BUCHBESPRECHUNGEN
die in den Blick rücken möchten, dass es sehr wohl eine
muslimische Distanzierung und auch einen hermeneu-
tischen Umgang mit den entsprechenden Koranversen
gibt. Die Bandbreite ist allerdings sehr groß und stellt
die inhaltlich wegweisende Marrakesch-Erklärung, die
nicht gruppenbezogene und individuelle Bürgerrechte
zu begründen sucht, in denselben Zusammenhang wie
den zumindest diskussionswürdigen „Offenen Brief an
al-Baġdādī“, der ganz im konservativen bis reaktionären
Quellenverständnis verbleibt. Kuschel sucht in diesem
Punkt eher den breiten Konsens in der Ablehnung des
Terrorismus als die Analyse, welches Islamverständnis
in der Lage ist, eine plurale Gesellschaft zu einen. Auch
wenn man Kuschel keineswegs eine Ausblendung proble-
matischer Stellen und Entwicklungen vorwerfen darf, ver-
folgt er hier wie insgesamt die Lesart, die Verbindung von
politischem Islam zu militantem Dschihadismus wenig zu
akzentuieren und die religiös motivierte Gewalt allein als
„Islam-Konstrukt“ (148) zu sehen.
Kuschel ist nicht nur belesen und im Gespräch, sondern
spricht auch mit der Autorität eines engagierten Profes-
sorenlebens. Dies bedeutet vor allem: Er stellt nicht (nur)
dar, sondern er will etwas. Er will bewegen, appellieren,
ja, in gewisser Weise auch erziehen. Dies schlägt sich
bereits formal darin nieder, dass Kuschel wiederholt gut
handhabbare und prägnante Kataloge zusammenstellt:
Helmut Schmidts „10 Erkenntnisse im Interesse des Dia-
logs“, 3 Leitlinien für einen christlichen Umgang mit dem
Koran oder „10 Prinzipien einer Strategie der Entfeindung
und Vertrauensbildung“ in der Analyse von Barack Oba-
mas Kairoer Rede. Neben der Analyse der koranischen
Figuren, deren Überarbeitung allerdings (mit Ausnahme
des Kapitels über Jesus und Maria) doch zu gering ist,
als dass man das Buch erwerben müsste, liegt in diesem
Zueinander von gesellschaftspolitisch-staatsmännischem
Raisonnement und theologischen Überlegungen die ein-
deutige Stärke des Buches. Inhaltlich baut dieses Zueinan-
der auf der eindeutigen Annahme auf, dass Religionen
formbar sind: Es gilt, zugunsten der Verantwortung für
den Frieden und das Zusammenleben (59–65), bestimmte
Traditionen auszuwählen und zu akzentuieren und andere
zurückzudrängen. Ähnlich wie Khorchide sieht Kuschel
religiöse Traditionen, systematische Überlegungen und
Zusammenhänge hier wesentlich als „Narrative“, die es
aufzunehmen oder zu denen es „Gegennarrative“ (62) zu
etablieren gilt. Auch wenn die Grenze zur planenden Reli-
gionstechnologie manchmal haarscharf gestreift wird, darf
man das Anliegen Kuschels nicht als bloßen Funktiona-
lismus diskreditieren. Es ist zutiefst gegründet in der libe-
ralen theologischen Tradition, die den Kern von Religion
in ethischer Weisung und individueller Religiösität sieht.
Dies ist es auch, was dann allen drei Religionen zugrunde
liegt und sie im Innersten verbindet: Die individuelle Hin-
gabe an den einen Gott und die Verantwortung für den
Nächsten – kurz, islām im nicht konfessionellen Sinne.
Alles andere – Dogma, Ritus und Institution – ist in der
Gefahr, Menschen zu separieren und muss – aber kann –
deswegen auch gestaltet werden. „Religion ist machbar,
Herr Nachbar!“ möchte man in Erinnerung an friedens-
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bewegtere Zeiten  – um ein Lieblingswort von Kuschel
aufzunehmen – „ausrufen“.
Von Tobias Specker SJ, PTH Sankt-Georgen,
Frankfurt a. M.
Blume, Michael: Islam in der Krise. Eine Weltreli-
gion zwischen Radikalisierung und stillem Rück-
zug. Ostfildern 2017, 191 Seiten. ISBN 978-3-84360-
956-2
Mit seiner neuesten Veröffentlichung legt Michael Blume
einen wichtigen Beitrag für die Diskussion um die angeb-
lich globale Islamisierung vor; „Islam in der Krise“ unter-
zieht das Narrativ einer drohenden Expansion des Islam
einer kritischen Prüfung. Unter Rückgriff auf statistische,
historische, wirtschaftliche und ideologische Zusammen-
hänge stellt er dabei einerseits den Schluss auf die Islami-
sierung als solche infrage, versucht aber andererseits auch
aufzuzeigen, wo das (von Muslimen wie Nichtmuslimen)
wahrgenommene Selbstbewusstsein des Islam darüber
hinwegtäuscht, dass es sich bei genauerem Hinsehen um
einen Scheinriesen handelt. Blume richtet sich mit seinem
Buch explizit an ein breites Publikum.
Das erste Kapitel bearbeitet das Problem, statistisch über-
haupt zu erfassen, wie hoch der Anteil von Muslimen an
der Bevölkerung ist. Zunächst weist er die übliche Grund-
annahme zurück, dass die Mitgliedschaft in einer Kirche
bzw. Religionsgemeinschaft, wie in Deutschland üblich,
zur Erfassung der Zahl von Gläubigen genutzt werden
könne. Dies beruhe, so Blume, auf der Übernahme der
überkommenen christlichen Vorstellung von Religion als
Entscheidung, die so für andere Religionen nicht gelten
könne. Schließlich bezieht der Autor auch das von ihm als
„stillen Rückzug“ bezeichnete Phänomen in seine Betrach-
tung ein, wonach viele Menschen mit muslimischer So-
zialisation die Religion kaum oder nicht praktizierten und
ihren Glaubensvorstellungen und Institutionen gegenüber
skeptisch oder kritisch seien. Blume will hier auch einen
Zusammenhang zu der mangelnden religiösen und zivil-
gesellschaftlichen Freiheit in islamisch geprägten Gesell-
schaften herstellen. Er sieht diese fehlende Freiheit und
den Einfluss von Politik und Staat als ursächlich für die
fehlende Selbstorganisation derjenigen Muslime an, die
zwar nicht unbedingt atheistisch sind, sich aber nicht von
den bestehenden religiösen Angeboten angesprochen füh-
len.
Blume liefert in diesem Zusammenhang zahlreiche Daten
aus Befragungen und Statistiken, sowohl aus Deutschland
wie auch aus islamischen Ländern.1 Was dem Kapitel
jedoch fehlt, ist die übergreifende Frage, welche Rolle die
nationalstaatliche Ordnung spielt, die die Welt seit dem
19.  Jahrhundert bestimmt. Die Frage nach nationaler
1 Ähnlich und etwas ausführlicher bereits Rohe, Mathias: Der
Islam in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme, München 2016,
S. 75–80.
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Zugehörigkeit wird ja seither nicht nur ethnisch, sondern
durchaus auch religiös gefasst. Eine Betrachtung, welche
Konzepte von Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft in
der islamischen Vormoderne und heute das Problem der
Religionsfreiheit überhaupt erst bedingen, bleibt aus. Es
wäre z. B. zu fragen, inwiefern die christliche Vorstellung
von Religion als confessio sich nicht nur auf das Konzept
der Religionszugehörigkeit auswirkt, sondern auch auf den
Austritt aus einer Religion.
Im zweiten Kapitel führt der Autor die „Erstarrung“
des Islam besonders auf das Verbot des Buchdrucks im
Osmanischen Reich zurück, das von 1485 bis 1727 bestand.
Hierzu stellt er das hohe Niveau von Bildung, Kultur und
Wissenschaft der klassischen islamischen Zeit den spä-
teren Entwicklungen gegenüber. Gleichzeitig dient ihm
der europäische Aufschwung in den genannten Bereichen
seit dem 15. Jahrhundert als Kontrastfolie. Auch zeich-
net Blume in diesem Zusammenhang das Problem einer
„Lese- und Bildungskrise“ bei Moscheegemeinden und
ihren Imamen, deren fehlendes intellektuelles Niveau
wiederum mitverantwortlich sei für den stillen Rückzug,
wie in Kapitel 1 beschrieben. Der letzte Teil des Kapitels
skizziert schließlich die Umbrüche durch digitale und
weltumspannende Kommunikationsformen als Chance
und Herausforderung zugleich für die islamische Reli-
gionsgemeinschaft: Einerseits erlaube sie, die verkrusteten
Religionsstrukturen aufzusprengen; andererseits würden
die neuen Technologien auch von denjenigen genutzt,
deren Positionen keine Öffnung gegenüber der Moderne
darstellten.
Die Engführung der dem Islam attestierten Krise auf
fehlende/n Buchdruck und Wissenskultur ist angesichts
der wenigen Belege zu pointiert. Weitere ökonomische
und politische Gründe für den Niedergang des Osma-
nischen Reichs und anderer Teile der islamischen Welt
im Vergleich zum Aufstieg Europas müssten hier stärker
Berücksichtigung erfahren.2
Das dritte Kapitel greift unter dem Titel „Fluch des Öls“
die vom Autor beobachtete Stagnation der islamischen
Welt nunmehr mit einer wirtschaftlichen Perspektive auf.
Hierfür legt Blume die Rentierstaatstheorie zugrunde,
nach der die stetig fließenden Öl-Einnahmen dafür sorg-
ten, dass Staaten wie beispielsweise Saudi-Arabien sich
gesellschaftlich nicht weiterentwickeln müssten. Gleich-
zeitig wird dies kontrastiert mit Staatseinkünften durch
Steuereinnahmen, welche auch zu einer Demokratisierung
beitragen könnten.
Die Betrachtung dieser Zusammenhänge ist nicht neu,
aber weiterhin wichtig. Allerdings ließe sich auch hier
fragen, ob sich dieses Erklärungsmodell für die islami-
sche Welt insgesamt anbietet, in der zwar einige wichtige
Akteure ihre Einnahmen durch fossile Brennstoffe erwirt-
schaften, aber eben nicht alle.
Im vierten Kapitel stellt Blume das Problem von Verschwö-
rungsglauben in den Vordergrund. In diesem Zusammen-
2 Siehe dazu z. B. Lombard, Maurice: Blütezeit des Islam. Eine
Wirtschafts- und Kulturgeschichte, 8.–11. Jahrhundert, Frankfurt
a. M. 1992.
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hang thematisiert er die bei muslimischen Menschen oft zu
beobachtende Tendenz, so der Autor, Kritik an der eigenen
Religion mit dem Wirken fremder Kräfte abzutun. Damit
gehe auch eine pessimistische religiöse Grundhaltung ein-
her, die nicht mehr einen guten Gott, sondern eben dunkle
Mächte als wirksam in der Welt ansieht – auch dies ein
Aspekt der religiösen Krise des Islam, so Blume, dessen
monotheistische Deutung nicht mehr überzeuge.
Viele der hier getroffenen Feststellungen führen in die rich-
tige Richtung. Der Bildungskrise wird dabei (im Anschluss
an Kapitel 3) die Hauptschuld am Verschwörungsglau-
ben gegeben. Dem ebenfalls, aber nur kurz angeführten
Zusammenhang von nicht wahrgenommener Selbstwirk-
samkeit und Verschwörungsglaube geht Blume leider nicht
weiter nach. Vielleicht wäre es gewinnbringend, auch die-
ses Gefühl der fehlenden Selbstwirksamkeit bei Muslimen
mit der politischen und wirtschaftlichen Dominanz des
Westens mitzudenken, bevor die Bildungskrise und feh-
lende Selbstkritik allein herausgestellt werden.
Mit dem fünften Kapitel wendet sich Blume einer religi-
onswissenschaftlichen Fragestellung zu, die er nicht zum
ersten Mal bearbeitet: dem Zusammenhang von Religion
und Demographie.3 Um die Szenarien der Islamisierung,
wie von Houellebecq und Sarrazin entworfen, zu hinter-
fragen, sei es entscheidend, so der Autor, nicht nur den
Kinderreichtum von patriarchalen Gesellschaftssystemen
im Blick zu haben, wie er sich dann auch in konservativen
bzw. traditionellen islamischen Kontexten findet. Sondern
man müsse auch analysieren, ob die jeweilige Religionsge-
meinschaft selbst (oder möglicherweise der Staat) die Rah-
menbedingungen bietet, kinderreiche Familien überhaupt
zu unterstützen. Bezieht man diesen Faktor mit ein, zeige
sich ein völlig anderes Bild. Gerade für die Türkei oder
den Iran, aber auch für Muslime im Westen, die Bildungs-
und wirtschaftlichen Aufstieg geschafft haben, zeichne sich
– auch bei frommen Familien – ein Geburtenrückgang ab.
Im sechsten und letzten Kapitel benennt Blume ganz
unterschiedliche Punkte, die zur Überwindung der Krise
beitragen könnten. Neben den Leitlinien von Freiheit und
Bildung, die die Muslime selbst fördern müssten, führt der
Autor konkrete und durchaus diskussionswürdige Aspekte
an, wie bspw. die stärkere Berücksichtigung islamischer
Geschichte im Schulunterricht.
Angesichts der zu kritisierenden Punkte im Einzelnen,
besonders der Engführung der islamischen Krise auf den
fehlenden bzw. verspäteten Buchdruck, wäre ein Fragezei-
chen hinter dem Titel „Islam in der Krise“ nicht unbedingt
fehl am Platz. Dennoch darf das Buch als wichtiger Schritt
in die richtige Richtung gesehen und allen empfohlen wer-
den, die daran interessiert sind, das Narrativ der Islami-
sierung einmal kritisch zu hinterfragen.
Von Florian Jäckel, CIBEDO
3 Siehe dazu bereits Blume, Michael: Die Amish. Ihre Ge-
schichte, ihr Leben und ihr Erfolg, Filderstadt, 2013 und Vaas,
Rüdiger/Blume, Michael: Gott, Gene und Gehirn. Warum Glau-
be nützt, die Evolution der Religiosität, Stuttgart 2012.
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