzt, kann sie davon zurückgehal-
ten werden, sich konfessionalistisch zu verengen und das lebendige
280 WILFJUED JOEST (46/47)
gehaltenen Vortrag über das "sola scriptura" dargelegt habe, der durch eine Sam-
melverviclfältigung der Akademie der Diözese Rottenburg und der Evangelischen
Akademie Bad Boll "Schrift und Tradition. Ein interkonfessionelles Gespräch" eine
gewisse Publizität erhielt und in der Literatur gelegentlich danach zitiert worden
ist. Die vorliegende Neubearbeitung des Themas tritt an die Stelle der alten Fas-
sung. - Der Rahmen dieser Publikation nötigt dazu, Quellen- und Literaturhin-
weise in bescheidenen Grenzen zu halten und auch auf explizite Auseinanderset-
zung mit anderen Äußerungen zum Thema weitgehend zu verzichten.
[92] "SoJa scriptura" und das Problem der Tradition
(1946), 1252-1350. Vgl. auch: J. Beumer, Die mündliche Oberlieferung als Glau-
bensquelle. Handb. d. Dogmengesch. hg. von M. Schmaus und A. Grillmeier, Bd. I
Fase. 4, 1962.
1 Bezeidmend ist z. B., daß im Vocabularius theologiae von Jolumnes Altenstaig
vom Jahre 1517 das Stichwort traditio fehlt und das Thomas-Lexikon von L. Schütz
sub voce "traditio" im Sinne von "Uberlieferung" neben zwei Stellen, die von der
traditio sacrae Scripturae reden (S. th. 2, II q. 140 a. 2 S. c. gent. IV, 34), nur eine
einzige Stelle verzeichnet, an der bei einer Einzelfrage der Zelebration der Messe
in äußerst behutsamer Weise von dem Argument einer die Schrift ergänzenden
GEIULUU) EBELING [92/93]
18 Ich habe mich darüber ausführlicher geäußert in: Die Geschichtlichkeit der
Kirche und ihrer Verkündigung als theologisches Problem. SgV 207/8, 1954, bes.
31 ff. Wort und Glaube. 19621, 351 ff., 581 ff. Wort Gottes und kirchliche Lehre,
MdKI 13, 1962, 21-28, in: Wort Gottes und Tradition, 1966', S. 155-174. Theo-
logie und Verkündigung (HUTh 1) 1962, 3 ff. Art. Tradition VII. Dogmatisch,
RGG1 VI (1962), 976-984, bes. 979 ff.
[95/96] "SoJa scriptura" und das Problem der Tradition 287
gen1'. Auch wenn man die exegetischen Bedenken gegen dieses geist-
voll biblizistische Konkordanzverfahren zurückstellt, wird man allen-
falls einen so gefüllten Begriff der Überlieferung einmal erläute-1
rungsweise verwenden, doch nicht in der Weise zu einem theologi-
schen Terminus erheben, daß man ihn als Inbegriff des reformato-
rismen "sola scriptura" gegen das römisch-katholische Traditionsver-
ständnis ausspielen könnte. Zu diesem Zweck täte man besser, sich
nüchtern an das nächstliegende Verständnis von "Uberlieferung" zu
halten, um die alleinige Geltung der ursprünglichen Tradition zu be-
tonen: Das Evangelium kommt zu uns aus einer bestimmten, näm-
lim der in Jesus zentrierten Geschichte, so daß um Jesu willen der
neutestamentliche, aber eben darum auch der alttestamentlime
Überlieferungskomplex in Samen des Evangeliums als die ursprüng-
liche Oberlieferung von schlechterdings einzigartiger, durm nichts zu
ersetzender Bedeutung ist. An diese reine, ursprüngliche Überliefe-
rung zu binden, sie nicht mit Fremdem vermismen zu lassen, der
Macht der biblischen Oberlieferung Raum zu geben, sie also der Ge-
genwart zu überliefern, das ist der klare Sinn des "sola scriptura".
Daran schließen sich allerdings Fragen an, die weiterer Erörterung
bedürfen. Warum kommt das Evangelium überhaupt aus der Ge-
schichte, und zwar aus dieser Geschichte zu uns und warum bedarf es
zu seiner Ausrichtung der ausdrücklichen Bezugnahme auf diese Ge-
schichte? Was besagt ferner der Gesichtspunkt der Ursprünglichkeit,
wie ist er näher zu präzisieren und nach welchen Kriterien hat dies zu
geschehen? Und wie vollzieht sich die Weitergabe dieses ursprüng-
limen Zeugnisses, also die Oberlieferung dieser Uberlieferung? Un-
ter welchen Bedingungen wird sietrotzoder gerade durch die Weiter-
gabe rein bewahrt? Wenn es gelingt, das "sola scriptura" an diesen
Problemen zu bewähren, ergibt sich ein Doppeltes: Das "sola scrip-
tura" ist zwar Ausdruck des Kampfes um die wahre Tradition. Abex
der Begriff "Tradition" genügt schwerlich, um das Eigentliche de!
vom "sola scriptura" gemeinten Sachverhalts zu kennzeichnen. MaD
wird freilich zugeben müssen, daß der Begriff "Schrift", isoliert ver-
standen, ebensowenig, ja vielleicht noch weniger den eigentlim ge·
meinten Sachverhalt als ganzen umschreibt. Das "sola scriptura" ha1
nur dann, dann aber tatsäd:ilich einer wie auch immer zu verstehen·
den Zweiheit von Schrift und Tradition gegenüber Recht, wenn e!
dem überlieferungsgeschehen des Evangeliums eindeutig die Rieb·
tung weist, d. h. dazu dient, daß es wirklich zur Oberlieferung de!
Evangeliums kommt und dabei bleibt.
19•
292 [100/101]
stus debuerit doctrinam suam scripto tradere, in bezug auf Christus selbst - soga
unter Berufung auf Pythagoras und Sokrates - von dem Vorrang mündliche
Lehre als dem excellentior modus doctrinae. Aber die hier vorhandenen Ansätz,
werden nicht fruchtbar gemacht für das Verständnis des Evangeliums und ein
Theologie der Verkündigung.
[101/102] "Sola scriptura" und das Problem der Tradition 293
In der Tat: Die Festlegung des Kanons ist ein Werk der nachapo-
stolischen Kirche. Freilich darf man durch ein so pauschales Urteil
nicht die Differenziertheit des Geschehens verdecken, das zur Ent-
stehung des Kanons führte. Neben und vor dem Dekretieren kirch-
licher Instanzen, das namentlich beim Abschluß der Kanonsbildung
im Interesse der Vereinheitlichung und des Ausgleichs zwischen den
Entwicldungen in den verschiedenen Kirchengebieten wirksam war,
handelte es sich in der Hauptsache darum, daß sich der kirchliche Ge-
bramh bestimmter Schriften einfach durchgesetzt hatte und daß die-
ser ihrer unbestrittenen Autorität nachträglich durch die Kanonsidee,
in Entsprechung zum Alten Testament, die Interpretation als "Hei-
lige Schrift" gegeben wurde. Je mehr man sich für die - jetzt nicht
im einzelnen zu erörternde -Vielfalt der I Kanonsgeschichte offen-
hält, verbietet sich beides in gleicher Weise: aus den neutestament-
lichen Schriften selbst Idee und Umfang des Kanons direkt entnehmen
zu wollen sowie aus dem Vorgang der Kanonsbildung ein der Schrift
gegenüber selbständiges Traditionsprinzip zu folgern. Es ist nic:ht nur
tatsächlich so, daß die für kanonisch erklärten neutestamentlichen
Schriften (abgesehen von der Offenbarung Johannis) weder sich selbs1
ausdrücklim als solme ausgeben, noch von sim aus Angaben über ihre
Zusammengehörigkeit und Vollständigkeit machen; es wäre aucb
sinnlos, für das "sola scriptura" einen direkten Schriftbeweis führen
zu wollen, da ein solcher das zu Beweisende, nämlich die kanonischE
Autorität der Schrift, ja schon als anerkannt voraussetzen müßte, um
als Beweis überzeugen zu können. Daß aber der Umfang des Kanom
nicht anders als durch den faktischen Bestand der neutestamentlicheil
Schriften im Kanon selbst erscheint, also nicht als förmlicher Offenba·
rungssatz Bestandteil des Kanons ist; daß ebenso die Statuierung all
Kanon, also die Ausgabe dieser Schriftensammlung als "alleinige1
Regel und Richtschnur" - und eben das besagt doch zunächst das "so·
la scriptura" in seinem üblichen Verständnis- nicht im Kanon selbst
sondern nur in der Bezeichnung als Kanon ausgesprochen wird; da.(
also das Schriftprinzip streng genommen die Schrift als "principiwn'
meint, aber erst als dogmatischer Lehrsatz dies als Prinzip aussprich
- das erlaubt durchaus nicht den Schluß auf eine Insuffizienz de:
Schrift, zu der die Tradition als zweite Offenbarungsquelle hinzutre
ten müsse. Wenn das "sola scriptura", weil durch die Kirche ausge
sprochen, als Widerspruch in sich bezeichnet wird, so wäre gleichfall
der Kanon, weil durch die Kirche dekretiert, ein Widerspruch in sieb
Aber auch umgekehrt wäre es ein Widerspruch in sich, das Urteil de
Kirche, das sich in der Anerkennung der neutestamentlichen Schrif
ten als allein kanonischer ausspricht, als Äußerung eines Traditions
prinzips neben dem Kanon zu verstehen, während in jenem "Urteil
[105/106] "Sola scriptura" und das Problem der Tradition 297
doch gerade die Unterwerfung unter das Urteil der Schrift, die allei-
nige Anerkennung der Schrift als des Kanons zum Ausdruck kommt.
Man kann nur im Widerspruch zu dem, was in der Rezeption der
neutestamentlichen Schriften als Kanon ausdrücklich ausgesprochen
ist, dies als ein Zeugnis gegen das "sola scriptura" ins Feld führen.
Angesichts der Kanonsgeschichte das Argument einer contradictio in
adiecto ins Feld zu führen, ist also ein zweischneidiges Unternehmen
und läßt sich ebenso, wie es von katholischer Seite gegen das "sola
scriptura" vorgebrad:J.t zu werden pflegt, gegen den katholischen Ver-
such geltend mad:J.en, aus dem Vorgang der Kanonsbildung die Be-
hauptung eines besonderen Traditionsprinzips neben der Schrift zu
rechtfertigen. Daran tritt aber mehr in Erscheinung als der bloße Wi-
derspruch der konfessionellen Positionen. Die Problematik, die in der
Exilstenz eines von der Kirche selbst zusammengestellten und prokla-
mierten Kanons neutestamentlicher Schriften unbestreitbar beschlos-
sen liegt, hilft gerade dadurch, daß sie in der gekennzeichneten Weise
aufbricht, zur Klärung des Kanonsverständnisses.
Das Urteil über die Kanonizität der neutestamentlichen Schriften
ist ebensowenig wie das diesen Gesicl:ttspunkt der Kanonizität unter-
streichende "sola scriptura" eine Feststellung über die Schrift extra
usum scripturae. Es verhält sich zur Schrift als die Antwort auf die von
daher zur Spracl:te gekommene Sache. Wie das Bekenntnis nicht das,
zu dem es sich·bekennt, autorisiert, vielmehr dessen als wirksam er-
fahrene Autorität- die altprotestantiscl:te Dogmatik sprach in diesem
Zusammenhang mit Recht von einer auctoritas causativa - aner-
kennt und proklamiert, so ist die Feststellung der Kanonizität und
entsprechend das Urteil "sola scriptura" Bekenntnisäußerung. Sie be-
zieht sich letztlich auf das testimonium spiritus sancti intemum als
die Weise, wie sich die Sache der Schrift Geltung verschafft. Wie die
Schrift nicht zu trennen ist von ihrem Gebrauch, der Verkündigung,
so ist selbstverständlich auch das testimonium spiritus sancti intemum
nicht zu trennen vom Zeugnis der Kirche als dem andauernden Ver-
kündigungsgescl:tehen, in dem die Schrift konkret begegnet. Wenn
man mit der untrennbaren Zusammengehörigkeit von Schrift und
Kirche, Schrift und Tradition dies meint, daß die Schrift nicht isoliert
als Buch existiert, sondern im Verkündigungsgeschehen tradiert wird
als die Schrift, welche "Heilige Schrift" nicht ist, um Schrift zu blei-
ben, sondern um zur Verkündigung zu helfen und als Predigttext die
Verkündigung bei der Sache sein zu lassen, dann brauchte um das
"sola scriptura" kein Streit zu sein. Hebt man aber um der Frage der
Autorität willen auf jene Zusammengehörigkeit von Schrift und
Kirme, Schrift und Tradition ab, so darf das testimonium ecclesiae
nimt als auf sich allein stehend in Betracht kommen, sondern nur als
298 GEl\HARD EBELING [106/107]
Scripturae sive sacra Biblia sint Dei verbum, homine Christiano indigna esL Ut
enim in schola contra negantem principia non disputatur, ita indignum iudicare
debemus, qui audiatur, si quis Christianse religionis principium neget.
11 loh. Gerhard (Loc. theol., Prooemium de natura theologiae 19, ed. Cott. II, 8)
sagt zusammenfassend: principium theologiae supematuralis adaequatum et pro-
prium esse divinam revelationem, quae cum hodie non nisi in sacris literis, h. e. in
propheticis Veteris et apostolicis Novi Testamenti libris descripta exstet, inde scrip-
turn Dei verbum sive quod idem est, Scripturam sacram dicimus esse unicum et
proprium theologiae principium. Ubi tamen observandum, non de essendi, sed de
cognoscendi principio hic agi. Deus est principium et causa theologiae prima,
quippe a quo et finis et media oriuntur, sed principium cognoscendi in theologia
est Dei verbum.
GEI\HAIU) EDELING f108/109]
tung-Kommen des Kanons als Kanon vollzieht sich in erster Linie und
eigentlich durch die Verkündigung an der menschlichen Wirklichkeit,
um derentwillen die Verkündigung und darum auch der Kanon not-
wendig sind. In diesen umfassenden Vorgang klärenden Zur-Ent-
scheidung-Bringens gehört selbstverständlich auch die gegen alle Ar-
ten von Unklarheit und Irrtum angehende Klärung dessen, wie der
Kanon als Kanon zu verstehen und zu gebrauchen ist. Das schließt
aber wiederum mit Notwendigkeit eine innere Kanonskritik in dem
Sinne ein, daß gegen drohende Desorientierung in bezugauf die Ein-
heit des Kanons die Stellung des einzelnen Textes im Kanon kritisch
bedacht wird. Bekannt, aber vielleicht längst nicht bekannt genug,
sind die Weisen, wie Luther der inneren Kanonskritik Raum gegeben
hat: durch Umstellung des Hebräer- und Jakobusbriefs hinter die
johanneischen Briefe und die unbezifferte Aufführung der nun vier
letzten neutestamentlichen Schriften, nämlich Hebräerbrief, Jakobus-
brief, Judasbrief, Offenbarung Johannis, außerhalb der fortlaufen-
den Zählung I der übrigen 23 Bücher des Neuen Testaments315 sowie
durch wertende Urteile, "welches die rechten und edelsten Bücher des
Neuen Testaments sind" 38 , und entsprechende negative Äußerungen
zu anderen neutestamentlichen Schriften37 •
Was sich hier in freilich besonders auffallender Weise vollzieht, ge-
hört grundsätzlich, ob ausdrücklich oder stillschweigend, zu jedem
Umgang mit dem Kanon, wenn er überhaupt als Kanon verstanden
wird. Daß hier die Möglichkeit einer Kanonsrevision auftaucht, ist
grundsätzlich zu bejahen, kann aber nur dann als Einwand gewertet
werden, wenn man die in der Struktur des Kanons liegende Span-
diese Weise zu lesen wissest." WADB 6; 10,6 f. (1522) 11, 6 f. (1546). Die Tatsache
der Beifügung solcher Vorreden ist nichts Neues. Luther folgt - wenn auch der
Samenamin kritismer Orientierung (vgl. WADB 6; 8, 5 = 9, 5)- dem Vorbild
der Vulgata-Vorworte des Hieronymus.
11 WADB 6; 12 f. Sowohl im Neuen Testament deutsch 1522 wie in der Bibel-
ausgabe von 1546.
11 WADB 6; 10, 6-35. Dieser Passus der Vorrede zum Neuen Testament ist von
1534 an fortgelassen. Vgl. jedom die Vorrede zum Römerbrief: WADB 7; 2, 3 f.
(1522) = 3, 3 f. (1546) sowie den Beginn der Vorrede zum Hebräerbrief, WADB 7;
344,2-4 (1522) = 345,2-4 (1546): "Bisher haben wir die rechten gewissen Haupt-
bücher des Neuen Testaments gehabt. Diese vier nachfolgenden aber haben vor-
zeiten ein ander Ansehen gehabt ... "
11 Zum Hehr.: WADB 7; 344, 4-19 (1522) = 345, 4-19 (1546). Zum Jak.- und
Judasbrief: WADB 7; 384 ff. (1522 und 1546). Manbeamte aber, daß es neben der
bekannten Bezeimnung des Jakobusbriefes als "stroherner Epistel" (WADB 6; 10,
33 f. [1522] zugleim beißt: "Diese Epistel S. Jacobi, wiewohl sie von den Alten
verworfen ist, lobe ich und halte sie dom für gut, darum daß sie gar kein Men-
smenlebre setzt und Gottes Gesetz hart treibt." WADB 7; 384, 3-6 (1522) = 585,
3--5 (1546). Zur Offb. Job.: WADB 7; 4()4 (1522), ab 1530 durch eine ganz andere
Vorrede (aaO 406 ff.) ersetzt.
[111/112] nSola scriptura" und das Problem der Tradition
Theologie noch und heute mehr als in den letzten Jahrhunderten kontrovene
Frage ganz offen lassen, ob die Tradition, die nad:l dem Trienter Konzil eine Norm
unseres Glaubens und der kirchlid:len Lehrverkündigung ist, grundsätzUm und ab-
strakt gesprochen eine zur Schrift additiv hinzukommende Quelle materialer Glau-
bensinhalte ist oder nur ein formales Kriterium für die Reinheit des Glaubens,
nad:ldem sich der materiale Inhalt der apostolisd:len Verkündigung in der Sd:lrift
&adilirh adäquat niedergeschlagen hatte, so können wir auf unsere Frage doch ant-
worten: die Heilige Schrift. Der Grund dafür ist einfach. Selbst wenn wir nämlich
annehmen, daß es eine Quelle neben der Schrift gäbe, die uns materiale Glaubens-
inhalte bezeugen würde, die nicht aud:l in der Heiligen Schrift zu finden sind, so
wäre diese Traditionsquelle dod:l faktisch nimt so, daß in ihr nur das von Gott als
rein garantierte Zeugnis der eigentlid:l offenbarungsmäßigen, apostolischen Ober-
lieferung mit menschlicher Oberlieferung unvermisd:lt geblieben wäre." (181)
" ... die Christen stimmen (mindestens im wesentlid:len) darin überein, daß der
Kirche in der Heiligen Schrift die reine (wenn aud:l durmaus gesd:limtlid:le) sd:lrift-
lid:le Objektivation des apostolisd:len Kerygmas gegeben ist ... Und eine sold:le ob-
jektive Norm besitzt die Kirche sonst nid:lt, wenn sie aus dem konkreten Ganzen
ihrer faktisd:len Tradition mit der Gabe der Untend:leidung bestimmen will, was
in dieser Tradition eigentlich Offenbarungstradition ist und was bloß mensd:llid:le
Oberlieferung, die es aud:l von Anfang der Kirche an gegeben hat. Insofern es also
eine objektive norma normans, non normata gibt und diese identisd:l ist mit der
Sd:lrift und mit ihr allein, eine Norm primär für das Glaubensbewußtsein der Ge-
samtkircheund für das kirdilid:le Lehramt und nid:lt für den einzelnen (oder gar
noch für seinen Kampf gegen das autoritativ sid:l durd:l das Lehramt bezeugende
Glaubensbewußtsein der Gesamtkirche), ist dieses ursprünglid:le Offenbarungs-
und Glaubenswort in der Kirche und der Kirche wesentlid:l von jeder späteren theo-
logisd:len Aussage der Kirche und in der Kirche untenchieden ... " (182) Ferner:
Karl Rahner, Ober die Sdniftinspiration. Quaest. disp. 1, 1958. 0. Semmelroth,
Wirkendes Wort. Zur Theologie der Verkündigung. 1962, 33: "Schrift und Ober-
lieferungstehen nimt in gleid:ler Beziehung zum Wort Gottes. lnhaltlid:l enthalten
sie wohl beide Gottes Wort, das von Gott Gesprod:lene. Aber die Heilige Schrift
als inspiriertes Buch ist auch Gottes Wort, sie enthält es nid:lt nur. Denn sie hat
Gott zum Autor, was man von der Oberlieferung nid:lt sagen kann."
20 Käscmann, Kanon
GEl\HARD EDELING [114/115]
" In diese Richtung tendieren die oben S. 113, Anm. 39 zitierten Äußerungen
von K. Rahner.
" Im Tridentinum (Denz. 783) wird mit der Betonung des historisch Einmali-
gen zugleich die bis in die Gegenwart laufende geschichtliche Bewegung des Uber-
lieferns hervorgehoben: ... sine scripto traditionibus, quae ab ipsius Christi ore ab
Apostolis acceptae, aut ab Apostolis Spiritu Sancto dictante quasi per manus tradi-
tae ad nos usque pervenerunL Ferner: ... traditiones ipsas, tum ad fidem, tum ad
mores pertinentes, tanquam oretenus a Christo, vel a Spiritu Sancto dictatas et con-
tinua successione in Ecclesia catholica conservatas ...
47 Das Tridentinum (Denz. 783) hat für "libri scripti" und "sine scripto traditio-
nes" keinen gemeinsamen Oberbegriff. Dasselbe gilt von der Constitutio dogma-
tica de fide catholica, cap. 2 De revelatione, des Vaticanum I. Die Beifügung "De
fontibus revelationis" Denz. 1787 ist Zusatz des Herausgebers. Die Redeweise von
den "zwei Offenbarungsquellen" herrscht vor. Ausneuerer dogmatischer Literatur
vgl. z. B. P. M. Nicolau, S.l., in: Patres S. J. in Hispania professores, Sacrae Theo-
logiae Summa I. Madrid 1955, TracL I n. 57: Tractatus de fontibus revelationem
continentibus, sive de Traditione et Scriptura, est fundamentum pro Theologia
dogmatica ... u. ö. M. Sc:Junaus, Katholische Dogmatik I. 19531, 107: "Die gegen-
ständliche Oberlieferung im engeren Sinne ist eine selbständige der Schrift gleich-
wertige Glaubensquelle." So auch der Kath. Katechismus der Bistümer Deutsch-
lands (1955) Nr. 51: "Nicht alle Wahrheiten, die Gott geoffenbart hat, sind in der
Heiligen Schrift aufgeschrieben. Manche wurden von den Aposteln nur gepredigt
[117/118] "Sola scriptura" und das Problem der Tradition
A Vgl. das Material bei Fr. Kropatsdr.eck, Das Schriftprinzip der lutherischen
KirdJ.e. I. Bd. Die Vorgeschichte. Das Erbe des Mittelalters. 1904. Besonders ein-
drücklich ist eine Formulierung aus der tabontischen Konfession von 1451: Scrip-
tura sacra est fidei regula, ex qua bene intellecta omnis probatio efficax capi debet,
et ad quam omnis controversia in fide et moribus finaliter resolvi debet, tamquam
in primum et universalissimum doctrinae et scientiae fidei principium, praeter
quam nulla alia scriptura ad autoritatem debet suscipi, nec contra illam admit-
tenda est auctoritas ..." aaO 82.
M S. o. S. 95, Anm. 5. In diesem Zusammenhang wird in der Scholastik Augu-
stin, Ep. ad Hier. 82, 1, 3, MPL 53,277 = CSEL 55,554 zitiert: Sollseis Scriptura-
rum libris qui canonici appellantur, didici hunc timorem honoremque deferre, ut
nullum auctorem eorum in scribendo aliquid errasse firmissime credam. Alios au-
tem ita lego, ut, quantalibet sanctitate doctrinaque praepolleant, non ideo verum
putem, quod ipsi ita senserunt vel scripsenmt. Z. B. Thomas, S. th. I q.1 a.S.
11 WAB 1; 171, Nr. 74, 72-74 (Brief an J. Trutfetter v. 9. 5. 1518): ... ex te
primo omnium didici, solis canonicis libris deberi fidem, caeteris omnibus iudi-
cium, ut B. Augustinus, imo Paulus et Johannes praecipiunt. Das entspricht genau
W. Ockham, Dial. p. 411: solum canonibus, qui in Biblia continentur, necesse est
fidem certissimam ad.hibere (Kropatscheck 314). - Zum Problem "Schrift und Tra-
dition" im Nominalismus vgl. jetzt: H. A. Oberman, The Harvest of Medieval
Theology. Gabriel Biel and Late Medieval Nominalism. Cambridge1 Mass. 1963,
361-422.
(121/122] "Sola scriptura" und das Problem der Tradition 313
M WA 7; 95-101.
314 GEBHABD EBI!.LING [122/125]
der treibende Faktor die an der Sache der Schrift selbst orientierte
Autoritätserfahrung war, konnte er es der von außen kommenden
Nötigung überlassen, die grundsätzlichen Folgerungen für die Frage
der Lehrautorität zur Reife zu bringen. Die Besinnung auf das "sola
scriptura" - sogar erst nach der großen Auseinandersetzung mit der
römischen Sakramentslehre in De captivitate babylonica! - hat also
den Charakter einer abschließenden Rechenschaftsablage über Au-
torität und Verantwortung in Theologie und Kirche.
Luther ist sich völlig im klaren darüber, daß die Frage der Schrift-
autorität sich an der Frage der Schriftauslegung entscheidet. Er stellt
sidl sofort dem Einwand, der von daher zu erwarten ist gegen seine
Entschlossenheit, sich keiner Autorität der Kirche ohne Ausweis durch
die Heilige Schrift zu fügen 57 • Man wird den allbekannten, aber nur
von wenigen wirklich verstandenen hermeneutischen Grundsatz ge-
gen ihn geltend machen: Die Heilige Schrift dürfe man nicht nach
eigenem Geist, also nicht so, wie einem selbst der Sinn steht, nicht
nach. eigenem Gutdünken, nicht eigensinnig auslegen58 • Luther, nach
dessen theologischer Grunderkenntnis - in radikaler Uberbietung
sowohl der traditionellen Verurteilung des proprius sensus als der
Wurzel der Häresie als auch des mönchischen Ideals des Verzimts auf
die propria voluntas - die propia iustitia die Ursünde Gott gegen-
über und die Gabe des Evangeliums die iustitia aliena extra nos in
Christo ist59 , hatte zutiefst Verständnis dafür, daß man im Zeichen
des "sola scriptura" zum Häretiker werden kann 80 .l Er läßt sich dar-
um nicht nur diskussionsweise auf den ihm entgegengehaltenen
Grundsatz ein, sondern nimmt ihn mit Entschiedenheit als genau das
in Anspruch, worum es ihm geht, worauf das "sola scriptura" abzielt,
17 96,4-6: me promu nullius quantumlibet sancti patris autor1tate cogi velle,
nisi quatenw iudicio divinae scripturae fuerit probatw ...
11 96, 10 f.: illud omnium ore et calamo usitatum, a paucis tamen intellectum,
quod in Canonibw pontificum docetur: Non esse scripturas sanctas proprio spiritu
interpretandas.
11 WA 56; 157 ff.
• WA 7; 97,36- 98,3. Vgl. z. B. den Schlußpassus in einer Awführung über
die superbia der Häretiker in der enten Psalmenvorlesung (1513/15), der wie eine
frühe Selbstwarnung klingt: lgitur nolle credere et omnia in dubium revocare ac
sie novam doctrinam expectare: haec est gravissima tentatio domini. Cave ergo, o
homo; sed humiliter disce sapere et ne novus author transgrediaris limites, quos
posuerunt patres tui. Sed 'interroga patrem tuum et dicet tibi'. Spiritum enim legis
posuit dew non in Iiteras in papyro positas, in quas heretici con.fidunt, sed in ho-
mines officiis et ministeriis praepositos, ut ex illorum ore requiratur. Alioquin quid
faciliw diabolo-quam seducere eum, qui suw Magister esse nititur in Scripturis
reiecto hominis ministerio? Unum verbum male intellectum in tota Scriptura con-
fwionem facere potest. WA 3, 578,38-579,7. Den letzten Satz hat Luther unter-
strichen. Vgl. U. Mauser, Der Häresiebegriff des jungen Luther (Diss. Tübingen},
1957.
[123/124] "Sola scriptura" und das Problem der Tradition 315
was also gegen das herrschende kirdillehe Verständnis von der Schrift-
auslegung geltend zu machen ist. Die Weise, wie in der kirchlichen
Tradition der Grundsatz "non esse scripturas sanctas proprio spiritu
interpretandas" gehandhabt worden ist, hat die entgegengesetzte
Wirkung gezeitigt. Man suchte der Gefahr zu wehren durch Siche-
rung von außen, d. h. durch Aufhäufung von Auslegungsmeinungen,
die das eigentliche Interesse vom Text fort auf sich zogen, sowie durch
die Lehre von dem mit Unfehlbarkeit ausgestatteten Ietztinstanz-
lichen Schriftauslegungsrecht des römischen Bischofs11 • Inwiefern ent-
geht man aber der Gefahr des proprius spiritus, wenn man etwa der
Autorität Augustins folgt und dann doch Gefahr läuft, die Schrift
nach dem proprius spiritus Augustins zu deuten, sofern man nicht
umgekehrt Augustinder Heiligen Schrift gemäß versteht82 ? Und wie
schützt man sich wiederum davor, etwa nach eigenem Sinn Augustin
zu interpretieren? Wenn die Richtigkeit der Auslegung durch die
Auslegung eines anderen garantiert werden soll, so bedarf es wie-
derum für diesen eines das Verständnis sicher stellenden Interpreten
und so fort in infinitumes.
Jene Weisung, die Schrift dürfe nicht proprio spiritu verstanden
werden, ist offensichtlich mißverstanden, wenn sie zur Folge hat,
daß man sich statt an den Text der Heiligen Schrift an menschliche
Kommentare hält und sich immer weiter vom Umgang mit dem Text
selbst entfernt. Ihr Sinn ist vom Positiven her zu bestimmen: Die Hei-
lige Schrift ist allein durch den Geist zu verstehen, durch den sie ge-
schrieben ist und den man nirgends gegenwärtiger und lebendiger
antrifft als in dem biblischen Text selbst84 • Je größer die Gefahr ist,
die Schrift proprio spiritu I zu verstehen, desto mehr muß man sich
von allen menschlichen Schriften fort allein der Heiligen Schrift zu-
wenden85. Denn allein dort ist der Geist zu schöpfen, der über alle
heidnischen wie christlichen Schriften zu urteilen instand setzt88 • Ar-
gumente, die gewöhnlich zugunsten der hermeneutischen Funktion
autoritativer Auslegungstradition gebraucht werden, nämlich daß
die heilige katholische Kirche mit demselben Geist des Glaubens aus-
gestattet sei wie einst an ihrem Anfang und daß man sich auf dem
Felde der Auslegung einer Strittigkeit der Meinungen ausgesetzt
sieht, führt Luther gerade als Gründe für Recht und Notwendigkeit
des Studiums der Heiligen Schrift selbst an87 .
Denn die Schrift legt sich selbst aus, d. h. sie spricht für sich selbst.
Sie bedarf nicht erst, weil selbst unklar, schwierig und verschlossen,
einer anderswo zu suchenden Verstehensquelle, um in sie hinein Licht
und Verstehen zu bringen. Vielmehr ist sie selbst von einer Verstehen
eröffnenden Verständlichkeit, erleuchtenden Klarheit, gewißmachen-
den Gewißheit, und zwar in dem Maße, daß sie schlechterdings alles
ans Licht bringt68 • An Stellen des 119. Psalms zeigt Luther auf, daß
in Hinsicht auf die Heilige Schrift die eigentliche hermeneutisme Be-
wegung nicht dem Bemühen entspringt, der Schwäme und Dunkel-
heit des Textes zu Hilfe zu kommen, sondern von der erhellenden und
überwältigenden Macht der Sache der Heiligen Schrift, des Wortes
Gottes, selbst ausgeht89 • Ist die Sache der Heiligen Schrift das Wort
Gottes, dann ist die Heilige Schrift letztlich nicht das zu Erhellende,
vielmehr selbst Quelle der Erleuchtung. Damit ist nicht behauptet,
die Schrift werde jedem ohne weiteres zur Quelle der Erleuchtung,
während sie doch im Gegenteil vielen zum Anlaß um so größerer
Blindheit wird70 • Es ist auch nicht gemeint, die Schrift sei in trivia-
lem Sinne so selbstverständlich klar, daß nicht die Bemühung um ihr
Verständnis Sache harter, hingebungsvoller Arbeit I sei71 • Dom will
die Auslegung der Schrift als das Sicheinlassen auf den Vollzug ihrer
Selbstauslegung und als das Oberwundenwerden des Geistes des Aus-
legers durch den Geist der Schrift verstanden sein72. Daß die Schrift
sui ipsius interpres ist, bedeutet nicht die Proklamation der Oberflüs-
sigkeit von Auslegung überhaupt, sondern stellt die Grundanweisung
zu samgemäßer Auslegung dar, expliziert also den hermeneutischen
Sinn des "sola scriptura".
Es handelt sim zunächst zwar um eine scheinbar rein formale und
dere, sicut licuit primitivae Ecclesiae? ... Oportet ... scriptura iudice hic senten-
tiam ferre, quod fieri non potest, nisi scripturae dederimus principem locum in
omnibus, quae tribuuntur patribus ...
• 97, 23-24: ... ut sit ipsa per sese certissima, facillima, apertissima, sui ipsius
interpres, omnium omnia probans, iudicans et illuminans ...
• 97, 24--35. Luther bezieht sich auf Ps 119, 130 und 160: illuminatio und
intelleetos werde zuteil per sola verba dei, tanquam per ... principium ... pri-
mum, a quo incipi oporteat, ingressurum ad lucem et intellectum. Man muß also
die Worte Gottes als principium primum gebrauchen pro omnium verbarum iudi-
cio. Darum ruft der Psalm zurück ad fontem und lehrt: primum et solum verbis
dei studendum esse, spiritum autem sua sponte venturum et nostrum expulsurum,
ut sine periculo theologissemus.
70 97,36--98,3.
71 Vgl. 97, 5 f. 34 f. 99, 1 und 100, 18-24: ... ut quemadmodum :psi [sc. sancti
viri et Ecclesiarum patres] in verbo dei pro suo tempore laboravenmt, ita et nos
pro nostro saeculo in eodem Iaboremus ... Satis est e patribus didicisse studium
et diligentiam in scripturis laborandi .. .
71 97,34 f., s. 0. s. 124, Anm. 69.
[125/126] "Sola scriptura" und das Problem der Tradition 517
Schrift "De servo arbitrio" als Lehre von der doppelten Klarheit der
Sduift weiter entfaltet78 • Gegen die mit der Scholastik im Grunde
einige Auffassung des Erasmus, daß die Schrift zum Teil dunkel seF7,
so daß man sich letztlich den Lehrentscheidungen der Kirche, auch
ohne Verstehen, unterwerfen müsse78, setzt Luther als sein "primum
principium" 79 die Klarheit der Schrift, die, trotzDunkelheiteinzelner
Worte, die Klarheit der Sache der Schrift ist80 , und zwar in der dop-
pelten Hinsicht: die "äußere Klarheit" des verbum extemum der
öffentlichen Verkündigung und die "innere Klarheit" der Erleuch-
tung des Herzens durch den Heiligen Geist81 • Ohne jetzt in die Ein-
zelinterpretation eintreten zu können, sei abschließend das "sola scrip-
tura" als Inbegriff des reformatorischen I Verständnisses in Antithese
zur katholischen Position folgendermaßen umrissen:
Die Differenz zwischen dem reformatorischen "sola scriptura" und
der katholischen Parole "Schrift und Tradition" macht das Gemein-
same, nämlich die Offenbarungsautorität der Schrift und das heißt:
ihre soteriologische Relevanz, also den Bezug der Schrift zur Gegen-
wart strittig. Weil bei dem Verständnis der Schrift als "Heiliger"
Schrift und dementsprechend als Kanon dieser Gegenwartsbezug zur
Sache selbst gehört, ja, streng genommen, die Sache selbst ist, um die
es in der Schrift geht, ist in dem Gegensatz von "sola scriptura" und
"Schrift und Tradition" die Sache der Schrift strittig. Diese Strittigkeit
der Sache der Schrift konzentriert sich darauf, ob es, zugespitzt formu-
liert, "Sache" der Schrift selbst ist, die Sache der Schrift zur Geltung
.,. WA 18, 606,1-609,14; 653,13-35 (1525). Vgl. dazu R. Hermann, Von der
Klarheit der Heiligen Schrift. Untersuchungen und Erörterungen über Luthers
Lehre von der Schrift in De servo arbitrio. 1958.
77 606,16-21; 653,31-33. ?8 603,6-8.
11 653,28-35: Nam id oportet apud Christianos esse imprimis ratum atque fir-
missimum, Scripturas sanctas esse lucem spiritualem, ipso sole Ionge clariorem,
praesertim in üs quae pertinent ad salutem vel necessitatem ... illud ipsum pri-
mum principium nostrum ...
81 606,22-39: ... Tolle Christum e scripturis, quid amplius in illis invenies?
Res igitur in scripturis contentae omnes sunt proditae, licet quaedam loca adhuc
verbis incognitis obscura sint ... Eadem vero res, manifestissime toti mundo decla-
rata, dicitur in scripturis tum verbis claris, tum adhuc latet verbis obscuris ...
81 609,~14: Duplex est claritas scripturae, sicut et duplex obscuritas, una ex-
terna in verbi ministerio posita, altera in cordis cognitione sita . . . 653,13-28:
. . . duplici iudicio spiritus esse explorandos seu probandos. Uno interiori, quod
per spiritum sanctum vel donum Dei singulare, quilibet pro se suaque solius salute
illustratus certissime iudicat et discernit omnium dogmata et sensus ... Haec ad
fidem pertinet et necessario est cuilibet etiam privato Christiano ... altenun est
iudicium extemum, quo non modo pro nobis ipsis, sed et pro allis et propter alio-
rum salutem certissime iudicamus spiritus et dogmata omnium. Hoc iudicium est
publici ministerii in verbo et officü externi et maxime pertinet ad duces et prae-
cones verbi ...
[127/128] "Sola scriptura" und das Problem der Tradition 519
halb der Schrift gegeben. Darum ist von daher die Auslegung der
Schrift letztlich normiert; zugleich aber auch relativiert, weil das, was
die Kirche zur Gnadenwirklichkeit macht, gar nicht, jedenfalls nicht
allein, von der Schriftauslegung, weil nicht vom Wort der Verkündi-
gung, abhängig und zu erwarten ist. Deshalb entzieht sich die Ausle-
gung der Schrift, wie großer Spielraum ihr auch bleiben mag, letzt-
lich der hermeneutischen VerantwortungS'. Oder anders formuliert:
die letzte hermeneutische Verantiwartung besteht in der grundsätz-
lichen Anerkennung des Rechtes eines nur im lauda.biliter se sub-
iicere nachvollziehbaren Auslegungsanspruchs.
Wenn dem das "sola scriptura" entgegengestellt wird, dürfen die
Probleme nicht verdrängt werden, auf die einzugehen, wie es scheint,
die Stärke der katholischen Position ist. Das "sola scriptura" wird sich
vielmehr daran bewähren müssen, daß es ebenfalls auf jene Probleme
eingeht, und zwar, auf den theologischen Gesamtzusammenhang ge-
sehen, überzeugender, als dies in der katholischen Konzeption trotz
deren faszinierender Geschlossenheit der Fall ist.
sdlen regula fidei pro:rima und regula fidei remota zu erinnern. Sie deckt sich frei-
lich nicht einfach mit dem oben Gesagten, da, jedenfalls in der traditionellen Lehr-
form, zwischen Tradition und kirchlichem Lehramt unterschieden wird und somit
Schrift und Tradition als die beiden Offenbarungsquellen die regula fidei remota
1ind im Untenchied zum kirchlichen Lehramt als der regula fidei proxima. Der
locus classicus für diese Zueinanderordnung ist Vat. I Const. dogm. de fide cath.
cap. 5 (Denz. 1792): ... fide divina et catholica ea omnia credenda sunt, quae in
verbo Dei scripto vel tradito continentur et ab Ecclesia sive solemni iudicio sive
ordinario et univenali magisterio tanquam divinitus revelata credenda proponun-
tur. Vgl z. B.l. Salaverri, De ecclesia Christi. In: Patres S. J. in Hispania profes-
sores, Sacrae Theologiae Summa, Vol. I (Madrid 1955) Tract. II, n. 780 f. S. auch
nächste Anm.
u Man möchte ergänzend hinzufügen: des Einzelnen. Aber lassen sich Verant-
wortung und Gewissen voneinander trennen? Man verzerre darum nicht das Pro-
blem, indem man die Suspendierung der hermeneutischen Verantwortung der
"subjektiven Willkür des Einzelnen" konfrontiert. Im übrigen vergegenwärtige
man sich das Problem noch einmal an der Formulierung in der Enzyklika "Hu-
mani generis", AAS 42, 1950, 567-569: ... hoc sacrum Magisterium, in rebus fidei
et morum, cuilibet theologo proxima et univenalis veritatis norma esse debet, ut-
pote cui Christus Dominus totum depositum fidei - Sacras nempe Litteras ac divi-
nam ,traditionem' - et custodiendum et tuendum et interpretandum concredidit
... Verum quoque est, theologis semper redeundum esse ad divinae revelationis
fontes: eorum enim est iudicare qua ratione ea quae a vivo Magisterio docentur, in
Sacris Litteris et in divina ,traditione', ,sive explicite, sive i.mplicite inveniantur'
... Una enim cum sacris eiusmodi fontibus Deus Ecclesiae suae Magisterium vi-
vum dedit, ad ea quoque illustranda et enucleanda, quae in fidei deposito nonnisi
obscure ac velut i.mplicite continentur. Quod quidem depositum nec singulis christi-
fidelibus nec ipsis theologis divinus Redemptor concredidit authentice interpretan-
dum, sed soli Ecclesiae Magisterio. Die so verwandte, im Druck von mir hervorge-
hobene Particula exclusiva ist die genau antithetische Entsprechung zum "sola
scriptura".
[129/130] "Sola scriptura" und das Problem der Tradition 321
So kann die Beziehung von Schrift und Kirche in dem Sinne selbst-
verständlich nicht bestritten werden, daß die Sache der Schrift nirht
etwa durch "bloße Schrift", vielmehr eigentlirh durch das mündlirhe
Wort der Verkündigung weitergegeben wird, also auf Kirche zielt
und durch Kirche bezeugt wird. Wie wir srhon sahen, ist gerade das
"sola scriptura" nur recht verstanden in Ausrichtung auf das "solo
verbo" des Verkündigungsgeschehens88, zu dem im reformatorischen
Verständnis die Sakramente als in bestimmter Weise Situation
schaffendes Wortgeschehen hinzugehören.
Auch in der Hinsicht steht die Relation von Schrift und Kirrhe zwei-
fellos in Kraft, daß die Tradierung der Sarhe der Heiligen Scluift sirh
nicht in Konservierung der Vergangenheit oder im Rückzug ins ver-
meintlirh Zeitlose vollzieht, sondern in einem sprarhlirhen Wandel,
den man nicht etwa als rein formalen vom Sachproblem selbst trennen
kann. Nun drängt sich aber gerade vom "sola scriptura" her, viel
schärfer als vom katholischen Ansatz aus, die Relevanz des Problems
der Auslegung für das Problem der Geschichtlichkeit der Kirche auf87.
Und auch das darf man nicht übersehen, daß zum Auslegungsge-
schehen allerdings die Frage nach Instanz und Norm gehört. Ausle-
gung kann nicht sein, ohne daß der Text sein Gegenüber erhält, und
zwar nicht ein beliebiges, sondern dasjenige, für das der Text be-
stimmt ist, also den Adressaten, der für das Einverständnis mit dem
Text als Erfüllung von dessen Sprachwillen eigentlich zuständig ist.
Und ebensowenig kann Auslegung sein ohne Kriterium, an dem sirh
unsachgemäße von sachgemäßer Auslegung scheiden läßt. Nun geht
in der Tat das reformatorisch verstandene "sola scriptura" auf beide
Fragen entschieden ein, wie Luthers Lehre von der Klarheit der
Schrift zeigt, nämlich so, daß, ent!sprechend der doppelten Klarheit,
die auf ihren Zusammenhang zu bedenkende Zweiheit von öffent-
lichem ministerium verbisowie dem Forum des Gewissens die Rirh-
tung weist für Beantwortung der Frage nach der Auslegungsinstanz88
und Christus als die eigentliche Sache der Schrift die Auslegungsnorm
ist- eine Auskunft, deren innere Einheit daraus ersichtlich ist, daß
in den gegebenen Hinweisen das "solo verbo", "sola fide" und "solus
Christus" anklingt.
Während also nach katholischem Verständnis die Sache der Schrift
die Kirche als präsente Gnadenwirklichkeit ist und deshalb nur sehr
bedingt in der Schrift enthalten und zu suchen ist, weswegen
.. s. o. s. 99 ff.
87 Vgl. meine Veröffentlichungen: Kirchengeschichte als Geschichte der Ausle-
gung der Heiligen Schrift. SgV 189, 1947, in: Wort Gottes und Tradition, 1966',
S. 9-27. Die Geschichtlichkeit der Kirche und ihrer Verkündigung als theologi-
sches Problem. SgV 207/8, 1954, bes. 81 ff. 18 S. o. S. 126, Anm. 81.
21 Käsemann, Kanon
322 GEI\HAlU) EBELING [130/131]
eben die Schrift nur in der Zusammenordnung von "Schrift und Tra-
dition" bzw. "Schrift und Kirche" zur Klarheit kommt, ist nach refor-
matoriscl:tem Verständnis Jesus Christus die Sache der Schrift81 • Aus
diesem Verständnis der Sache der Schrift ergibt sich notwendig das
"sola scriptura". Denn Christus ist allein in der Schrift zu finden. Das
steht nicht etwa in Konkurrenz zu seiner Gegenwart im Wort der
Verkündigung, in den Sakramenten, in der Kirche. Vielmehr gehört
beides unauflöslich zusammen, aber wohlgemerkt in dem unumkehr-
baren Richtungssinn, daß allein der in der Schrift bezeugte Christus
der gegenwärtige ist und daß die Weise seiner Gegenwart allein das
Wort ist, welches allein auf Glauben aus ist, daß also Christus als
verbum promissionis und darum als verbum fidei die Sache der Schrift
ist. Um dieser dem Wesen Christi entsprechenden Weise seiner Ge-
genwart im Wortwillen ist und bleibt die Kirche allein auf die Schrift
angewiesen als auf die Quelle90 , aus der stets neu die gegenwärltige
Verkündigung des Wortes Gottes geschöpft werden muß und kann.
Hier erweist sich also das "sola scriptura" in engster Verflechtung mit
dem reformatorischen Grundverständnis des Evangeliums. Weil al-
lein der Glaube rechtfertigt und der Glaube den im Wort der Ver-
heißung präsenten Christus ergreift91 , ist um der Reinheit des Evan-
1t S.o. S. 126,Anm.80. WATR 2; 439, 25!. (Nr. 2383): Christus est punctus ma·
thematicus sacrae scripturae. Zur christologischen Orientierung von Luthers Exe-
gese in der Friihzeit vgl. E. Vogehang, Die Anfänge von Luthers Christologie nach
der ersten Psal.menvorlesung. AKG 15, 1929, und meine Aufsätze: Die Anfänge
von Luthers Hermeneutik, ZThK 48, 1951, 172-230, bes. 219 ff.; Luthers Psalter-
druck vom Jahre 1513, ZThK 50, 1953, 43--99, bes. 80 ff. Daran, daß Christus die
Sache der Schrift ist, entscheidet sich die Frage nach der Einheit und nach der Ver-
ständlichkeit der Sduif't. S. dazu schon in der ersten Psalmenvorlesung (1513/15),
WA 3; 556,35--37: ... omnia verba dei sunt unum, simplex, idem, verum, quia ad
unum omnia tendunt, quantumvis multa sint. Et omnia verba, quaein unum ten-
dunt, unum verbum sunt. WA 4; 439,20 f.: ... in Christo omnia verba sunt unum
verbum, et extra Christum sunt plurima et vana ...
11 Unser vom Historismus bestimmtes Denken versteht unter "Quellen" das-
jenige, was die Vergangenheit als solche ersd:tließt und in sie zurückführt. Vgl.
z. B. die Definition von J. G. Droysen, Historik. 19581, 37: " ... was die Rückschau
früherer Zeiten in ihre Vergangenheit, die aufgezeichnete Vorstellung oder Erin-
nerung über dieselbe bietet, nennen wir Quellen." Der ursprüngliche Sinn - nicht
etwa nur in theologischer Verwendung- meint die die Gegenwart erschließende
Eröffnung "der ursprünglichen, unentstellten Wahrheit", "das Hervorquellen des
reinen und frischen Wassers aus einer unsichtbaren Tiefe" (Gadmner [s. o. S. 96,
Anm. 11] 474). Ober der Differenz des Interesses darf das Gemeinsame nicht über-
sehen werden: der unbedingte Vorrang der Quellen vor dem daraus Abgeleiteten.
"In der Quelle strömt immer frisches Wasser nach, und so ist es auch mit den wah-
ren geistigen Quellen in der Oberlieferung. Ihr Studium ist gerade deshalb so loh-
nend, weil sie immer noch etwas anderes hergeben, als was man bisher aus ihnen
entnommen haL" (Gadmner 474).
11 WA 6; 516, 30-32 (1520): Neque enim deus ... aliter cum hominibus unquam
[131/132] "Sola scriptura" und das Problem der Tradition
egit aut agit quam verbo promissionis. Rursus, nec nos cum deo unquam agere ali-
ter possumus quam fide in verbum promissionis eius. Die Betonung dieser funda-
mentalen Relation von verbum und fides steht im Zusammenhang der Auseinan-
dersetzung mit der römischen Meßauffassung. WA 6; 515, 27-29: Ex quibus vides
ad Missam digne habendam aliud nihil requiri quam fidem, quae huic promissioni
fideliter nitatur, Christum in his suis verbis veracem credat et sibi haec immensa
bona esse donata non dubitet.
11 WADB 7; 084,22-086,2 (1522) = 085,22-087,2 (1546): "Denn das Amt eines
rechten Apostels ist, daß er von Christus Leiden und Anfechtung und Amt predige
und lege desselbigen Glaubens Grund ... Und darin stimmen alle rechtschaffenen
Bücher überein, daß sie allesamt Christum predigen und treiben. Auch ist das der
rechte Prüfstein, alle Bücher zu tadeln, wenn man sieht, ob sie Christum treiben
oder nicht, sintemal alle Schrift Christum zeigt ... Was Christum nicht lehret, das
ist noch nicht apostolisch, wenns gleich S. Petrus oder Paulus lehret. Wiederum,
was Christum prediget, das wäre apostolisch, wenns gleich Judas, Hannas, Pilatus
und Herodes täte. Aber dieser Jacobus tut nicht mehr, denn treibt zu dem Gesetz
und seinen Werken ... "
11 WA 39, 1; 47, o f. 19 f. (1505): Scriptura est non contra, sed pro Christo intel-
ligenda, ideo vel ad eum referenda, vel pro vera Scriptura non habenda ... Quod
si adversarii scripturam urserint contra Christum, urgemus Christum contra scrip-
turam.
" WA 6; 560,00-561,2 (1520): Ecclesia enim nascitur verbo promissionis per
21°
324 GEl\H.AlU) EBELING [132/133]
dient das "sola scriptura" dazu, daß Christus von der Kirche als deren
Haupt unterschieden bleibt und die Kirche dem Geschehen ausge-
setzt und auf es angewiesen bleibt, das Kirche zur Kirche macht.
Allerdings ergeben sich daraus erregende ekklesiologische Konse-
quenzen. Zusammen mit der juridisch-institutionellen Feststeilbarkeit
unfehlbarer Auslegung entfällt die unzweideutige Darstellbarkeil der
Einheit der Kirche. Aber die Vorstellung einer dadurch erzeugten Un-
gewißheit in bezugauf das Wort Gottes verkennt die radikale Ver-
schiebung im Verständnis der Sache des christlichen Glaubens. Ge-
rade dem "sola scriptura" korrespondiert die Gewißheit des Glaubens,
die an dem die Gewissen gewiß machenden Wort des Evangeliums
haftet85 • Wo es um den Glauben geht, kann sich der Mensch die Frage
der Gewißheit durch keine andere Instanz abnehmen lassen; viel-
mehr ist der Glaube das Gewißwerden des Menschen selbst durch
Christus vor Gott". Weil es um ein anderes Verständnis der Sache
der Schrift geht, handelt es sich im "sola scriptura" auch um ein an-
deres Verständnis von Gewißheit, als es bei der katholischen Lehre
von "Schrift und Tradition" im Blick ist: nicht I um die Entsdlieden-
heit eines kirchlichen Dekrets, sondern um die Entschiedenheit des
Christusglaubens selbst.
Die Formel "Schrift und Tradition" gilt eigentlich der Begründung
und Betätigung des kirdilidlen Lehramts87 • Für den einzelnen Glau-
benden ist sie letztlich nur als Einweisung in die sakramentale Gna-
denwirklichkeit der Kirche bestimmend98 und bringt darum auch bloß
fidem, eodemque alitur et servatur, hoc est, ipsa per promissiones dei constituitur,
non promissio dei per ipsam. Verbumdei enim supra Ecclesiam est incomparabili-
ter, in quo nihil statuere, ordinare, facere, sed tantum statui, ordinari, fieri habet
tanquam creatura. Quis enim suum parentem gignit? quis suum autorem prior
constituit?
• Vgl. die enge Verbindung der Lehre von der claritas scripturae mit dem as-
sertio- und certitudo-Charakter des Glaubens in der Einleitung von De servo arbi-
trio, WA 18; 603, 1 ff. (1525) 603, 28 f.: Tolle assertiones, et Christianismum tulisti.
604, 33: Quid enim incertitudine miserius? 605, 32--34: Spiritus sanctusnon est
Scepticus, nec dubia aut opiniones in cordibus nostris scripsit, sed assertiones ipsa
vita et omni experientia certiores et firmiores.
N Unübertrefflich formuliert am Beginn der lnvocavit-Predigten 1522, WA 10,
3; 1,6-2,2: "Wir sind allesamt zu dem Tod gefordert und wird keiner für den an-
dem sterben, sondern ein jeglicher in eigener Person für sich mit dem Tod kämp-
fen. In die Ohren könnten wir wohl schreien. Aber ein jeglicher muß für sich selber
geschickt sein in der Zeit des Todes: Ich werde dann nicht bei dir sein noch du bei
mir. Hierin so muß ein jedermann selber die Hauptstücke, so einen Christen be-
langen, wohl wissen und gerüstet sein ... "
' 7 s. o. s. 128, Anm. 85.
88 Mir ist die veränderte lehramtliche Stellung zum Bibellesen der Laien und
die katholische Bibelbewegung sehr wohl vor Augen. Dadurch wird die Vielschich-
tigkeit des konfessionellen Sachverhalts unterstrichen. Oberflächliche protestan-
[133/134] "Sola scriptura" und das Problem der Tradition 325
101 Vgl. Wort und Glaube (s.o. S. 119, Anm. 51), 322 Anm. 7.
GEI\HAIU) EBELING [136/137]
Theologie als solche ausgespielt werden, sei es, daß man, formalisie-
rend, einem exegetisch am biblismen Einzeltext orientierten Vorge-
hen den unbedingten Vorzug vor systematischer Darstellungsweise
gibt, sei es, daß man, biblizistisch, die Aufgabe der Theologie über-
haupt in der Aneignung biblischer Ausdrucksweise sich ersmöpfen
läßt. In beiden Fällen liefe es gerade auf eine Verkennung der her-
meneutischen Aufgabe hinaus, der weder durch zerstückelnde Isolie-
rung nom durch Harmonisierung der biblischen Texte geremt zu wer-
den ist. In der reformatorischen Exegese selbst lag noch ungeschieden
als ein einziger hermeneutischer Vorgang beisammen, was später
nicht in bloß äußere Verschiedenheit der Verfahrensweisen (exege-
tisch- systematisch), sondern in spannungsvolle Konkurrenz der Fra-
gehinsichten (historisch - dogmatisch) auseinandertrat. Der altpro-
testantischen Theologie ist nicht zum Vorwurf zu machen, im Gegen-
teil grundsätzlich als Verdienst anzurechnen, daß sie auf der Basis des
reformatorischen "sola scriptura" am Aufbau dogmatischer Theolo-
gie arbeitete. Fraglich - wenn auch historisch verständlich und in je-
ner geistes- und konfessionsgeschichtlichen Situation unvermeidbar
- mußte es jedoch sein, den Gesichtspunkt des "sola scriptura" und
entsprechend aum das reformatorische Grundverständnis vom Wesen
des christlichen Glaubens korrigierend in eine letztlich, wenn aum
verborgen, vom Gesichtspunkt "Schrift und Tradition" und von dem
entsprechenden katholischen Verständnis der Sache des christlichen
Glaubens bestimmte dogmatische Gesamtkonzeption11M einzuarbei-
ten, statt von Grund auf das Problem einer Dogmatik, wie es sich vom
reformatorischen "sola scriptura" her stellte, in Angriff zu nehmen. I
Die Revolutionierung protestantischer Theologie, wie sie, das Zeit-
alter der altprotestantischen Orthodoxie beendend, mit Pietismus und
Aufklärung einsetzte, schöpfte, so vielfältig die hier einwirkenden ge-
schichtlichen Kräfte auch waren, die theologische Legitimation aus
dem "sola scriptura". Was die Vielgestaltigkeit des Protestantismus
als Gemeinsames verbindet, ist, sofern man von der geschichtlichen
Herkunft und der Antithetik gegen Rom als gestaltenden Faktoren
einmal absieht, weniger ein bestimmter dogmatischer Lehrgehalt als
das im Prinzip durchweg festgehaltene, wenn auch sehr verschieden
verstandene und gehandhabte, auf den Zusammenhang mit der re-
1" Der behauptete Zusammenhang zwischen der traditionellen dogmatischen
Gesamtkonzeption und den - sagen wir einmal abgekürzt - katholischen Prinzi-
pien der Dogmatik, wie sie, bei umfassender Interpretation, in der Formel "Schrüt
und Tradition" enthalten sind, bedürfte freilich noch gründlicher Prüfung und
Durchleuchtung. Dabei müßte der sehr schwierige Zusammenhang zwischen der
Grundtendenz, wie sie in der Formel "Schrift und Tradition" zum Ausdruck
kommt, und der Orientierung an der antiken Signifikationshermeneutik und Me-
taphysik bedacht werden.
(137/138] "Sola scriptura" und das Problem der Tradition
stellt, die das "sola scriptura" sprengt. Damit hängt aufs engste die
andere Frage zusammen, wie die historism-kritische Schriftauslegung
gesamthermeneutisch im Horizont der Theologie zu verantworten ist.
So mannigfam die Probleme sind, die durch die veränderte Verste-
henssituation, wie sie vom historischen Denken der Neuzeit bestimmt
ist, der Schrift gegenüber aufbrachen, konzentrieren sie sich doch, was
das "sola scriptura" betrifft, vor allem in der Frage der Einheit der Hei-
ligen Schrift. Denn an der Einheit der Schrift hängt es, ob ihre Geltung
als Kanon sinnvoll ist und obdessenHandhabungvonihmselbstherso
eindeutig ist, daß das "sola scriptura" im reformatorischen Sinne ver-
tretbar ist. Die Frage der Einheit der Schrift fällt darum zusammen
mit der Frage nam der erleuchtenden Macht ihrer Sache. Nun besteht
jedoch gerade das Wesen historisch-kritischer Methode im Aufspüren
von Differenzen, um den bloßen Schein von Einheit und Klarheit zu
zerstören. Und zwar geht es darin, summarisch formuliert, um Be-
achtung von Zeitdifferenz (eben darum "historisch-kritisch"), sei es
zwischen einst und jetzt, zwischen der Zeit des überlieferten Textes
und der Zeit des heutigen Lesers, sei es zwischen verschiedenen Zeit-
schichten der Vergangenheit, oder handele es sich auch um Differen-
zen in der Gleichzeitigkeit, die insofern Zeitdifferenzen sind, als es um
die Strittigkeil der Zeit selbst geht. Diese verschiedenen Weisen von
Zeitdifferenz, um deren Herausarbeitung historisch-kritische Metho-
de bemüht ist, stellen sich dar als Sprachdifferenz sowie- in diffizi-
lem Verhältnis dazu - als Sachdifferenz.
Obwohl der biblische Kanon von sich aus bis zu einem gewissen
Grade sehr wohl die eigene historische Tiefenschichtung und, damit
verbunden, sprachliche Verschiedenheiten und sachliche Spannungen
erkennen läßt und jeder Leser auch in irgendeiner Weise durch
sprachliche und sachlime Verstehensschwierigkeiten sich vor das Pro-
blem seiner eigenen Zeitdistanz zum Text gestellt sieht, so daß es
sim also um Sachverhalte handelt, die schon immer irgendwie im Um-
gang mit der Heiligen Schrift eine Rolle spielten, hat doch erst die hi-
storisch-kritisme Methode der Neuzeit die Sachverhalte in einer
Schärfe sehen lassen, daß die früheren I Weisen, sich mit gewissen
Problemen dieser Art abzufinden, als völlig unzureichend versagten.
Daß die Geschichte historisch-kritischer Schriftforschung selbst in
vielfacher Hinsicht Irrwege und Versagen aufweist, gibt kein Remt,
daraus auf billige Weise apologetisches Kapital zu schlagen und sich
der Problematik als solcher zu entziehen. Trotz der Widersprüchlim-
keit wissenschaftlicher "Ergebnisse" und dem unaufhörlichen Wech-
sel im Stande der Forschung haben sich doch gewisse Grunderkennt-
nisse kritischer Bibelwissenschaft als außer Diskussion stehend durch-
gesetzt. Und dazu gehört auch der wissenschaftliche consensus über
[139/14<1] nSola scriptura" und das Problem der Tradition 331
105 EvTh 11, 1951/52, 13-21. Abgedr. in: E. Kiisernann, Exegetische Versuche
und Desinnungen I, 1960,214--223.
101 AaO, 221.
117 S. G. Ebeling, Das Neue Testament und die Vielzahl der Konfessionen, in:
Wort Gottes und Tradition, 19661, 144 ff.
GEIULU\D EDELING [l<W/141]
lands übers. und hrsg. von G. Blaurock und fi.-U. Kirchhoff, 1968.
22 Kä.scmann, Kanon
Kritische Analyse
Zeugnisse bildet die Gestalt Christi- und sonst nichts-, deren erlö-
sende, lebenspendende Macht die Zeugen als erlebte Wirklichkeit be-
kunden . . . Diese religiöse Lebensbeziehung erneuert sich . . . von
Geschlecht zu Geschlecht" (S. 60).
Hier häufen sich die Fragen: Wie kann ein Wahrheitsbegriff per-
sonhaft sein? Inwiefern soll nicht Bindung an eine Person zur "Dok-
trin" führen und sich dogmatisch niederschlagen, wie es im Christen-
tum doch stets geschehen ist, selbst wenn man die Wahrheit auf die
Nachfolge Jesu beschränkte? Gibt es religiöse Bindung an die Gestalt
Christi nicht auch außerhalb der Kirche? Schließen "Lebensbeziehun-
gen" den Aberglauben aus? Ist ihre Erneuerung von Geschlecht zu
Geschlecht uns nicht inzwischen in Europa recht fragwürdig gewor-
den? Was besagt endlich die Rede von der "Gestalt" Christi präzis
für den Glauben? Strathmann vertritt jene Haltung, die nach Gloege
(S. 31) für den anfänglichen Pietismus kennzeichnend ist: "Von spiri-
tualistischen Motiven gespeist, hält er gegenüber dem Wiederauf-
kommen des dok.rinären Biblizismus die Erinnerung daran wach, daß
der Ruf der Bibel das Leben des Menschen und der Gemeinschaft an-
geht." Doch ist man allzu optimistisch, wenn man die Freiheit der
historischen Forschung gleichzeitig proklamiert. Denn dann wird
nicht gesehen, wie sehr mindestens deren radikale Form- und echte
Wissenschaft wird des Fragens nie müde, deshalb immer radikal
sein I - auch die persönlichen Lebensbeziehungen gefährdet. Die
Gültigkeit des Kanons ist hier letztlich an die Erfahrungen glauben-
der Individuen gebunden. Damit wird jedoch ein Bogen zum theolo-
gismen Antipoden E. Troeltsch geschlagen, der ebenfalls "die Per-
sönlid:Ikeit und Verkündigung Jesu" als "die eigentlich klassische
Quelle der christlimen Glaubensgedanken" bezeichnete und die "Dar-
bietung eines religiös-sittlichen Personlebens" gegen im dogmati-
schen Sinne unanfechtbare Lehrsätze ausspielte'. In einer Vorlesungs-
nachschrift wird das verdeutlicht: "Eine Theorie über die Bibel auf-
zustellen, ist nicht nötig. Die Hauptsache ist, daß die Bibel eben da
ist und daß wir sie richtig lesen lernen, nämlich ohne kritische und
dogmatische Sorgen, ohne beständige wissenschaftliche Einfälle, ein-
fach als religiöser Mensch. Sogar die Theologen müssen unbedingt
dazu gelangen. Wer das Leben will aus dem Buch des Lebens, muß
die Stellen finden, die gerade an die eigene Seele pochen. Das bloße
Steineklopfen gehört dann denen, die dazu berufen sind. " 5
Die Exegeten werden über die ihnen hier verordnete Aufgabe nicht
glücklich, die Dogmatiker mit der Lösung des Problems nicht zufrie-
den sein. Immerhin sieht man, daß rechts und links auch in der Theo-
• Glaubenslehre, hrsg. von G. von le Fort, 1925, S. 20 f.
II Ebd. s. 27.
KritischeAnalyse 341
logie verfließen können, Rationalismus und Pietismus Geschwister
sind. Man beklagt die Krise des Kanons und gewahrt nicht, daß man
selber zu seiner Aushöhlung beiträgt, indem man aus ihm das histo-
rische Dokument religiösen Erlebens und persönlicher Glaubenser-
fahrungen macht.
bens entwickelt hat" (S. 69). Wenn Mareion den ersten geschlossenen
Kanon aufstellte, so hat er diesen Prozeß beschleunigt, aber nicht
inauguriert (S. 72). Hat die abgeschlossene Form als bewußte Smöp-
fung der sich am Kriterium vermeintlimer "Apostolizität" orientie-
renden Kirche zu gelten (S. 73, 78), so ist umgekehrt die Entstehung
des neuen Kanons "Teil der Formwerdung der Kirche und nicht be-
wußte Schöpfung" (S. 79).
Den Eckpfeiler dieser Argumentation bildet die Feststellung der
"Unwiederholbarkeit . . . der christlichen Urgeschichte". Sie wird
auch durch den Geist nicht aufgehoben, sofern dieser nicht neue Of-
fenbarung schafft, sondern "nur die immer neue lebendige Begeg-
nung mit der geschichtlichen Offenbarung" ermöglicht (S. 85). Von
hier aus muß sich eine Dialektik entfalten, welche einerseits die
grundsätzliche Notwendigkeit des Kanons und seiner Begrenztheit
sowie das relative Recht seines schließliehen Umfangs anerkennt, an-
dererseits jedoch den geschichtlim-kontingenten Imponderabilien
und der darin beruhenden Problematik des Kanons sim nicht ver-
schließt. Ist der christliche Glaube auf das einmalige Gotteshandeln
angewiesen, so muß das Unwiederholbare der Urgeschichte zunächst
mündlich, dann schriftlich in Berichten weitergegeben werden, die,
weil sie von einem Heilshandeln sprechen, nicht bloß geschichtliche
Mitteilung, "sondern zeugnishafte Aussage über ein geschichtliches
Faktum" sind (S. 80). Sofern das Heilshandeln an die "Urgesmidtte"
gebunden bleibt, ist das "ursprüngliche Zeugnis", durch Amt und
Funktion der Apostel gekennzeichnet, konstitutiv, also durch spätere
kirchliche Tradition nicht zu ersetzen oder zu ergänzen (S. 81). Das
konstitutive Zeugnis muß schriftlich fixiert werden, wenn seine
mündliche Oberlieferung nicht mehr gesichert ist, und bedarf der
Abgrenzung, sofern es überwuchert zu werden droht. Der Umfang
unseres Kanons kann relativ geremtfertigt werden, weil Schriften
nach dem ersten Viertel des 2. Jahrhunderts kaum mehr als ursprüng-
liche Zeugnisse gelten dürfen (S. 90). Selbst seine Vielfältigkeit und
die sich darin äußernde Entwicklung sind positiv zu werten, weil "nur
eine Sammlung der verschiedenartigen Zeugnisse, d. h. der Kanon,
uns in ausreichender Weise mit dem urchristlichen Kerygma der
Apostelzeit in Verbindung" bringt (S. 93).
Freilich sind all diese Feststellungen mit schweren Hypotheken be-
lastet. Chronologische Argumente sind in unserm Zusammenhang
nur negativ anwendbar und gewähren auch dann keine Sicherheit
(S. 91). Die Irrtumsfähigkeit und das Unverständnis der Menschen
müssen berücksichtigt werden und wehren der Meinung, in den älte-
sten Dokumenten sei das Christuszeugnis unverfälscht erhalten (S.
93). Urchristliches Gut mag neu entdeckt werden. Das wäre dann,
Kritis<he Analyse
lische Tradition im Sinne einer Überlieferung aus dem Kreise der den
irdischen Jesus begleitenden Jünger. Doch wird radikale Kritik sie auf
ein Minimum beschränken. Die ältesten christlichen Bekenntnisse
dürften mit wenigen Ausnahmen in die hellenistische Gemeinde und
deren Enthusiasmus weisen, also kaum "apostolisch" zu nennen sein.
Kein neutestamentliches Schriftstück läßt sich, von den Paulusb.riefen
abgesehen, auf einen Apostel oder mit einiger Wahrscheinlichkeit,
von den Deuteropaulinen abgesehen, auf direkte Apostelschüler zu-
rückführen. Darf der Historiker unter diesen Umständen von Aposto-
lizität sprechen, wenn damit im allgemeinen nur die Vertreter der
dritten Generation und die von ihnen aufgegriffene, bereits erhebli-
chen Abwandlungen unterworfene Tradition gemeint sein können?
Verbirgt sich dahinter nicht doch die Anschauung, daß die neutesta-
mentliche Überlieferung weithin authentisch sei und Garantien biete,
wie Historiker und Theologen sich es wünschen?
Stärkeren Anstoß empfinde ich noch durch die Behauptung, im we-
sentlichen hätten kirchliche Bedürfnisse den Kanon des 2. Jahrhun-
derts gestaltet. Die Bedürfnisse selbst des Christen, sofern ihm der
alte Adam anhaftet, richten sich mindestens so sehr auf den Aber-
glauben wie auf den Glauben, und das Neue Testament dokumen-
tiert das nicht ganz selten. Diese Bedürfnisse haben doch auch die
phantastischen Erinnerungen des Papias und die Apokryphen produ-
ziert, Paulus und Johannes von den Gnostikern ausbeuten lassen, die
Legenden und Mythologeme des Neuen Testamentes, die Fortbil-
dung jüdischer Apokalyptik veranlaßt und Lukas dazu getrieben, Er-
bauungsschriftsteller mit historischen Ambitionen zu werden. Sollte
die Feststellung geschichtlich zutreffen, kann sie den Theologen nur
höchst bedenklich stimmen. Umgekehrt ist nicht einzusehen, daß die
Entstehung des frühen Kanons "völlig unreflektiert" vor sich ging.
Reflexion liegt doch schon vor, wenn die späteren Evangelisten Mar-
kus korrigieren, Johannes rücksichtslos mit der von ihm vorgefunde-
nen Tradition umspringt, Paulus gegen Judaismus und Enthusias-
mus polemisiert, die Pastoralen und andere urchristliche Paränese
sich um eine feste Gemeindeordnung bemühen, von vielem andern
zu schweigen. Kann man Reflexion den Einzelnen zubilligen, der Re-
zeption in ersten Sammlungen aber aberkennen? Würde das nicht
bedeuten, daß von Anfang an der Aspekt rechter Lehre keine oder
bloß untergeordnete Bedeutung gehabt hätte? Daß der frühe Kanon
"Teil der Formwerdung der Kirche" war, soll nicht bestritten werden.
Müßte das jedoch nicht sehr dialektisch dagegen abgesichert sein, aus
dem Evangelium in seinem Gegenüber zur Gemeinde erste kirchliche
Tradition zu machen? Müßte nicht auch sehr viel vorsichtiger davon
die Rede sein, daß der Geist nicht neue Offenbarung schafft? Wird
Kritische Analyse
stellt man sich aber nicht dem Sachverhalt, daß dieses Alte Testament
zu Recht ebenfalls vom Judentum beansprucht und interpretiert ist,
durchaus nicht, von der Tora her verstanden, zum Gesellen der Zöll-
ner und Sünder führt oder zur paulinischen Rechtfertigungslehre
oder zur johanneischen Behauptung der Gottheit Jesu. Mit der billi-
gen Antithese vom historischen Jesus und dem Christus der Schrif-
tenH kommt man schwerlich aus.
Oberhaupt nicht bedacht ist, daß Bibel und Kirche genau wie die
Geschichte Israels der Ort sind, an welchem Glaube und Aberglaube
aufeinander treffen und miteinander kämpfen. Eine harmonisierte
Entwicklung läßt Fehler und Irrtümer unvermeidlich sein, garantiert
jedoch den göttlichen Sieg. Eine Theologie der Tatsachen weist dem
Wort, selbst wenn es kerygmatisch verstanden wird, die Funk-
tion zu, historische Ereignisse deutend zu begleiten. Eine Inkarna-
tionslehre rückt die Kreuzeslehre in ihren Schatten. In der Heilsge-
schichte findet alles seinen Platz, obgleich vieles relativiert werden
muß und darf. Vom göttlimen Plane her merkt man schon, worauf es
ankommt, und die Kirche sorgt dafür, daß dieser Plan niemandem
unbekannt bleibt. Das so gewonnene geschichtliche Verständnis der
Bibel dient letztlich der Apologetik, welche gefilterte Kritik nicht zu
scheuen braucht oder sogar benötigt, um nicht der Gefahr des Doke-
tismus zu verfallen. Kümmels streng wissenschaftliche Untersuchung
wird hier nicht mit dem Rechenschaftsbericht verglichen, geschweige
auf sein Niveau gezogen. Doch sollte man sehen, wohin sein theologi-
scher Ansatz führt, wenn er popularisiert wird, und sich nicht darüber
hinwegsetzen, daß ökumenische Einigung wie die offene Begegnung
von kritischer Theologie und Gemeinde vorläufig allein von diesem
dogmatischen Ansatz aus erfolgen und erfolgreich sind.
Als Kronzeuge beweist das aum 0. Cullmann, der uns wieder aus
dem Raum reichlim vager Äußerungen in eine präzise Problemstel-
lung zurückführt. Seine Grundthese ist von bezaubernder Einfach-
heit: Das Problem Schrift und Tradition wird das von apostolischer
und nachapostolischer Tradition, wobei jedoch, anders als zumeist im
kritischen Lager, "apostolisch" streng historisch auf das von Ohren-
und Augenzeugen Überlieferte bezogen und damit von der weiteren
kirchlichen Tradition unterschieden wird30 • Wie der Rabbi übermit-
telt auch der Apostel Tradition. Doch ist sein Amt allein darin recht-
mäßig, daß es in der Gabe des Heiligen Geistes gründet31 , und zur
"Paradosis Christi" gehört die Vollständigkeit, zu der jeder Apostel
n Ebd. S. 108.
so 0. Cullmann, Die Tradition als exegetisches, historisches und theologischC's
Problem, Züridt 1954, S. 7. 11 Ebd. S. 26 ff.
Kritische Analyse
auf seine Weise etwas beigetragen hat32 • Insofern gehört der Aposto-
lat nicht der Zeit der Kirche, sondern derjenigen der "unmittelbaren
Offenbarung oder der Inkarnation" zu, welche normativ Vergangen-
heit und Zukunft beleuchtet33 • In der Kirche läuft die Heilsgeschichte
dialektisch weiter. Ihr Zeugnis beruht nicht mehr auf direkter Offen-
barung, ist infolgedessen abgeleitet und muß am apostolischen Wort
gemessen werden, das in den Schriften, wenngleich unter menschli-
chen Schwächen, festgehalten wird3•. Auch die schriftliche Nieder-
legung der apostolischen Botschaft ist "eine Grundtatsache der Inkar-
nation" (S. 99). Wir haben darin "die Lebenskraft, die uns stets aufs
neue vor Christus stellt" 35 • Zwar hat im Prinzip die Kirche selbst den
Kanon geschaffen. Doch besagt das allein, daß sie selbst die Scheide-
linie zwischen ihrer und der Apostel Zeit, Grundlegung und Aufbau
zog (S. 100), weil die Reinheit der Tradition ohne übergeordnete
schriftliche Norm nicht gewahrt werden konnte und deshalb die als
apostolisch geltende Tradition begrenzt werden mußte (S. 101). Die
Kanonbildung war nur im 2. Jahrhundert möglich, weil man nur da-
mals dem Ursprünglichen noch nahe genug, gleichzeitig jedoch be-
reits von Wucherungen bedroht war. Sie drängte sich dieser Epoche
mit derselben Notwendigkeitkraft der inneren apostolischen Autori-
tät auf, die auch wir empfinden, wenn wir in den Schriften Christus
als den Kyrios vernehmen (S. 102). Der menschliche Bestandteil ist
hier "auf das unvermeidliche und dem Begriff aller göttlichen Offen-
barung selbst innewohnende Mindestmaß beschränkt" 36 • Insofern
setzt sich das Werk des fleischgewordenen Christus in der Kirche fort,
die selber keine neue Offenbarung mehr empfängt37 • Umgekehrt be-
gegnen sich historische Wissenschaft und protestantische Theologie in
der gemeinsamen Aufgabe, zu den Quellen zurückzukehren38 • Das
Alte Testament wurde in den Kanon "als Zeugnis für diejenige heils-
geschichtliche Zeit, die die Fleischwerdung vorbereitet" (S. 103), auf-
genommen, ist aber nur in der für es normativen Beziehung auf das
Neue Testament kanonisch (S. 104). Die Glaubensregel könnte als
apostolische Zusammenfassung und Auslegungsregel der unter sich
verschiedenen Bücher anders als die späteren Bekenntnisse dem
Neuen Testament als letzte Seite angefügt werden (S. 106). In Sum-
ma: "Die Schrift ist die Vergegenwärtigung des apostolischen Zeug-
nisses, so wie die Sakramente die Vergegenwärtigung des Erlösungs-
werkes Christi sind. " 39
Klarheit und Geschlossenheit der Konzeption sind schlechterdings
hinreißend, so daß auch der schlimmste Kritiker den Wunsm nimt
unterdrücken kann, die Theologie möchte für ihn ebenso durchsimtig
lll Ebd. s. 25. SI Ebd. s. 29, 31. 34 Ebd. s. 31, 33. SI Ebd. s. 34.
3& Ebd. s. 4{). 37 Ebd. s. 36 f. 88Ebd. s. 35. SI Ebd. s. 56.
350 Kritische Analyse
Weil Mareion tat, was hier mit einem Seitenhieb auf Zeitgenossen
verpönt wird, gilt er als dem "Dogmatismus" verfallen48 • Das er-
scheint offensichtlich dem geistigen Enkel Harnacks noch immer als
theologische Verirrung und eine der Grundsünden. Die Herausforde-
rung sei angenommen, ohne deshalb den frühchristlichen Ketzer in
einen Heiligen verwandeln zu wollen. Das Urteil halte ich, wenn es
ausschließlich derart begründet wird, für historisch und sachlich un-
gerecht, die darin sich äußernde Theologie für letztlich unbefriedi-
gend. Kam es zur "größten und folgenreichsten Schöpfung der frühen
Kirchengeschichte" durch die Initiative des Ketzers, so wird man ihn,
nachdem er seine Schuldigkeit getan hat, nicht einfach in der Versen-
kung verschwinden lassen. Kommt er in der Darstellung des Histori-
kers zu einer Einzigartigkeit, die vor ihm allein Paulus zugebilligt
wird, so sollte man ihm auch theologisch einiges Verdienst nicht von
vornherein und als undiskutierbar absprechen, zumal er nichts als
Schüler dieses Meisters sein wollte und ihn geradezu mit dem Evan-
gelium selber identifizierte. Was als sein Dogmatismus verschrieen
wird, war die Entdeckung der pura doctrina als Kriterium der Ober-
lieferung. Für den Protestanten kann das unmöglich dogmatisch be-
langlos sein. Der Exeget ist vielleicht willens und fähig, genau diesen
Sachverhalt, unter Umständen nicht unter der harten orthodoxen
Formel, als Merkmal paulinischer Theologie anzusprechen und von
da aus den "Kanon im Kanon" leidenschaftlich zu verteidigen. Der
Historiker dürfte schlechterdings nicht übersehen, daß bereits die frü-
hesten Christuszeugnisse nicht nur Verkündigung oder mehr und we-
niger umfangreichen, mehr und weniger zuverlässigen Bericht, son-
dern Lehre von verschiedenen dogmatischen Prämissen her und mit
erheblichen dogmatischen Konsequenzen enthielten. So kam es eben
nicht bloß zu ihrer Mannigfaltigkeit, sondern auch zu jenen Span-
nungen und teilweise unvereinbaren Gegensätzen, welche radikale
Kritik heute zu konstatieren gelernt hat. Die Firmierung "frühes
Christuszeugnis" erspart niemandem die Frage, ob er mit juden-
christlicher Apokalyptik an den kommenden Weltenrichter glaubt
und sich dem Gesetz zu unterwerfen hat oder in Christus mit der hel-
lenistischen Mysterienfrömmigkeit den Kultgott erblickt und sich be-
reits erfahrener Auferstehungskraft rühmt oder mit Paulus die theo-
logia crucis, mit Johannes den über die Erde schreitenden Gott be-
kennen will oder das alles willkürlich kombiniert. überläßt man nicht
jeden seinem Geschmack, bedarf man dessen, was man heute "her-
meneutisches Prinzip" nennt. Genau das scheint Mareion anvisiert zu
haben. Sein Irrtum war, daß man das hermeneutische Prinzip ver-
wirklichen könnte, indem man alles nicht dazu Passende strich. Dann
48 Ebd. S. 193.
2J•
356 Kritische Analyse
wird nicht nur das Prinzip überflüssig, sondern man gerät außerdem
in eine Ideologie. Der Mißbrauch diffamiert jedoch nicht die Inten-
tion. Der Glaube muß wirklich präzis sagen können, worauf es für
Leben und Sterben ankommt. In seiner Weise hatte Mareion das bes-
ser erlaßt als seine Zeitgenossen, die ihn als Häretiker brandmarkten,
besser auch als jene Theologen, die dem Dogmatismus des Ursprüng-
lichen huldigen und dabei in eine Welt von vieldeutigen Chiffren ge-
raten. Daran würde sich übrigens nichts ändern, wenn die These von
Campenhausens sich nicht halten ließe und einzig anerkannt werden
müßte, daß Mareion den ersten geschlossenen Kanon geschaffen hat.
Die Intention zu sagen, worauf es ankommt, bliebe die gleiche, und
das Verdienst, es durch eine autoritative und allein gültige Urkunde
(S. 117) festgelegt zu haben, käme dem eines konfessionellen Be-
kenntnisses zum mindesten nahe. Dafür eine Lanze zu brechen, ist
in einer Zeit, welche häufig zwischen mündlicher Tradition und
Evangelium nicht mehr zu unterscheiden vermag und das Sola Serip-
tura über dem in der Tradition gegenwärtigen Christus49 mißachtet,
der Mühe wert.
nur der, daß man das Evangelium nicht destilliert hat, die Schrift in
der Welt belassen muß, statt sie als das vom Himmel gefallene Buch
zu tradieren, Jakob und Esau untrennbar zusammengehören, das
corpus permixturn des irdischen Gottesvolkes sich auch in einer biblia
permixta spiegelt, J ahwes Stimme die des Baal stets voraussetzt oder
heraufbeschwört, Glaube und Aberglaube zu unterscheiden, aber von
uns nicht ein für alle Male zu trennen sind.
Solange diese hermeneutische Bedeutung des Alten Testamentes,
die übrigens keineswegs auf das soeben Gesagte beschränkt werden
soll, nicht für die Kanonfrage exemplarisch gilt, mag man sich treff-
lich streiten, kommt es aber allein zum Gefecht mit Platzpatronen.
Sieht man sie jedoch, ist es grundsätzlich belanglos, ob man im Neuen
Testament Einhelligkeit feststellt oder nicht. Die Entscheidung ist be-
reits gegen die These gefallen, oder man darf nicht mehr vom ganzen
Kanon mit unverkennbarer Emphase sprechen (S. 174)10 • Im übrigen
wäre es ein Mirakel, wenn es im Neuen Testament anders als im Al-
ten und in unserer eigenen Gegenwart stände. Einhelligkeit gibt es
in der Geschichte nur partiell und nicht flächenweise. Nun bestreitet
Diem dieses Faktum als solches nicht, erkennt sogar Gegensätze an,
welche in der gleichen Zeit kontradiktorisch sein würden. Er hilft
sich, indem er auf die verschiedene Verkündigungssituation hinweist
(S. 171 f.). Ihr Wechsel bedingt Ergänzungen, Korrekturen und aus
Mißverständnissen resultierende Widersprüche gegenüber dem Frü-
heren. Während die Konkordanzmethode verurteilt wird61 , soll man
sich auf das "Konkordanzhören" einstellen (S. 174). Man kann sich
diesem Argument nicht entziehen. Etwa die Auslegung der Synop-
tiker richtet sich unentwegt nach ihm, und ich würde von da aus trotz
allen Verschiebungen im einzelnen und ganzen Paulus und Johan-
nes oder die Apokalypse, Paulus und die Deuteropaulinen oder selbst
die Pastoralen zu verstehen suchen. Darüber hinaus gibt es zweifel-
los Aussagen, die isoliert in unversöhnlichem Gegensatz stehen, aber
komplementär auf einen paradoxen Sachverhalt hinweisen. Die Be-
weglichkeit des Exegeten, der einerseits Nuancen hervorzuheben, an-
dererseits Zusammenhänge zu bedenken oder zu rekonstruieren hat,
kann nicht groß genug sein. Doch hat sie ihre Grenzen dort, wo
gleichzeitig oder in verschiedenen Phasen nicht bloß verschiedene
"Verkündigungssituationen", sondern gegensätzliche Theologien zu
konstatieren sind. Wenn Diem mit Vorliebe am Verhältnis von Pau-
lus und Jakobus exemplifiziert62 , so ist allerdings die verschiedene
Wort kommt und ob das angemessen geschieht. Ist man nicht zum Ri-
siko bereit, das hier oder dort rundweg verneinen zu müssen, geht
mit dem wissenschaftlichen Ethos auch der theologische Ernst vor die
Hunde, hat man es nur noch mit mehr oder weniger nützlichen Quis-
quilien zu tun, wird man zum "Fachidioten", was vielleicht unver-
meidlich ist, wozu man jedoch nicht vom Systematiker verdammt
werden sollte. Rundheraus gesagt, nach lebenslanger Beschäftigung
mit dem Detail wie mit dem Ganzen neutestamentlicher Theologie
vermag ich die Stimme des einen Christus nicht in allen Zeugnissen
zu vernehmen. Selbst wenn die kirchliche Erfahrung von 2000 Jahren
das bezeugte, würde mich das nicht im geringsten irremachen oder
auch nur interessieren. Hier habe ich für mich selber einzustehen und
der fides implicita nicht den geringsten Tribut zu zollen, wenn ich
nicht mein Handwerk verraten und das sacrificium intellectus brin-
gen soll. Eher würde ich der Kirche den Rücken kehren, als von mir
erkannte Wahrheit zu verleugnen. H. Braun konstatiert mit vollem
Recht die verschiedensten Christologien im Neuen Testament, und
die Stimme des einen Christus in allen ihren Stücken ist nicht nur ein
dogmatisches Postulat, sondern auch eine bloße Chiffre, hinter der
sich alles oder nichts verstecken kann, solange nicht genau definiert
ist, welcher Christus gemeint ist. Mit Chiffren will ich weder als
Glaubender noch als Theologe etwas zu tun haben. Die überlasse ich
den Computern, die damit umgehen können und müssen. In der Exe-
gese scheinen sie mir einzig dem Aberglauben Türen zu öffnen und
die claritas und perspicuitas scripturae zu verdunkeln.
Diemist allerdings konsequent. Seine dritte Grundthese folgt aus
den beiden ersten und erläutert sie, daß nämlich die Schrift grund-
sätzlich Predigttext sei, die Geschichte der Kanonbildung die des Pre-
digttextes genannt werden dürfe und daß die Kirche, welche uns den
Kanon gab, dafür einstehe, die ganze Schrift lasse sich predigen85 •
Das schließt nicht aus, daß es dunkle Stellen gibt, die den Prediger in
Verlegenheiten setzen, und dieser die Schrift manchmal nicht zum
Reden bringen kann, dann die volle Freiheit habe, das zu sagen
(S. 167, 174). So ist es sein eigentlicher Vorwurf gegen den Katholi-
zismus, daß er nicht zu predigen vermöge (S. 165). Nochmals wird
man den berechtigten Kern dieser Feststellungen anerkennen. Das
Evangelium will tatsächlich gepredigt werden, und beim Kanonpro-
blem darf davon nicht abstrahiert werden. Wieder wird man aber
kaum übersehen können, daß Diem erneut zwei Ebenen in eine ver-
wandelt, weil er den Kanon und das Evangelium, sei es auch abge-
leitet, identifiziert oder wenigstens zu rasch zusammenbringt. Wenn
man aus allen Schriften das einhellige Zeugnis für den einen Chri-
" Einheit der Schrift, S. 389, 391.
Kritische Analyse
den wollte. Wenn die Kirche es dazu für geeignet gehalten hat, ist das
offensichtlich weithin echte Aufnahme des kerygmatischen Anliegens
der Urchristenheit, andererseits aber ein Vorgang im Traditionspro-
zeß, der lange und mancherorts noch heute auch die Apokryphen ein-
bezog, mit dem Alten Testament recht gewalttätig umsprang und
nicht bloß erwünschte Resultate zeitigte. Versteht man die Geschichte
des Kanons als die des Predigttextes, muß man doch im weitesten
Ausmaß von einer Geschichte der Passion und der Vergewaltigung
des Textes sprechen. Darum ist gerade die Kirche in Vergangenheit
und Gegenwart kaum uneingeschränkt der Eideshelfer, der die in der
Schrift überlieferte Verkündigung kanonisierend zum weiteren Ver-
kündigtwerden "autorisierte" (S. 166). Als Garantin der Wahrheit
will Diem sie selbst nicht gewertet wissen (S. 167), weil der Kanon
den Beweis für seine Kanonizität auch weiterhin für sich, nämlich in
der Möglichkeit, gepredigt zu werden, erbringen müsse.
Obereinstimmung und Gegensatz zwischen dem Exegeten und dem
Systematiker können nun abschließend ins Auge gefaßt werden. Ei-
nig sind wir in dem dogmatischen Interesse, daß das "der Kirche vor-
gegebene Wort von deren eigenem Reden unverwischbar unterschie-
den bleibt" und Gottes Wort "im Reden und zugleich gegen das Re-
den der Kirche zu Gehör zu bringen" ist (S. 165, 166). Wir unter-
scheiden uns darin, daß Diem trotz aller Zustimmung zu den Ergeb-
nissen der historischen Kritik und den daraus folgenden Einschrän-
kungen die Schrift als Sammlung von Christuszeugnissen und als
Predigttext mit dem Charakter der Einhelligkeit versehen und im
wesentlichen mit Gottes Wort zusammenfallen lassen kann. Das ist
mir schon im Blick auf das zum Kanon gehörige Alte Testament und
ebenso angesichts kontradiktorischer theologischer Tendenzen nicht
bloß in einzelnen Aussagen, sondern in ganzen Büchern des Neuen
Testamentes so undialektisch nicht möglich. Ich bestreite nicht, daß
Gottes Wort aus der Bibel vernehmbar wird und diese insofern Suffi-
zienz und Selbstevidenz besitzt, wohl aber, daß die Bibel einhellig
echtes Christuszeugnis, wenngleich in der Variation der Umstände
und Zeiten, bietet und ohne weiteres als Predigttext angesprochen
werden darf. Das Evangelium ist in der Schrift zu finden und nicht
von ihr zu lösen, steht aber auch dort im Widerstreit mit seinen Ver-
kürzungen, Erweiterungen und Verfälschungen, wie es das geschicht-
lich immer tun wird. Die theologische Aufgabe der Unterscheidung
der Geister bezieht sich mit auf die Bibel. Wenn Diem anerkennt
(S. 170), daß "die für uns so wünschenswerte exklusive Unterschei-
dung der Stimme Christi von derjenigen der kirchlichen Tradition ...
innerhalb des N. T. keineswegs rein durchgeführt" ist, das an Tradi-
tionen sich klammemde Kirchenturn im Frühkatholizismus schon
Kritische Analyse
dort beginnt, hat er sich auf meine Problematik eingelassen. Sie kann
man aber nicht damit abschwächen, darin bekunde sich der histori-
sche Charakter der Schrift, der Harmonisierung verbiete und ein Ein-
heitsprinzip nicht wie ein Wahrheitskompendium besitze, sondern
die Lebendigkeit Christi im Wort herausstelle und im Interesse der
verschiedenen Verkündigungssituationen zur möglichst profilierten
Kenntnis der Zeugen und Zeugnisse aufrufe (S. 171).
Es ist nicht zufällig, daß jetzt heilsgeschichtliche Terminologie zur
Hilfe gerufen wird: "Die Predigt verkündigt die für uns geschehenen
,großen Taten' Gottes sowohl in ihrem Geschehensein als in ihrer Be-
deutsamkeit. Der Prediger ist dabei aber nicht mehr in derselben
Lage wie der Apostel, der als unmittelbarer Augen- und Ohrenzeuge
dieser Taten Gottes redet. Er braucht darum für seine Predigt einen
Text. " 88 Damit wird die vorhergehende Erkenntnis an den Rand ge-
drückt und der Schrift in ihrem Kern eine historische Ausnahmestel-
lung zugebilligt: Sie ruht im wesentlichen auf dem unmittelbaren,
nämlich apostolischen Zeugnis. Ist dieses Argument nach der früher
vorgelegten Kritik nicht mehr stichhaltig und ein problematisches
Randfeld zugestanden, dient es der Klärung der Fronten, wenn jetzt
rückhaltlos die gesamte Bibel als Produkt eines vorchristlichen und
christlichen Traditionsprozesses bezeichnet wird. Historisch ist die jü-
dische und christlid1e Kirche stets vor der Schrift da, und zwar mit ih-
rer ganzen Fragwürdigkeit als corpus pennixtum. Wird die sachliche
Priorität der Schrift vor der Kirche behauptet, wie ich das allerdings
zu tun gedenke, so ist das ein Glaubensurteil auf Grund der theologi-
schen Einsicht, die Kirche sei creatura verbi, nämlich des in, mit, unter
der Schrift gegebenen Evangeliums.
Der Streit spitzt sich auf die Frage zu, was denn wirklich "Evange-
lium" ist. Dabei wird man weder auf die großen Taten Gottes noch
auf die Stimme Christi verzichten dürfen. Doch sind das Chiffren,
solange man nicht exakt sagt, worin diese Taten bestehen und was
die Stimme Christi verlauten läßt. Denn beides ist zu allen Zeiten von
allen möglichen Leuten für sich beansprucht worden, mit denen die
Kirche nichts zu tun haben wollte oder nichts hätte zu tun haben dür-
fen. Darum erscheint mir die Botschaft von der Rechtfertigung als
qualifizierendes und scheidendes Kriterium auch des Neuen Testa-
mentes unerläßlich. Sie kann das sein, sofern historisch-exegetisch das
Merkmal Jesu im Unterschied von seiner gesamten religiösen Um-
welt die Gemeinschaft mit den Sündern im Namen Gottes war, seine
Kreuzigung entscheidend mit seiner Durchbrechung des Gesetzes zu-
sammenhing, die auch die Heidenmission erst ermöglichte, und
M S.o. S. 166, während im Widerspruch dazu o. S. 161 f. das Merkmal des Apo-
stolischen sehr kritisch beurteilt wurde.
Kritische Analyse 369
24 Kücmann, Kanon
370 KritischeAnalyse
das als Modell dessen dienen, was heute vordringlich neben kirchli-
cher Strategie auf höchster Ebene zu geschehen hat, nämlich der
freien und dreisten theologischen Diskussion der Nonkonformisten,
welche die trouble-maker weniger fürchten als die trouble-shooter.
Ob alle Wege schließlich in Rom enden werden (S. 198), ist ein
Problem der Heils- oder Unheilsgeschichte, dessen Lösung man vor-
läufig Gott anheimgeben darf. Daß sie sich schon jetzt repräsentativ
in Tübingen kreuzen, sei nicht ohne Selbstbewußtsein irenisch und
ironisch vermerkt.
Meine These vom Frühkatholizismus im Neuen Testament77 nimmt
Küng zum Anlaß seiner grundsätzlichen Besinnung über die Kon-
troverse zwischen Diemund mir. Er versteht sie, ungemein wichtig
und für den Katholiken kennzeichnend, nicht wie ich letztlich als
christologische Frage, sondern als primär ekklesiologisches Problem
(S. 188). Deshalb kann er einerseits meine Aussage aufgreifen, der
Kanon bereite in seinem faktischen Bestand die Vielzahl der Konfes-
sionen vor, andererseits aber betonen, daß "die verschiedenen Zeug-
nisse nicht nur etwa als lehrreiches negatives Kontrastprogramm zum
Evangelium, sondern als positiv angemessener Ausdruck und Nieder-
schlag des Evangeliums" von der rezipierenden Kirche verstanden
worden sei. Das führt sofort zu der entscheidenden Feststellung, die
Konfessionsbildung beruhe statt auf einem umfassenden Verständ-
nis des Kerygmas auf einer Auswahl, welche mit der Kraft der Kon-
zentration die Schwäche der Reduktion auf Kosten des Neuen Testa-
mentes und der dahinter stehenden kirchlichen Einheit verbinde.
Verzichtet man grundsätzlich auf "Katholizität", wozu das Neue Te-
stament "zwar Voraussetzung und Anlaß, aber nicht im strengen
Sinne Grund und Ursache" bieten möge, wird solches Resultat un-
vermeidlich. Es liegt auf der Hand, daß damit Diems Kritik aner-
kannt, jedoch über die Kanonfrage hinaus ausgeweitet wird. Das
Problem der Einheit der Schrift wird von vomherein exemplarisch
für das der kirchlichen Einheit aufgegriffen (S. 188 f.). WeilDieman
dieser Zuspitzung nicht eigentlich interessiert war- ihm ging es um
die Verteidigung der sich selbst verkündigenden und durchsetzenden
Schrift als der Verleiblichung des Wortes Gottes!-, kann aber meine
Position gleichzeitig gegen meinen Kontrahenten dialektisch ausge-
spielt werden. Das geschieht natürlich nicht von der Formel des
Kanon im Kanon her, die als Selektionsprinzip herausgestellt ist, je-
77 Sie wird notwendig dort bestritten, wo man das Gewicht der nachösterlichen
doch von der andem der "Mitte der Schrift", die Küng sich unbefan-
gen zu eigen macht und gegen Diem verteidigt (S. 191).
Damit sind bereits auf den ersten Seiten des Aufsatzes die Fronten
deutlich abgesteckt. Sie brauchen nur noch kritisch beleuchtet zu wer-
den, wobei man sich vor Augen zu halten hat, daß im Brennpunkt der
Auseinandersetzung das Verhältnis von Christologie, der Lehre vom
Worte Gottes in der Schrift und der Ekklesiologie steht und zum min-
desten der faktische Primat oder vielleicht besser der hermeneutische
Schlüssel in diesem Verhältnis erörtert wird. Die Antwort des Katho-
liken ist unzweideutig: Diem will zwar das ganze Neue Testament
sprechen lassen, muß als Protestant jedoch faktisch die von mir prin-
zipiell getroffene Auswahl vornehmen, indem er das Frühkatholische
im Neuen Testament als Abweg betrachtet (S. 193). Dagegen gilt,
daß "katholische Haltung versucht, unvoreingenommen das Neue
Testament nach allen Seiten hin emstzunehmen", und selbst einer
complexio oppositorum einen guten Sinn abgewinnt (S. 198). Sie er-
kennt nicht nur Mannigfaltigkeit, sondern aum Gegensätzlidtkeit
an, indem sie das Ursprüngliche vom Abgeleiteten unterscheidet und
ihm den Vorrang in der Interpretation einräumt (S. 202)18 • Umge-
kehrt will sie nicht, wie das kühne Programm des Kanons im Kanon
es fordert, biblischer sein als die Bibel, neutestamentlicher als das
Neue Testament, evangelischer als das Evangelium und sogar pauli-
nischer als Paulus, weil anders Emstnah.me zwar die Absicht, radi-
kale Auflösung aber die Folge ist. "Der wahre Paulus ist der ganze
Paulus, und das wahre Neue Testament das ganze Neue Testament"
(S. 192).
Mir scheint, daß Küng methodisch geschickt, aber unerlaubt das
Operationsfeld verengt, indem er nur den Bereich des Frühkatholi-
schen kontroverstheologisch als Absprungsbasis benutzt und daraus
exemplarisch Schlüsse für den ganzen Kanon zieht, ebenso geschickt
und unerlaubt auf der andem Seite das Verhältnis zur Schrift exem-
plarism zum Unterscheidungsmerkmal zwischen Kirche und Härese
ausweitet. Am Problem der Interpretation des Alten Testamentes und
der Anerkennung seiner Apokryphen wäre nachzuprüfen, ob Küngs
Rechnung mit dem ganzen Kanon aufgeht und aufgehen kann. Ver-
einfachend wirkt auch die Unterscheidung zwischen Ursprünglichem
und Abgeleitetem. Ursprünglich war ganz gewiß dieurchristliche Apo-
kalyptik, zu welcher die römische Kirche doch ein recht gebrochenes
78 Mit Recht kritisiert Kümmel, Mitte des NT, S. 80-83, diese auch sonst
vertretene Position einer differenzierten Einheit. Ein Ventändnis aller Zeugen ist
gerade nur dann möglich, wenn mißventändliche und vedälschende Änderungen
des Evangeliums auch in der Schrift anerkannt werden (S. 85), und unvermeidlich
wird das spätere Zeugnis das frühere bestimmen, wo alle Stimmen zugleich gehört
werden sollen (S. 82 f.).
374 Kritische Analyse
wie der Mensd::J. in seiner Lage vor Gott gesehen ist" (S. 228). "Der
radikal geforderte und in Frage gestellte als der im Jesus-Gesd::J.ehen
radikal gehaltene Mensch, und zwar nicht im Sinne einer Idee oder
Lehre, sondern als Ereignis, das ist das neutestamentliche Grund-
phänomen, der Kanon im Kanon, von dem her rechte Kanonizität zu
messen und zu beurteilen ist" (S. 229). Während die urchristlid::J.e
Eschatologie in ihren verschiedenen Gestalten die "Andringlichkeit
der Forderung und die Radikalität der Befreiung" ausdrückt, sind
die Christologie und die Sakramente die "variable Verschlüsselung
für das extra nos, für das transpsychologisd::J.e Woher dieses Befreiungs-
geschehens" (S. 230). Für den Kanon als solchen folgt daraus, daß al-
les an dieser seiner Mitte, dem nur in ihm gegebenen Grundphäno-
men hängt, welches religionsgeschichtlich nicht verrechenbar ist und
von der die Schriften sammelnden Kirche kaum begriffen wurde.
Man respektiert ihn am meisten, wenn man sich für ihn als formale
Größe und für seine Abgrenzung nur relativ interessiert, dafür jedod::J.
leidenschaftlich auf die in seiner Grundtendenz liegende Freiheit
achtet (S. 229-232).
Braun scheint auf den ersten Blick meine Thesen zu variieren und
zuzuspitzen. So habe ich deutlich zu machen, wo unsere Wege sid::J.
trennen und Weichen anders gestellt werden. Exegetisch vermag ich
nid::J.t die drei Grundblöcke, sei es auch nur nach ihrer Grundtendenz,
derart aus dem übrigen Neuen Testament herauszuheben, wie das
bei Braun geschieht. Ihre Verkündigung unterscheidet sie voneinan-
der nach der Sache wie der Sprache, was natürlich nicht bedeutet, daß
sie theologisd::J. nicht Entscheidendes gemeinsam hätten. Doch ist ihre
Variabilität in der Anthropologie nicht geringer als in ihrer sonstigen
Thematik, und das sie untereinander Verbindende findet sich auch
anderswo im Neuen Testament. Was im "Mitte der Schrift" nenne,
läßt sich nicht auf literarisd::J.e Komplexe verengen und in einem Re-
duktionsprozeß gewinnen, obgleich es sich weithin nur andeutungs-
weise ausgesprochen findet, in bestimmten Schriften kaum von Be-
lang ist oder sogar durch ein anderes Zentrum ersetzt wird. Aus spä-
ter noch anzugebenden Gründen habe ich nicht bloß ein relatives In-
teresse am Kanon im ganzen und seiner Abgrenzung, sondern messe
dem selbst dogmatisches Gewicht bei.
Dem entspricht auf der andern Seite, daß "Kanon im Kanon" bei
uns etwas Verschiedenes meint. Der von Braun anvisierte anthropolo-
gische Sachverhalt kann auch von mir nicht übersehen werden. Doch
akzeptiere ich ihn nur als Ergebnis der christlid::J.en Botschaft, nicht
als ihr "Grundphänomen". Erneut sei festgestellt, daß Formeln wie
"Jesusgeschehen" für mich Chiffren sind, die mir als Theologen
nichts sagen, wenngleich ich begreife, daß damit etwas sonst nicht
Kritisdte Analyse
2S Kilc:mann, Kanon
KritischeAnalyse
bei Jesus beginnt und endet, umgekehrt aber Jesus einzig durch die
gemeindliche Verkündigung zugänglich wird und daß deshalb der
ältesten, nicht mehr reduzierbaren, auch apostolisch genannten Ver-
kündigung eine unvergleichliche Bedeutung zukommt: Von ihr span-
nen sich alle weiteren Beziehungsbögen aus und müssen an ihr ge-
messen werden. Daß es durch sie zur Bildung der Urgemeinde kam,
ist ihre einzige Legitimation, und zwar nach dem Verständnis dieser
Gemeinde selbst (S. 242 f.).
Die größte Schwierigkeit entsteht bei der Weitergabe der ersten
Verkündigung, sofern diese nicht nur in einen stets wachsenden Kreis,
sondern auch in eine neue Gegenwart hinein erfolgen muß, darum
nicht einfach Wiederholung sein darf. Sachgemäß ist ein Beziehungs--
bogen nicht schon um seiner Treue zum Ursprung willen, sondern
erst, wenn er die überkommene Sache in einer der neuen Situation
gemäßen Weise ausdrückt oder, falls sie verändert wurde, entspre-
chend zurechtrückt. Nicht Identität, sondern Korrespondenz ist also
das entscheidende Kriterium. Damit wird nicht bloß die Variabilität
des Kerygma begründet, sondern auch seine unvermeidliche Gegen-
sätzlichkeit in verschiedenen Zeiten. Was einmal rechte Verkündi-
gung war, kann in einer andern Situation zur "massiven Irrlehre"
werden (S. 246). So ist- gegen Dieml- das Neue Testament nicht
einfach Predigttext oder eine Summe solcher Texte, sondern Samm-
lung früher Predigten, meine Verkündigung demgemäß nicht Pre-
digt "über einen Text, sondern mit einer Predigt" (ebd.). Grundsätz-
lich braucht das nicht an das Neue Testament als solches gebunden
zu sein. Wichtig ist vielmehr die Sachentsprechung der Predigtgrund-
lage wie der daraufhin erfolgenden Weitergabe. Auf diese Sachkon-
trolle darf freilich nicht verzichtet werden. Deshalb muß immer wie-
der auf die apostolische Erstverkündigung zurückgegriffen werden,
für welche das Neue Testament nach Umfang wie Abgrenzung sich
als recht brauchbare Dokumentation erweist, selbst wenn man sie
nicht mit absoluter Exaktheit aus ihm herausarbeiten kann. Darüber
hinaus wird hier ein Paradigma geboten, an dem das Mögliche wie
Unmögliche ebenso wie die Notwendigkeit eines stets kritischen Ver-
haltens gelernt werden sollte (S. 245 f.). Denn es darf nicht vergessen
werden, daß die Schriften als solche nicht für uns kanonisch sein wol-
len, sondern Verbindlichkeit allein für die ehemaligen Leser bean-
spruchten10'. Theologisch läßt sich die Grenze der in der Kirche gülti-
gen Schriften nicht durch eine Liste festlegen. Das ist ausschließlich
eine Frage der Zweckmäßigkeit, solange die grundlegende Sache ge-
wahrt und angemessen weitergetragen wird. Den Vorwurf, daß da-
mit der Kanon aufgelöst würde, weist Marxsen zurück: Das könne
IN Der Exeget als Theologe S. 114.
2S•
Kritische Analyse
man nicht. Wir hätten den Kanon nicht zu retten, sondern zu begrün-
den, und möglich sei nur, daß wir das nicht ausreichend getan hätten
(S. 244).
An Klarheit und innerer Folgerichtigkeit läßt auch dieser Entwurf
nichts zu wünschen übrig, Radikalität und unkonventionelle Argu-
mentation zwingen zu eigener Besinnung. In einer Kirche, welche
ihre Amtsträger oft genug Hans Dampf in allen Gassen werden läßt,
sollte man die Stimme des Spezialisten aufmerksam hören, der seine
Kompetenz in keiner Weise überschreiten möchte. Dieser Spezialist ist
freilich ein sonderbarer Asket, sofern er seine Arbeit scharf von aller
Dogmatik trennt, zugleich aber sich unentwegt und mit Leidenschaft
kirchlich engagiert und den Dialog mit den Dogmatikern sucht, seine
Existenz also der Theorie seiner spezifischen Tätigkeit zu widerspre-
chen scheint. Auf der Hand liegt, daß er damit kein donum super-
additum zu geben gedenkt. Offensichtlich liegt ihm daran darzutun,
daß Kirche und Theologie um ihrer selbst willen auf den Historiker
nicht verzichten dürfen. Man wird jedoch fragen müssen, ob er den
Bogen nicht überspannt, mehr noch, ob er sich nicht einer Selbsttäu-
schung hingibt und gerade mit der Methodik und den Ergebnissen
seiner Arbeit beweist, daß es keine undogmatische Exegese gibt. Er
demonstriert, daß ihn kein heilsgeschichtliches Schema, keine konfes-
sionelle Systematik in seinem Tun leiten. Dogmatisch kann man aber
sogar als Profanhistoriker werden, wenn man sich dem Historismus
verschreibt, und genau das dürfte bei Marxsen der Fall sein.
Merkwürdig historistisch sind seine Terminologie und seine Aspek-
te. Es ist kaum zu übersehen, daß von den beschriebenen Vorgängen
absichtlich recht neutral und formal gesprochen wird und dem die
Darstellung im ganzen entspricht. Weder vom Evangelium noch vom
Geist braucht die Rede zu sein, und infolgedessen entfällt auch die
Problematik von Glaube und Aberglaube in ihrer Koexistenz, an de-
ren Stelle die der verschiedenen, sachgemäßen oder unsachgemäßen
"Beziehungsbögen" tritt. Vom "Kyrios" wie dem apostolischen Zeug-
nis werden charakteristische Merkmale nicht angegeben, obgleich
ausdrücklich zugestanden wird, daß beides nicht mit voller Klarheit
aus den Texten entnehmbar sei. Ist Jesus die einzige unwandelbare
Norm, muß präzis gesagt werden, in welcher Hinsicht das gilt. In der
Kirche sind sowohl über den Nazarener wie den erhöhten Herrn seit
je die unterschiedlichsten Ansichten umgelaufen. Welche teilt Man-
sen, welche nicht? Läßt sich das jedoch nur der apostolischen Erstver-
kündigung entnehmen, ist erneut zum mindesten klarzumachen,
worin diese Verkündigung ihre Stoßrichtung und ihre Kennzeichen
hatte, zumal wenn alle spätere Verkündigung sich gefallen lassen
muß, darauf zurückbezogen zu werden. Gehört Paulus in diese Erst-
Kritische Analyse 389
Hilie gekommen ist. Auf diese Weise wird die Einsicht in den Kanon
von der historischen Rückfrage nach dem Ursprünglichen und dem
Verständnis der jeweiligen Situation abhängig gemacht, die jeder
anders und keiner mit letzter Sicherheit oder auch nur hinreichender
Genauigkeit zu überblicken vermag. Die Exegese ist undogmatisch
in ihren Sachaussagen geblieben und hat dort nur Deskriptionen ge-
liefert. Sie ist jedoch höchst dogmatisch, sofern sie undogmatisch blei-
ben will, liefert sich nämlich einem Historismus und dem wirklichen
oder vermeintlichen Zwang seiner Methodik aus. Sie mag sich am De-
tail, ihren Konstruktionen und kontrollierbaren Beziehungsbögen er-
götzen. Ihr Selbstverständnis wird durch ihre Ergebnisse ad absur-
dum geführt: Der Exeget kann der Dogmatik um der ihm anvertrau-
ten Sachewillen nicht aus dem Wege gehen, ohne in Sehemalismen
zu verfallen, und er kann auf diese Weise ganz gewiß nicht zum Pro-
blem des Kanons Stellung nehmen, weil es sich dabei primär um eine
Frage der Sache und Wahrheit und allenfalls abgeleitet um eine
solche der Autorität und der Strukturen handelt. Eine Sammlung von
Predigten aus verschiedenen Generationen mag zu weiterem Ge-
brauch benutzt und abgewandelt werden, wie Prediger das tatsächlidl
immer wieder getan haben und tun werden. Man mag aus ihr ent-
nehmen, was möglich ist, und besonders, was man nicht tun darf.
Kanon läßt sich das ernsthaft nicht nennen, selbst wenn Einzelne,
Gruppen, Konfessionen oder gar die Ökumene davon sprechen. Der
Historiker, der seine Kompetenz nicht überschreitet, wird vom Para-
digma reden.
Die radikale Kritik ist in eine eigenartige Verlegenheit geraten.
Seit der Reformation haben dogmatische Grundeinsichten oder Sy-
steme sie in ihren Dienst genommen oder zum Widerspruch heraus-
gefordert, wobei seit der Aufklärung eine bestimmte Weltanschau-
ung oder ein spekulatives System die überkommene theologische Dog-
matik aushöhlen konnten. Der Positivismus des vorigen Jahrhun-
derts, dem auf kirchlichem Felde der Biblizismus entsprach, machte
deutlich, daß historische Arbeit sich der Führung durch jegliche Dog-
matik zu entziehen begann und sich nur bestimmten Methoden ver-
pflichtet fühlte. Die dialektische Theologie begehrte dagegen noch-
mals auf, endete jedoch mit dem Zerfall zwischen Dogmatik und Exe-
gese. Die historische Arbeit am Neuen Testament ist heute fast über-
all praktisch ohne systematische Führung und ohne dogmatischen
Gesprächspartner sich selbst überlassen. Dabei zeigt sich, daß ihre
Stärke im Widerspruch und in der Korrektur bestand. Ohne Kontra-
henten wird sie steril. Sie muß nun entweder positivistisch vom De-
tail, spekulativ von Einfällen leben oder durchaus unhistarisch die
Problemgeschichte der Auslegung überspringen und von einer be-
Kritisme Analyse 393
stimmten Methodik oder in der Auseinandersetzung mit philosophi-
schen oder weltanschaulichen Strömungen ihr eigenes System entwer-
fen. Das bedeutet, daß sie theologisch letztlich ratlos ist. Solche Krisen
gehören zum Leben und müssen ausgehalten werden. Man darf sie
aber nicht verschleiern. Wenn niemand sonst, hätte die Dogmatik die
Exegese zur Sache zurückzurufen.
Daß Systematik stattdessen, natürlich unter dem Mantel noch radi-
kalerer Postulate, die Auflösung fördern kann, beweist der Aufsatz
von W. Pannenberg: Die Krise des Schriftprinzips108, der als Pendant
zu Marxsens Vortrag, freilich mit anderer Schlußanwendung, er-
scheint. Er beginnt mit der Feststellung: "Die Auflösung der Lehre
von der Schrift bildet die Grundlagenkrise der modernen evangeli-
sdten Theologie. " 107 Sie wird als nidtt rückgängig zu mamen aner-
kannt, weil der Abstand zwischen Text und Gegenwart zu groß ge-
worden ist und die von Luther gemeinte Sache der Schrift, nämlich
Person und Geschichte Jesu, für unser historisdtes Bewußtsein nicht
mehr in den Texten selbst zu fmden ist, sondern aus dem, was hinter
ihnen liegt, erschlossen werden muß 108• Für uns ist Jesus auf sehr ver-
schiedene, nicht auszugleichende Weise bezeugt109, und keine Theo-
logie kann mehr im naiven Sinne biblisch sein, weil sie sonst ihre ei-
gene Gegenwartsproblematik verfehlen würde. "Einer sachlichen
Ubereinstimmung mit den biblischen Zeugen kommt die Theologie
vielleicht gerade dann am nächsten, wenn sie ganz auf die Fragen
ihrer eigenen Zeit eingeht, um darin das auszusagen, was die bibli-
schen Schriftsteller in der Sprache und Gedankenwelt ihrer Zeit be-
zeugt haben. " 110 Eine Revision der spezifisch protestantischen Tradi-
tion hat auf eine umfassende Theologie der Geschichte ausgerichtet
zu sein 111 • Denn es mündet "die Problemgeschichte des Schriftprin-
zips in die Frage nach der Universalgeschichte" 112 • Solchen theologi-
schen Astronauten ist Glück zu wünschen. Solange sie selbst ihr Un-
ternehmen unter ein "Vielleicht" stellen und uns statt des Evange-
liums nur ein Projekt vorlegen, wird man sich aber besser ihnen nicht
anvertrauen.
auf die Einmaligkeit der Offenbarung wie auf die Abgrenzung des
Kanons angewandt wird. Denn Einmaligkeit besagt im Neuen Testa-
ment das eschatologische "ein für alle Male", während es hier offen·
sichtlich historisch ein in Raum und Zeit begegnendes, nicht restlos
zu erklärendes oder überhaupt nicht zu begründendes Geschehen be-
zeichnet. Daß Geschichte nicht wiederholbar ist, leuchtet ein. Ganz so
einfach liegt es nad:t dem Neuen Testament aber nicht, weil Offen-
barung dort eben nicht, wie man es beim Kanon tun muß, als abge-
schlossen betrachtet wird. Das Stichwort "Kontingenz" wird also un-
reflektiert gebraucht und verdunkelt mehr, als es erhellt.
Immerhin konnte W. Marxsen von hier aus nochmals in dem Auf-
satz "Kontingenz der Offenbarung oder (und?) Kontingenz des Ka-
nons"113 nachstoßen. Der Exeget zeigt sich dabei interessanterweise
am dogmatischen Problem des Kanons stärker orientiert als der Syste-
matiker und betont deshalb entschieden, seinerseits keineswegs die
auctoritas canonica aufgeben zu wollen114 • Mit Recht wehrt er sich
dagegen, daß man einfad:t die faktische Vorgegebenheit des Kanons
hinnimmt, die Kontingenz der Offenbarung mit derjenigen der kirch-
lichen Entscheidung zu verbinden und die experientia ecclesiae zum
eigentlichen Kriterium zu machen sucht115 • So korrigiert er nun seine
früheren Bemerkungen, indem er die Frage nach einem Kanon im
Kanon für nicht so abwegig erklärt. Denn er will von einer Verlänge-
rung der Offenbarung nichts wissen. Ihm geht es um die viva vox Dei,
auf welche durch alle kird:tliche Tradition hindurch zurückgefragt
werden muß 118 und die ihren Niederschlag und Ort in der apostoli-
schen Erstverkündigung gefunden hat117 • Damit ist zum früheren
Aufsatz zurückgelenkt. Doch wird in der Auseinandersetzung schär-
fer, als vorher erkennbar war, der Akzent auf das Gegenüber des
Wortes Gottes zur kirchlichen Tradition gelegt, eine bloß historische
Betrachtungsweise also durchbrochen.
Ebenso deutlich wie dieses Anliegen ist freilich, daß die weiterhin
benutzten Kategorien und die ihnen zugrundeliegende Anschauungs-
weise solches Anliegen nicht angemessen herauszustellen vermögen.
Auf die Problematik der Rede von "apostolischer Erstverkündigung"
wird erneut nicht eingegangen. Was "Handeln Gottes in Jesus von
Nazareth" besagt, ist nicht geklärt. Stattdessen kann festgestellt wer-
den, der Kanon sei nichts anderes "als die Ur-Äußerung der Kirche",
die also vor dem Kanon existiert118, und von da aus findet sogar
Lengsfeld Zustimmung119• Vielleicht zeigt sich die Aphorie, in wel-
111 Zuerst in: NZsystTh 2 (1960), S. 355-364, zitiert nadJ. Mar.rsen, Der Exeget
eher Marxsen steckt, nirgends deutlicher, als wenn er von der viva
vox Dei statt der viva vox evangelii spricht. Weil damit die früheste
Predigt anvisiert wird, diese Predigt aber an die ältesten Zeugen ge-
bunden bleibt und insofern kirchliche Äußerung ist, kann man sie
zwar von späteren kirchlichen Verlautbarungen distanzieren oder
durch Beziehungsbögen mit ihnen zusammenbringen, kommt man
jedoch aus dem Historismus nicht heraus. Im Gegenteil, man gestat-
tet ihm nun sogar, die viva vox evangelii, die doch zu allen Zeiten,
und zwar nicht bloß abgeleitet, ertönen soll, auf einen bestimmten
Zeitraum einzuschränken. Das Handeln Gottes in Jesus von Naza-
reth ist ebenso chronologisch fixiert wie die Erstverkündigung. Das
Evangelium hat seine ausgrenzbare Zeit. Der Kanon gilt darum als
abgeschlossen. Die späteren Geschlechter vernehmen nicht das eigent-
liche Evangelium, sondern so etwas wie den Widerhall der himmli-
schen Gottesstimme, von welchem das Judentum sprechen konnte.
Der Kritiker, der dem verzweifelten Bemühen zusieht, den Sach-
zwang historistischer Betrachtungsweise zu durchstoßen und die Au-
torität des Wortes Gottes gegenüber kirchlicher Überlieferung im all-
gemeinen geltend zu machen, fragt sich: Was in aller Welt veranlaßt
den Protestanten, die Formel viva vox evangelii zu vermeiden und zu
ersetzen? Er steht auf der Schwelle, tritt aber nicht ein. Denn mit
dem Stichwort "Evangelium" ist allerdings die strenge Bezogenheit
auf den Jesus von Nazareth verbunden, das Phänomen der Erstver-
kündigung nicht belanglos, aber auch nicht mehr letztlich entschei-
dend zu nennen. Kriterium wird jetzt die unverwechselbare Sache,
welche diesen Jesus mit seinen Jüngern und Zeugen zusammenbringt
oder von ihnen scheidet, eine Sache, die selbst historisch durch die
Firmierung "apostolisch" nicht gedeckt wird und den kirchlichen Ka-
non allerdings qualifiziert, ohne sich in ihm rein darzustellen oder ihn
in seinem faktischen Umfang zu legitimieren.
predigen (S. 267 ff.). Die kritische Forschung vermag, sofern sie die
Beziehung zur wirklichen Geschichte des wirklichen Menschen auf-
deckt (S. 263), eine Hilfe gegen den Doketismus zu bieten (S. 270,
273). Ob man am Begriff "Kanon" festhalten soll, ist fraglich, weil
der Glaube sich nicht auf ein formales Prinzip richtet, Gottes Wort
nicht zuerst in Jesus inkarniert und später in der Bibel "inkodifiziert"
wurde (S. 264 f.).
Der vorhandene Kanon wird also dialektisch gesehen. Erweist sim
vor allem aus kirchlicher Erfahrung, daß Gott durch ihn als Werkzeug
seines Wortes handelt, so hat er es doch auch durch menschliche Irr-
tümer hindurch getan. Die Rückfrage nach dem Historischen und die
Einsicht in Unhistarisches bieten andererseits noch nicht als solche das
Kriterium des Maßgeblichen. Das ist vielmehr in der paulinisch-re-
formatorischen Rechtfertigungsverkündigung zu sehen, welche der
Sache nach wirklich die zentrale Auslegung des in Jesus gesprochenen
Gotteswortes darstellt. Allerdings muß auch diese These nochmals
dialektisch gesichert werden, und zwar in dreifacher Hinsicht: Erstens
darf die Rechtfertigung nicht von Jesus gelöst werden, sei es selbst
derart, daß man ihn bloß zu ihrem ursprünglichen Prediger macht.
Zweitens hat man nicht ausschließlich auf die Lehre von der Recht-
fertigung zu blicken, als wäre die Bibel ein Lehrbuch der Dogmatik.
Sie beschränkt sich nicht auf Aussagen über Christus und die Recht-
fertigung und trägt diese in verschiedener Terminologie und Gestalt
vor. Man hat drittens zu bedenken, daß im Verkündigungsgeschehen
neben situationsbedingten Divergenzen auch sachbegründete Para-
doxien zutagetreten, etwa in der Zuordnung vom Zuspruch der Gnade
zum Entscheidungsruf oder der Botschaft vom Gericht nach den
Werken neben der von der Rechtfertigung des Sünders. Tiefgreifende
geschichtliche Unterschiede in der Verkündigung dürfen nicht über-
sehen werden, eine logism-einheitliche Synthese ist nicht zu fordern.
Gegensätzliche Aussagen gerade auch im Zentralen können nimt
durch Option aufgelöst werden, sie sind vielmehr zusammenzuhalten
(S. 276 ff.).
Dieser Betrachtung entspricht es, wenn vor der Abstumpfung in
einem Systemdenken ebenso gewarnt wird wie wenn Umdeutung des
Textes als unerlaubt gilt und schließlim die Verwendung fragwürdi-
ger Schriftelemente zur Zerstörung der Kirche als Mißbraum abge-
lehnt wird (S. 279 ff.). Die Obereinstimmung mit Ebelings kontrovers-
theologisch-hermeneutischer Besinnung auf das Sola Scriptura ist in al-
len wesentlichen Zügen deutlich. Es ist absolut nicht einzusehen, daß
radikale historische Kritik am Neuen Testament nicht zum gleimen Er-
gebnis gelangen muß. Sie wird unter Umständen die Akzente im ein-
zelnen smärfer zu setzen haben als der Systematiker. Gerade der Hi-
KritischeAnalyse
storiker wird, sofern er es unentwegt mit dem Detail und den Nuan-
cen zu tun hat, jeglichem Systemdenken mißtrauisch gegenüberste-
hen und vor ihm geschützt sein. Er kann sich nicht einmal der Me-
thode des Konkordanzhörens verschreiben, so gewiß man Einzelhei-
ten immer nur im Zusammenhang nicht bloß des Kontextes, sondern
auch im Widerspruch anderer Stimmen exakt zu interpretieren ver-
mag. Er hat den möglichen Ausgleich ebenso zu bedenken wie die mit
jedem neutestamentlichen Text unvermeidlich gegebene Frontstel-
lung und wird so auf ein Ganzes schauen, für das Antithetik wie im
Leben selber kennzeichnend ist. Doch darf ihn das nicht dazu verfüh-
ren, Gegensätzlichkeiten allein aus der Verschiedenheit der Situatio-
nen oder der Polarität theologischer Aussagen zu verstehen, in denen
jede Seite notwendig eine Kehrseite hat und also komplementär, zu-
weilen auch paradox ergänzt und abgesichert werden muß. Umge-
kehrt behält im Ganzen nur dann das Einzelne seine Bedeutung,
wenn es nicht bloß die Logik, sondern möglicherweise selbst das je-
weilige theologische Zentrum zu sprengen vermag. Kontradiktorische
Gegensätze lassen sich im Neuen Testament nicht ohne weiteres aus-
schließen. Sie sind im Gegenteil dort von vomherein zu erwarten,
wenn anders es im Neuen Testament menschlich hergeht und der Do-
ketismus nicht doch versteckt siegen soll. Dann ist aber nicht auszu-
schließen, daß sogar kirchenzerstörende Aussagen, Texte und Schrif-
ten dort Platz haben. Ein solches Faktum wäre natürlich beunruhi-
gend und bewiese, daß das Neue Testament ein gefährliches Buch ist.
Wird jedoch Kirche nicht am ehesten zerstört, wenn diese Gefährlich-
keit ausgeklammert wird? Daß faktische Kirche gestört und zerstört
wird, besagt letztlich wenig, weil faktische Kirche nicht selbstver-
ständlich die Kirche Christi ist und selbst diese stets neu über Gräber
schreitet. Auch in der praktischen Anwendung der Bibel darf es nicht
zutiefst um die Ekklesiologie, hat es primär um die Christologie zu
gehen. Falls der Systematiker sich diese Interpretation seiner Inten-
tion durch den Exegeten gefallen läßt, erkläre ich mich völlig mit ihm
einverstanden.
lll. Zusammenfassung
1• Lieder der Liebe, ein biblisdles Buch, 1776. Herdcrs Sämtl. Werke, ed.
Suphan, 1877 ff., Bd. 8, S. 631.
111 Briefe, das Studium der Theologie betreffend (1780), 1 1785. Sämtl. Werke
Bd. 10, S. 140.
111 Ebd. S. 257 f.
Zusammenfassung 4{)1
diesem Horizont ist auch die Frage des Kanons anzufassen. Erneut
muß aber das Unrecht der These in ihrer Verabsolutierung erblickt
werden, wie das schon gegenüber dem Aspekt der Lehre geschah. Das
Motto: "Die Geschichte beweiset die Schrift, die Schrift die Geschich-
te" wird zum Leitmotiv der Auslegung bis in die Gegenwart. Dieses
Thema wird variiert, wenn man von Heilsgeschichte spricht oder wie
Pannenberg die Universalgeschichte postuliert. Es klingt zum min-
desten an, wenn stattdessen von Verkündigungsgeschichte die Rede
ist, obgleich dann das Gewicht wieder auf das Wort Gottes und die
von ihm hervorgerufene Predigt zurückfällt. Die Gefahr dieser An-
schauung liegt darin, daß, wie Herder das Alte Testament auf den
"Geist des Volks" zurückführte, die urchristliche Botschaft mit dem
Geist der Kirche, in ihrer Variation mindestens mit dem Geist der Ge-
meinden identifiziert oder aus ihm abgeleitet wird. Evangelium und
kirchliche Tradition verschmelzen miteinander, und der Kanon wird
zur mehr oder minder bewußt ausgewählten, mehr oder minder kon-
tingenten Dokumentation dieser Tradition in ihrem frühesten Sta-
dium. Selbst das Verständnis der Botschaft als "sich selber durchset-
zend" denkt noch aus einem Schema der Kontinuität und Konkordanz
der Zeugnisse heraus, welche durch kirchliche Erfahrung verbürgt
werden.
Die Analyse hat darauf aufmerksam machen wollen, in welche hi-
storischen und theologischen Schwierigkeiten wir geraten, wenn wir
in dieser Weise die urchristliche Geschichte in das Zentrum der Ka-
nonproblematik rücken. Wir müssen das mit fragwürdigen Postula-
ten unterbauen, nivellieren die neutestamentliche Verkündigung,
können das Entscheidende nur durch vieldeutige Chiffren umschrei-
ben. Keine Historie läßt sich jemals so weit aufhellen, daß sie letzte
Kriterien an die Hand gäbe und letzte Entscheidungen im Vertrauen
auf sie ermöglichte. Es ist ein Irrtum, wenn man meint, mit der
christlichen Geschichte verhielte es sich anders. Will man Eindeutig-
keit von hier aus gewinnen, muß Ekklesiologie dafür sorgen und ent-
sprechend in die Mitte gestellt werden. Nun ist nicht im mindesten
daran zu rütteln, daß der Kanon wirklich das Buch der Kirche ist, in
seinen Schriften frühchristliche Tradition zu Worte kommt, ihre
Sammlung wesentlich unter dem Gesichtspunkt ihrer Bewährung im
Gottesdienst erfolgte, die Aufnahme der Antilegomena kirchlicher
Auswahl und kirchlichen Kompromissen zu verdanken ist. Umge-
kehrt wird die ekklesiologische Betrachtungsweise natürlich weder
Christologie noch die Lehre vom göttlichen Worte ausschalten. Wie
zumeist in der Theologie geht es um die Setzung der Akzente. Es ist
ein alles bestimmender Unterschied, ob Christus der Kirche als Haupt
integriert wird oder als ihr Richter und Herr gegenübersteht, ob das
26 Käsemann, Kanon
Zusammenfassung
siert werden. Die ganze Schrift und damit die Vielfalt kirchlicher
Tradition wird vom Protestantismus festgehalten, wie Bekenntnisse
und Dogmen festgehalten werden: Damit wurde gegenüber drohen-
den Fehlentwicklungen oder Überwucherungen der rechten Tradi-
tion eine Grenze gezogen, und zwar aus kirchlicher Erfahrung her-
aus, durch faktische oder grundsätzliche Entscheidungen, an denen
wir als der Stimme der Väter und Markierungen inmitten eines Wi-
derstreites nicht achtlos vorübergehen können. Wir respektieren sie
sogar zunächst, weil wir auch in der Kirche von Vorgegebenheiten
tmd Vorentscheidungen nicht abstrahieren dürfen und wollen. Wir
sind nicht zuerst auf dem Plan gewesen und haben weder die Fähig-
keit noch die Absicht, die Vergangenheit zu überspringen, unsere
Welt und unsern Kanon neu zu schaffen.
Es wirdangesichtsbestimmter gegenwärtiger Radikalismen sogar
gerechtfertigt sein, die Autorität kirchlicher Vergangenheit für un-
sere Gegenwart anzuerkennen und Vertrauen für sie zu fordern. Mit
den Bilderstürmern wollen wir keineswegs verwechselt werden, so ge-
wiß die herrschenden Zustände immer wieder Verständnis für sie zu
wecken vermögen rmd gelegentlich selbst Bildersturm der Kirche
dienlich ist. Wennall das gesagt ist, muß aber ebenso deutlich hervor-
gehoben werden, daß kirchliche Autorität, Bekenntnisse und Dogmen
für uns nicht letzte Instanz sind, gegen welche es Appellation nicht
mehr gibt; daß infolgedessen auch die Losung tota scriptura für uns
nicht bedeutet, wir wollten alles und jedes in der Schrift akzeptieren
und insofern ihre Gesamtheit als solche zur letzten Norm werden
lassen. Die ganze Schrift hat kirchliche Autorität für sich. Alle kirch-
liche Autorität muß sich jedoch an derjenigen Christi messen, von ihr
her richten lassen. Sie hat den Herrn nicht so integriert, daß er sie nur
oder im allgemeinen zu sanktionieren hätte, sie allenfalls auch refor-
mieren ließe. Sie hat stets diesen Herrn als letzte Appellationsinstanz
sich gegenüber und so faktisch sogar gegen sich. Grundsätzlich be-
kundet er seine Autorität immer sowohl durch sie wie gegen sie. Das
gilt auch für den Kanon.
Sola scriptura meint, daß wir die ganze Schrift behalten, um nicht
dem Individualismus der Einzelnen, der Gruppen und Konfessionen
zu verfallen, daß wir jedoch andererseits die ganze Schrift stets neu
und nun auch von den Einzelnen, den Gruppen, den Konfessionen her
zu befragen haben, ob und wie weit sie "Christum treibet", weil wir
in Dingen des Glaubens uns nicht einer fides implicita überlassen
wollen, ständig für ihn persönlich verantwortlich sind und kirchli-
chem Zufall, kirchlichen Kompromissen, der Willkür der Institutionen
uns ebenso wenig ausliefern wie unserm eigenen Gutdünken. Wird
damit aber nicht die Quadratur des Zirkels gefordert? Das ist nicht
Zusammenfassung
der Fall, wenn sich klar und ausreichend bestimmen läßt, "was Chri-
stum treibet". Die wirkliche und permanente Krise der Christenheit
besteht darin, daß sie solcher Aufgabe gegenüber stets in Verlegenheit
geriet, wie bereits das Neue Testament beweist. Man kann die Ekkle-
siologie schon darum nicht zum Hauptproblem in der Kanonfrage
machen, weil diese Verlegenheit sich durch unsere ganze Geschichte
hindurchzieht, sich in den Divergenzen und Widersprüchen des Neu-
en Testamentes ebenso äußert wie die Notwendigkeit, in veränderter
Situation dasselbe auf andere Art sagen zu müssen. Wo nur noch For-
meln und Chiffren auf das "Christusgeschehen" deuten, wo die um-
strittene Geschichte notgedrungen das Evangelium einzig in seinem
jeweiligen Niederschlag umschreiben muß oder sogar ersetzt, wird
bestenfalls ein Wegweiser mitten in den Dschungel gestellt, der Rich-
tung angeben mag, aber nicht garantiert, daß man auf dem Wege
bleibt und das Ziel findet.
Der Kanon erhebt im ganzen den Anspruch, Gottes Wort zu sagen
oder es zu kommentieren. Das Neue Testament will tatsächlich im
ganzen als Christuszeugnis verstanden werden. Wir müssen das ge-
hört haben, wenn das Evangelium vernommen werden soll. Nicht die
Geschichte, sondern die Verkündigung steht für Wahrheit ein, so daß
sie darauf auch zur Rechenschaft gezogen werden kann und muß. Die
Geschichte offenbart Vielfältigkeit und Vieldeutigkeit. Sofern Gottes
Wort oder das Evangelium in die Geschichte eingehen, partizipieren
ihre Dokumentationen an dieser Vielfalt und Vieldeutigkeit. Man
kann diese Aporie nicht überwinden, indem man nun auf Lehre im
Rahmen einer harmonisierenden oder auswählenden Systematik re-
kurriert. Dabei kommt es tatsächlich wieder nur zur Vielzahl der Kon-
fessionen und Denominationen, und die Verweise auf die Geschichte
oder das Kerygma haben ihre Berechtigung darin, uns vor solchem
Doktrinarismus zu schützen. WasChristum treibet, wird ebenso wenig
einfach aus der Erfahrung der Einzelnen, der Gruppen oder der Kir-
chen ablesbar. Denn die gemachten Erfahrungen widerstreiten ein-
ander mindestens so oft, wie sie zusammentreffen. Offensichtlich kann
es klar und ausreichend nur christologisch bestimmt werden. Doch ge-
nügt das nicht. Denn es gibt viele Christologien im Neuen Testament
und heute noch, so daß sich hier das Dilemma der Lehre nur konkre-
tisiert.
Verschiedene Christologien sind nicht ohne weiteres gegensätzlich,
sondern mögen sich, im einzelnen mehr oder weniger angemessen,
ergänzen, situationsbedingt andere Züge betonen. Das Gewicht muß
hier offensichtlich weniger auf Ausdrucksweise und umfassende Dar-
stellung als auf das christologisch Unverwechselbare und schled:J.ter-
dings Unvermeidbare fallen. Christologisch unverwechselbar und un-
Zusammenfassung
Gott und Abott, Christus und Antichrist, Glaube und Aberglaube, Kir-
che und Gegenkirche, wobei die Gestalten und Fronten dieses Kampfes
dauernd sicl:t ändern. Als geschicl:ttlichesDokument bekundet auchdie
Schrift solchen Kampf und zieht uns mit ihrer Verkündigung in ihn
hinein. Anders werden Bibel und Predigt doketisch betrachtet, und
erfahren wir aus ihnen nicht, was es um den wirklichen Menscl:ten,
was es um uns selber ist, selbst um christliche Existenz. Der Kanon
wird als solcher dadurch legitimiert, daß er uns in jene durch Christus
und die Rechtfertigungsbotschaft bestimmte Wirklicl:tkeit stellt und
sie durch die frühchristliche Oberlieferung exemplarisch verdeutlicht.
Es ist nicht die Wirklichkeit allein des rechten Glaubens, die es in die-
ser Isolation irdisch nie gegeben hat und geben kann. Es ist die Wirk-
lichkeit, in welcher Glaube angefochten bleibt und sich ständig dem
Aberglauben zu widersetzen hat, in welcher es deshalb auch echte
Predigt und Lehre nur in der Auseinandersetzung mit tmangemesse-
ner und falscl:ter gibt, in welcher es schließlich das Evangelium nicht
ein für alle Male als Destillat aus Sätzen und Texten, sondern nur in
der viva vox evangelii quer durch den Raum anderer Heilslehre gibt.
Wenn wir auf den Gedanken kämen, die Schrift auf das Evangelium
reduzieren zu wollen, würde zuletzt von der Schrift nichts mehr übrig
bleiben. Theologisch aber wäre der Himmel zum Ort des Evangeliums
gemacht, während es doch die Erde sein muß. Das Recht des Kanons
besteht gerade darin, daß er uns in irdische Wirklichkeit zurückstößt,
wenn wir wie die Glossolalen allein auf das Vernehmen himmlischer
Stimmen und ihre reine Wiedergabe bedacht sind. Weil die irdische
Wirklicl:tkeit der Ort des Evangeliums ist, sind Kanon und Evange-
lium nicht identisch, aber zusammengehörig. Der Kanon gibt das
Evangelium so wieder, wie es in die Geschichte eingegangen ist. Er
bezeichnet den Raum des Evangeliums exemplarisch in ausgewählter
urchristlicher überlieferung. Dazu hat die Reformation mit ihrem
Sola Scriptura jagesagt.
An dieser Stelle mag man sich nochmals an Mareion erinnern.
Auch er hat den urchristlich qualifizierten Raum des Evangeliums
anzeigen wollen. Er hat es jedoch unter dem Gesichtspunkt der un-
vermischten reinen Lehre getan und konnte deshalb nicht einmal die
Paulus-Uberlieferung unkorrigiert aufgreifen. Er ragt aus seiner Zeit
hinaus, weil es ihm um das unverfälschte Evangelium ging. Gerade
das verführte ihn aber dazu, dem Evangelium den Lebensraum zu
nehmen, die Wirklichkeit und die Geschichte. So gehen diesem zu-
gleich die Freiheit und die Angefochtenheit verloren. Evangelium
und Kanon dürfen sich nicht decken, wie Mareion es wollte. Denn das
Evangelium bleibt nicht länger es selbst, wenn es allein auf dem Plan
steht. Es wird zur lebensfremden und lebensfeindlichen Doktrin.
Zusammenfassung 409
wenn es den Ort in der Welt nimt mehr innehat, von dem aus es der
Welt widersprimt. Die Alte Kirche hat mit Remt den Kanon Mareions
durm ihren ersetzt, obgleich dieser das Evangelium viel tiefer in ir-
dische und geschichtlime Problematik zog. Genau das ist nimt nur
historisch, sondern auch theologisch notwendig, weil die viva vox
evangelii nimt irdischer Widerhall himmlismer Stimmen, sondern
Gottes Herausforderung an Mensmen und Welt ist, jeden irdischen
Platz und jede neue Zeit angreifend und durchdringend, darum kein
depositum fidei, das selber unangreifbar wäre, sondern von glauben-
den Menschen nach ihrem Verständnis und Vermögen bezeugt, vom
Unglauben verworfen, vom Aberglauben verfälsmt.
Das Evangelium entreißt nicht dem Kampffeld der Erde, sondern
stellt in es hinein, und der Kanon bekundet das, wahrt insofern den
Charakter des Evangeliums, das eben nicht eine Summa theologica
ist. Grundsätzlim gesehen war es nimt notwendig, den Kanon auf das
Zeugnis der Urdtristenheit zu beschränken. Jede Zeit bietet den Kon-
text zum Evangelium. Doch war es weise, solme Begrenzung vorzu-
nehmen, weil kirchliche Tradition immer komplexer und undurch-
smaubarer wird, je weitere Kreise das Evangelium zieht, und alles
Leben aus der Rückbesinnung auf das Vorgegebene seiner selbst be-
wußt wird. Der abgegrenzte Kanon ist das Zeichen dafür, daß wir
ständig zwar aufs neue und für uns persönlich zu glauben lernen
müssen, unser Glaube jedoch nimt durch uns und unsere Situation
begründet wird, sondern sich am vorgegebenen Evangelium und jenem
Christus orientiert, welcher der gekreuzigte Nazarener ist. Dessen Be-
deutung für die verschiedenen Generationen wird auf verschiedene
Weise je nach der Situation verkündigt werden, wie es smon die Va-
riationsbreite des urchristlimen Kerygmas erkennen läßt. Anders
käme es nicht zur viva vox evangelii, die durdt Schallplatten, Formeln
der Theologie und Gemeindefrömmigkeit, dogmatische Doktrinen
nimt zu ersetzen ist. Christi Bedeutung für Mensmen und Welt wird
aum angemessener und unangemessener heraustreten, je nachdem
wir mehr durch überkommenes Erbe oder Bedrängnis der Gegenwart
bestimmt werden, unsere Sendung durch private oder institutionelle
Introvertiertheil bedroht ist, die Gegner wechseln. So ist die verkün-
digende Gemeinde nicht bloß Werkzeug des Evangeliums, sondern
steht ihm immer auch im Wege, weil sie das corpus permixturn bleibt.
So kommt es endlich dazu, daß diese Gemeinde, die in der Welt lebt,
sich von ihrer Umwelt Formen und Inhalte der Verkündigung auf-
zwingen läßt, welche den Glauben faktisch zum Aberglauben werden
lassen. All diese Möglichkeiten werden bereits im uns vorgegebenen
Kanon als einer geschichtlimen Dokumentation simtbar. Sie müssen
es werden, wenn er nicht das vom Himmel gefallene Buch, die durm
410 Zusammenfassung
ihn sprechende und ihn akzeptierende Gemeinde die Schar der Ange-
fod:ltenen und noch nicht Vollendeten ist. Historische Analyse und
theologische Kritik sind darum der Bibel gegenüber erforderlich. Sie
werden beide auf ihre verschiedene Weise zu einem Kanon im Kanon
führen, wie es selbst die antithetisch verwandte Losung tota scriptura
ist. Es gibt kein Verstehen eines geschichtlichen Zusammenhangs, das
nicht von einer Mitte aus erfolgen müßte. Es gibt keine historische
Analyse und theologische Kritik, die sich nicht stets neue Oberprü-
fung gefallen lassen müßten. Doch ändert das darin nichts, daß beide
nicht zum Verstehen führen, wenn sie über dem Detail kein Zentrum
mehr anzugeben wissen. So vollzieht sich Interpretation historisch,
indem sie die Gewichte richtig einschätzt und verteilt, theologisch dem
Neuen Testament gegenüber, indem sie Kanon und Evangelium so-
wohl unterscheidet wie beieinanderhält.
Oberspitzt zusammengefaßt läßt sich sagen, daß über dem d:uistli-
chen Kanon die Oberschrift stehen könnte: Dem unbekannten Gott.
Mareion hat das richtig gesehen, daraus nur falsche Folgerungen ge-
zogen. Die lukanische Areopagrede andererseits beweist, daß der in
dem gekreuzigten Nazarener offenbarte unbekannte Gott in christ-
licher Predigt und so schon im biblischen Kanon oft genug die Züge
und das Wesen der Juden und Heiden durchaus bekannten Gotthei-
ten erhielt, weil sich das Evangelium in Welt und Geschichte einließ
und so von seiner jeweiligen Umwelt her interpretiert werden konnte,
auf die es bezogen werden mußte. Der Kanon ist die durch frühchrist-
liche Zeugnisse begrenzte Dokumentation des Widerstreites zwischen
Evangelium und Welt, kein Lehrbuch der pura doctrina, nicht bloß
oder vomehm.lim die Zusammenfassung apostolischer Tradition und
insofern wimtigste dogmengeschichtliche Urkunde, erst remt nicht
primär privates oder kirchliches Erbauungsbuch. Er ist die Dokumen-
tation jener Geschimte, in welcher das Evangelium vom unbekannten
Gott erstmalig in die Welt der Götter stieß.