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VW-Skandal
Martin Winterkorn: einst
der Boss, demnächst Häftling?
GOODBYE, EUROPE!

Kriminalität
Warum die Gäste im
Hotel nicht sicher sind
Der Hof-Fotograf der Windsors

»Sehr clever, wirklich gewieft«


Heute Meghan Markle, gestern Diana:
Nr. 20 / 12.5.2018
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Das deutsche Nachrichten-Magazin

Hausmitteilung
Steuern?
Betr.: Boateng, Literaturnobelpreis, Venezuela, »DEIN SPIEGEL« Lass ich machen.
Kaum ein Fußballer hat einen so umstrittenen Ruf
wie Kevin-Prince Boateng, der Star von Eintracht
Frankfurt: hochbegabt am Ball, aber charakterlich
schwierig – vielen gilt er als Angeber, Gettojunge,
Hitzkopf. Als Marc Hujer Boateng nun zum Ge-
spräch traf, erlebte er jedoch einen schlagfertigen,
selbstreflektierten Mann, der offen über sich, sei-
ne Familienprobleme und seinen Lebenswandel
sprach. Kevin-Prince ist der Halbbruder von Jé-
TIM WEGNER / DER SPIEGEL

rôme Boateng, dem Musterprofi des FC Bayern,


den Hujer von früheren Recherchen kennt. »Wo
sich Jérôme hinter Höflichkeitsfloskeln verbarri-
kadiert, ist Kevin-Prince geradeheraus. Bei ihm
weiß man immer, woran man ist«, sagt Hujer. »Ke-
vin-Prince hat ein großes Mundwerk, ja. Aber er
Hujer, Boateng geht auch hart mit sich ins Gericht.« Seite 94

Die Schwedische Akademie wird den Nobel-


preis für Literatur in diesem Jahr nicht vergeben,
auch weil der Ehemann eines Akademiemit-

CHRISTIAN ASLUND / DER SPIEGEL


glieds 18 Frauen sexuell belästigt oder genötigt
haben soll. Georg Diez ist nach Stockholm ge-
reist, wo er unter anderem mit drei mutmaßlichen
Opfern sprach. Eine Frau heißt Elin, und sie be-
schrieb Diez, wie sie im Herbst 1992 vergewal-
tigt worden war. Elin ging damals nicht zur
Polizei – es war die #MeToo-Bewegung, die ihr
jetzt den Mut gab zu sprechen. In diesem Heft Diez, Elin in Stockholm
beschäftigen sich zwei weitere Texte mit #Me-
Too: Jan Fleischhauer beschreibt in einem Essay, was einem Mann widerfahren kann,
der eine Anschuldigung hinterfragt. Martin Knobbe und Jan-Philipp Möller berichten
über zwei Professoren der Münchner Hochschule für Musik und Theater, denen vor-
geworfen wird, Frauen vergewaltigt oder sexuell genötigt zu haben. Seiten 114, 40, 46

In Venezuela hungert das Volk, während sich Minister, Richter und Generäle berei-
chern. Monatelang recherchierten Marian Blasberg und Jens Glüsing, wie Präsident
Nicolás Maduro seine Regierung und das Militär in ein Drogenkartell umgebaut hat.
»Aus der sozialistischen Vorzeigerepublik ist ein Gangsterstaat geworden«, sagt Glü-
VLH.
sing. Er sah, wie Zigtausende Venezolaner täglich über die Grenze nach Kolumbien
strömten, um sich dort mit dem Nötigsten zu versorgen – oder um zu bleiben. Drogen-
polizisten zeigten ihm Metallpressen, mit deren Hilfe die Schmuggler ihre Kokain-
pakete markieren – ein beliebtes Motiv ist der Mercedes-Stern. Blasberg sprach in Flo-
Wir machen Ihre
rida und Washington mit Exilvenezolanern, darunter ein Mann, der ehemaligen Funk-
tionären der Regierung zur Flucht verholfen hat. Seite 80 Steuererklärung.

Für die Schule pauken, das funktioniert auch mit YouTube. Auf
der Videoplattform werden für alle möglichen Fächer Lernfilme www.vlh.de
angeboten. Aber welche taugen etwas? Und worauf muss man
achten? »DEIN SPIEGEL«, das Nachrichten-Magazin für Kinder,
hat sich durch das Angebot geklickt und stellt in seiner Titel-
geschichte die besten Kanäle vor. Außerdem im Heft: Der deut-
sche Astronaut Alexander Gerst fliegt bald ins Weltall. Und zur
Fußball-WM gibt es ein Quiz über die deutsche Mannschaft. Die
neue Ausgabe von »DEIN SPIEGEL« erscheint am Dienstag.

DER SPIEGEL Nr. 20 / 12. 5. 2018 3


Wir beraten Mitglieder im Rahmen von § 4 Nr. 11 StBerG.
Inhalt
72. Jahrgang | Heft 20 | 12. Mai 2018

Titel Strafjustiz Die drei


Verteidiger des Angeklagten
Leitartikel Donald Trumps Ralf Wohlleben im NSU-
Iran-Entscheidung Prozess haben selbst viele
beendet das transatlantische Verbindungen zur rechten
Bündnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Szene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42

Diplomatie Wie Trump die Parteien Die anonymen


Welt gefährlicher Gönner der AfD
macht und die Europäer sollen enttarnt werden . . . . . . 45
demütigt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10

ALEXANDER HASSENSTEIN / BONGARTS / GETTY IMAGES


Macht Sexskandale an der
US-Sanktionen Die deutsche Musikhochschule München 46
Wirtschaft sorgt sich um ihr
Iran-Geschäft . . . . . . . . . . . . . . . 16 Affären Beamte des
Flüchtlingsamts warnten
Geheimdienste Der frühere schon seit 2014 vor
CIA-Direktor Michael Hayden Missständen in der Bremer
über die Folgen des Ausstiegs Außenstelle . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
aus dem Iran-Deal . . . . . . . . . . 21

Diplomatie Der Wahnsinn um Gesellschaft


den Umzug der US-Botschaft
nach Jerusalem . . . . . . . . . . . . . 22 Früher war alles schlechter:
Die Täuschungsmanöver Woran deutsche Soldaten
sterben / Gehört die CSU
Deutschland der VW-Spitze zu Deutschland? . . . . . . . . . . . . 54

Meinung Der schwarze Die Anklage der US-Justiz gegen den früheren Ein Foto und seine
Kanal / So gesehen: Volkswagen-Chef Martin Winterkorn setzt den Geschichte Warum einem
Muttertag und Vatertag . . . . . . 8 Brasilianer der Oscar
Autohersteller unter Druck. Der Konzern hat es für Tierfotografie aberkannt
Koalitionskrach wegen versäumt, die richtigen Lehren und Konsequenzen wurde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55
Dieselskandal / Staat lässt aus der Dieselaffäre zu ziehen. Seite 64
Sterbenskranke im Stich / Monarchien Arthur Edwards,
Gleisverwechslung Ursache seit 40 Jahren Fotograf
für Zugunglück? . . . . . . . . . . . . 26 der Royals für die britische
»Sun«, berichtet im
Union Das Zerwürfnis SPIEGEL-Gespräch über
PATRICK SEEGER / PICTURE ALLIANCE / DPA

zwischen der CSU und der seine Erfahrungen mit der


katholischen Kirche . . . . . . . . 30 Königsfamilie . . . . . . . . . . . . . . . 56

Baden-Württemberg Die Homestory Wenn Fliegen


Grünen in der Krise . . . . . . . . 34 zum Albtraum wird . . . . . . . . 61

Wohnen Immer mehr


Familien mit Kindern Wirtschaft
werden obdachlos . . . . . . . . . . 36
Weniger Geld für die
SPD Berlins Regierender Eingliederung von Hartz-IV-
Bürgermeister Michael Schlapp im Stammland Beziehern / IWF empfiehlt
Müller attackiert Entlastung der Bürger . . . . . . 62
Finanzminister Olaf Scholz 39 Die Grünen haben einst Baden-Württemberg
erobert, nun verlieren sie schon in Freiburg: Dieter Autoindustrie Der VW-
Debatte Kritik unerwünscht – Konzern betreibt die
Jan Fleischhauer über
Salomon wurde als Oberbürgermeister ab- Aufarbeitung des
die #MeToo-Diskussions- gewählt – und bringt damit auch Ministerpräsident Abgasskandals bis heute
kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 Winfried Kretschmann in die Bredouille. Seite 34 nur halbherzig . . . . . . . . . . . . . . 64

4 DER SPIEGEL Nr. 20 / 12. 5. 2018


Dieselkrise Kenneth Gensinger Wissenschaft
verkauft Volkswagen
in New Jersey und leidet . . . 66 Warum Stress für Städter
gefährlicher ist / Babyboom
Karrieren Frauenlobbyistin bei Buckelwalen / Kommentar:
Wiebke Ankersen über Letzte Rettung für
weibliche Vorstände . . . . . . . . 70 die Gesundheitskarte . . . . . . 102

Tourismus Gäste fühlen sich in Vorgeschichte Drama


Hotels sicher – zu Unrecht 72 in der Bronzezeit –
wie die Wanderungen von
Steppenhirten einst die
Medien Welt veränderten . . . . . . . . . . 104

Soziale Netzwerke Ein Film Medizin Was digitale Lauf-

ARTHUR EDWARDS / BULLS


erzählt von den Leuten, die trainer wirklich bringen –
digitalen Dreck sortieren . . . 76 ein Selbstversuch . . . . . . . . . . 109

Internetpolitik Jan Böhmer- Paläoastronomie Der


mann will rechte Trolle mit Lady Di mit William und Harry 1994 Geobiologe Dirk Schulze-
deren Mitteln schlagen . . . . . . 77 Makuch über das Erbe
technischer Zivilisationen 110
»Mörder! Killer!«
Ausland
Am 19. Mai heiraten Prinz Harry und Meghan Kultur
China spannt den USA die Markle, unter den Augen der Welt. Für den
Partner aus / Sieg für die Wie neu ist der neue
Demokratie in Malaysia . . . . 78
Fotografen Arthur Edwards ist es die achte royale Hotzenplotz-Fund? /
Hochzeit seiner Karriere. Ein SPIEGEL-Gespräch Tanztheater in Wuppertal /
Venezuela Maduros Gangster- über Nähe, Zudringlichkeit und Anstand. Seite 56 Kolumne: Besser weiß ich
staat – wie sich Regierung und es nicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112
Militärführung bereichern . . 80
Literatur Turbulente Tage
Europa Brüssels Chefunter- in Stockholm . . . . . . . . . . . . . . 114
händler Barnier warnt vor Die Professoren und der Sex
dem Scheitern des Brexits . . . 86 Musik Der ungewöhnliche
»Sodom und Gomorrha« – so beschrieb ein deutsche Pianist Nils Frahm
Armenien Der Oppositionelle Anwalt die Zustände an der Münchner Musikhoch- hat in Klubs und Konzert-
Nikol Paschinjan ist auf hallen gleichermaßen
einmal Premierminister –
schule. Der Ex-Präsident ist zum zweiten Mal Erfolg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
was soll er nun tun? . . . . . . . . 88 angeklagt, auch wegen Vergewaltigung. Ein ande-
rer Professor zeigte Pornos im Unterricht. Seite 46 Beutekunst Eine steinerne
Türkei Das Ende von Kreuzsäule aus Namibia
Istancool – warum Istanbul beschäftigt das Deutsche
nicht mehr Treffpunkt Historische Museum . . . . . . 120
hipper Europäer ist . . . . . . . . . 90
Bildkritik Schröder im
MICHAEL HANSON / NATIONAL GEOGRAPHIC

Kreml ...................... 123


Sport

Europameister Bayern
München / Magische Momente:
Wie Tischtennispräsident
Weikert Korea vereinte . . . . . 93

FußballSPIEGEL-Gespräch
mit Kevin-Prince Boateng
über das wechselhafte
Verhältnis zu seinem Bruder Am Anfang waren die Hirten
Jérôme und den neuen Bestseller . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122
Bayerntrainer Niko Kovač . . 94 Forscher haben die Ursprünge der ersten Impressum . . . . . . . . . . . . . . . . . 124
Europäer und ihrer Sprache entschlüsselt – eine Leserservice . . . . . . . . . . . . . . . . 124
Football Leaks Wie der Nachrufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
Champions-League-Finalist
dramatische Geschichte aus der Bronzezeit, die Personalien . . . . . . . . . . . . . . . . 126
FC Liverpool seine Stars mit den Wanderungen eurasischer Steppenhirten Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
pampert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 ihren Anfang nahm. Seite 104 Hohlspiegel / Rückspiegel . . 130

Titel-Illustration: Edel Rodriguez für den SPIEGEL 5


Das deutsche Nachrichten-Magazin

Welt ohne Ordnung


Leitartikel Das vorläufige Ende des transatlantischen Bündnisses – und nun?

D
er Ruhm Donald Trumps gründet auf amerikani- Das wirklich Schockierende betrifft uns direkt: Der
schen Heldengeschichten. Trump erzählt, dass ihn Westen, den wir kannten, existiert nicht mehr. Unser Ver-
Frauen wie Carla Bruni begehrt hätten, was Frau- hältnis zu den USA lässt sich, zurzeit, nicht als Freund-
en wie Carla Bruni wuchtig dementieren. Trump schaft bezeichnen, nicht einmal mehr als Partnerschaft.
vermeldet unermesslichen Reichtum, doch wahr ist, dass Präsident Trump schlägt einen Ton an, der 70 Jahre des
Trump sich mit seinen Casinos derart ruiniert hatte, dass er Vertrauens ignoriert. Er will ja auch Strafzölle und verlangt
1990 netto 295 Millionen Dollar Schulden hatte; Banken Unterwerfung. Es geht nicht, wie früher, darum, ob
und Papa retteten ihn. Die größte Heldengeschichte han- Deutschland und Europa bei einem Auslandseinsatz wie in
delt von Trumps Verhandlungsgeschick, doch auch diese Afghanistan oder im Irakkrieg dabei sind; es geht jetzt
Erzählung ist Quatsch, da Trump die Kunst des Deals nie- darum, ob es überhaupt noch eine transatlantische Wirt-
mals beherrschte. Er bezahlte als Geschäftsmann viel zu schafts-, Außen- und Sicherheitspolitik gibt. Die Antwort:
viel Geld für miese Immobilien und hat als Politiker keine nein. Was sich in 16 Monaten Trump verschoben hat, kann
Geduld. Er will nichts wissen. Er ist nicht vorbereitet, kann man nicht überschätzen. Europa verliert seine Schutz-
weder mit (langfristiger) Strategie macht, den Garanten für gemein-
noch mit (flexibler) Taktik etwas same Werte und jenes weltpoliti-
anfangen. Trump kann nur zerstö- sche Gewicht, das es nur gemein-
ren, und nur das tut er. sam mit den USA hatte. Und was
Das Klimaabkommen kündigte werden die kommenden zweiein-
er auf, indem er einen »besseren halb (oder sechseinhalb) Jahre
Deal für Amerika« versprach, Trump bringen? Es ist reichlich
aber dem Versprechen folgte Zeit für weitere Eskalationen.
nichts, kein Plan, kaum Gesprä- In jeder Leitartikel-Konferenz,
che; in Trumps Washington exis- mittwochs gegen 11.30 Uhr in der
tiert allein die Leere der Ableh- SPIEGEL-Redaktion, landen wir
nung des Obama-Erbes. Trump bei der Frage: »Und was nun?«
versprach, auch die Gesundheits- Ein Problem zu beschreiben ge-
MARYAM RAHMANIAN / IMAGO

reform zu verbessern, aber die De- nügt ja nicht; gute Leitartikel sol-
tails sind lästig, komplex ... ver- len Lösungen aufzeigen. Selten
dammte Details eben. Also ram- zuvor waren wir so schweigsam
poniert Trump auch diese Reform wie diesmal.
und schafft nichts Neues. Europa sollte sich auf Vereinig-
Nun das gleiche Spiel, auf der te Staaten nach Trump vorberei-
Weltbühne: das Atomabkommen ten und bis dahin nicht provozie-
mit Iran. Den »schlechtesten Deal ren. Es kann Iran zeigen, dass es
der Geschichte« nannte es Trump, den Deal erhalten will, es kann
weshalb er den Ausstieg der USA vollzieht. Die Verhand- mittelständische Firmen ermutigen, weiterhin Geschäfte
lungen, 2015 erfolgreich beendet, waren ein Meisterstück mit iranischen Partnern zu machen, denn manche Mittel-
internationaler Diplomatie, neue sind nicht vorbereitet. ständler haben mit den USA nichts zu tun. Vielleicht findet
Was bedeutet der Schritt der USA? die EU Wege, große Konzerne ein wenig zu schützen. Eu-
Trump will das iranische Regime durch Sanktionen bre- ropa sollte versuchen, die Uno zu Handlungen zu bewegen,
chen, doch Iran wird nicht einknicken, schon aus innenpoli- aber das wird symbolisch sein, da Resolutionen gegen die
tischen Gründen: Wer in Teheran schwach wirkt, wird ab- Vetomacht USA nicht durchkommen. Über eine schlagkräf-
geräumt. Die Reihen werden sich eher schließen. Gruppen tige europäische Außenpolitik wird seit Jahren diskutiert,
wie die Hisbollah dürften, von Iran unterstützt, Konflikte natürlich muss es sie geben. Und dann?
im Jemen oder im Libanon anheizen, so nahe wie möglich Dann wird die Schwierigkeit darin liegen, eine Balance
an Israels Grenzen. Iran wird, vermutlich, nicht die maxi- zu finden zwischen Entschlossenheit und Fingerspitzen-
male Eskalation anstreben, von der es selbst nichts hätte, gefühl. Ein triumphierender Antiamerikanismus ist ebenso
sondern womöglich keine Beobachter mehr ins Land las- gefährlich wie Trotz. Unterwerfung allerdings führt auch
sen; keine Auskunft mehr geben über angereichertes Uran; nirgendwohin, denn Europa darf keine Politik verteidigen,
in Nebel hüllen, was der Westen gern aufklären würde. Der die es für explosiv hält. Zudem: Auch Donald Trump ver-
Nutzen des brutalen amerikanischen Schnitts? Es gibt kei- achtet Schwäche, er belohnt sie nicht. Schlauer Widerstand
nen Nutzen, nur Chaos, wo gerade noch Ordnendes war, ist notwendig, und wie traurig und absurd das schon klingt:
nur amerikanische Willkür nach Jahrzehnten der Stabilität. Widerstand gegen Amerika. Klaus Brinkbäumer

6 DER SPIEGEL Nr. 20 / 12. 5. 2018


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Meinung So gesehen

Väter und
Jan Fleischhauer Der schwarze Kanal
Mütter
Quotenhumor Feiertagsdiskriminierung: Gibt
es eigentlich den Vatertag?
Der Fernsehkomödiant Jan sortiert werden. Ich habe auch gegen G Zwei Kollegen sitzen missmutig in
Böhmermann hat seine die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin ihrem Zimmer, es ist der vergangene
Fans dazu aufgerufen, angeschrieben! Die »Amadeu Antonio Donnerstag: Himmelfahrt, ein Feier-
die Twitter-Accounts von Stiftung«, die seit Jahren gegen Hates- tag, und sie müssen arbeiten, das
Leuten zu melden, die peech kämpft, hat mich neulich sogar allein ist Grund genug für schlechte
irgendwie rechts sind. Es in einer ihrer Broschüren erwähnt. Ich Laune. Schlimmer noch: Vatertag,
gehe darum, das Netz zu einem würde dabei helfen, »toxische Narra- ihr Feiertag, und sie sind allein aufge-
besseren Ort zu machen. Im Internet tive« zu verbreiten, stand dort. Wenn standen, kein Kaffee, keine frischen
kursieren jetzt Listen mit Hunderten das kein Qualifizierungsgrund ist! Brötchen ans Bett.
Namen, die als verdächtig gelten. In den Feuilletons wird Böhmer- Es war halt sehr früh, sagen sie,
Angeblich hat seine »Bürgerrechts- mann für seinen Mut gefeiert. Mir sie verstehen das, aber sie fragen
bewegung« schon mehr Mitglieder als erscheint der Auftritt eher hilflos. Die sich schon, warum immer Mutti den
die AfD (siehe auch Seite 77). Wahrheit ist, dass die Bannkraft von Kuchen bekommt, die Blumen, die
Es ist nicht ganz klar, was die Listen Begriffen wie »rechts« deutlich nach- bemalten Herzen aus Pappe, jetzt,
bezwecken sollen. Böhmermann deu- gelassen hat. Es ist wie mit einem
tete an, Mitglieder seiner Bewegung Gummiband, das man zu weit dehnt:
könnten sie an die Behörden weiterge- Irgendwann ist es durch Überbean-
ben, weshalb sich das ZDF sofort von spruchung ausgeleiert. Ich glaube, man
der Sache distanzierte. Listen von poli- könnte mehr bewegen, wenn man
tischen Gegnern zu erstellen, die man Leuten, die einem missfallen, mit Witz
bei der Staatsanwaltschaft meldet, das oder Spott begegnen würde. Leider ist
lässt sich schlecht mit dem öffentlich- Böhmermann wie der Sender, für den
rechtlichen Auftrag in Einklang bringen. er arbeitet: Bei allem, was er anfasst,
Die Kriterien, die für eine Nennung wird vorher überlegt, ob es den rich-
qualifizieren, sind ebenfalls nicht ein- tigen Leuten gefällt. Ich mag den
deutig. Neben Anhängern der Identitä- Begriff »politisch korrekt« nicht, aber da sie auch Brote schmieren und
ren und der AfD finden sich konserva- in dem Fall passt er genau. Quoten- Gutenachtgeschichten vorlesen.
tive Journalisten, aber auch Leute, die humor ist selten komisch, das ist sein Das sei, sagen sie, die neue struktu-
einfach nicht mit der Flüchtlingspolitik Nachteil. Wenn der Fernsehkabarettist relle Diskriminierung der Männer:
der Kanzlerin einverstanden sind. eine Humorbombe zündet, hat der Die Frauen haben jetzt alles, den
Ich muss gestehen, ich war ein klit- Humor-TÜV zuvor sichergestellt, Job, den Kuchen und die Herzen.
zekleines bisschen enttäuscht, dass dass sie garantiert in pädagogischer Und sie?
mein Name nirgendwo auftauchte. Absicht explodiert. Schon klar, es ist nicht die Schuld
Wenn es darum geht, die gefährlichsten der Frauen, dass der Vatertag einen
Publizisten Deutschlands aufzulisten, An dieser Stelle schreiben Jakob Augstein, Jan eher zweifelhaften Ruf genießt (Bol-
will man nicht gleich als harmlos aus- Fleischhauer und Markus Feldenkirchen im Wechsel. lerwagen, Besäufnis), schließlich ist
er streng genommen kein Vatertag,
sondern bringt für einen Tag die gute
Kittihawk alte Zeit zurück, in der sie noch kei-
ne Väter waren. Schon okay, sagen
sie, aber wo bleibt die Dankbarkeit,
die Anerkennung, nach der sich die
Väter sehnen?
Sein Sohn, sagt der eine, habe das
gespürt. Als sie in der Schule das
Danke-Mama-Herz für den Mutter-
tag bastelten, wollte er von der
Lehrerin wissen, wie das denn mit
dem Vatertag sei. Warum nicht
auch ein Herz für Papa? Für den
Vatertag brauche es kein Herz, so
die Antwort, den Vatertag gebe es
nämlich gar nicht. Er sei, sagte sie,
nur erfunden. Irgendwie kann ich
die Kollegen verstehen.
Christiane Hoffmann

8 DER SPIEGEL Nr. 20 / 12. 5. 2018


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Titel

Die Demütigung
Diplomatie US-Präsident Donald Trump stürzt Europa mit der Kündigung
des Iran-Deals in Ratlosigkeit – und dem Nahen Osten
drohen neue Kriege. Das transatlantische Verhältnis ist schwer beschädigt.

10
MAJID SAEEDI / GETTY IMAGES

Anti-Trump-Proteste in Teheran am 9. Mai

DER SPIEGEL Nr. 20 / 12. 5. 2018 11


Titel

G
egen Ende einer Woche, die für tion bestand hier schon vor der Kündigung wir unseren Verpflichtungen treu bleiben
sie beide mit einer Ohrfeige des des Abkommens, aber die Episode zeigt, werden.«
amerikanischen Präsidenten be- welche gefährlichen Kräfte in dieser Re- Die Idee dieses vom Uno-Sicherheitsrat
gann, stehen Angela Merkel und gion wirken. ratifizierten Deals war: Iran verzichtet für
Emmanuel Macron an diesem Donnerstag Die Stimmung in Paris, Brüssel und Ber- mindestens zehn Jahre auf die Weiterent-
nebeneinander im Aachener Krönungssaal lin erinnert ein wenig an die Zeit vor dem wicklung seines Nuklearprogramms, dafür
und versuchen Zuversicht zu verbreiten. Irakkrieg. Damals schon stellten sich die werden die Wirtschaftssanktionen stark
Der französische Präsident hat gerade den meisten Europäer den USA entgegen, gelockert. Weil niemand Irans Verspre-
Karlspreis bekommen, die Kanzlerin hat auch wenn die Briten oder Italiener an der chen traute – es hatte in der Vergangenheit
die Laudatio gehalten. Sie loben einander, Seite George W. Bushs in die Schlacht zo- gelogen –, beruht das Abkommen auf ei-
beschwören ihre Einigkeit, obwohl sie sich, gen. Diesmal ist Europa geeint im Willen, nem System von Inspektionen und Kon-
was die Zukunft Europas angeht, nicht be- das Abkommen zu bewahren, selbst wenn trollen. Iran hielt den Deal ein – trotzdem
sonders einig sind. keiner so genau weiß, wie das gehen soll. haben viele Republikaner das Abkommen,
Außer in einer Frage: Donald Trump. Wer den Iran-Deal angreift, trifft die eu- das 2015 unter Barack Obama geschlossen
Der amerikanische Präsident ist in diesen ropäische Außenpolitik in ihrem Stolz. Si- wurde, von Anfang an bekämpft.
Tagen der große Einiger Europas. Seit er cher, oft kriegen die EU-Mitglieder nicht
mit großer Geste das Nuklearabkommen mal eine gemeinsame Erklärung hin, etwa Abschied von Amerika
mit Iran aufkündigt hat, eines der Kern- wenn es darum geht, sich gegen die Verle-
stücke der internationalen Diplomatie gung der US-Botschaft in Israel nach Jeru- Eigentlich hat Trump das Abkommen
der vergangenen Jahre, sind die Europäer salem zu stellen. Aber beim Iran-Abkom- nicht gekündigt – er hat es gebrochen, weil
vereint im Schock, in der Wut auf Trumps men blieb Europa stets zusammen, und er einfach nur die Sanktionen gegen Iran
eigenmächtiges Handeln und wieder in Kraft setzte. So sieht
im Willen, es nicht zu ak- man das auch in der Bundesre-
zeptieren – aber auch in gierung.
der Ratlosigkeit, wie sie mit Und vor allem hat Trump
diesem Amerika umgehen Europa damit gedemütigt wie
sollen. kein US-Präsident vor ihm. Er
Macrons und Merkels Auf- ließ Emmanuel Macron im
tritt wäre die Gelegenheit ge- Weißen Haus den Kasper ma-
wesen für eine gemeinsame chen, fertigte Angela Merkel
Antwort auf Donald Trump, mit einem Mittagessen ab,
für den gemeinsamen Entwurf auch der britische Außenminis-

THILO SCHMUELGEN / REUTERS


einer europäischen Außen- ter Boris Johnson sprach in
politik, für einen kraftvollen Washington vor, um das Ab-
Auftritt der entscheidenden kommen zu retten, um irgend-
Politiker Europas. Es hätte et- eine Art von Kompromiss zu
was Tröstliches haben können, erreichen – alles vergebens.
Merkel und Macron hätten ih- Am Ende verließ Trump den
ren Bürgern zeigen können, Deal auf die brutalstmögliche
dass sie einen Plan haben. Regierungschefs Macron, Merkel: Nichts Tröstliches, kein Plan Weise, mit einer martialischen
Aber da war nichts. Rede, mit der Wiedereinset-
Was kann Europa tun? zung aller Sanktionen gegen
Der Rückzug aus dem Iran-Deal ist die neben Deutschland, Frankreich und Groß- Iran. Er konnte keinen überzeugenden
gefährlichste und rücksichtsloseste außen- britannien war die EU als Organisation Grund dafür nennen, warum er das Ab-
politische Entscheidung, die ein US-Präsi- ein entscheidender Akteur. kommen gerade jetzt verlässt. Der Satz
dent seit dem Irakkrieg im Jahr 2003 ge- Für die EU-Chefdiplomatin Federica »Iran verletzt den Deal« fiel nicht, weil es
troffen hat. Die Gefahr ist real, dass der Mogherini ist das Abkommen der Beleg den Deal nachweislich nicht verletzt.
Ausstieg die Spannungen im ohnehin dafür, welche Wirkung die gemeinsame Wie um die Demütigung Europas per-
schwer destabilisierten Nahen Osten ver- Diplomatie der Europäer entfalten kann. fekt zu machen, twitterte Trumps neuer
schlimmert und zu einem Krieg unter US- Ein Original des Vertrags hat sie daher in US-Botschafter in Berlin, Richard Grenell,
Beteiligung gegen Iran führen könnte. ihrem Büro hoch oben im mächtigen Ber- die deutschen Unternehmen sollten nun
Schnell drohte der iranische Präsident Has- laymont-Gebäude der EU-Kommission in schleunigst ihre Geschäfte mit Iran he-
san Rohani, dass man zur Urananreiche- Brüssel ausgestellt, die Seite mit den Unter- runterfahren – er klang nicht wie ein Di-
rung in industriellem Stil zurückkehren schriften, unter anderem vom damaligen plomat, der in einem befreundeten Staat
könnte, und wenige zweifeln daran, dass US-Außenminister John Kerry, ist ständig zu Gast ist, sondern wie der Vertreter einer
dies ein Kriegsgrund wäre. aufgeschlagen. Kolonialmacht, der Befehle erteilt.
Wie angespannt die Lage in der Region Entsprechend kämpferisch tritt Mo- Es ist nicht das erste Mal, dass die Euro-
jetzt schon ist, zeigte sich in der Nacht auf gherini am Dienstagabend um kurz nach päer, die traditionellen Verbündeten Ame-
Donnerstag, als es auf den Golanhöhen 20.30 Uhr in der EU-Vertretung in Rom rikas, von Trump so behandelt werden.
zur bisher heftigsten Konfrontation zwi- vor die Kameras, Trumps Ankündigung Sie mussten bereits erleben, wie er die
schen der iranischen Quds-Brigade in Sy- aus Washington ist da nur wenige Minuten Nato-Partner wiederholt als Schmarotzer
rien und Israel kam: Erst sollen die Iraner alt. Das Atomabkommen sei der Höhe- bezeichnete, wie er trotz intensiver Bette-
rund 20 Raketen Richtung Israel abgefeu- punkt von zwölf Jahren Diplomatie, sagt lei aus dem Pariser Klimaabkommen aus-
ert haben, die israelischen Streitkräfte ant- Mogherini. »Der Deal gehört uns allen.« trat und seine Absicht bekundete, auch die
worteten nach eigenen Angaben mit ei- Dann appelliert sie an Iran, das Atom- EU in einen Handelskrieg zu verwickeln.
nem massiven Angriff auf rund 35 Ziele abkommen weiter umzusetzen. »Bleiben Auf all diese Probleme hatte Europa bisher
in Syrien. Die Möglichkeit einer Eskala- Sie Ihren Verpflichtungen treu, so wie eine Art von Antwort parat: Die Nato-Kri-

12
Allianzen im Nahen und Mittleren Osten
Iran und Verbündete Unterstützung
Gegner Irans Krieg / bewaffneter Konflikt
schiitische Mehrheit
sunnitische Mehrheit
TÜRKEI
Truppenstärke USA
2000
Truppenstärke Russland Hisbollah

ime, schiitische Milizen Teheran


SYRIEN Assad-Reg e Gruppen
LIBANON itisch
2000 6000 Bagdad
schi A F G H A N I S TA N
Damaskus
IRAN 15000
IRAK
s
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Ha 5165
JORDANIEN KUWAIT
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Huthi-Rebellen
SAUDI-ARABIEN 4000 Maskat
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Quelle: Index of U.S. Military Strength 2018 u.a.

tik ließ man abprallen oder versprach hö- schon einmal in einem Bierzelt im bayeri- tracht zu ziehen: Sind wir noch zusammen
here Verteidigungsbudgets in der Zukunft, schen Trudering ausgesprochen hatte: »Eu- beim Versuch, einen Umgang mit den He-
beim Pariser Klimaabkommen ist die sym- ropa kann sich nicht mehr auf die USA rausforderungen für unsere gemeinsamen
bolische Wirkung des Austritts größer als verlassen. Es muss sein Schicksal in die ei- Sicherheitsinteressen zu finden? Oder drif-
die praktische, weil Bundesstaaten wie Ka- gene Hand nehmen.« Die Sätze waren da- ten wir nun immer weiter auseinander?
lifornien weiter daran festhalten – und mals noch eine kleine Sensation, diesmal Traurige Fragen!«
beim Thema Handel sind die Europäer bilden sie nur die Realität ab: Das transat- Es ist kein Zufall, dass diese Sätze klin-
selbst eine Großmacht. lantische Verhältnis ist massiv beschädigt. gen wie bei einem Paar, bei dem die Tren-
Doch der Schlag mit dem Iran-Deal Merkel sagte, eine gemeinsame Außen- nung unausweichlich geworden ist, ob-
trifft die Europäer hart. Obwohl sie seit politik sei »existenziell notwendig«. wohl man zusammenbleiben wollte.
Monaten wussten, dass mit dieser Ent- Aber kann Europa das? Ist es in der Lage, »In einer Hinsicht ist das transatlanti-
scheidung Trumps zu rechnen war, haben sich unabhängig zu machen von der tradi- sche Bündnis auf absehbare Zeit unver-
sie keine Antwort, wie es nun weitergehen tionellen Führungsmacht des Westens? Ist zichtbar, nämlich, was den nuklearen
soll. Europa wirkt erschreckend unvorbe- es in der Lage, sich auf gemeinsame Posi- Schutz angeht«, sagt Ischinger. »Der ist
reitet. In den Tagen danach erhält man in tionen zu einigen? Und wie soll ein Europa nicht durch andere zu leisten, sicherheits-
Berlin, in Paris, in London die mantraarti- sich ohne US-Schutz verteidigen, solange politisch können wir die Nabelschnur, die
ge Antwort, dass man am Deal festhalte, etwa der Bundeswehr Flugzeuge fehlen, die uns mit den USA verbindet, nicht durch-
dass sich für viele Firmen, die mit Iran fliegen, und U-Boote, die tauchen können? trennen.« Er fügt hinzu: »Uns bleibt ange-
Handel treiben wollten, nicht viel ändern Das Gefühl der Entfremdung reicht tief. sichts unserer sicherheitspolitischen Inte-
soll, und dass man überlege, ihre Investi- Der frühere deutsche Botschafter in Wa- ressen gar nichts anderes übrig, als den
tionen zu schützen – doch wenn man nach- shington und heutige Leiter der Münchner Verlust einer wirklichen Partnerschaft zu
fragt, wie genau das gehen soll, stößt man Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, beklagen, aber trotzdem jede Anstrengung
bei den offiziellen Stellen auf Ratlosigkeit. twitterte: »Ist die transatlantische Allianz zu unternehmen, um diese Phase zu über-
Merkel wiederholte in Aachen nun die tot? Wenn eine Seite es ablehnt, die Argu- brücken, und darauf zu bauen, dass spä-
Sätze, die sie so ähnlich vergangenes Jahr mente der anderen Seite überhaupt in Be- testens in zweieinhalb Jahren Trump nicht

DER SPIEGEL Nr. 20 / 12. 5. 2018 13


IRAN ATOMIC ENERGY ORGANIZATION / SHUTTERSTOCK
Iranisches Kernkraftwerk in Buschehr: Das Atomprogramm ist nachweislich gestoppt

mehr im Amt ist und es dann eine neue »Wir müssen bedauerlicherweise feststel- Viertelstunde später in einen Raum voller
Situation gibt. Jetzt müssen wir so gut wie len, dass es auf US-Seite kaum Bereitschaft Journalisten im Weißen Haus. Und noch
möglich überwintern.« gibt, die Argumente der Verbündeten mal: »Wir sind raus.« Er wirkte befreit,
Es gibt nach der Kündigung des Abkom- ernst zu nehmen.« Als Außenpolitiker sei beinahe euphorisch. Ein zorniger Krieger
mens drei große Sorgen, die die Europäer man Rückschläge ja gewohnt, so Annen, war am Ziel.
jetzt umtreiben: die Folgen für die nahöst- der zuvor außenpolitischer Sprecher sei- Es gibt kaum eine Krise auf der Welt,
liche und europäische Sicherheit; die Risi- ner Fraktion war. »Aber als ich diese Wo- für die John Bolton nicht Krieg als Lösung
ken für europäische Unternehmen, die in che im Flugzeug zurück nach Europa saß, parat hat. Die Lösung für den Irak unter
Iran investiert haben; und die Zukunft des war ich zum ersten Mal richtig frustriert.« Saddam Hussein? Bombardieren. Iran un-
Verhältnisses zu den USA. Trumps Aus- Auf dem Weg zu seinem Besuch in Mos- ter Hassan Rohani? Im Zweifel bombardie-
stieg aus dem Nuklearabkommen sei »eine kau sagte Außenminister Heiko Maas am ren. Libyen? Syrien? Nordkorea? Druck
Fehlentscheidung mit langfristigen, gravie- Donnerstag dem SPIEGEL: »Der Wandel, machen, Regimewechsel, bombardieren.
renden Konsequenzen für unser Verhält- den die USA durchlaufen, hat schon lange Für Bolton ist Krieg die Fortsetzung von
nis«, sagt Niels Annen, Staatsminister im auch das transatlantische Verhältnis er- Politik mit besseren Mitteln. Wenn man
Auswärtigen Amt, dem SPIEGEL. fasst. Das spüren wir nicht erst seit der ihm eines nicht vorwerfen kann, dann, dass
Der SPD-Politiker führte diese Woche Enttäuschung von Dienstagabend. Trotz- er wankelmütig wäre.
Gespräche in der US-Hauptstadt. Als dem: Wir werden auf allen Politikfeldern Es hat eine besondere Ironie, dass dieser
Trump seine Entscheidung verkündete, weiter die Zusammenarbeit mit den USA Bolton, der unter Präsident George W.
saß er nebenan im Büro von Präsidenten- suchen. Wir sind bereit zu reden, zu ver- Bush kurzzeitig Uno-Botschafter gewesen
beraterin Fiona Hill, der Leiterin für Russ- handeln, aber wo nötig, auch für unsere ist, nun unter Trump ein Comeback als
land und Europa im Nationalen Sicher- Positionen zu streiten. Und zwar auf allen Nationaler Sicherheitsberater feiert – un-
heitsrat. Annen kennt Hill gut aus ihrer Ebenen, nicht nur im Weißen Haus.« ter jenem Präsidenten, der als Kandidat
Zeit an der Brookings Institution, aber der Das ist eine Sprache, die man früher für noch behauptet hatte, er sei gegen den
persönliche Respekt konnte die inhalt- Problemstaaten einsetzte, nicht für den Irakkrieg gewesen und Hillary Clinton
lichen Gräben nicht überbrücken. Es habe wichtigsten Verbündeten. werde die USA in Kriege verwickeln.
auch in der Vergangenheit große Differen- Boltons Karriere als Diplomat hat eine
zen zwischen Berlin und Washington ge- Der Präsident und der Hardliner Konstante: Aggressivität. John Bolton sei
geben, sagt Annen, zum Beispiel vor dem eine »nationale Sicherheitsbedrohung«,
Irakkrieg. Aber nie sei das Gefühl verloren Als Donald Trump am Dienstag seine elf- schrieb das renommierte Fachblatt »Fo-
gegangen, dass man letztlich dieselben Zie- minütige Tirade gegen das Iran-Abkom- reign Policy«. Die »New York Times«
le verfolge. men hielt, stand ein Mann im Türrahmen nannte ihn »Trumps Schneidbrenner«. Mit
Das habe sich mit Trump geändert. Ob des Diplomatic Reception Room und sagte Bolton und Trump haben sich zwei Män-
beim Handelskonflikt oder beim Streit um nichts. John Bolton wirkte ernst, aber ner gefunden, deren Weltbild sich nicht
das Iran-Abkommen: »Es geht inzwischen zufrieden. Es dauerte nicht lange, bis die deckt, die sich aber in der Wahl ihrer
um unsere Kerninteressen«, sagt Annen. Maske fiel. »Wir sind raus«, rief er eine Mittel einig sind – und die gemeinsame

14
Titel

Feindbilder haben. Iran gehört dazu. Je- verhindern. Obama sah in dem Abkom- Obama ließ das Abkommen nicht
denfalls ist Bolton wohl der Autor von men auch eine Chance für die Islamische vom US-Senat ratifizieren, weil ihm
Trumps Rede am Dienstag – und der Ar- Republik, sich zu verändern. »Der Weg die nötige Zweidrittelmehrheit fehlte.
chitekt des Ausstiegs. Sein Vorgänger, Ge- der Gewalt, der rigiden Ideologie, einer Die Republikaner warnten Iran damals
neral Herbert Raymond McMaster, hatte Außenpolitik, die auf Drohungen basiert, schon: Ein nicht ratifiziertes Abkommen
noch versucht, Trump davon abzubringen. seine Nachbarn anzugreifen oder Israel sei lediglich eine Vereinbarung zwischen
Auch deshalb musste der General schließ- auszulöschen – das führt in eine Sackgas- Regierungen, der nächste Präsident
lich gehen. se«, sagte er. Das Abkommen eröffne könne »solch eine Regierungsverein-
Schon als Präsidentschaftskandidat einen Weg der Toleranz, der friedlichen barung durch einen Federstrich wider-
nannte Trump das Abkommen »einen der Lösung von Konflikten und größeren In- rufen«.
schlechtesten Deals in der Geschichte der tegration in die Weltgemeinschaft, hin zu Einen Konflikt zwischen Moderaten
amerikanischen Diplomatie«. Bolton be- Frieden und Wohlstand. und Hardlinern gibt es auch in Iran, nach
stätigte nur einen ohnehin feststehenden Das war der zweite, der idealistische Teil der Kündigung des Deals ist er wieder voll
Entschluss. des Abkommens: dass Iran nicht nur durch entflammt. Präsident Rohani kündigte an,
Bolton hasst Schwäche und verachtet wirtschaftliche Anreize vom Bau der Bom- sein Außenminister Zarif solle mit den
Kompromisse. Er ist kein »Neocon«, der be abgehalten werden könne, sondern dass Europäern, Russland und China sprechen.
mit militärischen Interventionen der De- im Land ein fundamentaler Wandel durch Wenn man zum Schluss komme, auch mit
mokratie zum Sieg verhelfen will. Er ist Annäherung würde stattfinden können. diesen Partnern seine Ziele erreichen zu
ein rechter Falke, seine Politik ist weniger Tatsächlich schien ein solcher Wandel können, werde man den Deal weiter ein-
»America First« als »America Alone«. Er auf einmal vorstellbar. Knapp zwei Mona- halten, sagte er. Staatsoberhaupt Ajatollah
hält die Anwendung von Gewalt nicht nur te nach Obamas Rede schüttelte der US- Ali Khamenei sagte dagegen: »Ich traue
für sinnvoll, sondern für notwendig. Wie Präsident dem iranischen Außenminister den drei europäischen Ländern ebenfalls
Trump sieht er die Außenpolitik als Null-
summenspiel – wo die USA im Spiel der
Weltmächte nicht gewinnen, verlieren sie.
Multilaterale Institutionen wie die Verein-
ten Nationen, die Welthandelsorganisa-
tion oder die Europäische Union hält er
für überflüssig.
Wie sein Programm für Iran aussieht,
machte er vor drei Jahren in einem Mei-
nungsbeitrag in der »New York Times«
deutlich. Die Überschrift lautete: »To stop
Iran’s bomb, bomb Iran« – wenn wir Irans
Bombe stoppen wollen, müssen wir Iran
bombardieren.
Wenn es um Iran geht, kommt zu Bol-
tons Kriegslust noch eine dubiose Verstri-

MIKHAIL KLIMENTYEV / IMAGO


ckung hinzu: Er unterstützt die sogenann-
ten Volksmudschahidin, eine radikale Op-
positionellengruppe, die sich in den Sech-
zigerjahren aus Widerstand gegen den
Schah von Persien formiert hat, von der
EU vorübergehend als Terrororganisation
geführt wurde und nach Angaben von Aus- Premier Netanyahu, Präsident Putin in Moskau: Carte blanche für Israel
steigern sektenhafte Züge besitzt. Heute
werben die Volksmudschahidin in Wa-
shington und Europa mit großem Auf- Mohammad Javad Zarif am Rande der nicht.« Der Deal könne ohne Garantien
wand und viel Geld für einen Regimewech- Uno-Generalversammlung die Hand – nicht von Bestand sein.
sel in Teheran – im Grunde sind sie eine es war die erste Begrüßung dieser Art
Lobbyvereinigung für einen Krieg gegen zwischen einem US-Präsidenten und ei- Irans Aggressivität
Iran. Bolton trat bei mehreren Veranstal- nem hochrangigen iranischen Regierungs-
tungen der Gruppe auf. Voriges Jahr rief mitglied seit der Revolution 1979. Zarif Die entscheidende Frage ist, ob sich für
er ihren Anhängern zu: »2019 werden wir zog dafür den Zorn einiger Hardliner auf den Westen die Hoffnungen erfüllt haben,
in Teheran feiern.« sich – schließlich begrüßte er den »Großen die sich mit dem Abkommen verbanden.
Was Bolton und Trump verbindet, ist Satan«. Die Antwort hat zwei Teile. Erstens: Das
ihre Neigung zur Zerstörung. Und am liebs- Auch viele Republikaner glaubten da- Hauptziel hat sich erfüllt. Iran hat sein
ten zerstört Trump, was sein Vorgänger mals, dass diese kurze Begegnung falsch militärisches Atomprogramm nachweislich
geschaffen hat. gewesen sei – nicht zuletzt jene, die heute gestoppt. Es darf zwar laut Deal ab 2025
Trumps angekündigtes Treffen mit Nord- wieder erste Teile davon in Betrieb neh-
Der Deal und seine Wirkung koreas Diktator Kim Jong Un bejubeln men, ab 2040 sogar das ganze Programm,
und für Trump bereits den Friedensnobel- wenn auch mit Kontrollen. Diese »sunset
Im Jahr 2015, als Barack Obama der Welt preis fordern. Viele der Kritiker hätten provisions« sind einer der größten Kritik-
den Deal vorstellte, den er und sein Außen- wie Bolton einen Krieg vorgezogen, um punkte am Abkommen, doch Tatsache ist,
minister John Kerry geschmiedet hatten, Iran zu stoppen. Andere wollten den dass es bisher funktioniert wie vorgesehen.
machten sie damit deutlich, was ihr Haupt- militärischen Druck zumindest aufrecht- Was allerdings nicht eingetreten ist: Iran
ziel war: Sie wollten einen Krieg mit Iran erhalten. hat – anders als manche hofften – sein ag-

DER SPIEGEL Nr. 20 / 12. 5. 2018 15


US-Sanktionen Geschäfte mit Iran werden für deutsche Unternehmen losen Rücktritt von einem vereinbarten
Geschäft, falls sich die Rechtslage ändert.
noch schwieriger. Nun beginnt die Suche nach Auswegen. Projekte, die sich über mehrere Jahre
hinziehen, nehmen Bilfinger-Chef Tom

Spiel auf Zeit Blades und seine Leute nach Möglichkeit


nicht an. Außerdem wickeln sie Zahlun-
gen im Iran-Verkehr bevorzugt in Euro
ab und meiden US-Banken.
 Das neue Atomabkommen mit Iran her haftet der Bund für 57 Transaktionen Flugzeugbauer Airbus hat solche
war gerade mal gut eine Woche alt, da im Wert von mehr als 900 Millionen Euro. Ausweichmöglichkeiten nicht. Seine
reiste im Sommer 2015 eine deutsche Stark gefährdet sind vor allem Unter- Geschäfte werden in der Regel in Dollar
Wirtschaftsdelegation in das bis dahin nehmen, die enge Geschäftsbeziehungen abgerechnet. Im Jahr 2016 hat er 100
weitgehend abgeschottete Land. Sigmar mit Iran und den USA aufweisen. Sie bil- Maschinen an die staatliche Fluglinie
Gabriel, der damalige Wirtschaftsminis- den bei Handelskontakten mit dem Land Iran Air verkauft.
ter, hatte Manager wie Linde-Chef Wolf- allerdings die Minderheit. Das haben Gefertigt wurde von dem Milliarden-
gang Büchele oder den BASF-Vorstands- Beamte im Bundeswirtschaftsministe- auftrag bislang allerdings nur ein einziger
vorsitzenden Kurt Bock eingeladen, um rium festgestellt. Nach ihren Erkenntnis- Jet. Die Fluggesellschaft könnte weitere
an alte Zeiten anzuknüpfen, als Iran sen engagieren sich vor allem Firmen in Exemplare gut gebrauchen, ihre Flotte ist
noch als eines der wichtigsten deutschen Iran, die kaum Berührungspunkte mit veraltet. Doch die Auslieferung wird nun
Exportländer außerhalb Europas ge- den USA aufweisen. durch das jüngste Edikt Trumps verhin-
golten hat.
Die Euphorie war groß. Mindestens
zehn Milliarden Euro wollten deutsche
Firmen von 2018 an wieder in dem Land
umsetzen. Der Tunnelbauer Herren-
knecht hoffte, mit seinen Spezialbohrern
zum Graben von U-Bahn- oder Abwas-
serschächten 5 Millionen bis 15 Millio-
nen Euro pro Jahr einzunehmen.
Von der anfänglichen Goldgräber-
stimmung war schon länger kaum noch
etwas zu spüren. Und die Laune dürfte
weiter sinken, nachdem der US-Präsi-
dent das Atomabkommen einseitig
gekündigt und neue Wirtschaftssank-
tionen angedroht hat.
Gerade mal knapp drei Milliarden
Euro betrug der Wert deutscher Waren-
exporte nach Iran 2017. Auch die Inge-
nieure von Herrenknecht mussten sich
bescheiden. Die Umsätze blieben weit
hinter den Erwartungen zurück, wohl
auch weil deutsche Banken sich schon

SIEMENS
bislang zieren, Projekte in Iran zu finan-
zieren – aus Angst vor US-Repressalien.
Bereitet Trumps Drohung, europäi- Verladung einer Siemens-Gasturbine für Iran: Dämpfer nach Goldgräberstimmung
sche Firmen abzustrafen, die weiterhin
mit dem Land kooperieren, dem Ge-
schäft nun endgültig den Garaus? Ver- Eine Ausnahme bildet Siemens. Der dert, weil die Airbusse Komponenten
mutlich nicht – trotz der Aufforderung Konzern hat eine lange Geschichte in aus US-Produktion enthalten, für die
des neuen US-Botschafters in Berlin an Iran und wollte beim Wiederaufbau der eine amerikanische Exportlizenz benö-
deutsche Firmen, ihre Aktivitäten in Iran Infrastruktur mitverdienen. Allerdings ist tigt wird. Die aber verweigert die Trump-
sofort herunterzufahren. Mit einem deut- Siemens auch in den USA stark präsent. Regierung.
lichen Dämpfer ist jedoch zu rechnen. Firmenchef Joe Kaeser wartet deshalb Muss man sich Airbus-Chef Tom En-
Als erste Reaktion will die EU-Kom- erst einmal ab. Er könnte einen Rück- ders deshalb als unglücklichen Menschen
mission künftig Firmen finanziell ab- schlag locker verkraften. Die Iran-Aufträ- vorstellen? Eher nicht. Die Lieferzeit für
sichern, die in Iran aktiv sind. Außerdem ge sind gemessen am Gesamtumsatz zu Bestseller wie den A320 beträgt ohnehin
wird über Gegenmaßnahmen nachge- vernachlässigen. Außerdem verdient der mehrere Jahre. Mit der Produktion für
dacht, wie zum Beispiel daran, neuartige Konzern gut – auch in den USA. den Iran-Auftrag hatte der Flugzeugbau-
bilaterale Zahlungssysteme zu nutzen, Andere Unternehmen, wie der Mann- er deshalb noch gar nicht begonnen.
um dem US-Bannstrahl zu entgehen. heimer Industriedienstleister Bilfinger, Nun warten auch die Airbus-Manager
Die Bundesregierung sichert bereits haben ausgefeilte Strategien entwickelt, erst mal ab. Sie hoffen auf ein neues Ab-
seit dem Sommer 2016 Geschäfte in Iran um ihr Iran-Geschäft abzusichern. Bilfin- kommen mit Iran und eine zweite Chance
durch sogenannte Hermes-Bürgschaften ger hat in seine Verträge eine sogenannte für den Großauftrag. Ein Spiel auf Zeit.
ab, also staatliche Garantieerklärungen Snap-Back-Klausel eingebaut. Der Pas-
für den Fall von Zahlungsausfällen. Seit- sus erlaubt den Managern den kosten- Dinah Deckstein, Gerald Traufetter

16
Titel

gressives Verhalten in der Region nicht kommens«, sagt der amerikanische Iran- Er hofft auf die Europäer. »Wenn sie gehen,
abgemildert. Es ist eher noch expansiver Experte Vali Nasr von der Brookings wird das Leben hier sehr hart.«
geworden. Institution. »Was wir gern vergessen, ist, Die schwierige Wirtschaftslage ist eine
In den knapp drei Jahren seit der Unter- dass die USA in dem Moment, als das Folge von Korruption, populistischer Poli-
zeichnung des Abkommens am 14. Juli Atomabkommen frisch unterzeichnet war, tik und der Sanktionen – sie hat sich trotz
2015 in Wien, hat Iran seine Macht in der neue Waffen im Wert von mehr als hun- des Abkommens nicht verbessert. Ende
Region deutlich gestärkt. Israel und Sau- dert Milliarden Dollar verkauft haben des vergangenen Jahres war es landesweit
di-Arabien haben damals schon vor dem an Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabi- zu Protesten deswegen gekommen und
gewarnt, was sie als aggressive iranische schen Emirate, Bahrain und weitere im aus Wut über den Bankrott einiger Finanz-
Vorstöße wahrnahmen. Seitdem haben Wert von 40 Milliarden Dollar an Israel. institute, die ausgerechnet mit den Eliten,
die iranischen Revolutionswächter, die un- Die Iraner haben ihr wichtigstes strategi- Revolutionswächtern und Religiösen ver-
abhängig von der Regierung agieren und sches Kapital aufgegeben und die USA bunden waren. Manche Sparer hatten
direkt dem religiösen Führer Khamenei stärkt stattdessen ernsthaft die konventio- durch den Bankrott alles verloren. Der ira-
unterstellt sind, ihre Fähigkeiten ausge- nellen militärischen Fähigkeiten von Irans nische Rial stürzte auf immer neue Rekord-
baut; sie können Israel und Saudi-Arabien Nachbarn.« tiefstände ab.
unmittelbar an deren Grenzen bedrohen. Die prekäre wirtschaftliche Lage des
Den Saudis machen die Revolutions- Die Enttäuschung der Iraner Landes ist der Grund dafür, dass Trump
wächter vom Jemen aus Sorgen. Dort ha- glaubt, es in die Knie zwingen zu können.
ben sie die Huthi-Milizen unterstützt, die In Teheran, am Saadat-Abad-Boulevard, Was Trump aber vorhat, ist hochriskant.
seit ein paar Monaten in der Lage sind – im 5. Stock, liegt das Büro von Mehdi Kha- Er will das Prinzip, das er schon im Fall
wohl dank iranischer Hilfe –, Raketen auf jehpour. Es ist elegant möbliert mit klassi- Nordkoreas einsetzte, auf Iran anwenden:
Saudi-Arabiens Hauptstadt abzufeuern, schen Glas- und Ledermöbeln. Seine Fir- Maximalen Druck ausüben, um den Geg-
und dies seitdem auch regelmäßig tun. ma Petro Sanat Sapra handelt mit Ausrüs- ner zum Einlenken zu bewegen. Wie das
Gegenüber Israel haben die Iraner meh- tung und Werkzeugen für die Ölförderung. funktionieren soll, erklärt der ehemalige
rere Fronten aufgebaut. Schon lange Seit gestern Nacht diskutieren er und seine US-Diplomat Zalmay Khalilzad. Er gehört
unterstützen sie im Libanon die Hisbollah Freunde, was Trumps Weigerung, die Sus- zum Lager der Neokonservativen und hat-
und im Gazastreifen die Hamas, doch nun pendierung der Sanktionen um weitere te einst für den Einmarsch in Afghanistan
ist noch Syrien hinzugekommen – sie sind vier Monate zu verlängern, konkret be- und im Irak geworben. Beide Missionen
ihrem Ziel nah, in der Region einen deuten wird. »Dieser Typ versteht doch sind gescheitert.
»schiitischen Halbmond« zu dominieren, gar nicht, was dieses Abkommen bedeu- Khalilzad sagt: Man solle Iran an seiner
der über den Irak und Syrien bis in den tet«, sagt er. »Archilles-Ferse« packen, der Wirtschaft.
Libanon reicht. Der 34-Jährige trägt einen sandfar- Trump solle versuchen, Iran durch harte
Als der Iran-Deal unterschrieben wur- benen Baumwollanzug, weißes Hemd, er Sanktionen wirtschaftlich zum Einlenken
de, stand Irans Verbündeter in Syrien, Prä- spricht perfektes Englisch, sogar ein wenig zu bringen. Das würde die Religiösen end-
sident Baschar al-Assad, kurz vor einer Deutsch seit seiner Ausbildung an der Uni- gültig gegen die jetzige Regierung aufbrin-
Niederlage. Inzwischen konnten seine versität in Würzburg vor ein paar Jahren. gen, aber auch die bisherigen Unterstützer
Truppen zusammen mit Russland, der li- Khajehpour gehört zur neuen irani- Rohanis wütend machen. Am Ende könn-
banesischen Hisbollah, iranischen Revo- schen Unternehmergeneration, er reist re- te der Zusammenbruch der aktuellen Re-
lutionswächtern und von Iran unterstütz- gelmäßig nach Europa. Er und seine Frau gierung stehen und der Weg für Verhand-
ten Milizen das Blatt wenden und erschei- haben sich einen kleinen Wohlstand auf- lungen offen sein mit den wahren Macht-
nen nun wie die Sieger. gebaut. Die Wohnung ist europäisch ein- habern, den Revolutionswächtern.
Zwischen Damaskus und Teheran be- gerichtet, ihrer achtjährigen Tochter lassen Am Ende gehe es darum, sagt Khalilzad,
steht ein Nutznießerbündnis: Die Syrer sie alle denkbare Förderung angedeihen, eine »große Lösung« zu finden, die alle
brauchen das iranische Geld und die Ballettstunden und Malerei stehen auf Aspekte mit einschließe, darunter die
Kämpfer, die Iraner wollen Syriens geo- dem nachmittäglichen Programm. Abends Reichweite der iranischen Raketen wie
grafische Lage. Von dort aus könnten sie laden die Khajehpours gern Freunde ein, auch Verhandlungen mit den drei großen
die schiitischen Milizen aus Afghanen, Pa- junge Paare, die, wie sie, in den vergange- Spielern der Region, die hier um Einfluss
kistanern und Irakern auf die israelische nen drei Jahren ziemlich hoffnungsvoll in ringen, Saudi-Arabien, Iran und der Tür-
Grenze hetzen, bewaffnete Drohnen nach die Zukunft geblickt haben. kei, dem »unreguliertesten Raum der
Israel steuern, wie sie es im Februar of- Wie viele dieser jüngeren Generation Welt«. Es müssten Vereinbarungen und
fenbar bereits taten, oder Raketen ab- hält sich Khajehpour eher raus aus der Poli- Spielregeln gefunden werden. Dass dies
schießen. tik. Mit den Hardlinern kann er sich nicht schnell geschehen könnte, glaubt auch
Iran hat sein militärisches Nuklear- identifizieren, er klagt aber auch über das Khalilzad nicht.
programm gestoppt – aber dafür hat es schlechte Management der aktuellen Re- So ähnlich stellen sich das auch Trump
weiterentwickelt, was der Deal ihm nicht gierung. Er und seine Frau haben große und Bolton vor, und sie wollen die Euro-
verbot. Es hat sich noch intensiver in re- Hoffnungen auf Präsident Hassan Rohanis päer dazu zwingen mitzumachen. Diese
gionale Kriege gestürzt. Und es betreibt Öffnungspolitik. Tatsächlich ging es für große Lösung ist allerdings Wunschden-
sein Raketenprogramm fort – schon heute ihn wirtschaftlich aufwärts, und auch ge- ken, denn die USA stehen mit diesem Plan
sollen Irans Raketen in der Lage sein, sellschaftlich schien zumindest der politi- im Moment fast allein da – nur Israel und
Mitteleuropa zu erreichen. Das Raketen- sche Diskurs in der Islamischen Republik Saudi-Arabien unterstützen das Vorhaben,
programm war vom Abkommen nicht liberaler zu werden. die Vertragspartner China, Russland und
abgedeckt, dennoch ist die militärische Leute wie er sollten, so hatte sich EU werden sich daran nicht beteiligen.
Macht und der Ausdehnungswille Irans Obama das wohl vorgestellt, die Zukunft Die Europäer glauben, dass ein solches
besorgniserregend. Irans sein. Nun ist die Enttäuschung groß. Powerplay zum Gegenteil führen würde:
»Irans Raketen – das ist Teil eines Wett- »Trump stärkt die Radikalen, indem er Die Hardliner in Iran gewinnen die Ober-
rüstens im Nahen Osten, das die USA mit erneut schwierige Bedingungen für die mo- hand, das Land beginnt wieder mit der
ausgelöst haben nach Abschluss des Ab- deraten Kräfte schafft«, sagt Khajehpour. Urananreicherung – und schließlich wird

DER SPIEGEL Nr. 20 / 12. 5. 2018 17


Titel

AP
Syrische Militärbasis bei Damaskus nach israelischem Angriff am 8. Mai: Bedrohung unmittelbar an der Grenze

ein Krieg, um Irans Nuklearprogramm zu Die Folgen für die Wirtschaft Deutschlands mit ihrem Kollegen aus Iran
stoppen, unausweichlich. Einige Europäer treffen. Auch eine symbolische Aktion wie
hoffen nun ausgerechnet auf Russland, um Die Deutschen, Franzosen und Briten hat- ein gemeinsamer Besuch in Teheran wird
die Hardliner in Teheran von einer Eska- ten von Anfang an keine große Hoffnung, in Diplomatenkreisen erwogen.
lation abzubringen, denn das iranische Re- dass sie Trump würden umstimmen kön- Der deutsche EU-Haushaltskommissar
gime ist in Syrien stark auf die Russen an- nen, am Deal festzuhalten. Umso überra- Günther Oettinger kann sich vorstellen,
gewiesen. Auch der Besuch des israeli- schender ist, wie schlecht sie nun auf den europäischen Unternehmen, die von US-
schen Premiers Benjamin Netanyahu am Ausstieg vorbereitet sind. Sanktionen betroffen sind, unter die Arme
Mittwoch in Moskau sollte Wladimir Putin Am unmittelbarsten wirkt sich Trumps zu greifen. »Wenn wir am Iran-Abkom-
dazu bringen, auf die Iraner Druck auszu- Entscheidung auf die europäischen Unter- men festhalten, und das sollten wir tun,
üben. nehmen aus, die seit dem Ende der Sank- dann sollten wir europäische Unterneh-
Ein großer Nahostkrieg ist die mittelfris- tionen in Iran investiert haben. Am Tag men, die mit Iran Handel treiben und von
tige Gefahr, die kurzfristige ist eine andere: nach Trumps Ankündigung versuchten US-Sanktionen betroffen sein könnten,
eine Eskalation zwischen Israel und Iran EU-Diplomaten erst mal Klarheit zu er- möglichst gut schützen«, sagte Oettinger
in Syrien. langen, wer von den Sanktionen betroffen dem SPIEGEL. Frankreich hat sich bereits
Was die jetzige Lage nach Kündigung sein dürfte. Dabei müssen sie sich offenbar ähnlich geäußert. Aber wie?
des Abkommens mit Iran so gefährlich hauptsächlich auf Briefings verlassen, die Kommende Woche wollen sich auch die
macht, ist das zweite, vollkommen andere US-Offizielle für amerikanische Journalis- Staats- und Regierungschefs der EU am
und weithin unterschätzte iranische Mili- ten in Washington geben. Vorabend ihres Westbalkan-Gipfels in So-
tärprojekt neben dem Nuklearprogramm: Klar scheint zu sein, dass europäische fia mit der Sache befassen. Das Problem
die Schattenarmee der schiitischen Mili- Unternehmen nun 90 bis 180 Tage Zeit ist, dass völlig unklar bleibt, wie Unter-
zen, die von den Revolutionswächtern, haben, ihre Aktivitäten in Iran abzuwi- nehmen geholfen werden kann.
den Pasdaran, seit Jahren im Irak, in Af- ckeln. »Wir geben Unternehmen eine Im Bundeswirtschaftsministerium ver-
ghanistan, in Pakistan rekrutiert, in Syrien Chance, rauszugehen«, sagt Trumps Si- sucht man zu beschwichtigen. »Nur ein
und andernorts eingesetzt wird. Was mit cherheitsberater Bolton. Wie großzügig. kleiner Teil der deutschen Unternehmen,
der Hisbollah im Libanon Anfang der Neue Geschäfte aber dürfen nicht mehr die in Iran investiert haben, betreibt auch
Achtzigerjahre begann, einen absolut gemacht werden. Sonst drohen europäi- Geschäfte in Amerika«, so ein Sprecher.
loyalen, schlagkräftigen Brückenkopf zu schen Unternehmen und Banken Strafen Wegen der Übergangsfristen könnten die
schaffen, ist zu einem monströsen Appa- der USA. Iran, das scheint das klare Ziel gefährdeten Unternehmen mit Iran-Ver-
rat mit mehr als 100 000 Kämpfern he- der USA zu sein, soll wirtschaftlich in die bindungen ja auch noch aussteigen. Auf
rangewachsen. Knie gezwungen werden, der Kollateral- diese Fristen verweist man auch im Élysée.
Es ist eine Waffe, die in mehreren As- schaden in Europa ist da unerheblich. Da- In der EU-Kommission wird überlegt,
pekten das exakte Gegenteil des Nuklear- mit dürfte der aus iranischer Sicht ohnehin ob der EU-Globalisierungsfonds genutzt
programms verkörpert: Sie dient nicht nur schon enttäuschend geringe ökonomische werden könnte, aber darin ist nicht aus-
der Abschreckung, sondern der Erobe- Ertrag des Deals weiter schrumpfen. reichend Geld vorhanden. Außerdem
rung. Sie ist oft kaum sichtbar und nicht Mit dem Wiederaufleben der Sanktio- wurde zuletzt öfter die Möglichkeit ge-
von außen zu kontrollieren. In Syrien etwa nen trifft Trump die Europäer und Iran an nannt, dass es europäischen Unternehmen
kämpfen die Milizen in immer neuen Zu- einer wunden Stelle. Seit dem Abkommen über das sogenannte Blocking Statute
sammensetzungen. haben sich die EU-Importe aus Iran fast unter Strafe verboten werden könnte, sich
Israels Sicherheitsapparat, der beim ira- verneunfacht, die Exporte nach Iran sind an die US-Sanktionen gegen Iran zu hal-
nischen Nuklearabkommen stets gespalten um fast 70 Prozent gestiegen, ausgehend ten. Diese Blocking Actions wurden 1996
war, sieht die Lage in Südsyrien einheitlich von einem relativ niedrigen Niveau – aber von der EU verabschiedet, um US-Sank-
als alarmierend. Trumps brüske Aufkün- die Handelsströme entwickelten sich in tionen gegen Iran, Libyen und Kuba zu
digung des Nuklearabkommens dürfte in die richtige Richtung. kontern.
Israel als Carte blanche verstanden wer- Viel kann die EU dagegen nicht tun. Si- In der Bundesregierung hält man diese
den, nun noch heftiger die Iraner und ihr cher, am Montag wollen sich die Außen- Lösung aber für abwegig. Die USA würden
Truppenkonglomerat dort anzugreifen. minister Großbritanniens, Frankreichs und zudem jede Maßnahme der EU zum Inves-

18 DER SPIEGEL Nr. 20 / 12. 5. 2018


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titionsschutz als feindliches Signal sehen.
In einem Telefongespräch mit Vizekanzler
Olaf Scholz machte US-Finanzminister
Steven Mnuchin klar, dass man alle Firmen
abstrafen werde, die in Iran bleiben.
Bleibt die Hoffnung auf kleinere und
mittlere Unternehmen, die kein US-Ge-
schäft haben, das wird aber kaum reichen.
Immerhin kann das Land weiterhin Öl ver-
kaufen – an Russland, China und Indien.
Europa, was nun?
Am Ende steht die Frage, ob Europa diese
100 € Amazon.de Gutschein Krise als Weckruf begreifen kann, als Start
Über eine Million Bücher sowie DVDs, für eine neue, gemeinsame Außenpolitik.
Ob sie die Demütigungen durch Trump
Technikartikel und mehr zur Auswahl.
noch länger hinnehmen oder sich als di-
plomatische Gegenkraft positionieren will.
Wolfgang Ischinger, der deutsche Diplo-
mat, sagt, man könne die Vertrauenskrise
zu den USA auch ins Positive wenden. »Es
ist ein weiterer dramatischer Weckruf an
die Europäische Union, sich endlich zu-
sammenzureißen. Für das europäische
Projekt kann ich mir keinen besseren Auf-
trieb wünschen als diese Erschütterung
durch Trump.« Ischinger kritisiert, wie Eu-
ropa sich in den vergangenen Monaten
verhalten habe: »Wir hätten besser vorbe-
€ 100,– Prämie reitet sein müssen.«
Erfüllen Sie sich einen Wunsch: Am Donnerstagnachmittag, in Aachen,
€ 100,– als Prämie. kommt Emmanuel Macron dann doch
noch auf Iran zu sprechen. Aber nicht im
Aachener Krönungssaal, sondern an der
RWTH, der Universität der Stadt. Er ist
hier, um mit Studenten zu reden, und die
fragen ihn danach. Macron sagt: Es sei nie
gut, wenn internationale Großmächte das
Recht nicht einhielten, das sie selbst auf-
gebaut hätten. »Jede Eskalation muss ver-
mieden werden. Wir bleiben im Abkom-
Ja, ich möchte den SPIEGEL digital lesen men und verlangen von Iran, dass es eben-
falls im Abkommen bleibt.«
und wähle eine Prämie! Macrons Strategie klingt kompliziert, er
will die Iraner überzeugen, nicht auszu-
Ich lese 52 Ausgaben des SPIEGEL digital inklusive steigen, und zugleich den Amerikanern
SPIEGEL DAILY für nur € 4,10 pro Ausgabe und erhalte eine entgegenkommen, die über einen größe-
Prämie meiner Wahl. ren Deal reden wollen. »Wir werden aus
Sicht der USA jetzt erst mal wegschaffen
müssen, was die Vorgängerregierung aus
ihrer Sicht falsch gemacht hat. Das ist ihre
52 x den SPIEGEL digital lesen Sicht, das ist halt so«, sagt er.
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20
Titel

schaft. Die langfristigen Linien der Diplo-

»Trump feiert gerade« matie laufen darauf hinaus, dass wir in Be-
ziehungen denken, nicht in Transaktionen.
Trump feiert gerade, dass er Großbritannien,
Frankreich und Deutschland seinen Willen
Geheimdienste Der frühere NSA- und CIA-Direktor aufgezwungen hat. Dieser kurzfristige Sieg
Michael Hayden, 73, über die Folgen des Ausstiegs aus dem Iran- wird spürbare Kosten nach sich ziehen.
Abkommen und einen eindimensionalen Präsidenten SPIEGEL: Der Ruf der US-Geheimdienste
hat in den vergangenen Jahren stark gelit-
ten – wegen der Foltergefängnisse der CIA,
SPIEGEL: Im Februar kamen die amerika- sung. Was machen diejenigen, die ihm eine des Irakkriegs, der Enthüllungen von Ed-
nischen Geheimdienste zu dem Schluss, Sachlage darbringen, wenn seine Bereit- ward Snowden. Hat Trump nicht recht,
dass Iran mehr oder weniger die Verpflich- schaft, diese Fakten zu akzeptieren, von wenn er den Sicherheitsapparat kritisiert?
tungen des Atomdeals einhält … der Beziehung zu ihm abhängt – nicht von Hayden: Schon die Prämisse der Frage leh-
Hayden: … nicht mehr oder weniger. Te- der Beweislast der Tatsachen? Es gibt kei- ne ich ab. Auch Spione sind Menschen,
heran hat das Abkommen befolgt, Punkt. ne Wahl: Sie müssen es weiter versuchen, manchmal hat man einen guten Tag,
Der Nachrichtendienstdirektor Dan Coats sie müssen das ständig thematisieren. manchmal nicht. Ich gebe zu: Ich habe die
sagte damals: Iran ist weiter von einer SPIEGEL: Der französische Präsident kam Geheimdiensteinschätzungen im Vorfeld
Atomwaffe entfernt als ohne dieses Ab- nach Washington, um Trump beim Iran- des Irakkriegs geteilt. Sie finden meine Fin-
kommen, und wir wissen mehr über das Deal umzustimmen, genauso wie die gerabdrücke auf dem Programm zur Ent-
iranische Nuklearprogramm als zuvor. Bundeskanzlerin. Was bedeutet es, wenn führung und Inhaftierung von Verdächti-
SPIEGEL: Warum steigt Donald Trump aus all das nichts bringt? gen, auf Befragungen, gezielten Tötungen,
dem Abkommen aus, gegen den Rat der Hayden: Noch mal: Dieser Mann trifft Ent- elektronischer Überwachung. Was ich ge-
Geheimdienste? scheidungen nicht so, wie wir es von an- tan habe, war kontrovers, aber effektiv, ge-
Hayden: Weil er Entscheidungen nicht deren Präsidenten, Kanzlern oder Pre- setzeskonform und angemessen.
aufgrund von objektiver Realität trifft. Er mierministern gewohnt sind. Außerdem SPIEGEL: Aber ist nicht genau das ein Pro-
hat ein vorgefertigtes Narrativ über die umgibt er sich, je länger er im Amt ist, mit blem für die US-Dienste – dass sie in ent-
Welt, und das verteidigt er. Vor scheidenden Situationen entweder
Trump kamen sämtliche US-Präsi- danebenlagen oder über die Strän-
denten zu ähnlichen Schlüssen: ge schlugen?
Freihandel ist gut für Amerika. Im Hayden: Wir hatten immer einen
Großen und Ganzen nutzt uns Ein- unbequemen Platz in der ameri-
wanderung. Und reife, selbstbe- kanischen Demokratie. Als NSA-
wusste Verbündete machen uns Direktor habe ich gesagt: Ich brau-
stärker. Jetzt ist da jemand, der Im- che zwei Dinge, um erfolgreich zu
migranten als Bedrohung und Ver- sein – Macht und Geheimhaltung.
bündete als Last empfindet und ge- Im Großen und Ganzen sind die
gen Freihandel kämpft. Das stellt Geheimdienste zuverlässig. Wir
Amerika, wie wir es seit 75 Jahren wurden nie als politisches Werk-
kennen, auf den Kopf. Wer eine be- zeug missbraucht, was nicht jeder
ACTION PRESS

liebige Position des Präsidenten Dienst von sich behaupten kann.


verstehen will, muss Barack Oba- Als Donald Trump nach der Wahl
mas Haltung dazu kennen – Trump auf Twitter schrieb, er sei im
macht das Gegenteil. Im Gesund- Geheimdienstler Hayden 2006: »Eine Erosion von Werten« Trump Tower abgehört worden,
heitswesen, beim Pariser Klima- lag darunter die Behauptung, Oba-
schutzabkommen, beim Transpazi- ma habe seine Spione für politische
fischen Freihandelsabkommen, in Syrien weniger Nein- und mehr Jasagern, die so Zwecke missbraucht. In einem Interview
und nun beim Iran-Abkommen. denken und so klingen wie er selbst. zu dem Thema sagte Trump: Viele Leute
SPIEGEL: Was werden die Folgen des SPIEGEL: Gehört der neue Sicherheitsbe- stimmen mir zu, deshalb habe ich recht.
Rückzugs aus dem Abkommen sein? rater John Bolton in diese Kategorie? Da haben Sie es – eine Welt jenseits von
Hayden: Die Konfrontation wird zunächst Hayden: Bolton ist ein schlauer Typ. Er Wahrheit.
nicht mit Iran stattfinden, sondern mit un- weiß viel und ist ein talentierter Krieger SPIEGEL: In Ihrem Buch »The Assault on
seren Freunden in Europa. Die Europäer innerhalb des bürokratischen Apparats. Intelligence«, das gerade erschienen ist,
fragen sich zu Recht: Zählt unsere Mei- Als Sicherheitsberater muss er aber Ab- schreiben Sie, nie zuvor hätten Geheim-
nung noch? Nehmen uns die Amerikaner läufe beherrschen, Prozesse. Er wird einen dienstler einem Präsidenten gedient, dem
ernst? Wir werden unsere besten Freunde inneren Kampf mit sich ausfechten müs- die Wahrheit derart gleichgültig ist. Wa-
verprellen, es wird einen transatlantischen sen. Denn sein Instinkt ist, sofort Antwor- rum ist das ein Problem?
Krach geben. ten parat zu haben und sich nicht mit kom- Hayden: Wir beobachten in vielen west-
SPIEGEL: Trump kritisiert die Sicherheits- plizierten Abläufen abzugeben. lichen Ländern eine Erosion von Werten,
behörden immer wieder, er fühlt sich von SPIEGEL: Boltons Antwort scheint häufig die wir der Aufklärung zu verdanken ha-
ihnen verfolgt. Haben die Geheimdienste Krieg zu sein. Beunruhigt Sie das? ben. Das sollte vor allem Amerikaner be-
noch so viel Macht wie früher? Hayden: Ich sage mal vorsichtig: Er ist be- unruhigen. Unsere Gründungsväter waren
Hayden: Der Präsident betrachtet Bezie- reit, die Konfrontation zu suchen. Schüler der Aufklärung. Wenn wir diesen
hungen durch die Brille der Loyalität zu SPIEGEL: Was heißt das für die US-Außen- Werten jetzt den Rücken kehren, zerstören
ihm. Das ist beunruhigend, weil Beamte politik? wir unser Fundament.
an Gesetze gebunden sind. Ihre Loyalität Hayden: Die Vereinigten Staaten sind ein Interview: Christoph Scheuermann
gilt nicht dem Mann, sondern der Verfas- großes Land, mit einer vielfältigen Gesell-

DER SPIEGEL Nr. 20 / 12. 5. 2018 21


Titel

Als wäre es ein Donut


Diplomatie Der Umzug der US-Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem stürzt die
diplomatische Welt in ein Chaos. Wenn man sich dort hineinbegibt, bekommt
man eine Vorstellung, wie es in Donald Trumps Kopf aussieht. Von Alexander Osang

D
ie Botschaft Guatemalas in Israel Mikronesien, die Marshallinseln, Togo, Pa- den gerade in leuchtend Weiß nachgestri-
befindet sich in einem mittelalten lau und Nauru haben zusammen mit den chen und die Bäume am Straßenrand be-
Bürogebäude außerhalb von Tel USA und Israel in der Uno-Vollversamm- schnitten. In der Auffahrt zur künftigen
Aviv, in Herzlia, direkt an der lung gegen die Beschwerde gestimmt, die Botschaft wurde vergangene Woche ein fri-
Autobahn. Es ist nicht ganz einfach, den die Welt zum Botschaftsumzug aufgesetzt sches Blumenbeet in Rot, Weiß und Blau
Eingang zu finden, und wenn man im Ge- hatte. Nauru liegt im Pazifischen Ozean angelegt, wobei das Blau ins Violette spielt.
bäude fragt, wo Guatemala sitzt, weiß das und ist mit etwa 10 000 Einwohnern die Ein russisches Kamerateam steht vorm
auch kaum jemand. Es sitzt im vierten kleinste Republik der Erde. amerikanischen Konsulat und filmt die Ta-
Stock, zusammen mit der Firma Red Sea, Es gibt in Jerusalem bereits vier oder fel, auf der noch steht: »Konsulat der Ver-
die sich mit Fischzucht beschäftigt. Aber fünf Straßenschilder, die auf die neue Bot- einigten Staaten von Amerika«. Am kom-
das muss man sich nicht merken. Guate- schaft hinweisen. Es gibt amerikanisch-is- menden Montag soll die Tafel dann durch
mala zieht gerade aus. Die Klingel ist be- raelische Straßenfähnchengirlanden. Es »Botschaft der Vereinigten Staaten« er-
reits abgeschraubt, es hängt nur noch das gibt die Nachricht, dass Ivanka Trump zur setzt werden. Mehr passiert erst mal nicht.
Kabel der Sprechanlage aus der Wand. Eröffnung kommt. Ihr Vater Donald hat Ein Schilderwechsel, der die Welt bewegt.
Das Telefon ist auch schon abgemeldet. vor ein paar Wochen Angela Merkel Die Palästinenser reden nicht mehr mit
Man kann an die gläserne Eingangstür gegenüber angedeutet, dass er kommen den Amerikanern. Die Weltgemeinschaft
klopfen. könnte. Und darauf sei er stolz. Jetzt wird der Einweihungsfeier fernbleiben. Sie
Es erscheint eine lächelnde Botschafts- kommt er aber wohl doch nicht. Und ist ist nicht eingeladen, und sie wäre auch
mitarbeiterin. bestimmt auch darauf stolz. Er hat genug nicht gekommen. 128 Nationen haben die
»Im Moment ist niemand da«, sagt sie. zu tun. Der Präsident legt hier und da ein Botschaftsverlegung der Amerikaner in
»Aber am 16. macht ja die neue Botschaft Feuer und zieht dann weiter. der Uno kritisiert. Es gab in den vergange-
auf. In Jerusalem.« Vor einem halben Jahr hatte Trump er- nen Wochen ein wenig Gerumpel in Tsche-
Sie bittet, eine Telefonnummer zu klärt, er werde die amerikanische Bot- chien und Rumänien, aber die ziehen nun
hinterlassen. Dann werde die Botschafte- schaft von Tel Aviv nach Jerusalem verle- doch nicht mit ihren Botschaften nach Je-
rin sofort zurückrufen. Es ist das sechste gen. Die Nachricht stürmte um die Welt, rusalem.
Mal in den vergangenen zwei Wochen, als habe sich Gott aus Amerika gemeldet. Die bisherige US-Botschaft steht wie
dass jemand in der Botschaft meine Tele- Der Status von Jerusalem gilt seit Jahr- eine Festung am Mittelmeerstrand. Drau-
fonnummer aufschreibt. Allein zweimal zehnten als eine der schwierigsten Fragen ßen Männer mit Sonnenbrille, Poller und
hat sich der Konsul Guatemalas die Num- der Friedensverhandlungen im Nahen Os- verspiegelte Scheiben. Drinnen rund 900
mer notiert. Aber es ruft natürlich nie- ten. Wie teilt man die Heilige Stadt, die Mitarbeiter, denen Ende vergangenen Jah-
mand zurück. Sie haben schon eine Ah- so viele Religionen für sich beanspruchen? res mitgeteilt wurde: Für euch ändert sich
nung, in welch brisanter Situation sich Die Hauptstadtfrage gilt als sogenannte nichts. Man kann sich nach drinnen ver-
Guatemala gerade befindet. Sie stehen im Endstatuslösung und wurde auch bei den binden lassen. Es dauert eine Weile. Meist
Auge eines diplomatischen Weltensturms. Friedensverträgen immer wieder ausge- landet man auf einem Anrufbeantworter.
»Wir sehen uns dann in Jerusalem«, sagt klammert. Seit den Neunzigerjahren ha- Aber irgendwann ist Avida Landau dran.
die Frau und läuft rückwärts weg, als ver- ben amerikanische Präsidenten angekün- Er ist Medienbeauftragter im diploma-
lasse sie eine Bühne. digt, ihre Botschaft nach Jerusalem zu ver- tischen Dienst. Es ist ohnehin keine einfa-
Es fällt ein bisschen buntes Licht aus legen, es aber nie getan. Es war zu heikel. che Aufgabe, aber momentan muss es die
einem großen Aquarium der Firma Red Donald Trump hat sich Jerusalem jetzt ge- Hölle sein.
Sea auf den Flur. Es riecht nach Essen und nommen wie einen Donut. Was also passiert am 14. Mai, und wel-
Toiletten. Durch die Glastür sieht man ein Endstatuslösungen sind für ihn kein Pro- che Wirkungen wird es haben?
großes Foto des Präsidenten Guatemalas, blem. Den Endstatus legt er fest. Er ist der Ich kann nichts sagen, sagt Landau.
Jimmy Morales, die Staatsflagge und ein Endstatus. Schicken Sie mir Fragen.
dickes, aufgeschlagenes Gästebuch. Zwei Der Bürgermeister von Jerusalem, Nir Drei Tage später schickt er Antworten.
leere Seiten. Wenn man hier fünf Minuten Barkat, hat gerade verkündet, er werde »Es wird eine Widmungszeremonie ge-
steht, fühlt man die Weltfremdheit, mit den Platz vor der neuen Botschaft in »Platz ben«, schreibt er. Allein das Wort klingt,
der US-Präsident Donald Trump Entschei- der Vereinigten Staaten zu Ehren von Prä- als habe er sehr lange darüber nachge-
dungen trifft. sident Donald Trump« umbenennen. Es dacht. Widmungszeremonie. Dann wird
Guatemala wird seinem Land nach Je- klingt, als würden sie bereits an einer Sta- man weitersehen. Der US-Botschafter
rusalem folgen. Paraguay und Honduras tue arbeiten. Die Fahrbahnmarkierungen wird pendeln. Die anderen Botschaftsan-
sind grundsätzlich dazu bereit, und auch auf den letzten Metern zum Konsulat wer- gestellten werden in Tel Aviv bleiben. Die

22 DER SPIEGEL Nr. 20 / 12. 5. 2018


Möbel auch. Irgendwann wird auch eine
neue Botschaft gebaut. Dafür gibt es ver-
schiedene Optionen, die im Moment ge-
prüft werden. Eine endgültige Entschei-
dung ist noch nicht getroffen.
»Sie können das als Hintergrund eines
Offiziellen der US-Botschaft benutzen«,
schreibt Landau, als habe er ein Staats-
geheimnis ausgeplaudert. 1300 Zeichen,
die in keinem Verhältnis zu der Lautstärke
stehen, mit der Trump über den Bot-
schaftsumzug redet.
Noch eine Frage an den Mediendiplo-
maten aus der amerikanischen Botschaft
in Tel Aviv: Sind Sie eigentlich durch
Trumps Ankündigung im Dezember über-
rascht worden?
Es ist 20 Sekunden still. Man kann
Landau atmen hören. Im Hintergrund rau-
schen Autos über die Strandstraße. Dann
sagt er: »Dazu kann ich keinen Kommen-
tar abgeben.«
Wie sehr Donald Trump die Welt ver-
ändert hat, hört man in den Pausen, die
Diplomaten machen, die seine Entschei-
dungen deuten sollen, man sieht es in ih-
rem Gesicht. Sie schauen ratlos, fassungs-
los, manchmal belustigt, aber nicht oft.
Nadav Tamir, der jahrelang an der is-
raelischen Botschaft in Washington gear-
beitet hat und später israelischer Konsul
in Boston war, gilt als einer der besten Ken-
ner, der amerikanisch-israelischen Bezie-
hungen. Steht auf Wikipedia.
»Das muss ich ändern lassen«, sagt er.
Warum?
»Unter der Obama-Regierung hatte ich
erstklassige Beziehungen zum amerikani-
schen Botschafter in Israel. Jetzt habe ich
nur noch Beziehungen zu Leuten, die auch
keine Ahnung mehr haben, was passiert«,
sagt er. »Das trifft allerdings für fast alle
zu.«
Weder das amerikanische Außenminis-
terium noch das Pentagon oder der Natio-
nale Sicherheitsberater sollen für die Ent-
scheidung, die Botschaft nach Jerusalem
zu bewegen, gewesen sein.
Warum Trump es dennoch gemacht hat,
JONAS OPPERSKALSKI / DER SPIEGEL

darüber können die Diplomaten nur spe-


kulieren. Wenn man mit einigen geredet
hat, ergeben sich folgende Möglichkeiten:
Er hat es gemacht, weil er es im Wahl-
kampf versprochen hat. Er hat es gemacht,
weil er es konnte. Er hat es gemacht, weil
Straße in Jerusalem Obama es nicht gemacht hat. Er hat es ge-
macht, weil es Netanyahu wollte. Netan-
yahu wiederum wollte es, weil es die Pa-
lästinenser verprellt. Alles, was Unfrieden
in Israel stiftet, hilft Netanyahu, sich als
Endstatuslösungen sind für Trump kein Problem. Staatsmann zu präsentieren. Er ist da nicht
Den Endstatus legt er fest. Er ist der Endstatus. viel anders als Trump. Er hat es gemacht,
um die Evangelikalen im eigenen Land zu
besänftigen, eine der wichtigsten Wähler-
gruppen. Es waren gerade Wahlen in Ala-
bama, die für die republikanische Mehr-
heit im Senat wichtig gewesen sind. Die

23
Titel

Evangelikalen Amerikas wollen ebenso wie Es ist oft von Freundschaft die Rede, ihn, wenn die Bedingungen reif seien. Es
die Rechte in Israel Jerusalem als Haupt- wenn Trump über seinen außenpolitischen heißt, dass weder Palästinenser noch Is-
stadt. Beide mögen keine Araber. Beide Beraterstab redet. Es klingt, als sollen raelis ein Interesse hätten, dass der ultima-
hoffen auf die Wiederkehr des Messias. die drei Amigos den Nahostkonflikt lösen tive Plan öffentlich wird.
Die Evangelikalen allerdings glauben, dass und gleichzeitig ihren Chef der Welt ver- Wenn man mit sechs oder sieben Diplo-
er die Juden zum Christentum bekehren kaufen. maten in Israel geredet hat, die den Plan
will. Die Juden sagen: Lass ihn erst mal da Jason Greenblatt erklärte kurz nach der nicht kennen, aber fürchten, hat man den
sein, dann sehen wir weiter. Bis dahin seid Ankündigung des Präsidenten, die ameri- Eindruck, im Kopf von Donald Trump zu
ihr unsere Partner. Er hat es gemacht, weil kanische Botschaft zu verlegen, wie man sitzen. Es sieht aus wie in einem Automa-
er die jüdische Wählerschaft Amerikas durch Trump verstehen muss. tencasino von Las Vegas.
seine zögerliche Haltung gegenüber den »Präsident Trump glaubt, dass frisches Er setzt seine Kinderunterschrift unter
amerikanischen Neonazis, die in Charlottes- Denken und unkonventionelle Entschei- irgendwelche Dokumente. Im Hinter-
ville demonstrierten, verstört hatte. dungen nötig sind, um den Friedenspro- grund explodieren die ersten Raketen.
Die Diplomaten in Tel Aviv und auch zess voranzutreiben«, sagte er. »Und wir Und man weiß nie, ob es Silvesterknaller
die in Washington haben viel Zeit, über verhalten uns entsprechend dieser Leit- oder Langstreckenwaffen sind.
solche Dinge nachzudenken. Wie sieht es linie.« Erst vor dem Chor der fassungslosen
im Kopf von Donald Trump aus? Das kann man so sagen. Diplomaten sieht man die Rücksichtslosig-
Trump hat den gesamten diplomati- Friedman trieb, gegen den Rat des ame- keit, Dummheit und Ignoranz des Solisten
schen Apparat ausgehebelt. Ihm gefielen rikanischen Außenministeriums, den Bot- Donald Trump.
all die gut ausgebildeten Experten nicht, schaftsumzug voran. Greenblatt und Kush- »Wir jagen Geister«, sagt Daniel Seide-
die sich seit Jahren mit dem Nahostkon- ner bereisen den Nahen Osten, sprechen mann, ein Jerusalemer Anwalt und Stadt-
flikt beschäftigen. Sie lieferten nicht. Sie
beschäftigten sich – wie er sagt – »nur mit
Nebenfragen«.
Trump nahm lieber Greenblatt, Kush-
ner und Friedman. Leute, die keinerlei di-
plomatischen Erfahrungen haben, ihm
aber treu ergeben sind. Die machen jetzt
Weltpolitik für den Chef.
Jason Greenblatt ist ein Immobilienan-
walt aus Queens. Er hatte Mitte der Neun-
ziger mal eine Cappuccinofirma an der
Penn Station, die er verkauft hat, bevor
er bei Trump einstieg. Er vertrat auch Ivan-
ka und Eric Trump. Der Präsident machte
ihn zum Chefunterhändler im Nahen Os-

JONAS OPPERSKALSKI / DER SPIEGEL


ten. Seine Begründung: »Er hat komplexe
Geschäfte für mich abgewickelt.« Dafür
bekam Greenblatt, der mit Kippa zur Ar-
beit erscheint, Vater von sechs Kinder ist
und gemeinsam mit seiner Frau einen El-
tern-Blog betreibt, neben dem Nahen Os-
ten auch noch Kuba ab.
Jared Kushner ist der Schwiegersohn
von Donald Trump. Sein Vater ist ein en- Palästinensische Arbeiter nahe der neuen US-Botschaft: »Wir jagen Geister«
ger Freund von Benjamin Netanyahu, des-
sen Wahlkampf er unterstützt hat. Wenn
Netanyahu New York besuchte, schlief er mit Staatschefs, Königen und Kronprin- experte, der seit Jahrzehnten zwischen
manchmal bei den Kushners, einmal sogar zen. Sie haben einen Plan, heißt es. Keiner, Christen, Palästinensern und Israelis
in Jareds Zimmer. Jared Kushner zog für außer ihnen und dem Chef, kennt den moderiert, der hervorragende Verbindun-
Benjamin Netanyahu in den Keller. Damit Plan. Sie zeigen ihn auch nicht. Es ist aber gen ins amerikanische Außenministerium
wurde er zum Nahostexperten und Präsiden- der Plan, der alle Probleme lösen wird. und in die israelische Politik hat. »Es gibt
tenberater in verschiedenen Lebenslagen. Der »ultimative Deal«, von dem Trump nichts, was meine Freunde beantworten
David Friedman hat als Anwalt die In- oft redet. Der beste Plan der Welt. könnten. Nur Spekulationen. Man kann nur
solvenz von Trumps Casinos in Atlantic Die diplomatische Weltgemeinde spe- hoffen, dass die drei Amigos und Trump
City, New Jersey, geregelt. Sie wurden kuliert, was im Plan stehen könnte und noch sehr lange an diesem Plan arbeiten.
Freunde, als Trump drei Stunden durch ei- auch, wann er gezeigt wird und warum Sie kennen doch das Infinite-Monkey-The-
nen Schneesturm reiste, um für Friedmans vielleicht doch nicht. orem? Wenn man Affen nur lange genug in
verstorbenen Vater, einen Rabbi aus Long Ein Botschafter sagt, der Plan werde eine Schreibmaschine tippen lasse, entsteht
Island, ein Trauerritual abzuhalten. Fried- mindestens zu 70 Prozent den Zielen von irgendwann ein Shakespeare-Stück.«
man, der seit Jahren radikale Siedler fi- Benjamin Netanyahu folgen, vielleicht Seidemann kichert, aber er sieht nicht
nanziell unterstützt, wurde kurz nach dem auch zu 80. Er habe gehört, der Plan wer- aus, als amüsiere er sich.
Wahlsieg Trumps zum amerikanischen de kurz nach der Botschaftseröffnung ver- Er wohnt nur drei Straßen entfernt von
Botschafter in Israel. Er hoffe, seine Arbeit öffentlicht. Ein anderer Botschafter hat Arnona, wo die Botschaft aufmacht. Er
bald aus einer Botschaft in Jerusalem aus- vor zwei Monaten von Jason Greenblatt wird nicht hingehen. Er ist nicht eingela-
üben zu können, »der ewigen Hauptstadt gehört: Der Plan komme, wenn er fertig den, und es ist für ihn auch unbedeutend.
Israels«, hieß es in der ersten Erklärung. sei. Vor zwei Wochen hörte er: Sie zeigten Kitsch. Bedeutend war die Entscheidung.

24 DER SPIEGEL Nr. 20 / 12. 5. 2018


»Es ist schon einigermaßen beunruhi-
gend, sich diesen Tag für eine Eröffnung
auszusuchen. Nakba-Tag, vorm Ramadan,
mitten in der Iran-Krise«, sagt Seidemann.
»Wovor ich wirklich Angst habe, ist die
Langzeitwirkung dieser Entscheidung.
Trump hat die Autorität, die die USA im
Nahostkonflikt hatten, aufgegeben. Es gibt
niemanden, der die Lücke füllt. Kushner,
Friedman und Greenblatt sind nicht bösen
Willens. Sie sind ahnungslos.«
Er hat ihnen die Stadt gezeigt, er hat ih-
nen seine Bedenken mitgeteilt. Sie waren
sehr freundlich, aber Seidemann glaubt
nicht, dass sie sich noch einmal bei ihm
melden.
Seidemann glaubt, dass Trumps Politik
in einen Krieg führen wird. Wann und wo,
kann er nicht sagen. Aber es gibt nieman-
den mehr, der ihn verhindern könnte, sagt
er, am Mittwoch dieser Woche. In der
Nacht zum Donnerstag flogen die ersten
israelischen Raketen in Richtung Syrien.
Die Vorbereitungen auf die Widmungs-
zeremonie wirken spätestens jetzt wie ein
Volksstück. Das Regierungspressebüro
meldet stolz die Zahl der internationalen
Journalisten, die an der Veranstaltung teil-
nehmen möchten. Es sind 300, darunter
65 aus Amerika, 41 aus Großbritannien,
24 aus Japan und 23 aus Deutschland. Die
»Jerusalem Post« präsentiert drei Gedenk-
münzen zum Botschaftsumzug mit der
Aufschrift: »Jerusalem, ewige Hauptstadt
Israels«. Am Vorabend der Botschafts-
eröffnung werden sich US-Gäste, zu der
auch die republikanische Politikerin Mi-
chele Bachmann gehören soll, zum Bibel-
studium in der Knesset treffen. Bachmann
kommt aus Iowa und hielt heimatliche Wir-
belstürme und ein Erdbeben in Virginia
für die Antwort Gottes auf die Politik von
Obama. Später wird Jimmy Morales, dem
Präsidenten von Guatemala, in Jerusalem
der Cyrus Award verliehen.
Der Cyrus Award ist ganz neu, er wur-
de erst geschaffen, nachdem Donald
Trump den Botschaftsumzug verkündet
hatte. Es ist ein Preis für politische Führer,
die Jerusalem als Hauptstadt anerkennen.
Jimmy Morales ist evangelikaler Christ, LANXESS Qualität setzt Zeichen! Gerade in der Chemie
der 2016 überraschenderweise Präsident macht Qualität den Unterschied zwischen Alltäglichem und
von Guatemala geworden ist. Bekanntheit
Besonderem – so wie z. B. Nanotubes die Qualität vieler
erlangte er als Fernsehkomiker. Er ist der
erste Politiker, der den Preis bekommen Produkte verbessern. Deshalb leben wir bei LANXESS
wird. Der zweite wird Donald Trump sein, Qualität in allem, was wir tun – für hochwertige, nachhaltige
der bekannt wurde als Gastgeber einer Produkte, für mehr Lebensqualität im Alltag und für den
Reality Show. Der Cyrus-Preis ist einem Erfolg unserer Kunden. Das ist es, was wir Energizing
tönernen Zylinder nachempfunden, den
man bei Ausgrabungen unter einem baby- Chemistry nennen. quality.lanxess.de
lonischen Tempel gefunden hat. Er ist
goldfarben und wird von der »Internatio-
nalen Christlichen Botschaft Jerusalem«
verliehen.
Die Diplomaten Gottes sind mit im
Boot.

25
Deutschland
In Bremen herrschte anscheinend das Motto: Wir schaffen das – vorbei an allen Regeln. ‣ S. 51

ROBERT LEHMANN / DUH


Demonstranten vor dem
Bundesverwaltungsgericht
in Leipzig

Verbraucher

Koalitionskrach um Dieselskandal
CDU-Abgeordneter will Deutsche Umwelthilfe bei Musterfeststellungsklage kaltstellen.
 In der Großen Koalition bahnt sich ein handfester Streit über beth Winkelmeier-Becker, betont: »Bei der Musterfeststellungs-
den Umgang mit dem Dieselskandal an. Führende CDU-Ab- klage geht es um die Durchsetzung von Verbraucherrechten,
geordnete wollen an die vom Kabinett beschlossene Musterfest- nicht um neue Geschäftsfelder für Verbände.«
stellungsklage für Verbraucher Hand anlegen. Ein Ziel: Der Beim Koalitionspartner SPD beurteilt man die DUH besser.
Deutschen Umwelthilfe (DUH) soll der Status eines Verbands »Der Verband hat sicherlich eine zentrale Rolle bei der Aufklä-
verwehrt bleiben, der Musterfeststellungsklagen bei Gericht rung des Dieselskandals und dem Kampf um saubere Luft
einreichen darf, um geschädigte Verbraucher zu unterstützen. gespielt«, sagt SPD-Fraktionsvize Sören Bartol, »egal wie kri-
»Wir brauchen eine klare Positivliste mit seriösen klageberechtig- tisch man die Arbeit auch ansonsten sehen kann.« Änderungen
ten Verbänden, und darauf hat diese semikriminelle Vereinigung am neuen Gesetz, um die DUH herauszuhalten, lehnt Bartol ab.
nichts zu suchen«, sagt der wirtschaftspolitische Sprecher der Auch über die Kosten der Nachrüstung von Dieselfahrzeugen
Unionsfraktion, Joachim Pfeiffer. Die DUH hat Dutzende deut- herrscht Uneinigkeit. Die Präsidentin des Umweltbundesamts
sche Städte wegen überhöhter Schadstoffwerte durch Dieselfahr- (UBA), Maria Krautzberger, schätzt diese auf einen einstelligen
zeuge verklagt. Im Februar gab das Bundesverwaltungsgericht Milliardenbetrag. Ein Gutachten, auf das sich Verkehrsminister
dem Verband darin recht, dass Fahrverbote zur Luftreinhaltung Andreas Scheuer (CSU) beruft, geht von deutlich höheren Kos-
verhängt werden dürfen. Wirtschaftspolitiker und Autokonzerne ten aus. So beziffern die industrienahen Wissenschaftler um den
greifen die DUH wegen angeblich zweifelhafter Spendenpraxis Karlsruher Professor Thomas Koch den Einbau des Stickoxid-
und mangelnder Transparenz an. Katalysators auf mindestens 5000 Euro. UBA-Chefin Krautzber-
Mittels der Musterfeststellungsklage will Bundesjustizministe- ger: »Für uns erklärt sich dies nur dadurch, dass Händlerpreise
rin Katarina Barley (SPD) die Autokonzerne dazu bringen, Besit- statt Einkaufspreise für die Kalkulation der Einzelkomponenten
zer von Dieselfahrzeugen mit manipulierter Abgasreinigung zu zugrunde gelegt wurden.« Analysen ihrer Behörde zufolge koste
entschädigen. Das Gesetz, das noch vor der Verjährung etlicher eine Nachrüstung samt Einbau 2000 bis 3000 Euro. »Wir gehen
Manipulationsfälle Ende des Jahres in Kraft treten soll, definiert außerdem davon aus, dass nur Diesel-Pkw in Städten mit
Kriterien für klageberechtigte Verbände. So brauchen diese min- besonders schlechter Luft nachgerüstet werden müssen«, sagt
destens 350 stimmberechtigte Mitglieder, die DUH hingegen hat Krautzberger, deren Amt zum SPD-geführten Bundesumweltmi-
weniger als 300 Mitglieder. CDU-Mann Pfeiffer reichen diese nisterium gehört. »Eine Nachrüstung aller rund 5,7 Millionen
Hürden nicht aus. »Für die DUH ist es doch ein Leichtes, neue Euro-5-Diesel-Pkw ist nicht notwendig.« Damit unterstützt sie
Mitglieder in den Verein zu holen, um die Kriterien zu erfüllen.« die Position von Umweltministerin Svenja Schulze (SPD), die
Auch die rechtspolitische Sprecherin der Unionsfraktion, Elisa- Hardware-Nachrüstungen einfordert. AMA, GT

26 DER SPIEGEL Nr. 20 / 12. 5. 2018


Sterbehilfe (CDU), damals Bundesgesundheitsminis-

MARIUS BECKER / PICTURE ALLIANCE / DPA


ter, hatte das Urteil scharf kritisiert. Ein
Staat lässt Auftragsgutachten für das ihm unterstell-
Todkranke im Stich te BfArM kam zu dem Schluss, das
Urteil sei verfassungsrechtlich nicht halt-
 Mittlerweile sind 20 der 104 Patienten, bar. Über das weitere Vorgehen ist bis
die beim Bundesinstitut für Arzneimittel heute nicht entschieden. Die Beratungen
und Medizinprodukte (BfArM) bean- seien »nicht abgeschlossen«, schreibt
tragt haben, ein Medikament zur Selbst- das Gesundheitsministerium heute, und
tötung erwerben zu dürfen, gestorben. weiter: Es könne »grundsätzlich nicht
Dies geht aus einer Antwort der Bundes- Aufgabe des Staates sein«, die Tötung Schule
regierung auf eine Kleine Anfrage der eines Menschen »aktiv zu unterstützen«. Übergriffige Eltern
FDP-Bundestagsfraktion hervor. Bisher Betroffenen stehe es frei, Rechtsanwälte
hat das BfArM über keinen der Anträge einzuschalten. Konstantin Kuhle, innen- Udo Beckmann, 66, Vorsitzender des
entschieden. Die Bundesregierung wei- politischer Sprecher der FDP-Bundes- Verbandes Bildung und Erziehung,
gert sich, ein Urteil des Bundesverwal- tagsfraktion, wirft der Regierung über aggressive Grundschüler
tungsgerichts umzusetzen: Dies hatte im Zynismus vor: »Wer todkrank auf eine und ihre Erziehungsberechtigten
März 2017 geurteilt, dass das BfArM positive Entscheidung des Bundes-
Schwerstkranken den Kauf einer Selbst- instituts hofft, will sich nicht mit An- SPIEGEL: Einer Umfrage Ihres Verban-
tötungsarznei in »extremen Notlagen« wälten herumschlagen, sondern braucht des zufolge haben Lehrkräfte in den
nicht verwehren dürfe. Hermann Gröhe eine klare Entscheidung.« COS vergangenen fünf Jahren an jeder drit-
ten Grundschule körperliche Gewalt
erlebt: von Schülern, bisweilen sogar
von Eltern. Woran liegt das?
Lkw-Maut lichen – und bekäme damit erstmals Beckmann: Eltern haben immer wie-
volle Einsicht in die Geschäftsunterlagen. der das Gefühl, ihr Kind werde unge-
Fauler Kompromiss um Gespannt beobachten Verkehrs- und recht behandelt oder falsch benotet. Da
Toll Collect? Finanzexperten in Berlin, ob die Regie- werden Lehrkräfte verbal bedroht,
rung diese Gelegenheit nutzt, die manche Eltern schalten Anwälte ein.
 Das milliardenschwere Schiedsverfah- Umstände aus der Zeit von 2003 bis SPIEGEL: In der Studie ist auch von kör-
ren zwischen der Bundesregierung und 2005 aufzuklären, als die Lkw-Maut erst perlichen Übergriffen die Rede.
dem Lkw-Mautbetreiber Toll Collect mit anderthalb Jahren Verzögerung an Beckmann: Ja. Vor Kurzem erst erzähl-
steht offenbar kurz vor einer Einigung. den Start ging. Damals verklagte der te uns eine Grundschullehrerin von
Noch vor der Sommerpause solle das seit Bund Toll Collect wegen Milliardenaus- einem Konflikt mit einem Vater. Des-
mehr als zwölf Jahren laufende Verfahren fällen, wogegen sich Toll Collect mit sen Sohn hatte eine schlechte Note
beendet werden, heißt es aus Kreisen des einer Gegenklage wehrte. Seitdem wird geschrieben, der Vater war damit nicht
Bundesverkehrsministeriums. Verkehrs- hinter verschlossenen Türen gestritten. einverstanden. Plötzlich eskalierte die
minister Andreas Scheuer (CSU) hat die Die Linksfraktion im Bundestag fürchtet, Situation, der Mann schubste die Lehre-
Verhandlungen zur Chefsache gemacht. dass eine Einigung zum jetzigen Zeit- rin und drückte sie mit dem Ellbogen
Die beiden Hauptgesellschafter von Toll punkt die Aufklärung verhindern könn- gegen eine Wand.
Collect, Daimler und Telekom, stehen te – und der Bund Milliarden verschenkt. SPIEGEL: Warum häuft sich offenbar an
unter Zeitdruck: Zum 1. September läuft »Verkehrsminister Andreas Scheuer sollte Grundschulen körperliche Gewalt,
der Mautvertrag aus. Da sich die Neuaus- sich nicht auf faule Kompromisse einlas- auch von Schülern?
schreibung hinzieht, muss der Bund das sen«, warnt der Linken-Finanzpolitiker Beckmann: Dort ist die Schülerschaft
Unternehmen vorübergehend verstaat- Jörg Cezanne. SVE, WAS noch heterogener als anderswo, sodass
schneller Spannungen entstehen.
Außerdem hat sich die Zahl der Schüler
mit Verhaltensauffälligkeiten in den
letzten zehn Jahren fast verdoppelt. Da
kommt es einfach häufiger zu schwieri-
gen Situationen, die in Gewalt münden.
SPIEGEL: Was schlagen Sie als Gegen-
maßnahmen vor?
Beckmann: Wichtig ist, dass Lehrer
über solche Vorfälle sprechen können,
ohne als pädagogische Versager zu gel-
ten. Häufig ist das Thema Gewalt leider
JUERGEN LOESEL / PICTURE-ALLIANCE/ ZB

immer noch tabuisiert. Sinnvoll ist


auch, einen Verhaltenskodex aufzustel-
len und festzulegen, wie Schüler und
Lehrer miteinander umgehen.
SPIEGEL: Warum sollte das helfen?
Beckmann: Manche Kinder wissen ein-
fach nicht, dass Gewalt keine Lösung
ist, dass sie andere nicht schlagen,
schubsen oder treten dürfen. Sie haben
Toll-Collect-Kontrollbrücke bei Dresden das zu Hause nicht gelernt. OLB

27
Studentenwohnheime
Bauprogramm floppt
 Das Förderprogramm für Studenten-
wohnungen ist ein Misserfolg. Von
120 Millionen Euro, die der Bund seit
der vergangenen Legislatur bereitge-
stellt hat, werden nur 37 Millionen abge-
rufen. Nun will die Koalition das Pro-

PETER ANDREWS / REUTERS


gramm nicht weiterführen, wie das Bau-
ministerium von Horst Seehofer (CSU)
in seiner Antwort auf eine Schriftliche
Frage des hochschulpolitischen Spre-
chers der Grünen, Kai Gehring, erklärt.
Gehring kritisiert, dass sich durch die
Bahnstation Sobibór »ministerielle Bürokratie« zu wenige
Bauwillige fanden, schließlich habe der
Geschichtspolitik zusammen nur einige Hundert Besucher Bund Mehrkosten durch Umplanungen
aus Deutschland. Historiker und jüdische nicht übernommen. Mit den 37 Millio-
Wenig Geld für Shoah- Verbände beklagen die Situation seit Jah- nen Euro würden nun »knapp 2600
Gedenken ren. »Das ist beschämend, stellt doch Wohneinheiten in zehn Bundesländern«
die ›Aktion Reinhardt‹ den eigentlichen aus 20 Projekten gefördert, schreibt
 Die Linken-Fraktion im Bundestag Kern des Holocausts dar«, sagt die Lin- das Ministerium. Erst neun davon be-
wirft der Bundesregierung vor, zentrale ken-Abgeordnete Brigitte Freihold. Die finden sich im Bau. »Dabei sollte Ende
Holocaust-Gedenkorte in Polen zu ver- Bundesregierung beruft sich auch auf die 2018 alles fertig sein«, sagt Gehring:
nachlässigen. In den ehemaligen deut- »Theresienstädter Erklärung«, wonach »Das ist ministerielle Stümperei und
schen Konzentrationslagern Belzec, Polen für die Gedenkorte auf seinem Ter- skandalöse Bummelei.« AKM
Sobibór und Treblinka wurden während ritorium zuständig ist. Freihold hat einen
der »Aktion Reinhardt« 1942/43 mindes- Haushaltsänderungsantrag zur Erinne-
tens 1,8 Millionen Juden ermordet – den- rungspolitik an die Opfer der »Aktion
noch erhalten diese Gedenkstätten kaum Reinhardt« in den Bundestag einge- Gegendarstellung
Mittel aus Berlin. Das geht aus der Ant- bracht, der 3,3 Millionen Euro bis 2022
wort des Auswärtigen Amts auf eine Klei- vorsieht. Zudem fordert die Linken-Politi- zu »Linker Umgang mit Journalisten«
ne Anfrage der Linken-Fraktion hervor. kerin eine Bundesstiftung Holocaust, im SPIEGEL vom 3.2.2018:
Offenbar ob dieser mangelnden Förde- die die Gedenkarbeit koordinieren soll.
rung haben die Gedenkstätten wenig zu Vorbild könne die Bundesstiftung zur Sie schreiben im Zusammenhang mit
bieten: Pro Jahr verzeichnen alle drei Aufarbeitung der SED-Diktatur sein. csc der Fraktion DIE LINKE im Bundestag
zu dem »Tagesspiegel«-Journalisten
Matthias Meisner: »Er wurde aus allen
Presseverteilern gelöscht und zu Hinter-
Verkehr durch Gespräche abgelenkt war. In un- grundgesprächen der Fraktion nicht
Fatale Verwechslung? mittelbarer Nähe seines Arbeitsplatzes im mehr eingeladen.« Das ist so nicht rich-
Stellwerk befindet sich ein Aufenthalts- tig: Er ist nur aus einem Presseverteiler
 Nach dem tödlichen Zugunglück in raum. Dort wartete zum Unglückszeit- gelöscht worden und zu einem der
Aichach prüfen die Ermittler, ob der ver- punkt offenbar ein Triebfahrzeugführer, Hintergrundgespräche der Fraktion
antwortliche Fahrdienstleiter im Stell- der seinen Kollegen im Personenzug ablö- weiter eingeladen worden.
werk womöglich zwei Gleise verwechselt sen sollte – für die Ermittler ein wichtiger
habe. Am Montagabend war am Aicha- Zeuge. Der Fahrdienstleiter, gegen den Berlin, den 27.2.2018
cher Bahnhof ein Triebwagen der Bayeri- wegen des Verdachts der fahrlässigen Dr. Sahra Wagenknecht
schen Regiobahn auf einen dort stehen- Tötung ermittelt wird, hat bei der Polizei Dr. Dietmar Bartsch
den Güterzug aufgefahren; zwei Men- ausführlich über den Unfall ausgesagt. SRÖ Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE
schen starben. Laut Fahrplan hätte der im Bundestag
Personenzug eigentlich auf Gleis 1 einfah-
ren sollen, wurde jedoch durch eine Anm. der Red.: Matthias Meisner hat
manuelle Weichenstellung irrtümlich auf Bahnhof im Dezember 2017 über einen Zeitraum
Gleis 2 geleitet – auf dem der Güterzug Aichach von über zwei Wochen hinweg keine
Stehender
stand. Den Ermittlungen zufolge könnte Güterzug einzige E-Mail aus irgendeinem der
hierbei eine Besonderheit im Fahrplan Presseverteiler der Fraktion Die Linke
eine Rolle gespielt haben: Von den 19 erhalten. Die IT-Abteilung des »Tages-
Regiozügen, die montags von Aichach Gleis 2 Gleis 1 spiegel« hat dies bestätigt. Ein für
nach Ingolstadt fahren, werden 17 planmä- Die Linke zuständiger Redakteur von
ßig auf Gleis 2 abgefertigt. Nur der Zug SPIEGEL ONLINE hat im genannten
um 6.11 Uhr und der Unglückszug um AIC H ACH Zeitraum allein innerhalb von fünf
21.16 Uhr nutzen Gleis 1. Die Ermittler Tagen 27 E-Mails aus den Pressevertei-
prüfen, ob der junge Fahrdienstleiter, der lern erhalten. Erst nach einer Nachricht
Regiozug nach 100 m
erst ein gutes Jahr im Dienst gewesen sein Ingolstadt an die Fraktion bekam Meisner von
soll, bei der Weichenstellung außerdem dort wieder E-Mails.

28 DER SPIEGEL Nr. 20 / 12. 5. 2018


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Keine
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laufzeit

Der SPIEGEL jede Woche


frei Haus:
Ja, ich möchte den SPIEGEL lesen!
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Rosenzweig & Schwarz, Hamburg

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Deutschland

Kruzifix!
Union Lange bildeten die Katholiken und die CSU einen Pakt, doch in der Flüchtlingskrise
ist er zerbrochen. Während CSU-Chef Horst Seehofer die Kirchenspitze
offen attackiert, blickt Kanzlerin Angela Merkel mit stiller Freude auf das Zerwürfnis.

I
n den Zeiten, als die CSU in Bayern
noch die absolute Mehrheit holte
und so tat, als sorgte sie sogar für
den weiß-blauen Himmel über dem
Freistaat, in jenen herrlichen Zeiten also
traf sich die Elite der Partei immer am letz-
ten Sonntag im April in der Wallfahrts-
kirche zu Tuntenhausen.
Alois Hundhammer, der langjährige
Vorsitzende des Katholischen Männerver-
eins, kam und neigte sein Haupt, später
dann kniete Edmund Stoiber in den engen
Sitzreihen und faltete seine Hände. Alles
schien eine Einheit, das herrliche Bayern,
die CSU, die Kirche, eine Ordnung, von
Gott gewollt und für gut befunden.
In diesem Jahr aber, 73 Jahre nach Grün-
dung des Katholischen Männervereins
Tuntenhausen, scheint die himmlische Ein-
tracht zerbrochen. Das liegt nicht nur da-
ran, dass die barocke Basilika renoviert
wird und der Männerverein deshalb in ein
Gasthaus ausweichen musste, in dem ein
provisorischer Altar aufgebaut war.
Es lag auch an der Predigt von Pfarrer
Amit Sinha Roy, der darin ganz und gar
nicht den Eindruck erweckte, als sei die
CSU Teil des göttlichen Plans. Das Kreuz,
sagte Pfarrer Sinha Roy, sei viel mehr als
nur ein Symbol für die kulturelle Prägung
eines Landes, es sei ein religiöses Zeichen;
jede andere Interpretation sei doch »sehr
gewagt«. Und damit jeder verstand, an
wen sich seine Mahnung richtet, fügte der
Geistliche noch die Worte »liebe Staatsre-
gierung« hinzu.
Die »liebe Staatsregierung« unter der
Führung ihres neuen, protestantischen Mi-
nisterpräsidenten Markus Söder hatte fünf
Tage zuvor verfügt, dass von nun an in je-
der bayerischen Behörde ein Kreuz zu hän-
gen habe. Und um zu zeigen, dass der Er-
lass mehr ist als graues Amtsdeutsch, lud
Söder eigens zu einem Termin, damit Bay-
ern und die Welt Zeuge werde, wie der
Ministerpräsident ein geweihtes Kreuz ne-
ben der Pforte in der Eingangshalle der
Staatskanzlei aufhängt.
Nur war die Reaktion der katholischen
Kirche nicht so wie erhofft, was sich nicht
nur an der Predigt von Pfarrer Sinha Roy
ablesen ließ, sondern auch an den Worten
von Reinhard Marx, Erzbischof von Mün-

* Im Mai 2013 bei einem Treffen im Vatikan. Kanzlerin Merkel, Papst Franziskus*: Ganz oben in der Gunst der katholischen Kirche

30
chen und Freising sowie Vorsitzender der kommt man schon ab und an mal kurz von Kardinal es kritisiert, wenn Kreuze in un-
Deutschen Bischofskonferenz. Söder schü- der Spur ab.« Es klang wie das Eingeständ- seren bayerischen Behörden aufgehängt
re mit seinem Erlass »Spaltung, Unruhe, nis, dass Söders Kreuz-Erlass ein großer werden«, sagt er. »Das Kreuz ist ein reli-
Gegeneinander«, befand Marx in der Irrtum war. giöses Symbol und gleichzeitig Ausdruck
»Süddeutschen Zeitung«. Tatsächlich hat der Erlass klar wie nie der christlichen Prägung Bayerns.«
Und als in Tuntenhausen schließlich zuvor offengelegt, wie tief der Graben zwi- Schon vor zwei Jahren hat Alois Glück,
Marcel Huber zu Wort kam, der bayeri- schen der CSU und der katholischen Kir- noch immer so etwas wie das Gewissen
sche Umweltminister und aktuelle Vorsit- che ist. CSU-Chef Horst Seehofer scheut der CSU, bei seiner Rede in Tuntenhausen
zende des Katholischen Männervereins, sich nicht, den Chef der Deutschen Bi- gesagt: »Es hat in der Geschichte der CSU
sagte er laut Berichten der Lokalpresse: schofskonferenz offen anzugreifen: »Ich noch nie eine derart kritische Situation in
»Wir sind mit Vollgas unterwegs – und da habe keinerlei Verständnis dafür, dass der diese Stammwählerschaft hinein gegeben.«
Damals ging es um die Kampagne der CSU
gegen die Flüchtlingspolitik von Kanzlerin
Angela Merkel, die viele christlich enga-
gierte Wähler von der Partei entfremdete,
wie Glück feststellte, der seit mehr als
30 Jahren Mitglied im Zentralkomitee der
deutschen Katholiken (ZdK) ist.
Es ist ein bemerkenswerter Rollen-
tausch, der derzeit in der Union zu beob-
achten ist. Lange galt CDU-Chefin Angela
Merkel als eine Frau, der man als aufrech-
ter Katholik nicht so recht über den Weg
trauen durfte. Sie ist aufgewachsen in ei-
nem protestantischen Pfarrhaus, hat sich
früh scheiden lassen und lebte in wilder
Ehe, bevor im Dezember 1998 eine An-
zeige in der »Frankfurter Allgemeinen«
von ihrer Heirat mit ihrem langjährigen
Lebensgefährten Joachim Sauer kündete.
Später dann, als sie schon Kanzlerin war,
rief sie öffentlich den Vatikan dazu auf,
sich von dem Bischof der Piusbrüder, Ri-
chard Williamson, zu distanzieren, der den
Holocaust geleugnet hatte.
Ein deutsche Kanzlerin, die einen Papst
maßregelt, noch dazu den Deutschen Be-
nedikt XVI.? »Unbegreiflich und empö-
rend« sei das, befand der Eichstätter Bi-
schof Gregor Maria Hanke, und in der
CSU hieß es, Merkel möge sich doch bitte
nicht zum »Lehrmeister« aufschwingen.
Nun ist es Merkel, die ganz oben in der
Gunst der katholischen Kirche steht. Zu
Papst Franziskus pflegt sie ein ausgespro-
chen herzliches Verhältnis, schon viermal
hat sie ihn in Rom besucht. Und an diesem
Wochenende ist die Kanzlerin in Assisi
und nimmt dort vom Franziskanerorden
die »Lampe des Friedens« entgegen.
»Weltfriedensbotschafterin« darf sie sich
dann nennen, ein Titel, der zuvor dem
Dalai-Lama verliehen wurde und den Frie-
densnobelpreisträgern Lech Wałęsa und
Mutter Teresa.
Der Preis ist auch eine Verneigung vor
der Frau, die in den vergangenen drei Jah-
EVANDRO INETTI / DDP IMAGES / ZUMA

ren fast 1,4 Millionen Flüchtlinge und Asyl-


bewerber ins Land ließ. Als sich Merkel
im Spätsommer 2015 dazu entschied, die
deutsche Grenze nicht zu schließen, gab
es von Anfang an viel Kritik, speziell von
der CSU – aber die Kirchen standen an
der Seite der Kanzlerin. Besonders Kardi-
nal Marx beeindruckte die Haltung Mer-
kels: Er sprach mit der Kanzlerin und riet
ihr, sich nicht von der Schwesterpartei irre-

DER SPIEGEL Nr. 20 / 12. 5. 2018 31


PETER KNEFFEL / DPA
CSU-Politiker Söder*: Von der Wucht des Protests kalt erwischt

machen zu lassen. CSU-Chef Seehofer, Als der hessische Bundestagsabgeord- Söder und seine Leute trösten sich mit
der von der Geheimdiplomatie Wind be- nete Klaus-Peter Willsch die fehlende So- dem Gedanken, dass die Amtskirche nicht
kam, begrüßte den Kardinal fortan gern lidarität seiner Partei mit der CSU beklag- unbedingt die Haltung der Gläubigen
mit den Worten: »Ah, der Berater der te – »Ich hätte mir eher Kritik am EKD- wiedergibt. In der CSU verweist man auf
Kanzlerin.« Ratsvorsitzenden Bedford-Strohm und an eine Umfrage von Infratest dimap, wonach
Seehofer sieht, in welchem Zwiespalt Kardinal Marx gewünscht als an Söder« –, 56 Prozent der Bayern das Anbringen von
seine Partei steckt. Sie hat in der AfD eine ließ ihn die ebenfalls anwesende Bundes- Kreuzen gut finden. Bei den CSU-Anhän-
starke rechte Konkurrenz, die dafür sorgen kanzlerin abtropfen. Angela Merkel ant- gern ist die Zustimmung zum Erlass mit
könnte, dass die Partei bei der bayerischen wortete spitz, es sei ja nicht schlimm, wenn 71 Prozent noch höher als beim Durch-
Landtagswahl im Herbst die absolute es über die Frage, »wie ich was präsentie- schnitt der bayerischen Bevölkerung.
Mehrheit verliert. Gerade beim Thema re«, auch mal eine Diskussion gebe. Außerdem wird in der CSU-Führung ge-
Asyl und Abschiebung soll deshalb nie- Natürlich ist Merkel klar, dass der Streit rade mit Genugtuung ein kurzer Videoclip
mand an der Entschlossenheit der CSU der CSU mit den Kirchen der ganzen von Erzbischof Peter Stephan Zurbriggen
zweifeln, weshalb Landesgruppenchef Ale- Union schadet. Der gemeinsame Gegner herumgeschickt, dem apostolischen Nun-
xander Dobrindt über eine »aggressive heißt AfD. Die Partei kümmert sich auch tius in Österreich. Mit heiligem Zorn wet-
Anti-Abschiebe-Industrie« klagte. vermehrt um konservative Christen. Vor terte er gegen die deutschen Bischöfe, die
Es war eine Wortwahl, die nicht einmal allem enttäuschte Abtreibungsgegner, re- sich allen Ernstes dagegen wehrten, wenn
mehr die AfD toppen konnte, was Do- ligiös motivierte Islamkritiker und Gegner Kreuze aufgehängt würden. »Das ist eine
brindt mit einer tiefen Zufriedenheit er- einer gesellschaftspolitisch zu gefälligen Schande«, polterte Zurbriggen unter dem
füllte. Allerdings hatte er übersehen, dass oder liberalen Kirche finden in der AfD Applaus seines Publikums, und er vergaß
sich von seinem Spruch auch viele Chris- eine neue politische Heimat. auch nicht zu erwähnen, dass sich deut-
ten diffamiert fühlten, die sich in der Andererseits ist es auch schön, wenn sche Bischöfe bei ihrem letzten Besuch der
Flüchtlingshilfe engagieren. Die Worte Do- die CSU, die Merkel so heftig kritisiert heiligen Stätten auf dem Tempelberg in Je-
brindts seien fast noch schlimmer als der hat, nun selbst einmal im Feuer steht. rusalem dazu überreden ließen, das Brust-
plumpe Kreuz-Erlass Söders, sagt ein Spit- »Der dem Grundgedanken der Barm- kreuz abzunehmen. Beschämend, befand
zenvertreter der deutschen Katholiken in herzigkeit verpflichtete Umgang mit den der greise Erzbischof.
Berlin: »Das ist dreist.« Flüchtlingen hat sich sicher positiv auf das Dennoch – die Wucht des Protests ge-
In der CDU sieht man nicht ohne Scha- Verhältnis der CDU zur Kirche aus- gen seinen Kreuz-Erlass hat Söder kalt er-
denfreude, wie sehr sich das Verhältnis zwi- gewirkt«, sagt Monika Grütters, Merkels wischt. Er hatte mit Zustimmung oder al-
schen den Katholiken und der CSU inzwi- Staatsministerin für Kultur und ZdK- lenfalls Gleichgültigkeit gerechnet, aber
schen abgekühlt hat. Bei einer Konferenz Mitglied. nicht mit einem Proteststurm. Söders Ab-
der CDU-Kreisvorsitzenden am Mittwoch Grütters ist wie Kardinal Marx der Mei- sicht, Kreuze in Behörden aufzuhängen,
im Konrad-Adenauer-Haus konnte sich nung, dass die Politik das Kreuz nicht für war ja schon lange bekannt.
CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp- sich vereinnahmen dürfe. Es sei »fatal und Bereits auf seiner Aschermittwochsrede
Karrenbauer einen Seitenhieb auf die bay- gefährlich, das Kreuz rein utilitaristisch zu am 14. Februar in Passau hatte er, damals
erischen Brüder nicht verkneifen. Wo denn verwenden statt aus innerer Überzeu- noch als designierter Ministerpräsident,
in der Parteizentrale die Kreuze hingen, gung«, sagt sie. Allerdings gesteht sie Sö- den Erlass angekündigt, ohne dass die Kir-
wollte ein Mann von der Basis wissen. »Im der mildernde Umstände zu: »Wer das Be- che sich kritisch zu Wort gemeldet hätte.
Präsidiumszimmer, im Vorstandszimmer, kenntnis nicht mehr gewohnt ist, neigt im Fünf Tage bevor die Regelung im Kabinett
in meinem Arbeitszimmer und bestimmt Bekenntnisfall manchmal zu Unbeholfen- beschlossen wurde, erwähnte Söder das
noch in anderen Büros«, antwortete die heit und Übereifer.« Vorhaben bei der evangelischen Landes-
Generalsekretärin. »Das Schöne an diesen synode. Wieder erhob sich kein Protest.
Kreuzen ist: Sie hängen dort nicht aus * Am 24. April bei der Anbringung eines Kreuzes in Dann aber kam Söder auf die Idee, die
Pflicht, sie hängen aus Überzeugung dort.« der bayerischen Staatskanzlei. Presse in die Staatskanzlei zu bestellen, da-

32 DER SPIEGEL Nr. 20 / 12. 5. 2018


Deutschland

mit sie Zeuge werde, wie er eigenhändig (EKD) als auch das Zentralkomitee der Investitionen
ein Kreuz anbringt. Erst seine Aussage, das deutschen Katholiken lehnten die Aussage
Kreuz sei nicht ein Zeichen einer Religion, ab. Aber während sich Seehofer zwischen- sicher entscheiden?
sowie die Bilder befeuerten die Debatte. durch immer wieder um Ausgleich mit den
Das lag auch daran, dass Söder mit dem Kirchen bemühte, ist Söder schon seit Jah- Da brauche ich aktuelle
Reliefkreuz in der Hand aussah wie ein In- ren im Angriffsmodus.
quisitor. Selbst CSU-Chef Seehofer rief Sö- 2016 sagte der damalige Finanzminister
der an und sagte, dass er die Inszenierung der Zeitung »Christ und Welt«: »Die Kir- Geschäftszahlen.
für missglückt halte. Die politische Absicht chen sind nicht die Gewerkschaften des
dahinter sei einfach zu offensichtlich. Himmels.« Er warf ihnen sogar vor, mit
Zu allem Überfluss heizte die CSU-Spit- der Beherbergung von Flüchtlingen Kasse
ze den Konflikt mit den Kirchen noch an. zu machen. Ihn störte angeblich, dass
Generalsekretär Markus Blume nannte die kirchliche Stiftungen für das Unterbringen
Kritiker des Kreuz-Erlasses eine »unhei- der Asylsuchenden Geld vom Staat ver-
lige Allianz von Religionsfeinden und langten. »Barmherzigkeit braucht keine
Selbstverleugnern«. Das kam weder bei Miete«, sagte Söder. Ein Satz, der Kardinal
den Funktionären noch an der Kirchen- Marx offenbar furchtbar aufregte.
basis gut an. Dabei war der Partei die Einmischung
Johanna Graeff ist seit 15 Jahren Pfar- der Kirche immer sehr recht, solange sie
rerin der Evangelisch-Lutherischen Lan- ihr politisch nutzte. In den Neunzigerjah-
deskirche in Bayern. Momentan ist sie im ren kämpfte der damalige Ministerpräsi-
mittelfränkischen Röthenbach bei St. Wolf- dent Edmund Stoiber an der Seite des
gang tätig. Sie lehnt nicht nur das demons- Münchner Kardinals Friedrich Wetter ge-
trative Aufhängen von Kreuzen in Behör- gen das Kruzifix-Urteil des Bundesverfas-
den ab. Sie gehört auch zu den entschie- sungsgerichts, wonach Kreuze in Klassen-
densten Kritikern der Landesregierung in zimmern staatlicher Schulen im Konflikt-
der Flüchtlingsfrage. fall abzuhängen seien. Stoiber und Wetter
Den Kreuz-Erlass sieht sie »am Ende ei- luden unter dem Motto »Das Kreuz bleibt«
ner längeren Kette von Aktionen, die ich zu einer Großkundgebung auf den Münch-
als unangemessen, überzogen und men- ner Odeonsplatz, 30 000 Gläubige kamen.
schenfeindlich ansehe«. Als Beispiele »Wir lassen uns unsere grundlegenden
nennt die 44-Jährige das geplante Psychia- Werte nicht rauben«, rief Stoiber, der Kar-
triegesetz und die von Söder angekündigte dinal schimpfte über das »Intoleranzedikt«
Behörde, die Abschiebungen beschleuni- der Richter.
gen solle, »auch von Leuten, die nachweis- CSU-Chef Seehofer will in den nächsten
lich in Lebensgefahr sind«. Daher sei das Wochen dafür sorgen, dass sich die Wogen
Aufhängen des Kreuzes »Heuchelei, Stim- wieder etwas glätten. Schon in der Aus-
menfängerei, Fischerei im Trüben und wahl seiner Minister für das Bundeskabi-
nicht zuletzt: Spalterei«. nett hat er gezeigt, dass er immer noch ein
Seehofers Äußerung, der Islam gehöre Ohr für die Kirchen hat. Eigentlich war
nicht zu Deutschland, hatte den Graben Dorothee Bär für das Amt der Entwick-
bereits aufgerissen. Sowohl der Rat der lungsministerin vorgesehen, so jedenfalls
Evangelischen Kirche in Deutschland erzählt man es sich in der CSU. Dann aber
gingen bei Seehofer viele Anrufe ein, die
sich für den bisherigen Amtsinhaber Gerd
Müller einsetzten. Auch Kardinal Marx
persönlich soll sich für Müller verwendet
haben, der sich nie die scharfe Rhetorik
gegen Flüchtlinge zu eigen gemacht hat.
Am Ende lenkte Seehofer ein.
Nun soll der »gute Müller«, wie sie in
der CSU spötteln, die engagierten Christen
Mit den digitalen DATEV-Lösungen haben Sie jederzeit
wieder mit der Partei versöhnen, auch des-
den Überblick über Ihre aktuellen Geschäftszahlen.
halb ist eine Erhöhung des Entwicklungs-
hilfeetats vorgesehen. Seehofer wollte am Und sind direkt mit Ihrem Steuerberater verbunden. So
vergangenen Donnerstag eine Reise zum können Sie anstehende Investitionen sicher entschei-
Katholikentag nach Münster unterneh- den. Informieren Sie sich im Internet oder bei
men, aber wegen dicker Gewitterwolken Ihrem Steuerberater.
konnte die Flugbereitschaft der Bundes-
wehr keine Heimreise des Innenministers
garantieren, und so fiel seine Rede aus. Es
Digital-schafft-Perspektive.de
war, je nach Sichtweise, Pech – oder ein
DIETER MAYR

Wink des Himmels.


Melanie Amann, Anna Clauß,
Jan Friedmann, Ann-Kathrin Jeske,
Kardinal Marx Ralf Neukirch, René Pfister
»Spaltung, Unruhe, Gegeneinander«

33
Deutschland

kommunale Basis der Grünen droht zu

Grün war die Hoffnung schwinden. Und in dem ansonsten so dis-


ziplinierten Landesverband wächst die Kri-
tik am »Weiter so« des Realo-Flügels.
Dessen Selbstbewusstsein gründet sich
Baden-Württemberg Die Grünen verlieren in ihrer Hochburg auf zählbare Erfolge wie das erste grün-
Freiburg den Oberbürgermeister. Haben die Stammwähler genug schwarze Regierungsbündnis auf Länder-
vom Pragmatismus der Realos um Winfried Kretschmann? ebene – und auf den Glauben, dass die
Bürger einen pragmatischen Kurs der Mit-
te honorieren würden. Mögen die Unent-
wegten in Berlin die reine grüne Lehre pre-
digen, man selbst gestaltet durch Ämter
und Kompromisse.
Kretschmann vergaß es in der Vergan-
genheit selten, den Unterschied zwischen
Stuttgart und Berlin zu betonen: Im Süd-
westen stellen die Grünen die größte Frak-
tion, in der Hauptstadt die kleinste. Und
der Biologie- und Ethiklehrer zitiert Max
Weber und den Gegensatz von »Verant-
wortungsethik« und »Gesinnungsethik«.
Noch liegen die Grünen Baden-Würt-
tembergs in den Umfragen mal über, mal
unter ihrem Ergebnis aus der Landtags-
wahl 2016. Kretschmanns Popularität ist
ungebrochen. Doch andere grüne Füh-
rungspersonen im Ländle sind in Schwie-
rigkeiten, aus unterschiedlichen Gründen.
Dieter Salomon in Freiburg: abgewählt.
Fritz Kuhn in Stuttgart: unter Druck durch
eine Bürgerbewegung, die mehr Engage-
ment und Mitsprache fordert. Boris Pal-
mer in Tübingen: in der Kritik wegen kru-
der Facebook-Posts. Den neuesten Aufre-
ger produzierte Palmer mit einem Eintrag
über seinen Beinahezusammenstoß mit ei-
nem Rüpelradler schwarzer Hautfarbe,
der mit »einer unglaublichen Dreistigkeit«
um die Menschen herumgekurvt sei. In-
JULIAN RETTIG

zwischen wirft seine Partei Palmer »ras-


sistische Äußerungen« vor.
Dann ist da noch Cem Özdemir, der
Protestaktion des Vereins »Aufbruch Stuttgart«: Geplagt vom Verkehr ehemalige grüne Spitzenkandidat im Bund
und Außenminister in spe, für den sich in
Berlin bislang keine adäquate Aufgabe

W infried Kretschmann hat um-


geräumt. Die Porträts seiner Vor-
gänger aus ferner Zeit hängen
jetzt im Nebenraum. Im Gang, der vom
Und doch fiel der Termin wie ein aktueller
Kommentar zur politischen Lage im Süd-
westen aus.
Der »liebe Winfried« und der »liebe Ste-
fand. Trotz Kretschmanns Intervention
mochte die Bundestagsfraktion Özdemir
nicht als Vorsitzenden haben.
Die Südwest-Grünen trauern dem ge-
Foyer der Villa Reitzenstein abgeht, ver- fan« – die beiden duzen sich aus ihrer Zeit platzten Jamaikabündnis im Bund hinter-
bleiben Lothar Späth, Erwin Teufel und im Landtag – sinnierten gemeinsam über her. Kretschmann wäre eine wichtige Rolle
Günther Oettinger. die Vergänglichkeit des politischen Ge- zugekommen, als Bindeglied zwischen
»Das sind die, die ich noch selbst als schäfts. »Irgendwann, lieber Winfried, er- den Grünen und seinem Altersgenossen
Politiker erlebt habe«, sagt Kretschmann, wischt es hier jeden«, sagte Mappus. Die Horst Seehofer. Nach dem Scheitern war
während er mit Stefan Mappus die ver- Frage ist nur: wann. Kretschmann frustriert, erwähnte für den
kürzte Ahnengalerie abschreitet. Die bei- Kommende Woche feiert der grüne Mi- Geschmack seiner Berater etwas zu häufig,
den bleiben vor der Lücke rechts von Oet- nisterpräsident seinen 70. Geburtstag. Auf welche Freude es ihm bereite, mit seinem
tinger stehen. Dort, wo einmal ihre Por- einem Symposium wollen unter anderem Enkel zu spielen. Dann wandte er sich wie-
träts nebeneinander hängen werden. Robert Habeck und Wolfgang Schäuble der seinem Bundesland zu.
Der amtierende Ministerpräsident hatte »Demokratische Öffentlichkeit neu den- Dort beschäftigt das Ergebnis in Frei-
Mappus eingeladen, um dessen Abbild in ken«, am Tag darauf folgt ein Empfang für burg die Strategen: Was, wenn der Wähler
die Porträtgalerie seines Amtssitzes aufzu- Weggefährten und Honoratioren. Die Ah- im Südwesten nichts mehr von Kompro-
nehmen. Die Übergabe war lange im Vor- nengalerie scheint noch weit weg zu sein. missen wissen will? Wenn die Grünen so
aus geplant, mehrmals hatte Mappus dem Doch nach zwei Jahren Koalition ist die sehr zum Establishment gehören, dass
Maler Jan Peter Tripp Modell gesessen; Stimmung bei den Grünen getrübt. In Frei- man ihrer überdrüssig wird?
heraus kam ein Bildnis, auf dem Mappus burg schickten die Wähler den grünen Ausgerechnet Freiburg im Breisgau:
forsch nach dem unteren Rahmen greift. Oberbürgermeister in den Ruhestand, die Dort hatte Salomon 2002 als erster Ober-

34 DER SPIEGEL Nr. 20 / 12. 5. 2018


bürgermeister der Grünen eine Großstadt sam mit dem Architekten Arno Lederer Auch Kretschmann musste Kritik ein-
erobert. 16 Jahre später unterlag er einem und anderen Mitstreitern kämpft Backes stecken. »Ich hätte mir von dir, lieber Win-
33-jährigen Politik-Novizen, den die SPD für eine mutigere Stadtentwicklung. »Wir fried, ein Machtwort gewünscht«, sagte
unterstützte. »Viele Alt-Grüne fühlen sich brauchen den Umbau von der autogerech- ein Delegierter – die Basis ist ernüchtert
vom pragmatischen Kurs nicht mehr re- ten zur menschengerechten Stadt«, sagt von den Dauerquerelen mit dem Koali-
präsentiert«, sagt Michael Wehner von der Backes. »Die Autostadt ist kein Konzept tionspartner CDU. »Wir Grüne stellen den
Landeszentrale für politische Bildung. für die Zukunft, sondern Auslaufmodell.« Ministerpräsidenten, und das darf die
»Das hat Symbolcharakter, wenn die grüne Backes sitzt in einem Café am Stuttgar- CDU auch merken«, forderte ein anderer.
Hauptstadt verloren geht.« Er prophezeit: ter Schlossgarten und blickt über die Ra- Und: »Wir sind als Partei gefordert, härter
Künftig könnten Konflikte zwischen den senfläche hinüber zum Opernhaus, dahin- mit der CDU umzugehen.«
Flügeln der Partei wieder aufflammen. ter rauscht der Verkehr mehrspurig durch Noch immer wirkt der bislang heftigste
Kretschmanns alter Rivale Jürgen Trittin die Stadt. Die Oper wird bald für einen Streit innerhalb der Regierungskoalition
ließ es sich nicht nehmen, nach der Nieder- dreistelligen Millionenbetrag saniert, eine nach. Die CDU-Fraktion hatte eine Re-
lage von Freiburg zu twittern: »Wenn Öko- weitere Großbaustelle. Backes und seine form des Landtagswahlrechts verweigert,
logie und Gerechtigkeit auseinanderfallen, Mitstreiter möchten die Chance nutzen, die der Koalitionsvertrag vorgesehen hatte;
kriegen die Grünen ein Problem.« Kretsch- das Kulturareal um den Schlossgarten neu mehr Frauen sollten dadurch ins Parla-
mann beeilte sich zu versichern: Die Ober- zu ordnen. »Die Stadt muss sich mehr zei- ment einrücken. Die Grünen rächten sich,
bürgermeisterwahl sei ein lokales Ereignis gen«, fordert Backes. indem sie die CDU-Kandidatin für das
und kein Ausdruck eines übergeordneten »Aufbruch Stuttgart« hat einen eigenen Amt der Landtagsvizepräsidentin im ers-
Trends. »Wenn man die Kurve der Storch- Planungswettbewerb ausgeschrieben, ob- ten Wahlgang durchrasseln ließen.
population in Oberschwaben anschaut, wohl die Stadt ihre Planungen bereits ab- Als »Komplementär-Koalition« und
dann ist sie ziemlich kongruent mit der geschlossen hat. Der Oberbürgermeister »bürgerlich im besten Sinne« hatte Kretsch-
Kurve der Neugeburten, aber der Zu- reagierte genervt: Die Initiative solle sich mann seine Regierung gepriesen. Inzwi-
sammenhang stimmt trotzdem nicht.« doch in »Abriss Stuttgart« umbenennen. schen wird sichtbar, dass Grün-Schwarz
Doch die Niederlage trifft ein gemeinsames Projekt fehlt.
auch den Ministerpräsidenten. Am meisten Zeit verwendeten
Salomon, einst Fraktionsvorsit- die Abgeordneten auf eine Re-
zender im Landtag und bislang form ihrer Altersversorgung –
Präsident des Städtetags in Ba- ein Thema, das Ärger auf das
den-Württemberg, wäre bei Be- Establishment eher befördert.
darf wohl sein bevorzugter Das Thema Wahlrecht hält
Nachfolger gewesen. Kretschmann erst einmal für er-
Dass die Grünen in Freiburg ledigt, solange sich die CDU

STAATSMINISTERIUM BADEN-WÜRTTEMBERG
ausgerechnet einem Kandidaten nicht bewege. Auch sonst hat er
unterlagen, der eine Mitfühl- wenig Spielraum, die Sehnsüch-
Kampagne fuhr und mit Emotio- te der Basis zu bedienen. Es gehe
nen und Frische erfolgreich war, nicht um Effekthascherei, son-
beunruhigt die Landespartei. dern um solide Arbeit: »Ich ma-
Denn die Grünen propagieren che halt meinen Job, und das
landesweit eine »Politik des Ge- bleibt so.« Und was ist mit der
hörtwerdens«. Mit dieser Lo- Regierungskrise? »Es gibt keine
sung traten sie an, um die selbst- Regierungskrise.«
gefällige CDU samt ihres Minis- Politiker Kretschmann, Gäste Mappus, Tripp*: »Es erwischt jeden« Die nächste Prüfung für das
terpräsidenten Mappus abzulö- Bündnis steht allerdings bevor.
sen. Grün war die Hoffnung auf In den kommenden Tagen wird
den Wandel, doch das ist nun auch schon Noch immer sind die Grünen eine Partei das Stuttgarter Verkehrsministerium er-
einige Jahre her. der Städte, ihnen fehlt die Basis auf dem fahren, wie die Leipziger Richter ihr Urteil
Gut erkennbar ist der Unmut in der Lan- Land. Das zeigen auch die Mitgliederzah- zur Luftreinhaltung begründen. Beide Koa-
deshauptstadt Stuttgart, geplagt von über- len: Die Partei hat in Baden-Württemberg litionspartner möchten Fahrverbote ver-
bordendem Autoverkehr und mehreren nur 9000 Mitglieder, die CDU siebenmal meiden. Das Kabinett wird aber diskutie-
Großbaustellen. Dort regiert seit fünf Jah- so viele. Da muss sie immer wieder neu ren müssen, welche Maßnahmen die Lan-
ren Fritz Kuhn. 2019 ist Kommunalwahl, um Zuspruch kämpfen, einen Überdruss desregierung ergreifen soll – beispiels-
2020 steht die Oberbürgermeisterwahl an. unter ihren Mitgliedern kann sie sich erst weise, dass die ältesten Dreckschleudern
Stuttgart könnte die nächste Hochburg recht nicht leisten. schon 2019 draußen bleiben.
sein, die die Grünen wieder verlieren. »Das Wahlverhalten ist weniger bere- Während die CDU die Interessen der
»An der Politik des Gehörtwerdens ist chenbar heutzutage«, analysierte die Pendler hochhängt, betonen die Grünen
viel Schein«, sagt Wieland Backes. »Statt Esslinger Kreisvorsitzende Stephanie den Gesundheitsschutz. Verkehrsminister
einer echten Bürgerbeteiligung verteilen Reinhold auf dem Landesparteitag vor Winfried Hermann sagt: »Wenn wir auf
die Grünen Placebos. Die Enttäuschung wenigen Tagen. »Die Menschen wollen anderen Gebieten für den Rechtsstaat
über Kuhn zieht sich durch die Stadtge- gefragt werden, sie wollen mitgenommen kämpfen, dann können wir ein gültiges
sellschaft.« Backes, ursprünglich Kuhn ge- werden, und zwar 365 Tage im Jahr.« Gerichtsurteil kaum ignorieren.« Seine Po-
wogen, ist der derzeit sichtbarste Kritiker Es klang, als müssten die Grünen sition findet den Beifall der grünen Basis.
der Stuttgarter Kommunalpolitik. Der diesen Grundsatz erst wieder für sich Doch damit würden die Grünen, die bis-
SWR-Moderator und ehemalige Fernseh- entdecken. lang die Autofahrer so schonend behandelt
filmer hat die Bürgerbewegung »Aufbruch haben, vielen von ihnen erstmals wehtun.
Stuttgart« gegründet, der Verein hat mitt- * Bei der Übergabe von Mappus’ Porträt am 4. Mai in Jan Friedmann
lerweile mehr als 700 Mitglieder. Gemein- Stuttgart.

35
Deutschland

Acht Jahre, obdachlos


Wohnen Weil die Mieten in den Großstädten unbezahlbar werden, verlieren immer
mehr Familien ihre Wohnung. Zehntausende Kinder haben in Deutschland
kein Zuhause mehr. Viele müssen von einer Notbehausung in die nächste ziehen.

MAURICE WEISS / DER SPIEGEL

Bewohner in Berliner Familiennotunterkunft

E
r trägt einen schwarzen Hoodie, schwunden. Er kam nicht mehr zur Schule, drei Geschwister und sein Vater hatten je
die Kapuze hat er tief in die Stirn schrieb keine WhatsApp mehr, sagte auch einen Rucksack auf dem Rücken. Was da
gezogen, als wolle er sich darin nicht Tschüs. nicht reinpasste, blieb zurück. »Wir haben
verstecken. Ansonsten sieht Mar- »Ging ja nicht«, sagt er und guckt resig- quasi die Tasse vom Frühstück noch auf
ko* aus wie ein typischer 13-Jähriger, niert geradeaus. Schließlich sollte keiner dem Tisch gelassen«, sagt Markos Vater.
irgendwo zwischen Kind und Teenager, wissen, dass an diesem Tag sein Zuhause Wo hätten sie die Sachen auch hinbringen
ein bisschen pausbäckig noch, mit Snea- zwangsgeräumt wurde und er auf der Stra- sollen?
kers und grünen Shorts. Für seine Freunde ße stand. Mit nicht viel mehr als seinen Eine neue Wohnung hat die Familie
ist er Mitte April von der Bildfläche ver- Kleidern am Leib. nicht gefunden. Nach einigen Nächten bei
Der Auszug aus der Wohnung im Berli- Verwandten und Freunden wohnen sie
* Namen von der Redaktion geändert. ner Osten glich einer Flucht. Marko, seine nun in einer Notunterkunft in Kreuzberg,

36 DER SPIEGEL Nr. 20 / 12. 5. 2018


zu fünft in einem Zimmer mit Doppel- mittlerweile mithilfe der Sozialarbeiter in
stockbetten und einem Tisch. der Kreuzberger Notunterkunft entspre-
Markos Leben ist aus den Fugen gera- chende Anträge gestellt. Ob die ihm bei
ten, und trotzdem hat er noch Glück ge- der Wohnungssuche nützen, ist allerdings
habt. fraglich.
Denn die 30 Plätze in der Einrichtung, In ganz Deutschland fehlen Schätzun-
die nur obdachlose Eltern mit Kindern auf- gen zufolge Hunderttausende Sozialwoh-
nimmt, sind meist alle belegt. 20 bis 30 nungen. Und auf dem regulären Woh-
Familien muss die Leitung pro Monat ab- nungsmarkt haben Betroffene »keine
weisen. Chance mehr, vor allem als Hartz-IV-Emp-
Die Zahl der Familien und Frauen mit fänger«, sagt Viola Schröder, die die Kreuz-
Kindern, die ihre Wohnung verlieren, ist berger Notunterkunft leitet. Wenn noch
in den vergangenen Jahren vor allem in ein negativer Schufa-Eintrag hinzukommt,
größeren Städten stark gewachsen, das je- hat sich die Sache ohnehin erledigt.
denfalls berichten Sozialarbeiter. Genaue Berlin wird deshalb wie viele Großstäd-
Zahlen gibt es nicht, weil es trotz der ra- te kaum noch fertig mit der wachsenden
sant steigenden Obdachlosigkeit noch im- Schar an Menschen, die keine Wohnung
mer so gut wie keine verlässlichen Statis- haben. Rechtlich gesehen hat jede Kom-
tiken gibt. Schätzungen der Bundesarbeits- mune eine Unterbringungspflicht für Be-
gemeinschaft Wohnungslosenhilfe zufolge troffene. Wenn alle Wohnheime und Not-
waren 2016 gut 420 000 Menschen ohne unterkünfte voll sind, wird auch ein Hostel
eigenes Zuhause, darunter acht Prozent oder eine Pension bezahlt.
Kinder. Das wären mehr als 30 000. An- Doch eine zentrale Übersicht über ver-
erkannte Flüchtlinge, die keine eigene fügbare Plätze gibt es in der Hauptstadt
Wohnung finden, sind dabei noch gar nicht nicht, weil die Bezirke für die Unterbrin-
mitgezählt. gung zuständig sind. »Wir haben immer
Allein in Berlin hätten mittlerweile rund wieder Fälle, die erzählen: Wir sind mit
50 000 Menschen kein Zuhause mehr, dem Gutschein für eine Unterkunft rum-
heißt es bei der Gebewo, einem der größ- geschickt worden«, sagt Birgit Münchow,
ten Träger der Wohnungslosenhilfe in Ber- Referentin für Wohnungslosenhilfe, Frau-
lin. Die Zahl, so schätzt Geschäftsführer en und Gleichstellung beim AWO Landes-
Robert Veltmann, habe sich in den vergan- verband Berlin. »Die rennen mit den Kin-
genen drei bis vier Jahren etwa verdoppelt. dern an der Hand von Einrichtung zu Hos-
Betroffen sind längst nicht mehr nur tel zu Einrichtung und finden einfach
Menschen, denen das ganze Leben entglit- nichts.«
ten ist. »Das Bild des Berbers, männlich, Auf die Straße schicke man Eltern mit
arbeitslos und mit einem Suchtproblem, Kindern aber nie, versichern Sozialarbei- PORDENONE
ist nicht mehr repräsentativ«, sagt Velt- ter, trotzdem tauchen immer wieder Fami- Damen-Halbschuh
mann. Mittlerweile sind auch Angestellte, lien oder Frauen in den Notunterkünften
ältere und behinderte Menschen, Familien auf, die mit den Kindern im Auto oder in
und Frauen wohnungslos. leer stehenden Häusern geschlafen haben.
Vor allem Alleinerziehende können die Sehr viel häufiger aber sind Fälle wie
steigenden Mieten in Berlin oder München der von Annette Kerber*, einer 45-jähri-
einfach nicht mehr bezahlen. Oder sie fin-
den keine neue Wohnung, wenn sie sich
gen Berlinerin. Als sie vor zwei Jahren ihre
Wohnung verlor, zog sie erst mit zwei Hun-
DER SCHUH ZUM
vom Partner trennen oder der sie mitsamt den und ihren beiden Söhnen, damals 13
den Kindern vor die Tür setzt.
Obwohl Markos Vater als alleinerzie-
und 18, zu ihrer Tochter und deren Freund
– in eine Zweizimmerwohnung. Als die Be-
WOHLFÜHLEN
hender Mann eher eine Ausnahmeerschei- ziehung der Tochter zerbrach, siedelte die
nung in der Kreuzberger Notunterkunft gelernte Schneiderin – nun mit allen drei
ist, ist seine Geschichte doch sehr typisch Kindern – über zu ihrer Schwester.
für die Eltern, die hier Hilfe suchen. Auch dort wohnte die Familie in einem
Ihm sei »einfach alles zu viel« gewor- Zimmer. Um den Kindern zumindest et- • AUSGEZEICHNETE PASSFORM
den, sagt der 41-Jährige, der über Jahre was Privatsphäre zu bieten, habe sie oft
• SUPERBEQUEM-FUSSBETT
hinweg versuchte, seine Familie mit einem bei Freundinnen übernachtet, sagt Kerber.
Job als Hotelpage und dem der Familie zu- Wie so vielen Frauen sieht man ihr ihre • OPTIMALE AUFTRITTSDÄMPFUNG
stehenden Kindergeld durchzubringen. Notlage nicht an: Über der weißen Rü- • GEEIGNET FÜR INDIVIDUELLE EINLAGEN
Weil es vorn und hinten nicht reichte, schenbluse trägt sie eine silberne Halskette,
blieb er immer öfter die 900 Euro Miete die Nägel sind sorgsam rosa lackiert.
für seine Vierzimmerwohnung schuldig. Sie habe immer gearbeitet, sagt Kerber,
Am Ende stand die Zwangsräumung. lange in der Hotelbranche, wo sie Teams
Eigentlich soll auf diese Weise in von bis zu 17 Zimmermädchen dirigierte.
Deutschland niemand mehr seine Woh- Heute arbeitet sie als Reinigungskraft. Von
nung verlieren, es gibt Wohngeld und fünf bis zehn Uhr morgens, dann noch mal
Wohnberechtigungsscheine, die den An- von 14 bis 18 Uhr. KATALOG UND BEZUGSQUELLEN:
spruch auf ein öffentlich gefördertes Zu- Trotzdem habe das Geld, ähnlich wie www.finncomfort.de
hause begründen. Auch Markos Vater hat bei Markos Vater, oft für die Miete nicht

37
FINNCOMFORT, POSTFACH, D-97433 HASSFURT/MAIN
gereicht. Erst seit sechs Wochen wohnt riemarkt drapiert hat. Auf einem Schrank Wintermonaten. »Viel Alkohol, viele Dro-
Kerber mit zwei ihrer drei Kinder in einer stehen Nagellackflaschen, Rasierschaum, gen«, sagt der Vater zu den Zuständen
knapp 50 Quadratmeter großen Zweizim- Deos und Waschgel, das Gemeinschaftsklo dort. Einmal seien die Kinder in eine
merwohnung der AWO – sie kann an und die Duschen sind einen ziemlichen Rangelei mit Betrunkenen geraten, der äl-
einem speziell für Frauen zugeschnittenen Fußmarsch entfernt auf dem Gang. teste Sohn bekam einen heftigen Schlag
Programm teilnehmen. Davor habe sie Wenn Ivan nachts aufs Klo muss, weckt ins Gesicht.
sich nicht getraut, Hilfe zu suchen, sagt sie. er seinen Vater, damit der mitgeht. »Nicht Jeden Morgen mussten außerdem alle
»Ich hatte einfach Angst, dass mir das Ju- gut für Kinder«, sagt der in stark gebro- das Gelände verlassen, erst am späten
gendamt die Kinder wegnimmt.« chenem Deutsch immer wieder und schüt- Nachmittag durften sie wieder hinein.
So gehe es vielen Müttern ohne eigene telt den Kopf. Den Tag verbrachten die Kinder in der
Wohnung, sagt Britta Köppen von der Ivans Vater kommt aus Bulgarien, so Schule. Die Eltern flüchteten sich oft in
Psychologischen Beratung für wohnungs- wie Hunderttausende andere Südosteuro- den Aufenthaltsraum der Beratungsstelle
lose Frauen in Berlin. päer ist er nach Deutschland gekommen FamAra, die sich um wohnungslose Mi-
Dabei gilt Wohnungslosigkeit für sich in der Hoffnung auf Arbeit und ein gutes grantenfamilien kümmert und vom Evan-
allein nicht unbedingt als sogenannte Kin- Leben. Und wie so viele seiner Landsleute gelischen Hilfswerk betrieben wird.
deswohlgefährdung, die das Jugendamt ist er mit diesem Traum gescheitert. Neben Dort bemühte man sich nach Kräften,
zum Eingreifen zwingt. »Die Jugendämter den steigenden Mieten ist der Zuzug von für die Familie finanzielle Unterstützung
reagieren aber verschieden«, sagt Köppen. Menschen aus Osteuropa einer der Haupt- zu erkämpfen, sodass sie zumindest in ein
»Einige sind sehr kooperativ, andere ma- gründe für die zunehmende Obdachlosig- Wohnheim ziehen konnte.
chen Druck. Da steht dann schon im keit in Deutschland. Auch Ivans Eltern werden wohl in ab-
Raum, ob die Kinder nicht woanders Viele haben nicht einmal Anrecht auf sehbarer Zeit kaum ein eigenes Zuhause
untergebracht werden müssen.“ staatliche Unterstützung, wenn sie nie in in München finden, denn die Situation ist
Dabei erlebe sie immer wieder, dass be- Deutschland gearbeitet haben. dort eher noch schlimmer als in Berlin.
troffene Mütter es »auf ganz beeindrucken- Bei Ivans Familie ist das anders. Sein Wenn Ivans Vater nicht demnächst einen
de Weise« schafften, »sich noch sehr lie- Vater kam schon im Jahr 2012 nach Bay- neuen Job findet, könnte es sogar sein,
bevoll um ihre Kinder zu kümmern und ern, ein bulgarischer Unternehmer habe dass das Jobcenter ihm als EU-Ausländer
selbst in einem Wohnungslosenheim so et- ihn angeworben, für einen Job als Sortie- die Unterstützung streicht und das Zim-
was wie Alltag zu schaffen«. rer bei einer Logistikfirma, sagt der Vater. mer im Wohnheim nicht mehr finanziert.
Für Ivan*, 8, scheint es längst normal Seine Frau und die drei Kinder kamen »Die Stadt München bezahlt in diesen
geworden zu sein, von einer notdürftigen 2016 nach. Fällen oft nur noch die Bahnfahrkarte
Behausung in die nächste zu ziehen. Fröh- Besonders heimelig wohnte die Familie nach Hause«, sagt Asja Döring, Leiterin
lich marschiert er an einem Dienstag im nie, mal stellte die Firma, bei der die Eltern von FamAra.
April in sein aktuelles Zuhause, einen arbeiteten, ein Zimmer zur Verfügung, mal In Bulgarien habe man aber auch nichts
nüchternen Raum in einer ehemaligen lebten sie in einer überteuerten Einraum- mehr, sagt Ivans Vater.
Kaserne im Münchner Norden, um rund wohnung einer Zeitwohnfirma. Im De- »Wir haben diesen Menschen gegenüber
ein Dutzend uralter Matchboxautos vor- zember allerdings, als Ivans Vater seinen auch eine Verantwortung«, findet die linke
zuführen, die er auf dem Fenstersims auf- letzten Job verlor, stand die Familie end- Sozialsenatorin von Berlin, Elke Breiten-
gestellt hat. gültig auf der Straße. bach. »Viele sind Opfer von Arbeitsaus-
Die Einrichtung ist karg: fünf Metallbet- Ihnen blieb nichts anderes übrig, als beutung geworden.«
ten, eine Ausziehcouch, ein länglicher zunächst in den sogenannten Kälteschutz In vielen Obdachlosenunterkünften er-
Tisch, auf den die Mutter eine billige Tisch- zu ziehen – eine notdürftige Übernach- klären Sozialarbeiter ebenso: Man könne
decke und Duftstäbchen aus dem Droge- tungsmöglichkeit für Obdachlose in den die Menschen nicht einfach herlocken, bil-
lig arbeiten lassen und dann wieder weg-
schicken, wenn sie zur Last werden.
Allerdings scheinen alle Großstädte das
Problem der Wohnungslosigkeit lange
unterschätzt zu haben. Berlin etwa hat erst
in diesem Jahr mit der Erstellung einer ver-
nünftigen Statistik angefangen, um die Di-
mension des Problems überhaupt einmal
zu verstehen.
Die Mittel zur Bekämpfung von Woh-
nungslosigkeit seien im Sozialetat allein
für 2018 aber auf 8,13 Millionen Euro fast
verdoppelt worden, sagt Breitenbach.
Für den wohnungslosen Marko kom-
men diese Anstrengungen zu spät. Er geht
WOLFGANG MARIA WEBER / DER SPIEGEL

jetzt wieder zur Schule. Sein Vater denkt


nun darüber nach, zurück in seinen Hei-
matort nach Thüringen zu ziehen, wo er
noch Familie hat.
Marko kennt da zwar so gut wie nie-
manden. Aber immerhin hätte er Chancen,
wieder ein Kinderzimmer zu bekommen.
Anne Seith
Mail: anne.seith@spiegel.de
Ivans Familie in München: »Viele sind Opfer von Arbeitsausbeutung«

38 DER SPIEGEL Nr. 20 / 12. 5. 2018


Deutschland

SPIEGEL: Sie haben mit dem solidarischen

»Zu wenig« Grundeinkommen eine Debatte über ein


Ende von Hartz IV angestoßen. Hartz IV
war erfolgreich, die Arbeitslosigkeit ist zu-
rückgegangen. Wo genau lag der Fehler?
SPD Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller, 53, Müller: Die Agenda hat sicher zur positi-
kritisiert den Kurs von Finanzminister ven Wirtschaftsentwicklung beigetragen.
Aber der Preis war hoch. Das Grund-
Olaf Scholz und hofft auf ein Comeback von Martin Schulz. vertrauen in die SPD als soziale Partei ist
verloren gegangen. Viele Menschen emp-
SPIEGEL: Herr Müller, die SPD liegt in finden die Hartz-Gesetze per se als unge-
Umfragen seit Wochen meist unter 20 Pro- recht. Bis heute werden wir damit konfron-
zent, der Wechsel an der Parteispitze tiert. Wenn wir uns an dieser Stelle nicht
scheint bislang keinen Schwung gebracht ehrlich machen, geht das immer so weiter.
zu haben. Was läuft falsch? Darauf habe ich keine Lust. Wir müssen
Müller: Wir sehen jetzt, wie lang der Weg auch auf einen sich verändernden Arbeits-
ist, den wir nach den schlechten Ergebnis- markt neue Antworten geben.
sen der letzten Wahlen vor uns haben. SPIEGEL: Der Finanzminister zögert be-
Wenn wir als die sozial gerechte Partei er- züglich einer Hartz-Reform, der Arbeits-
kennbar werden wollen, müssen wir uns minister scheint offen. Was gilt denn nun?
inhaltlich neu aufstellen. Eigentlich müsste Müller: Wir haben im Koalitionsvertrag den
jedem klar sein: Personalwechsel allein rei- sozialen Arbeitsmarkt für 150000 Lang-
chen nicht zur Erneuerung. zeitarbeitslose verankert, und es gibt dafür
SPIEGEL: Im Moment macht Ihre Partei ein Budget von vier Milliarden Euro. Das

DOMINIK BUTZMANN / DER SPIEGEL


einen zerstrittenen Eindruck. Beispiel ist der Rahmen. Und der wird genutzt. Zu
Haushaltspolitik: Das Finanzministerium glauben, dass wir die Diskussion, die wir
war der große Traum der SPD, jetzt wird seit Monaten führen, auf null stellen kön-
allseits gemeckert, dass Olaf Scholz sich nen, hat keinerlei Grundlage.
an die schwarze Null hält. SPIEGEL: Sie führen in Berlin ein rot-rot-
Müller: Das Finanzministerium ist das grünes Bündnis, in dem es viel Streit gibt.
wichtigste Querschnittsressort, mit dem Warum sollte die SPD auf Sie hören?
man in sämtlichen Bereichen sozialdemo- Müller: So viel Streit gibt es bei uns gar
kratische Akzente setzen kann. Nur muss nicht. Unsere Stadt entwickelt sich groß-
man es auch nutzen. Allein einen soliden »Die SPD muss wieder artig. Und im Übrigen ist eine Koalition
Haushalt zu präsentieren ist zu wenig. die Kraft haben, ein aus drei Partnern nie einfach. Ich finde
SPIEGEL: Wie meinen Sie das? aber, Rot-Rot-Grün gehört auch im Bund
Müller: Wir müssen viel stärker investie- gerechteres Steuersystem in ein mögliches Koalitionsspektrum.
ren. Dafür hat man ja dieses Haus. Inves- in den Blick zu nehmen.« SPIEGEL: Nur gibt es noch immer viele
titionen sind kein verschenktes, sondern Themen, die SPD und Linke spalten.
gut angelegtes Geld. Gerade in der Infra- Müller: Richtig. Zum Beispiel Europa.
struktur haben wir einen dramatischen Be- Ungerechtigkeiten an jeder Ecke in unse- Ohne eine klare Haltung der Linkspartei
darf. Wir kennen doch alle den Investi- rem Land. Die Arbeitnehmer tragen den kann da nichts gehen. Für uns steht fest,
tionsstau landauf, landab. Wir müssen in Hauptteil der Steuerlast, riesige Vermögen dass unser Engagement für ein offenes, de-
Schulen investieren, in die Wissenschaft, werden unzureichend in die Verantwor- mokratisches und starkes Europa auf kei-
den Digitalbereich, Sozialwohnungen und tung genommen, Amazon & Co. tragen nen Fall verhandelbar ist.
den Verkehr. Für ein gutes und sozial ge- gar nicht oder wenig bei. Die SPD muss SPIEGEL: Wobei man den Eindruck hat,
rechtes Zusammenleben dürfen wir unsere wieder die Kraft haben, ein gerechteres dass der Europaenthusiasmus aus den
Infrastruktur nicht vernachlässigen. Steuersystem in den Blick zu nehmen. Koalitionsverhandlungen vorüber ist.
SPIEGEL: Gerade in guten Zeiten sollte SPIEGEL: Kann diese Neuprofilierung in Müller: Das stimmt nicht. Das Thema hat
man bekanntlich sparen, damit man in einer Großen Koalition gelingen? eine Riesenrolle gespielt durch Martin
schlechten Zeiten etwas übrig hat. Müller: Ja. Wichtig ist nur, dass wir an den Schulz. Er hat diese wichtige Diskussion
Müller: Das Argument kenne ich. Aber in richtigen Punkten klären, was wir unter in die Partei getragen. Vom kleinsten Orts-
schlechten Zeiten hat man doch erst recht sozialer Gerechtigkeit verstehen. verein bis in die Parteizentrale bewegt es
nicht die Kraft zu investieren. Es entsteht SPIEGEL: Zum Beispiel? uns – mit größerer Leidenschaft und Sen-
eine Spirale: Weder in guten noch in Müller: Der Mindestlohn ist so ein Bei- sibilität als je zuvor.
schlechten Zeiten passiert etwas. Eine Poli- spiel. Jetzt müssen wir schrittweise die SPIEGEL: Es gibt Sozialdemokraten, die
tik der modernen Investitionen sollte ein Agenda-Politik überwinden. Und völlig sich Martin Schulz als Spitzenkandidaten
zentraler Teil der Neuprofilierung der SPD unterschätzt wird noch immer die Woh- für die Europawahl wünschen. Sie auch?
sein. In Berlins Infrastruktur investieren nungsbau- und Mietenpolitik. Es gibt Mil- Müller: Martin Schulz ist der deutsche Eu-
wir viel aus den zusätzlichen Einnahmen lionen Menschen, deren Lohnsteigerungen ropapolitiker schlechthin. Er steht und
und konsolidieren gleichzeitig. Warum soll von höheren Mieten aufgefressen werden. brennt für dieses Thema. Das nicht zu nut-
das der Bund nicht genauso machen? Das muss auch endlich die Bundesregie- zen wäre fahrlässig. Ob er das will, muss
SPIEGEL: Scholz will einen Teil der Mehr- rung als eine der großen sozialen Fragen er entscheiden. Ich hoffe auf jeden Fall,
einnahmen für Steuerentlastungen nutzen. unserer Zeit begreifen. Wir brauchen mehr dass er in der SPD und darüber hinaus
Ist das der richtige Weg? Geld für Sozialwohnungen und Baupro- weiter die laute und engagierte Stimme
Müller: Ganz pauschal halte ich von Steu- gramme. Sonst haben wir bald flächen- Europas bleibt. Interview: Veit Medick
ersenkungen wenig. Wir sehen doch die deckend ein weitaus massiveres Problem.

39
nicht über den Drehtermin habe reden wollen, sondern
Jan Fleischhauer
erkennbar anderes im Sinn gehabt habe.

Der Kritiker als


Was hatte die Frau erwartet, als sie sich auf den Weg in
das Hotelzimmer machte?, fragte ich in meiner Kolumne
auf SPIEGEL ONLINE. Wenn es vorher keine Anzeichen
gegeben hätte, dass der Korrespondent sich trotz des

Verräter
Altersunterschieds von 30 Jahren anscheinend für unwi-
derstehlich hielt, dann hätte ich sie verstanden. Aber
woher kam diese Überraschung bei einem Mann, von
dem sie sagt, dass er zuvor bei jeder Gelegenheit auf das
Thema Sex zugesteuert sei? Sollte man von einer 25-Jähri-
Debatte Was einem Mann widerfahren kann, gen nicht erwarten dürfen, dass sie eine nächtliche SMS
der den modernen Feminismus hinterfragt einfach ignoriert, wenn sie kein Interesse an einer Affäre
hat? Ich hielt das für eine berechtigte Frage.
Wie nicht anders zu erwarten, rief mein Einwurf mehr
Ablehnung als Zustimmung hervor. Was mich überrasch-
te, war die Heftigkeit der Reaktionen. »Selten so etwas
Widerliches gelesen«, schrieb eine Frau auf Twitter.
»Geht gar nicht«, hieß es an anderer Stelle, was ich so ver-
stand, dass es besser gewesen wäre, mein Text wäre nie
erschienen. Ich bin Ablehnung gewohnt, das bringt das
Geschäft des Kolumnisten mit sich. Aber dass Leute mir
vorwerfen, Widerliches geschrieben zu haben, kommt
eher selten vor.
Die Vorwürfe gipfelten darin, dass mir geschrieben
wurde, Leute wie ich würden den Sexismus in Deutsch-
land zementieren. Indem ich die Berichte von Beläs-
tigungsopfern infrage stellte, würde ich dafür sorgen,
dass sich Frauen beim nächsten Mal zweimal überlegten,
über sexuelle Übergriffe zu berichten. Der Begriff
dafür heißt Victim Blaming: Statt den Geschichten der
Opfer Raum zu geben, wird der Spieß umgedreht
und das Opfer der Anstiftung zur Tat bezichtigt. Mein
Text galt als besonders abscheuliches Beispiel für
Victim Blaming.
Ich glaube, dass die #MeToo-Debatte bei vielen Men-
schen solche Widerstände auslöst, weil in ihr grundlegen-
FRANCESCO CICCOLELLA / DER SPIEGEL

de Standards der Diskussionskultur außer Kraft gesetzt


sind. Unsere Diskursregeln sehen vor, dass kein Argu-
ment per se für sich beanspruchen kann, als wahr zu gel-
ten. Wer einen Missstand beklagt, muss damit rechnen,
dass die Belege, die er anführt, auf Stichhaltigkeit über-
prüft werden. Die Skepsis ist ein wesentliches Prinzip der
Wahrheitsfindung. Umgekehrt gilt es als unlauter, wenn
man die Integrität von Leuten infrage stellt, nur weil sie
anderer Meinung sind.

I
In der #MeToo-Debatte stimmt das alles so nicht mehr.
ch habe neulich den Fehler gemacht, mich in die An die Stelle des Rechts auf Kritik ist das Zustimmungs-
#MeToo-Debatte einzumischen. Anlass war der Fall gebot getreten. Wer Vorbehalte äußert, macht sich offen-
des WDR-Korrespondenten, der es zu einer gewis- bar verdächtig, insgeheim mit den Belästigern zu sympa-
sen Bekanntheit gebracht hat, weil er sich einer Rei- thisieren. Oder, schlimmer noch, selbst ein Belästiger zu
he von Praktikantinnen unsittlich genähert haben soll. In sein. Da jede Kritik potenziell den falschen Leuten in die
der »Süddeutschen Zeitung« war ich über einen Artikel Hände spielt, gilt bereits der Zweifel als deplatziert. Man
gestolpert, in dem eine Frau, die vor fünf Jahren als Prak- kann schließlich nie ganz verhindern, dass sich jemand
tikantin für den Mann gearbeitet hatte, von ihrer Begeg- entmutigt fühlt, den Kampf gegen den Sexismus aufzu-
nung berichtete. nehmen, weil denjenigen, die das schon getan haben, zu
Die Praktikantin schilderte ausführlich, wie der Kor- viele Fragen gestellt werden.
respondent schnell von der Arbeitsebene ins Private In der Konsequenz bedeutet das, dass man jeden
gewechselt sei. Auf gemeinsam verbrachte Drehtage folg- Erfahrungsbericht zum Nennwert nehmen muss.
ten Abende im Restaurant und in der Kneipe, bei denen Das ist genau das, was einige Feministinnen fordern.
er seine Vorliebe für Fesselsex und Pornos offenbart und Dem Opfer sei grundsätzlich Glauben zu schenken,
die Vorzüge einer »offenen Ehe« gepriesen habe. In der schrieb Zerlina Maxwell in der »Washington Post«. Auf
Schlüsselszene des Textes lädt der Mann die junge Frau den Einwand, dass dies Falschbeschuldigungen Tür
nachts per SMS auf sein Zimmer ein, man müsse noch und Tor öffnen würde, heißt es, Frauen hätten keinen
über den Dreh am nächsten Morgen reden. Wie sie Grund, sich Anschuldigungen auszudenken, weil
schrieb, sei sie völlig verdattert gewesen, als er dann jede Schilderung einer Missetat auch unangenehm für

40 DER SPIEGEL Nr. 20 / 12. 5. 2018


Deutschland

das Opfer sei, das diese öffentlich mache. Ein interessan- latente Männerfeindlichkeit im modernen Feminismus
ter Zirkelschluss: Wer Kritik äußert, liefert damit den von der Seele geschrieben hatte.
Beweis, dass man als Frau nicht gefahrlos über sexuelle »Peinliches Elaborat«, »weinerliche Ausführungen«,
Belästigung berichten kann, womit gezeigt wäre, dass »ehrloses Geflenne«, »hysterische Heulsuse«, das sind nur
diejenigen Recht haben, die fordern, dass Frauen immer ein paar der Beschimpfungen, mit denen Jessen belegt
zu glauben sei. wurde. Wer als Journalist so delegitimiert ist, mit dessen
Argumenten muss man sich nicht mehr auseinandersetzen.

D
Das ist wie mit dem Universalkampfwort »rechts«. Mit
enke ich, dass Frauen eine Mitschuld tragen, »Rechten« diskutiert man nicht, die verachtet man nur.
wenn Männer übergriffig werden? Nein, das den- Im Gegensatz zu Jessen glaube ich nicht, dass wir auf
ke ich nicht. Ich bin davon überzeugt, dass es dem Weg in eine Art bolschewistisches Feminat sind.
heilsam ist, Männern vor Augen zu führen, dass In Wahrheit bleibt die #MeToo-Debatte auf einen relativ
es für sie gravierende Konsequenzen haben kann, wenn überschaubaren Kreis der Gesellschaft beschränkt. Sie
sie meinen, sie könnten ihre Position ausnutzen, um sich kommt über Kultur und Medien kaum hinaus, weshalb
sexuelle Vorteile zu verschaffen. Aber solange intime auch fast alle Beispiele aus diesem Milieu stammen.
Beziehungen am Arbeitsplatz nicht grundsätzlich verbo- Einem Mann allerdings Weinerlichkeit zu unterstellen,
ten sind, kommt man nicht umhin, von Menschen zu ver- wenn er sich beklagt, ist eine eigenartige Form der
langen, dass sie zu erkennen geben, wenn ihnen etwas Schmähung. Hatte es gerade eben nicht noch geheißen,
unangenehm ist. Alles andere würde bedeuten, Frauen Männer müssten insgesamt weicher werden und mehr
wie Kinder zu behandeln, weil man ihnen nicht zutraut, Gefühle zulassen?
für sich selber zu sprechen. Auch die »Nein heißt nein«- Vieles erinnert mich an die K-Gruppen der Siebziger-
Gesetzgebung kommt nicht ohne Nein aus. Erst wenn jahre. Wo jede Kritik als Verrat an der guten Sache emp-
man eine Grenze setzt, existiert diese auch. funden wird, ist man nicht weit von der Selbstabschot-
Ein anderer Weg, sich Kritik vom Hals zu halten, ist die tung der Sekte entfernt. Begründet wird der heilige Ernst
Psychologisierung des Kritikers. Wer Einwände äußert, mit der Wichtigkeit des Anliegens. Weil es den #MeToo-
dem wird attestiert, dass er von Abstiegsängsten geplagt Anhängern um nicht weniger als die Abschaffung jeder
sei und nicht verwinden könne, dass er seine besten Tage Form des Sexismus geht, erscheinen auch Mittel erlaubt,
hinter sich habe. Die Reduktion eines Textes auf das die nach den habermasschen Diskursregeln eigentlich
beschädigte Ego seines Autors wurde gerade eindrucks- indiskutabel wären. Das ist die Krux jeder heiligen
voll am Beispiel des »Zeit«-Redakteurs Jens Jessen vorge- Bewegung: Leichthin akzeptiert sie für sich selbst, was
führt, der sich seinen Ärger über die seiner Ansicht nach sie dem Gegner niemals zugestehen würde. I

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Deutschland

SEBASTIAN WIDMANN
Anwalt Klemke: Das Entsetzen anderer Prozessbeteiligter lässt ihn kalt

Recht rechts
Strafjustiz Die drei Verteidiger des Angeklagten Ralf Wohlleben sind
die einzigen Anwälte im NSU-Prozess, die der rechten
Szene angehören. Sie könnten die Gewinner des Verfahrens werden.

M
an muss kein Rechtsradikaler che umzudeuten. Wer gegen den »mas- Sein Mandant in diesem Verfahren, Ralf
sein, um einen Rechtsradika- senhaften Zuzug von Nichtdeutschen« agi- Wohlleben, war einer der führenden Neo-
len zu verteidigen. Aber viel- tiere, so trägt es Klemke im Sinne seines nazis Thüringens. Vorgeworfen wird ihm
leicht hilft es ja. Mandanten vor, folge nur seiner »ver- Beihilfe zum neunfachen Mord. Wohl-
Oberlandesgericht München, Ende Ja- fassungsgemäßen Pflicht zur Identitäts- leben soll einen anderen Angeklagten be-
nuar 2017, der 340. Verhandlungstag im wahrung«. auftragt haben, eine Česká CZ 83 zu be-
NSU-Prozess: Olaf Klemke beantragt, Klemke scheitert mit diesem Antrag, sorgen; mit dieser Waffe wurden neun Ein-
einen Sachverständigen für Demografie die Richter laden keinen »Volkstod«-Sach- wanderer erschossen. Laut Anklage war
zu laden. Dieser solle bezeugen, dass verständigen. Den Auftritt verbucht der Wohlleben die »Zentralfigur der gesamten
wegen der Einwanderer »das deutsche Anwalt möglicherweise dennoch als Er- Unterstützerszene«. Die mutmaßlichen
Volk in seiner bisherigen Identität im Jah- folg. Denn Klemke und seine beiden Terroristen Zschäpe, Uwe Mundlos und
re 2050 eine Minderheit gegenüber den Verteidigerkollegen wenden sich im NSU- Uwe Böhnhardt kennt er aus seiner Ju-
Nichtdeutschen sein wird«. Prozess immer an zwei Personenkreise gend, gemeinsam gründeten sie die »Ka-
Deutschland stehe vor dem »drohenden gleichzeitig, die unterschiedlicher nicht meradschaft Jena«.
Volkstod«. Weshalb dieses Feuerzeug, das sein könnten. Wohlleben genießt als einziger der fünf
bei seinem Mandanten gefunden wurde, Den einen bilden die Richter des Angeklagten große Unterstützung in der
nicht zu beanstanden sei und keineswegs 6. Strafsenats des Oberlandesgerichts, die rechten Szene. Und als einziger lässt er
neonazistisches Gedankengut propagiere, im NSU-Prozess über Beate Zschäpe und sich von Anwälten aus dieser Szene ver-
auch wenn es die Aufschrift trägt: »Volks- vier weitere Angeklagte befinden. Der an- teidigen: Olaf Klemke bezeichnet sich als
tod stoppen«. dere ist die rechtsextreme Szene, die den überzeugten Patrioten, Nicole Schneiders
Der Anwalt benötigt dann nur noch Prozess aufmerksam verfolgt – und in der war NPD-Mitglied, Wolfram Nahrath führ-
wenige argumentative Schritte, um das sich Klemke längst einen guten Namen te einen neonazistischen Jugendbund. Alle
Nazivokabular zu einer ehrenwerten Sa- und wohl viele Aufträge gesichert hat. drei verstecken ihre Gesinnung nicht, son-

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dern kokettieren mit ihr; der Verfassungs- Als er einmal einen Angeklagten im caustleugner betreute. Die Hilfsorganisa-
schutz hat Schneiders und Nahrath im Prozess gegen eine rechte Schlägertruppe tion wurde 2011 verboten.
Blick. Am Ende dieses großen Prozesses verteidigte, die eine Kirmesgesellschaft an- Im November 2015 kündigte Schneiders
könnten die drei als Gewinner dastehen. gegriffen hatte und unter ihre Fotos gern an, dass ihr Mandant, der über Jahre ge-
Klemke, 53, hat sich im NSU-Verfahren »NSU Reloaded« schrieb, nervte er viele schwiegen hatte, aussagen wolle. Dafür
in den vergangenen fünf Jahren viel andere Prozessbeteiligte mit Fragen. Wur- wählte sie die Worte »Der Wahrheit eine
Respekt erworben, auf juristischer Ebene. de die Frage zurückgewiesen, verlangte er Gasse«. Es ist eine beliebte Redewendung
»Strafprozessual ist er der Beste unter allen einen Gerichtsbeschluss – an einem Tag in rechten Kreisen; Franz von Papen, Vize-
Verteidigern«, sagt ein Kollege. Er gilt verließ die Kammer 21-mal den Gerichts- kanzler im ersten Kabinett Adolf Hitlers,
als akribisch und fleißig, tritt hartnäckig saal, um einen solchen Beschluss zu for- überschrieb so seine Memoiren.
und oft schlagfertig auf. Klemke sorgte im mulieren. Klemkes Mandant wurde frei- Schneiders teilt sich ihre Kanzlei mit
NSU-Verfahren für eine Premiere: Der gesprochen. dem Kollegen Steffen Hammer, der mehr
Vorsitzende Richter Manfred Götzl, ein Er habe »noch nie jemanden wegen der als 20 Jahre lang der Sänger der rechtsex-
Meister der Strafprozessordnung, musste Sache oder der Person abgelehnt«, sagte tremen Band Noie Werte war. Diese lieferte
auf Klemkes Antrag hin eine Entscheidung Klemke der »Lausitzer Rundschau«, er neh- den Soundtrack zur Mordserie: Mit der
revidieren und einem Zeugen ein um- me jedes Mandat an. Eine Interviewanfrage Musik unterlegte der NSU einen Vorläufer
fassendes Aussageverweigerungsrecht ein- des SPIEGEL lehnte er ab. Er gebe »grund- seines Bekennervideos. Auf eine Anfrage
räumen. sätzlich gegenüber der Presse keine Stel- des SPIEGEL reagierte Schneiders nicht.
Man könne gut mit Klemke zusammen- lungnahmen zu laufenden Verfahren ab«. Wolfram Nahrath, der dritte Verteidiger
arbeiten, sagt ein Kollege. »Aber schon Nicole Schneiders, die Zweite im Bunde, Wohllebens, durfte zunächst nicht mit-
eine Plauderei am Rande kann sofort kip- begann das NSU-Verfahren am ersten Ver- machen. Lange versuchten Klemke und
pen, dann zeigt er sein wahres Gesicht.« handlungstag mit einem freundschaft- Schneiders, ihn als Pflichtverteidiger bei-
Manche seiner Ausführungen vor Gericht lichen Küsschen auf die Wange ihres Man- ordnen zu lassen. Der Senat lehnte ab,
lassen erahnen, was Klemke wirklich danten. Schneiders, 38, kennt Wohlleben Nahrath sprang allenfalls als Vertretung
denkt. Als er einen Zeugen befragte, be- seit 17 Jahren. Damals studierte sie in Jena ein. Doch als Schneiders ernsthaft zu er-
schrieb er dessen ghanaischen Verwandten und baute mit ihm den NPD-Kreisverband kranken drohte, änderte das Gericht seine
als einen Menschen, »der nicht gerade rein auf. Er wurde Vorsitzender, sie seine Stell- Meinung.
deutschen Blutes ist«. vertreterin. Nahrath, 55, aus dem brandenburgi-
Als es um einen Pyjama mit der Auf- Der Verfassungsschutz Baden-Württem- schen Birkenwerder, macht einen Small
schrift »Eisenbahnromantik« ging, den Er- berg hat sie seit Mitte der Neunziger im Talk schnell zum ermüdenden Monolog,
mittler in der Wohnung Wohllebens gefun- Visier: Sie nahm an Treffen der rechten selbst in kurzen Verhandlungspausen. Es
den hatten, behauptete der Anwalt ähnlich Szene teil und war Mitglied in einer Karls- gibt Prozessbeteiligte, die im OLG umge-
wie beim Feuerzeug: Das Fundstück sage ruher Kameradschaft. Zudem gehörte sie hend die Herrentoilette verlassen, wenn
nichts über die Gesinnung seines Man- der rechtsextremen »Hilfsorganisation für er sich darin aufhält.
danten – auch wenn auf dem Pyjama die nationale politische Gefangene und deren Sein Großvater Raoul war Chef der neo-
Zufahrt zum Vernichtungslager Auschwitz- Angehörige« an, die verurteilte Rechts- nazistischen »Wiking Jugend« (WJ), sein
Birkenau abgebildet sei. Das habe nichts terroristen, Kriegsverbrecher und Holo- Vater Wolfgang später auch. Familien-
mit den Tatvorwürfen zu tun, sagte Klem- mitglieder hatten schon viele Funktionen
ke, keines der NSU-Opfer sei schließlich in der neonazistischen Szene. Vater Wolf-
jüdischen Glaubens. gang gehörte der 1952 verbotenen »Sozia-
Das Entsetzen anderer Prozessbeteilig- listischen Reichspartei« an und saß im
ter lässt ihn kalt. Es sei ihm »völlig egal«, Bundesvorstand der NPD. Mutter Gisela
ob er als Szeneanwalt gelte, sagte er in war Ringführerin im »Bund Deutscher Mä-
WILLI SCHNEIDER / PEOPLE PICTURE

einem Interview der »Lausitzer Rund- del«, Bruder Ulf im Bundesvorstand der
schau«. Mit dem Begriff »Neonazi« habe »Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei«
er Probleme, »weil alles, was sich rechts (FAP), die 1995 verboten wurde.
von CDU/CSU bewegt, gleich als Neonazi Auch Wolfram Nahrath ist Mitglied der
bezeichnet wird«. »Echte Neonazis« habe NPD und wurde 2000 zum Vorsitzenden
er selten getroffen. Dabei verteidigte Klem- des parteiinternen Schiedsgerichts ge-
ke schon Mitglieder der »Skinheads Säch- wählt. Wie sein Großvater und Vater war
sische Schweiz« und der »Blood & Honour er »Bundesführer« der »Wiking Jugend«.
Division Deutschland«, beides rechtsex- Als sie verboten wurde, schloss er sich
treme Gruppierungen. Und er diente auch der Nachfolgeorganisation »Heimattreue
einem jener Männer als Anwalt, die im Fe- Deutsche Jugend« an. Er gehörte auch
bruar 1999 einen Asylbewerber im bran- dem »Deutschen Rechtsbüro« an, das von
denburgischen Guben zu Tode hetzten. 1992 bis 2013 straffällig gewordenen »na-
Klemke hat die Kunst der Störfeuer und tionalen Deutschen« Rechtsauskünfte er-
der Verschleppung perfektioniert: Befan- teilte und Rechtsanwälte aus dem rechten
genheitsanträge stellen und die Besetzung Lager vermittelte.
des Gerichts beanstanden. Im Verfahren Nahrath ist Vater von sechs Kindern
CHRISTOF STACHE / AFP

gegen mutmaßliche Mitglieder des rechts- und ein musischer Mensch, der an Weih-
radikalen »Aktionsbüros Mittelrhein« vor nachten selbst geschriebene Gedichte ver-
dem Landgericht Koblenz ging die Rech- schickt. Er liebt den Auftritt vor Publikum.
nung auf. Nach 337 Verhandlungstagen Auf einer Kundgebung im August 2013 in
wurde der Prozess gegen anfangs 26 An- Dortmund krakeelte er vor rund 400 Neo-
geklagte ausgesetzt, im Herbst geht es wie- Verteidigerkollegen Nahrath, Schneiders nazis: »Wir wollen ein freies deutsches
der von vorn los. »Welche Hirnidiotie« Reich!« Über Mitglieder des Parlaments

43
Nächste Woche
im SPIEGEL: sagte er: »Der Furor teutonicus mag sie Solche Anträge lassen sich ablehnen,
irgendwann hinwegfegen!« Und: »Ihr aber nicht verhindern. Wer Rechtsanwalt
glaubt nicht, welche Gedankenakrobatik ist, darf einer rechtsextremen Partei ange-
und welche Hirnidiotie sich in unseren Ge- hören und zu seiner nationalen Gesinnung
richtssälen manchmal abspielen.« stehen, ohne um seine Zulassung fürchten
Er lernte von Jürgen Rieger, einem zu müssen. Er darf auch verfassungsfeind-
Rechtsanwalt und Multifunktionär der liche Forderungen verbreiten, solange er
rechten Szene. Zu seinen eigenen Man- sich dabei nicht strafbar macht. So wird
danten zählten bekannte Rechte: Richard auch der 6. Strafsenat am Münchner Ober-
Williamson aus der erzkonservativen Pius- landesgericht nur bedingt in den Schluss-
bruderschaft, angeklagt wegen Volksver- vortrag eingreifen können.
hetzung; die mehrfach vorbestrafte Holo- Für Klemke, Schneiders und Nahrath
caustleugnerin Ursula Haverbeck; der dürften die Plädoyers auch eine Art Be-
Pogida-Anführer Christian Müller aus werbungsrede sein. Sie könnten noch
Potsdam; die mehrfach verurteilte ehema- mehr als ohnehin schon von dem Verfah-
lige Rechtsanwältin Sylvia Stolz, die im ren profitieren. Während andere Vertei-
Gerichtssaal schon den Hitlergruß zeigte. diger ihr Mandat längst bereuen, haben
Ein Mitarbeiter aus Nahraths Kanzlei Wohllebens Verteidiger ihren Ruf zemen-
sagte: »Vom SPIEGEL sind Sie? Da wird tiert. Jetzt muss ihnen nur noch der krö-
er nicht mit Ihnen sprechen wollen.« Eine nende Abschluss gelingen: dem Angeklag-
E-Mail-Adresse könne er nicht nennen, ten Wohlleben die Gloriole eines politisch
eine Bitte um Rückruf lehnte er ab: Verfolgten zu geben.
»Schließlich wollen Sie etwas von ihm, da Sein Einfluss scheint enorm. Nachdem
müssen Sie es wieder versuchen.« Nahrath Wohlleben am 29. November 2011 festge-
rief dann doch zurück, wollte jedoch vor nommen worden war, wurde er nach Bay-
den Plädoyers nichts sagen. ern verlegt, in die Justizvollzugsanstalt Sta-
Andere Prozessbeteiligte befürchten delheim, weil die Behörden befürchteten,
das Schlimmste, wenn das Verteidigertrio
S-Magazin seinen Schlussantrag hält. Ab dem 15. Mai
wollen Klemke, Schneiders und Nahrath
Die neue Lifestyle-Beilage drei Tage lang erklären, warum ihr Man-
dant Wohlleben freizusprechen sei – Pro-
des SPIEGEL paganda gehört dann wohl dazu.
Es wäre nicht das erste Mal in diesem

MATTHIAS SCHRADER / DPA


Prozess. Im Oktober 2016 beantragten die
drei Anwälte, den letzten Krankenpfleger
von Rudolf Heß, Hitlers einstigem Stell-
vertreter, als Zeugen zu laden. Er könne
Themen der Ausgabe: bezeugen, dass sich Heß 1987 im Kriegs-
verbrechergefängnis nicht erhängt habe,
sondern erdrosselt wurde.
Schönheit Der abstruse Hintergrund: Ermittler hat-
Angeklagter Wohlleben (r.)
»Wolle ist in unserer Mitte«
ten in Wohllebens Wohnung unter ande-
Der unaufhaltsame Erfolg rem einen Aufkleber gefunden, auf dem
von Gwyneth Paltrows es heißt, dass Heß ermordet worden sei. er könne aus dem Gefängnis im thüringi-
Mithilfe des Zeugen wollten die Vertei- schen Tonna weiter die Strippen ziehen.
Lifestyle-Plattform Goop diger offenbar beweisen, dass Wohlleben Die meisten Rechtsextremisten, die den
keine Propaganda betreibe, sondern die Weg auf die Zuschauertribüne im Ober-
Handwerk Wahrheit behaupte. landesgericht finden, sympathisieren mit
Heß genieße, so führte Klemke weiter ihm. Seine Anhänger starteten Solidari-
Chanel rettet Handwerks- aus, unter anderem wegen seiner »unter tätskampagnen: Spendenaufrufe, Geburts-
Beweis gestellten Friedensbemühungen« tagsannoncen, T-Shirts mit dem Aufdruck
künste vor dem Aussterben Anerkennung »in der ›sogenannten‹ rech- »Freiheit für Wolle«. Eine Rechtsrockband
ten Szene«. Heß war 1941 nach Großbri- widmete ihm ein Lied. »Wolle ist nach wie
Selbstoptimierung tannien geflogen, weil er Friedensverhand- vor in unserer Mitte«, heißt es in einer
lungen führen wollte. Neonazis bewundern Erklärung. Im März 2015 protestierten
Wie Kreative und Manager ihn allerdings eher als engen Gefolgsmann Neonazis vor dem Oberlandesgericht und
das Beste aus sich Hitlers. forderten: »Schluss mit dem NSU-Schau-
Die Verteidiger beantragten, Olaf Rose prozess« und »Freiheit für Ralf Wohl-
herausholen als Sachverständigen zu laden. Rose war leben«.
2012 NPD-Bundespräsidentschaftskandi- Seine Verteidiger versicherten später in
dat und sollte angeblich Auskunft darüber einer Erklärung: »Herr Wohlleben ist sei-
geben können, dass die britische Regie- nen Idealen und politischen Überzeugun-
rung damals »jegliche Verhandlungen mit gen treu geblieben und wird dies auch in
Außerdem: Rudolf Heß über einen Friedensschluss Zukunft bleiben.« Julia Jüttner
Werner Aisslinger im selbst zwischen dem Deutschen Reich und dem Mail: julia.juettner@spiegel.de
Vereinigten Königreich verweigerte«.
gezeichneten Interview
44 DER SPIEGEL Nr. 20 / 12. 5. 2018
Deutschland

Absender
unbekannt
Parteien Dank einer Gesetzes-
lücke bekam die AfD
millionenschwere Wahlkampfhilfe

WOLFRAM STEINBERG / PICTURE ALLIANCE / DPA


anonymer Gönner. Nun planen
Unionsleute härtere Vorschriften.

I n diesen Tagen beugen sich die Beam-


ten der Bundestagsverwaltung über
die Rechenschaftsberichte der Par-
teien für das Jahr 2016. Die Zahlenwerke
legen offen, welche Spenden eingegangen
sind und wie viel Geld die Parteien für
ihre Wahlkämpfe ausgegeben haben. Werbeplakat des AfD-Unterstützervereins 2017: Faktisch untrennbar verbunden
Bei der noch jungen AfD müsste der Be-
richt hochspannend ausfallen: 2016 war
das Jahr, in dem die Rechtspopulisten den Verein sich nicht nachweislich abstimmen, Diese Schützenhilfen konnte die AfD
Durchbruch schafften und mit zweistelli- gelten dessen Gaben für die AfD als nicht nicht verschweigen, da die Bundestagsver-
gen Wahlergebnissen in fünf Landesparla- rechenschaftspflichtige »Parallelaktionen«. waltung hierzu schon unangenehme Fra-
mente einzogen. Ein wichtiger Faktor für Wie geschickt die Geldflüsse in Richtung gen gestellt hatte. Doch im Rechenschafts-
diese Erfolge waren anonyme Gönner, die AfD verschleiert werden, lässt sich in der bericht, der demnächst veröffentlicht wird,
auf Großplakaten und in Gratiszeitungen Julius-Hölder-Straße 48 in Stuttgart besich- heißt es nun laut Insidern, dass es sich da-
an Millionen Haushalte zur Wahl der AfD tigen. Hier hat die graue AfD-Förderkasse, bei nicht um Einnahmen der AfD als Par-
aufriefen. Wer steckte hinter der Aktion? der »Verein zur Erhaltung der Rechtsstaat- tei gehandelt habe.
Der Rechenschaftsbericht wird hierzu lichkeit und bürgerlichen Freiheiten«, ihren Wie sich solche Verwirrspiele künftig
keine Klarheit liefern, nach SPIEGEL-In- Sitz. Der Verein gibt auch den »Deutsch- unterbinden lassen, wird auch in mehreren
formationen werden die Quellen der mil- land-Kurier« heraus, ein Blättchen, das Bundesländern überlegt. Denn bald stehen
lionenschweren Wahlkampfhilfe nicht of- AfD-Propaganda gegen Flüchtlinge, Mus- Landtagswahlen in Bayern und Hessen an.
fengelegt. Eine Lücke im Parteienrecht er- lime und »Kartellparteien« verbreitet. »Es wird Aufgabe der neuen Bundesregie-
laubt es den AfD-Helfern, ihre Zahlungen Tatsächlich finden Besucher in Stuttgart rung sein, dafür Sorge zu tragen, dass Um-
an einen Unterstützerverein zu leisten, keine Vereinsvertreter vor. Stattdessen wegfinanzierungen nicht mehr möglich
ohne dass ihre Namen bekannt werden. nimmt eine freundliche Bürodienstleiste- sind«, sagt der CSU-Landtagsabgeordnete
So ist kein Cent rechenschaftspflichtig. rin die Post entgegen. Auf den blauen Fä- Alfred Sauter, »insbesondere, wenn diese
Politiker der Unionsparteien wollen die- chern, in die sie die Briefe einsortiert, tau- über Länder erfolgen, die nicht zur Euro-
se Praxis nun nicht länger dulden. Auf Be- chen die Namen auf, die wirklich hinter päischen Union zählen.« Sauter, ein Ver-
treiben von Philipp Amthor, dem jüngsten dem AfD-Förderprojekt stehen: »Goal trauter von CSU-Chef Horst Seehofer, fin-
Mitglied der Unionsfraktion, planen die AG – Alexander Segert«. Segert, ein Deut- det es inakzeptabel, dass »Millionenbeträge
Innenpolitiker strengere Transparenzre- scher mit Wohnsitz im Schweizer Kanton über Vereine abgewickelt werden, die er-
geln und schärfere Kontrollen durch die Zürich, orchestriert die PR-Kampagnen kennbar das Sprachrohr einer Partei sind«.
Bundestagsverwaltung. »Es ist nicht hin- mithilfe seiner Werbeagentur Goal. CDU-Mann Amthor hat deshalb bei
zunehmen«, sagt Amthor, »dass sich finan- Der Verein und Goal mögen juristisch den Wissenschaftlichen Diensten des
zielle Eingriffe in den Parteienwettbewerb sauber getrennt sein, faktisch sind sie un- Bundestags eine Expertise erbeten – und
auf diese Weise verschleiern lassen.« trennbar verbunden. Mehrmals wurde fühlt sich nun bestätigt. Zwar müssten die
Mathias Middelberg, innenpolitischer Goal schon als direkter AfD-Helfer er- Rechte anonymer Helfer gewahrt werden,
Sprecher der Unionsfraktion, sieht das ge- tappt, mindestens zwei Vorgänge tauchen heißt es darin, dennoch seien schärfere
nauso. »Die Transparenz der Parteienfi- nun auch im Rechenschaftsbericht auf, sa- Transparenzregeln »durchaus denkbar«.
nanzierung ist ein grundlegendes Prinzip gen Eingeweihte. Amthor schlägt vor, dass der Bundes-
unseres Parteienrechts«, sagt er. Deshalb Einmal geht es um einen Kongress von tagspräsident künftig auch politische
sollte auch »die mittelbare Förderung einer Rechtspopulisten in Düsseldorf 2016, bei Unterstützerorganisationen kontrollieren
Partei offengelegt werden«, jedenfalls dem die Goal AG den damaligen AfD-Lan- darf. »In den Wahlgesetzen des Bundes
dann, wenn es um größere Summen gehe. deschef Marcus Pretzell mit einem Zu- und der Länder könnte man die Vereine
Die AfD, die sonst oft die angebliche schuss von 28 037,60 Euro entlastete außerdem dazu verpflichten, dass sie eine
Korruption der »Altparteien« geißelt, trägt (SPIEGEL 24/2017). Der zweite Fall betrifft Finanzierung von Werbemaßnahmen für
nichts zur Aufklärung bei. Sie bestreitet, Bundessprecher Jörg Meuthen persönlich: Parteien offenlegen müssen.« Und wenn
ihre anonymen Gönner zu kennen – ob- In dessen Wahlkreis in Baden-Württem- es gar nicht anders gehe, fordert Amthor,
wohl AfD-Funktionäre schon mit dem berg hatte Goal 2016 nach Recherchen des müsse im Wahlkampfendspurt Werbung
Chef des Unterstützerklubs aufgetreten ZDF-Magazins »Frontal 21« mit Tausen- durch Dritte ganz verboten werden.
sind oder der Vereinspostille Interviews den Euro Zeitungsanzeigen und Plakate Melanie Amann, Sven Becker, Sven Röbel
gegeben haben. Doch solange Partei und finanziert: „Jetzt AfD wählen!“

45
Deutschland

Sex im Präsidentenbüro
Macht Unterricht mit Pornos, Affären mit Studenten, mutmaßlich Vergewaltigungen. Das Gebaren
zweier Professoren der Münchner Musikhochschule sprengte viele Grenzen.

D
er 23-jährige Kompositionsstu- Konzerts ein paar Worte mit Mauser ge- vehement bestreitet. Nach fast zwei Jah-
dent der Hochschule für Musik wechselt. ren hat das Landgericht München noch
und Theater München fand es Dann küsste der Präsident die Frau un- immer nicht entschieden, ob es das Ver-
nicht ungewöhnlich, dass der vermittelt auf den Mund. Für ihn sei es fahren gegen ihn eröffnen wird.
Unterricht im Schlafzimmer seines Profes- echte Zuneigung gewesen, wird er später Die juristische Bewertung einzelner Ta-
sors stattfand. Er wunderte sich auch nicht, sagen, als er dem Gericht zu erklären ver- ten, so sie denn stattgefunden haben, ist
dass zu Beginn der Einzelstunde ein Porno sucht, warum er nicht von ihr abließ, ob- das eine. Das andere ist das Umfeld, in
lief. Nichts Neues, er kannte das schon. wohl die Frau nach ihren Aussagen den dem diese Vorwürfe erhoben werden und
Er erinnerte sich an die Worte des Pro- Kuss nicht erwiderte. das sexuelle Übergriffe erheblich erleich-
fessors, man könne im Verhalten der Dar- Als Mauser anal in sie eindrang, will er tert. In einer Musikhochschule ist die Ab-
steller viel über die Oper lernen. Lustschreie gehört haben. Die Frau sagt, hängigkeit der Studenten von ihren Leh-
Ungewöhnlich war diesmal, dass die es seien Äußerungen von Schmerz und rern besonders groß. Der Professor ent-
Freundin des Professors auftauchte, ihr Angst gewesen. Schließlich machte sich scheidet maßgeblich mit, ob es mit der
Kleid abstreifte, dem Studenten die Hose der Hochschulprofessor die Hose zu: künstlerischen Karriere etwas wird oder
aufknöpfte und ihn oral stimulierte. Wäh- »Jetzt ist das Sofa eingeweiht.« Der Sex nicht. Man besucht gemeinsam Konzerte,
renddessen saß der Professor am Schreib- sei einvernehmlich gewesen, wird er später unternimmt Reisen. Im Unterricht kom-
tisch und komponierte eine Oper. Mit Tex- sagen. Die Frau wolle sich an ihm rächen, men Student und Professor einander oft
ten von Franz Kafka. er sei sich keiner Schuld bewusst. sehr nahe, beim gemeinsamen Üben am
Er habe sich unwohl gefühlt, wird der Instrument, beim Trainieren der richtigen
Student 14 Jahre später der Polizei sagen. Körperhaltung und Atmung. Sich dabei
Die Pornofilme habe er als widerlich emp- anzufassen ist normal.
funden, aber er habe sich nicht gewehrt, Der Schritt, die Nähe und die Abhän-
aus Angst, der Professor werde seine gigkeit zu missbrauchen, ist nicht groß.
Zukunft zerstören. Er wird von einem Noch dazu, da der Unterricht oft in klei-
Nervenzusammenbruch berichten, von nem Kreis stattfindet: nur Lehrer und
Albträumen, Schuldgefühlen und einem Schüler, meist bei geschlossener Tür. Eine
Sexualleben, das ab diesem Vorfall von Atmosphäre, die in München zu einem Zu-
Aggressivität geprägt gewesen sei. stand führte, den ein Verteidiger im ersten
Der Student hatte Spaß, wird die dama- Mauser-Prozess als »Sodom und Gomor-
lige Freundin und heutige Frau des Profes- rha« beschrieb.
STEPHAN RUMPF

sors sagen, er sei der Fordernde gewesen. Eine interne Erhebung, die dem SPIEGEL
Er sei bei ihnen ein- und ausgegangen und vorliegt, erfasst die Aussagen von rund 800
habe gewusst, welch freizügiges Leben sie Hochschulangehörigen. 115 haben wäh-
führten. Er habe jederzeit gehen können, Angeklagter Mauser rend ihrer Zeit an der Münchner Musik-
er sei ein erwachsener Mann gewesen. Keiner Schuld bewusst hochschule »anzügliche Bemerkungen«
Der Professor, Hans-Jürgen von Bose, gehört, 56 »anzügliche Gesten« wahrge-
wird sagen, sich keiner Schuld bewusst zu nommen, 34 meldeten, »angegrapscht oder
sein. Über Schuld und Strafe der beiden Pro- absichtlich berührt« worden zu sein. 9 Be-
Als Charlotte Weidenfels* an einem Tag fessoren entscheiden die Gerichte. Sieg- fragte berichteten, ihnen seien Genitalien
im September 2004 von Bamberg nach fried Mauser ist vor dem Landgericht Mün- gezeigt worden. 8 sagten aus, zu sexuellen
München fuhr, wollte sie einen Job. Die al- chen angeklagt, es ist sein zweiter Prozess. Handlungen gezwungen worden zu sein.
leinerziehende Mutter zweier Kinder hatte Er wurde bereits wegen sexueller Nöti- 7 wurden demnach von ihrem Gegenüber
sich als Assistentin einer Referentin an der gung zu einer neunmonatigen Bewäh- Nachteile angedroht, weil sie einen An-
Hochschule beworben. Diese bat sie nach rungsstrafe verurteilt. Das Urteil ist nicht näherungsversuch abgelehnt hatten. Auch
dem Vorstellungsgespräch, um 17 Uhr noch- rechtskräftig. Nun geht es um den Ver- eine Vergewaltigung wurde gemeldet.
mals zu erscheinen, um mit dem Präsiden- dacht der Vergewaltigung der Bewerberin Die Hochschule hat die Ergebnisse der
ten Siegfried Mauser zu sprechen. und der sexuellen Nötigung einer Sänge- Umfrage bislang nicht veröffentlicht. Ein
Als sie dann durch die Hochschule lief, rin. Sieht das Gericht die Taten als erwie- Gespräch mit dem SPIEGEL zu den Vor-
fand sie die Gänge still und verlassen vor, sen an, muss der langjährige Präsident ver- fällen lehnte das Präsidium ab. Auch schrift-
das Semester hatte noch nicht begonnen. mutlich ins Gefängnis. Zudem hat er liche Fragen – etwa, wie die #MeToo-
Die Doppeltür zum Präsidentenzimmer dienstrechtliche Verfahren zu befürchten. Debatte innerhalb der Hochschulleitung ge-
blieb ihr in Erinnerung, weil sie gepolstert Hans-Jürgen von Bose wurde im Juli führt werde – beantwortete sie nicht. Einige
war, sodass Geräusche nicht nach außen 2016 von der Staatsanwaltschaft Mün- der Fragen hätten unwahre Behauptungen
drangen. Die Begrüßung war freundlich, chen I angeklagt. Am stärksten wiegt der enthalten, hieß es zur Begründung.
ein Jahr zuvor hatte sie am Rande eines Vorwurf, dass er zwischen 2006 und 2007 Doch nicht alle Hochschulangehörigen
die Schwester eines seiner Studenten sind so verschlossen. »Es kann nicht sein,
* Namen geändert. mehrfach vergewaltigt haben soll, was er dass unsere Studentinnen und Studenten

46 DER SPIEGEL Nr. 20 / 12. 5. 2018


DIETER MAYR / DER SPIEGEL
Musikhochschule in München: »Sodom und Gomorrha«

mit ihrem Professor schlafen müssen, um schwerden ein. Im Dezember 2007 wurde Er war als Lehrer mit dieser tabulosen
Erfolg in ihrem Beruf zu haben«, sagt der der Komponist als dienstunfähig in den Offenheit und seiner Streitlust auch be-
Pianist Moritz Eggert, 52. Er lehrt Kom- Ruhestand versetzt, vier Jahre später be- liebt. 21 Studenten protestierten im März
position an der Hochschule und begann antragte er die Wiedereinstellung. Sie wur- 2015 mit einer Petition dagegen, dass er
vor Jahren, die Vorwürfe gegen seine Kol- de ihm zum Oktober 2012 genehmigt, nicht wieder die Genehmigung erhielt, zu
legen zu thematisieren. Als Zeuge vor Ge- nachdem er ein amtsärztliches Attest be- Hause zu unterrichten.
richt sagte er gegen seinen ehemaligen Vor- kommen hatte. Bose sagt, er sei ständig auf der Suche
gesetzten aus und machte sich damit viele Da die Polizei nun gegen ihn ermittelt, nach einem Kick, beim Autofahren und
Feinde. ist er vom Dienst vorläufig freigestellt. Er auch im Bett. Er berichtet von einem
Einer dieser Feinde sitzt in einem Rei- bezieht Gehalt, freie Aufträge bekomme sexuellen Erlebnis mit einem 20-Jährigen,
henhaus in Zorneding, gut 20 Kilometer er aber nicht mehr. Er beklagt eine »mas- den er aus einer Musikakademie kannte.
von der Münchner Stadtmitte entfernt, sive Zerstörung« seines Namens. Als er Der junge Musiker wurde sein Student.
zieht an einer filterlosen Zigarette und re- 2008 ein Klavierkonzert seines Freundes Es müsse 1988 oder 1989 gewesen sein,
det offen über all die Vorwürfe gegen ihn. Siegfried Mauser besuchte, hatte jemand als der junge Mann nach einem Konzert
Hans-Jürgen von Bose war ein Shooting- eine Todesanzeige mit seinem Namen im in München bei ihm übernachtet habe.
star in der Komponistenszene. Seine Oper Programmheft platziert. Es kam zu einer analen Penetration, wie
»Schlachthof 5«, 1996 am Münchner Na- Bose macht Menschen wie Moritz Eg- es in den Berichten der Polizei später
tionaltheater uraufgeführt, polarisierte, gert für seine Krise verantwortlich. Sie hät- heißt.
die musikalische Inszenierung wurde ge- ten es auf seine Stelle abgesehen. Sie wür- Bose sagt, er habe das »psychisch wie
feiert. »Das könnte sie sein: die Oper der den seine Art des Umgangs mit anderen physisch extrem vorsichtig vollzogen«. Er
Zukunft«, schrieb der Rezensent des nicht akzeptieren, seinen kleistschen Le- habe das Gefühl gehabt, für den Studenten
SPIEGEL. Dann, sagt Bose, hätten die Kri- bensstil, wie er ihn nennt. In diesem Le- sei es wichtig gewesen, diese Erfahrung zu
tiker damit begonnen, ihn zu vernichten. bensstil vermischen sich Lehre und Priva- machen. Es blieb bei einem Mal. Der da-
Er sei mit seiner konservativen Haltung tes, Grenzen gibt es in diesem Konzept malige Student sagt, auch wenn keine Ge-
angeeckt. Er sei gemobbt worden und er- keine mehr, auch keine Distanz. walt im Spiel gewesen sei, sehe er den Akt
krankt. Der damalige Präsident, Siegfried Für ihn sei Komponieren eine private heute als eine Art Missbrauch an. »Herr
Mauser, erlaubte dem Dozenten aus- und intime Angelegenheit, deshalb habe von Bose hat meine damalige Situation
nahmsweise, einzelne Studenten zu Hause er auch mit seinen Studenten über Privates wohl für seine Zwecke ausgenutzt.«
zu unterrichten. Immer wieder musste und Intimes gesprochen. Wer ihm zu »starr Bis heute fühlt Bose sich unschuldig.
Bose den Unterricht absagen und war für und viereckig« vorkam, dem brachte er die Der Staat aber schickte ein Sondereinsatz-
manche Studenten lange nicht erreichbar. Kulturgeschichte des Pornos nahe, weil er kommando zu ihm. Es ging um die mut-
Bei der Hochschulleitung gingen Be- darin Parallelen zur Musikgeschichte sah. maßlichen Vergewaltigungen der Schwes-

47
Deutschland

ter seines Studenten. 28. April 2015, klären, warum sie abgehauen sei. »Ein
6.40 Uhr morgens: Im Flutlicht brachen Kurzschluss.«
schwer bewaffnete Männer die Tür zum Das alles ist nicht angeklagt, das alles
Garten auf. Eine damals 23-jährige Studen- ist erlaubt. Aber es ist bedeutsam, um das
tin wohnte im Haus des Professors, in ei- Umfeld zu verstehen, in dem eine andere
nem Zimmer im Keller. Die Polizisten hät- Frau schwerwiegende Vorwürfe gegen den
ten sie hart gegen ein Klavier, dann auf Hochschulprofessor erhebt, eine 34-jähri-
den Boden gedrückt, erzählt Irvana ge Akademikerin. Sie sagt laut Anklage-
Popowa*. Tagelang habe sie die Hämato- schrift, Hans-Jürgen von Bose habe sie
me gespürt. Der zweitjüngste Sohn des während ihrer mehrmonatigen Beziehung
Professors sagt, er habe ein Trauma erlit- dreimal vergewaltigt. Er habe seine Posi-

MARTIN KNOBBE / DER SPIEGEL


ten und sei nach dem Einsatz ein Jahr lang tion als Professor ausgenutzt, um sie unter
nicht zur Schule gegangen. Druck zu setzen.
Als die Polizisten das Haus durchsuch- Leyla Abassi* lernte den Professor über
ten, fanden sie illegale Substanzen. »Müll- ihren Bruder kennen, der bei ihm studier-
tütenweise« hätten sie Medikamente und te. Sie war 22 Jahre alt, er 53. Sie war be-
Drogen aus dem Haus getragen, wird der eindruckt von seiner »Unborniertheit und
ermittelnde Staatsanwalt später sagen. Lebendigkeit«, er von ihrer »orientali-
Darunter waren 5,1 Gramm eines Kokain- Professor Bose schen Schönheit«. Mit seinen Monologen
gemischs. Hans-Jürgen von Bose sagt, die »Von meinen Kritikern vernichtet« zog er sie in seinen Bann. Ging es anfangs
Rauschmittel hätten ihm beim Komponie- noch um Themen der Kunst und Musik,
ren geholfen. Und, offen wie er sei, habe sprach der Professor irgendwann von sei-
er seinen Studenten von diesen Drogen- arbeit notiert und die für das Kompo- nen sexuellen Bedürfnissen. Sie übernach-
erfahrungen erzählt. Er verweist auf große nieren. tete in seiner Wohnung, sie kamen sich
Schriftsteller, Gottfried Benn, Aldous Hux- Dozenten der Hochschule machten sich auch sexuell näher.
ley, die nur unter Drogen Geniales voll- Sorgen, dass der Professor seine Studentin Im Nachhinein kann man schwer sagen,
bracht hätten. gefügig gemacht haben könnte. Ihre Kom- wer den Impuls zu sexuellen Experimenten
Auch Medikamente habe er in großen militonen wollen bemerkt haben, wie gab. Die beiden besuchten nun regelmäßig
Mengen konsumiert, um die Schmerzen Popowa dünner und blass wurde. Die Uni- Swingerklubs, manchmal kamen andere
nach einem vierfachen Bandscheibenvor- versität besuchte sie immer seltener. Im Männer nach Hause. Es war sein Wunsch,
fall zu lindern. 400 Tropfen des Schmerz- Internet fanden sich Anzeigen: Sex für ihr beim Sex mit ihnen zuzusehen.
mittels Valoron habe er am Tag geschluckt, 200 Euro die Stunde. Das Geld sparte sie Bose habe sich irgendwann nicht mehr
empfohlen sind höchstens 240. und unterstützte damit ihre Familie. angestrengt, seine Aggressionen und Per-
Als sich die junge Russin Irvana Popowa Irvana Popowa redet ungern darüber. versionen zu kontrollieren, sagte Abassi
an der Musikhochschule vorgestellt hatte, Sie sagt, dass sie nicht mehr komponiere, der ermittelnden Beamtin. Bose sagt, seine
hatte sie auf die Professoren keck, aber und begründet es mit der angespannten Geliebte habe sichtlich Vergnügen beim
auch zerbrechlich gewirkt. Das könnte er- Situation nach dem Polizeieinsatz und Sex mit anderen Männern gehabt. Hinter-
klären, warum sie nicht der Klasse von dem Kleinen, der ihre Aufmerksamkeit her habe sie das nicht eingestanden, »da
Hans-Jürgen von Bose zugeteilt wurde. fordere. Im vergangenen November aller- war ich richtig böse«. Da sei mal ein
Die Frauenbeauftragte kannte Gerüchte, dings hielt sie es nicht mehr aus. Sie buchte Aschenbecher geflogen, da habe er viel-
dass man aufpassen solle. für den folgenden Tag ein Ticket ohne leicht den Satz gesagt, den Leyla Abassi
Wenn das der Versuch war, die junge Rückflug nach Sankt Petersburg zu ihren in ihrer Vernehmung zitierte: Er brauche
Frau und den Professor voneinander fern- Eltern, den Kleinen nahm sie mit. Erst nur hinzulangen, dann klebe ihr Gehirn
zuhalten, muss er als gescheitert bezeich- sechs Wochen später kehrte Popowa zu- schon an der Wand. Er sei ein Choleriker,
net werden. Im Hochschulwohnheim ver- rück. Sie sagt, sie könne es sich nicht er- ernst meine er das nicht.
suchte sie, Anschluss zu finden, der Kum- In nüchternen Worten beschreibt Abas-
mer über den Tod ihrer Schwester nagte si acht Jahre später der Polizei, wie Bose
schwer. Das Geld fehlte, um zum Begräb- dreimal in sie eingedrungen sei, ohne dass
nis zu reisen. Die Zeit drängte, um einen sie es gewollt habe. Manchmal sei sie apa-
Kompositionsauftrag abzuschließen. thisch gewesen, dehydriert und ausgehun-
Sie vertraute sich Professor Bose an. Er gert. Sie habe geweint, etwa wenn sie von
war fasziniert von ihr und lud sie nach der Flucht aus ihrer Heimat im Nahen Os-
Hause ein. Der Prozess von der ersten ten erzählte. Diese Momente totaler Er-
Übernachtung, weil die letzte S-Bahn weg schöpfung habe Bose ausgenutzt.
war, bis zu ersten flüchtigen Berührungen An die Weinkrämpfe könne er sich zwar
war fließend. Im Dezember 2013 wurden erinnern, sagt Bose. Aus einer tröstenden
der Professor und seine Studentin ein Paar, Umarmung sei dann aber einvernehm-
Jahre später sogar Eltern eines Sohns. Die licher Sex geworden. Leyla habe jederzeit
zwei lebten gemeinsam mit Boses Ehefrau gehen können, eine Fluchttür zur Feuer-
DIETER MAYR / DER SPIEGEL

und den Kindern zusammen. treppe sei gleich neben dem Schlafzimmer
Irritierend ist ein Stundenplan, den die gewesen. »Die Vorwürfe sind absurd.«
Polizei bei der Hausdurchsuchung fand: Die Staatsanwaltschaft München sieht
Die Studentin hatte notiert, wie oft und sich nach intensiven Ermittlungen in ihrer
wann sie etwa mit ihrem Professor in der Einschätzung bestätigt: Sie wirft Hans-Jür-
Woche Sex haben sollte und wann andere gen von Bose vor, er habe gezielt ein Klima
Sexualpartner dazukommen würden. Da- Komponist Eggert der Gewalt und der Ausweglosigkeit für
neben waren die Stunden für die Haus- Gegen den Vorgesetzten ausgesagt die Betroffene geschaffen. Diese habe um

48 DER SPIEGEL Nr. 20 / 12. 5. 2018


ihr Leben gefürchtet, weil er neben seinem
Bett eine Waffe aufbewahrte. Im Haus
fand die Polizei eine Schreckschusspistole.
Wichtiger aber ist ein anderes Druck-
mittel, das die Staatsanwälte anführen:
Bose habe seine Macht als Professor des
NEU
Bruders an der Musikhochschule und als im Handel
einflussreiche Persönlichkeit in der Musik-
szene gezielt ausgenutzt, um seine Bedürf-
nisse zu befriedigen. Er habe der Geschä-
digten angedroht, er könne ihren Bruder
ruinieren. Bose sagt, es sei eine »glatte und
extrem bösartige Lüge«.
Eine renommierte Psychologin, die im
Auftrag des Landgerichts ein aussagepsy-
chologisches Gutachten erstellt hat, hält
generell eine absichtliche Falschbezichti-
gung der Frau für unwahrscheinlich. Aller-
dings könnten sich deren Schilderungen
in der Erinnerung teilweise verzerrt haben.
Auch auf Grundlage des Gutachtens
prüft das Landgericht München, ob es die
Anklage gegen Hans-Jürgen von Bose zu-
lässt. Drei Jahre sind seit der Hausdurch-
suchung vergangen, ohne dass das Gericht
entschieden hätte, was die Situation für
beide Seiten unerträglich macht: für die
betroffene Frau, die auf Gerechtigkeit
hofft. Für den Beschuldigten, der seine Un-
schuld beweisen will.
Auch Siegfried Mauser tut sich schwer,
Schuld bei sich zu finden. Er habe es ver-
sucht, sagt der Ex-Präsident, als er sich
Anfang Mai in einem seltenen Moment
bei einer Veranstaltung blicken lässt, bei
der Verleihung des Ernst von Siemens Mu-
sikpreises im Münchner Prinzregententhe-
ater. »Mir ist es bislang nicht gelungen.«
Mauser ist ein angesehener Konzert-
pianist, Kammermusiker und Liedbeglei-
ter. Als Musikwissenschaftler und Präsi-
dent einer der besten Musikhochschulen
Deutschlands genoss er bald einen Ruf, der
über Bayern hinausging. Für die Staatsan-
wälte aber ist er ein Mann, der eine unbe-
kannte Frau wie nebenbei vergewaltigte.
Gerüchte über den barocken Frauenhel-
den gab es schon lange, am 13. Mai 2016
kam es erstmals zu einer Verurteilung. Im
April 2009 soll der Professor eine Kollegin
gegen ihren Willen geküsst und sexuell ge-
nötigt haben. Ein Schöffengericht verur-
teilte ihn zu 15 Monaten Freiheitsstrafe
auf Bewährung und Zahlung von 25 000
Euro, in der Berufung wurde die Strafe auf
neun Monate reduziert. Über die Revision
muss noch entschieden werden.
Von einem anderen Vorwurf sprach ihn
das Gericht frei: 2012 hatte Mauser einer
renommierten Konzertgitarristin mehrere
Zungenküsse aufgenötigt und sie in den
Diensträumen während einer Probe an
den Genitalien berührt. Die Frau habe sich
nicht erkennbar gegen ihn zur Wehr ge- Online bestellen unter:
setzt, stellte das Gericht fest.
Ein Argument, das Mausers Anwälte im
amazon.de/spiegel
laufenden Verfahren anbringen: Die Frau,
die sagt, sie sei im Präsidenten- nem Lehrer am Internatsgym-
zimmer vergewaltigt worden, nasium an. Er erzählte ihm
habe später mit Mauser einmal auch, dass der Professor ihn
einvernehmlich Sex gehabt. aufgefordert habe, »das wilde
Die drei Verteidiger glau- Tier« in sich herauszulassen.
ben, darin einen Widerspruch Der Gymnasiallehrer unter-
entdeckt zu haben. Für den nahm nichts, erst Ettenhofers
Hamburger Sexualwissen- Klavierlehrerin sah Handlungs-
schaftler Peer Briken ist es bedarf. Sie kann sich noch heu-
allerdings nicht ungewöhnlich, te an alles erinnern. Sie rief den
dass sich die Vorstellungen Professor an und verwickelte
über das, was jemand als ein- ihn in ein Gespräch, das sie mit
vernehmlich erlebt, auch kurz- einem alten Anrufbeantworter
fristig ändern können. »Man mitschnitt. Ausgestattet mit die-
kann bei ausgeprägter eige- sem Material, beschwerte sie
ner sexueller Erregung, Ver- sich bei der Musikhochschule:

RALF MEYER / VISUM


liebtheit, Stimuliertheit den Bose habe seine Stellung als
Schmerz beim Analverkehr Lehrperson sträflich ausgenutzt.
genießen und unter den Um- Er habe den Schüler bedrängt
ständen des gewalttätigen Aus- zuzugeben, schwul zu sein.
nutzens von Macht und Ab- Konzertsaal in der Hochschule: Große Abhängigkeit vom Dozenten In der Hochschule löste der
hängigkeit das eindeutig als Mitschnitt Unruhe aus. Der
erzwungene Erniedrigung er- Kanzler informierte das baye-
kennen«, sagt Briken. Bei strittigen Erfah- und wieder einstudieren ließ. »Ich stand an rische Kultusministerium, ein Regierungs-
rungen und Tatsachen zwischen zwei Men- der Säule, und mein männlicher Kommili- direktor bat darum, die Ermittlungen dis-
schen müsse diese normative Entschei- tone sollte mich ›nageln‹, so nannte es der kret ablaufen zu lassen, der Minister wurde
dung ein Richter treffen. Dozent«, erzählt sie. »Nach Meinung des eingeweiht. Schließlich erfuhr auch der Va-
Die Anwältin Antje Brandes, die betrof- Professors hat sein Becken aber nicht au- ter des Jungen von den Vorwürfen. Er ging
fene Frauen vertritt, sagt: »Wir wissen in- thentisch genug gegen meins geknallt. Also zur nächsten Polizei und wollte Anzeige
zwischen von vielen Frauen, derer der An- stellte sich der Professor hinter den jungen erstatten. Die Polizisten rieten ihm ab: Es
geklagte sich einfach bedient hat, er hat Mann und zeigte, wie man es richtig macht.« sei ja nichts Handfestes vorgefallen.
seine Machtstellung rigoros ausgenutzt.« Die Studentin möchte ihren Namen Ohne Eltern und Anwalt wurde der
Auch die Rektorenkonferenz der Mu- nicht veröffentlicht sehen. Die Angst, offen Jungstudent in die Hochschule geladen
sikhochschulen hat sich mit den Vorgän- zu sprechen, ist bei vielen noch immer und zwei Stunden lang befragt, später folg-
gen befasst. »Die Zeiten von Don Giovan- groß. Die Hochschulleitung beteuert in te eine Anhörung im Ministerium. Er woll-
ni und Figaro sind Vergangenheit«, sagt internen Runden, sie tue alles, um die te unbedingt Komposition studieren und
die Vorsitzende Susanne Rode-Breymann. Atmosphäre zu verbessern. Sie verweist war dankbar, dass die Hochschule ihm we-
Sie begrüße es, dass sich wissenschaftliche nig später gestattete, den Lehrer zu wech-
Institutionen zum Thema der sexuellen seln. Im Gegenzug unterschrieb er ein Pro-
Übergriffe klar positionierten und Maß- Der Professor habe den tokoll, das nach seiner heutigen Einschät-
nahmen sowie Standards entwickelten. In Studenten aufgefordert, zung mehr als beschwichtigend war.
der Rektorenkonferenz habe man schon Hans-Jürgen von Bose sagt, die Initia-
vor zwei Jahren damit angefangen. »Aller- »das wilde Tier« tive sei von dem Jungen ausgegangen, der
dings obliegt die Umsetzung den einzel- in sich herauszulassen. ihn bei der Aufnahmeprüfung ständig an-
nen Hochschulen.« gestarrt habe. Er habe sich mit ihm getrof-
An der Münchner Hochschule wandeln fen, Eis gegessen und ihn ein paarmal
sich die Strukturen nur langsam. Zu stabil auf einen Flyer, den jeder Student in die unterrichtet, danach habe es kein Treffen
waren sie, sodass macht- und selbstbewuss- Hand gedrückt bekommt, mit dem Motto gegeben. Er sei dann ins Ministerium zitiert
te Protagonisten wie Mauser und Bose »Nein heißt Nein«. Als die ehemalige Frau- worden, weil sich der Junge beschwert
über Jahre ungehindert agieren konnten. enbeauftragte vor Gericht zu diesem Flyer habe. Dort habe man ihn vor »einem Skan-
Beide Professoren waren befreundet und befragt wurde, sagte sie: »Da gab es einen, dal« gewarnt, das Ministerium hatte seine
halfen einander. Sie tranken Bier zusam- ja. Mehr weiß ich nicht.« Die Richterin Oper »Schlachthof 5« nach Boses Angaben
men und schwärmten zeitweilig für die- hakte nach: »Aber Sie müssen es doch wis- mit 100 000 Mark finanziert.
selbe Frau. Es führte dazu, dass Siegfried sen! Sie waren die Frauenbeauftragte!« Kurze Zeit später habe er den Jungen
Mauser sich am 8. Mai 2007 von der Auf- Die Gefahr solcher Strukturen war der auf der Straße getroffen und in seine Woh-
sichtspflicht als Rektor distanzieren woll- Hochschulleitung schon lange bekannt, nung gebeten. Erst da habe er ihn damit
te – aus persönlicher Befangenheit. spätestens seit 1995. Der 16-jährige Jung- konfrontiert, dass er wohl mit seiner Ho-
In diesem Umfeld kam es vor, dass Do- student Heinrich Ettenhofer* berichtete mosexualität nicht zurechtkomme. Das
zenten mit ihren Studentinnen Affären ein- damals, Professor Bose habe ihm sexuelle wisse er, weil es ihm in seiner Jugend ge-
gingen und Kinder mit ihnen zeugten. Es Avancen gemacht. nauso gegangen sei.
war auch keine Seltenheit, dass offen se- Seine Eltern hätten sich wahrscheinlich Der Student hat noch den Abschluss ge-
xuelle Forderungen gestellt wurden, wie gewundert, wenn sie gewusst hätten, dass macht, aber danach aufgehört zu kompo-
mehrere Zeugen vor Gericht aussagten. der Professor den talentierten Jungen nieren. Er sagt, dass er mit diesen Men-
Mancher Dozent tarnte seine sexuelle Gier gleich bei der ersten Begegnung zum Eis- schen nichts mehr zu tun haben wolle.
offenbar als Übung für die Bühne. essen ausführte und später anbot, er könne Martin Knobbe, Jan-Philipp Möller
Eine Studentin erinnert sich an eine Ver- nach einem Konzert bei ihm übernachten. Mail: martin.knobbe@spiegel.de
gewaltigungsszene, die ein Professor wieder Zunächst vertraute sich der Jungstudent sei-

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Deutschland

Mutter Teresa von der Weser


Affären Die Zentrale des Bundesamts für Migration hatte seit 2014 konkrete Hinweise,
dass eine Beamtin in Bremen Asylverfahren manipulierte. Doch niemand stoppte das Treiben.

SWEN PFÖRTNER / PICTURE ALLIANCE / DPA


Flüchtlinge in Aufnahmeeinrichtung Friedland 2016: »Sie werden Unglaubliches lesen, aber es ist wahr«

A
m 2. Juni 2017 tippt ein Ober- Was der Mann an jenem Freitag der den Vorwürfen äußern wollte sich keiner.
regierungsrat einen Hilferuf in Bamf-Spitze in Nürnberg meldet, wird die Noch ist strafrechtlich nichts bewiesen,
seinen Computer. Es ist Freitag- Öffentlichkeit erst ein knappes Jahr später doch an der Weser herrschte anscheinend
abend, doch die Sache duldet erreichen. Da macht die Staatsanwalt- das Motto: Wir schaffen das – vorbei an
aus seiner Sicht keinen Aufschub. Es gehe schaft Bremen die Ermittlungen gegen die allen Regeln. Über Jahre führte die Bremer
um Vorgänge mit »extremer Brisanz«, Beamtin Ulrike B. bekannt. Es geht um Außenstelle ein Eigenleben, das zu Aner-
schreibt der Beamte aus dem Referat mutmaßlichen Asylmissbrauch in mindes- kennungsraten von teilweise über 90 Pro-
560. tens 1176 Fällen, an denen B. sowie meh- zent führte. Solche Quoten gab es in kei-
Der Mann, der diese Zeilen formuliert, rere Rechtsanwälte und ein Dolmetscher nem anderen Bundesland. Aber warum be-
ist ein leitender Mitarbeiter der Bremer beteiligt gewesen sein sollen. endete niemand das Treiben an der Weser?
Außenstelle des Bundesamts für Migration Die Ermittler vermuten, dass vor allem Der Zentrale in Nürnberg lagen bereits
und Flüchtlinge (Bamf). Die brisanten Vor- kurdische Asylbewerber, die angaben, Je- 2014 detaillierte Berichte darüber vor, dass
gänge, von denen er berichtet, betreffen siden aus Syrien oder dem Irak zu sein, in in der Bamf-Filiale in Bremen etwas nicht
seine langjährige Chefin, Ulrike B. Bremen zu Unrecht Flüchtlingsschutz er- stimmen konnte. Die Außenstelle mischte
Sie habe versucht, heimlich einen Asyl- hielten. Viele von ihnen hätten womöglich sich sogar in laufende Gerichtsverfahren
antrag in Bremen durchzuwinken, für den in ein anderes EU-Land abgeschoben wer- ein, für die sie nicht zuständig war. Meh-
das Amt gar nicht zuständig sei. Und das den müssen, das für sie zuständig ist, nach rere Gruppen- und Abteilungsleiter in
sei nicht nur einmal passiert, es gebe Hun- Bulgarien, Ungarn oder Österreich. Nürnberg erfuhren noch vor dem Höhe-
derte, vielleicht sogar Tausende merkwür- Doch das ist nur ein Teil des ganzen Bil- punkt der Flüchtlingskrise im Sommer
dige Fälle, in denen B. dafür gesorgt habe, des. Denn woher viele der Asylbewerber 2015 per E-Mail von den Vorgängen. Sie
dass Asyl gewährt wurde. wirklich stammen, wurde in Bremen über unternahmen lange wenig bis gar nichts.
So schreibt es der Beamte in seiner Jahre offenkundig nur unzureichend über- Auch die Brandmail des leitenden Beam-
Brandmail. Ulrike B. mache gemeinsame prüft. Manche erhielten Schutz, ohne ten in Bremen blieb zunächst ohne ernste
Sache mit einem Anwalt, dem sie nahe- Fingerabdrücke abzugeben oder eine Konsequenzen.
stehe. Er habe leider lange gewartet, glaubhafte Fluchtgeschichte vorzutragen. Für Bamf-Chefin Jutta Cordt ist es die
schreibt der Oberregierungsrat, nun wolle Ablehnungen verwandelten sich in Aner- zweite Affäre, mit der sie zu kämpfen hat.
er auspacken: »Sie werden Unglaubliches kennungen. Sogar ganze Bescheide könn- Der Fall des rechtsradikalen Soldaten Fran-
lesen. Aber es ist wahr.« ten die Beschuldigten gefälscht haben. Zu co A., der sich als Syrienflüchtling ausgab,

51
Deutschland

ließ sich auf Einzelne abwälzen, die bei An- berg geschah offenkundig nicht viel. Auch »rechtswidrigen Verwaltungsakt« umge-
hörung und Entscheidung versagten. Der nicht, als der Beamte bemerkte, wie Ulrike hend zurücknehmen. B. ignorierte das
Bremer Skandal reicht weiter. Er offenbart, B. an einem Sonntag im August 2015 Schreiben offenkundig und schloss das Ver-
dass es jahrelang in der Behörde keine funk- gleich 25 Folgeanträge in das Computer- fahren ab. Mehrere Monate später entzog
tionierenden Kontrollmechanismen gab. system eintrug. Es ging um Iraker, die in das Amt dem Mann den Flüchtlingsstatus.
Im Innenausschuss bemühte sich Cordt Österreich Asyl beantragt hatten und nach Selbst wenn man berücksichtigt, wie be-
hinter verschlossenen Türen darzulegen, dem Dublin-Verfahren hätten abgescho- lastend die Flüchtlingskrise für das Bamf
dass ihr Amt konsequent durchgegriffen ben werden müssen. Dank B. durften sie und seine über 80 Standorte war: Dass Ul-
und die Ermittlungsbehörden schnell in- in Deutschland bleiben. rike B. offenbar in großem Stil Asylverfah-
formiert habe. Doch Recherchen des Erst als die Bremer Kollegin im folgen- ren manipulierte, hätte die neue Amtsspit-
SPIEGEL ergeben ein anderes Bild. Dem- den Sommer in letzter Minute eine Ab- ze um Jutta Cordt aufschrecken müssen.
nach hat das Amt die Vorwürfe lange Zeit schiebung mehrerer Jesiden nach Bulga- In seiner Brandmail vom 2. Juni 2017
nur halbherzig aufgeklärt. rien vereitelte, zum Ärger der niedersäch- skizzierte der Oberregierungsrat aus dem
Wenn es ein Datum gibt, an dem die sischen Politik, setzte die Zentrale sie als Referat 560 in Bremen-Vegesack die Di-
Affäre beginnt, dann ist es vielleicht der Außenstellenleiterin ab. mension des mutmaßlichen Asylmiss-
8. November 2013. Zwei Jesiden begehr- Acht Monate später, am 23. März 2017, brauchs – und dass Ulrike B. trotz der
ten Asyl, aber sie hatten sich weder poli- beendete die Bamf-Führung das Diszipli- kürzlichen Disziplinarstrafe damit anschei-
tisch betätigt, noch gab es Probleme mit narverfahren. Aber nicht mit einem Raus- nend weitermache. Das Schreiben war
staatlichen Stellen im Irak, wo sie geboren wurf. Nur in vier Fällen stellte das Amt adressiert an einen der wichtigsten Män-
waren. Die Außenstelle des Bamf in Ol- Dienstvergehen fest und glaubte der Be- ner in der Zentrale, Rudolf Knorr, den
denburg lehnte ihre Anträge deshalb an »Leiter operativer Bereich«.
diesem Tag als unbegründet ab. Der An- Ulrike B. betreibe schon seit Langem
walt der Flüchtlinge klagte gegen diese Ent- »Kungeleien« mit einem Anwalt aus Hil-
scheidung – ein gewöhnlicher Vorgang. desheim, Irfan C., heißt es in der Mail. Sie
Dann geschah etwas, das alles andere habe dessen Mandanten bevorzugt und ih-
als gewöhnlich war. Im Sommer 2014 mel- nen »massenhaft« zum Flüchtlingsstatus
dete sich plötzlich eine Instanz bei Gericht, verholfen. Die Asylbewerber seien oft im
die mit dem Verfahren bisher nichts zu tun Beisein des Anwalts in B.s Büro angehört

FELIPE TRUEBA / EPA-EFE / REX / SHUTTERSTOCK


hatte: die Bamf-Außenstelle in Bremen. und »ausschließlich« anerkannt worden.
Das Verfahren sei »klaglos zu stellen«, B. habe am Freitag häufig Druck ge-
da der Grund für die gerichtliche Ausein- macht, weil sie dem Anwalt die positiven
andersetzung entfallen sei. Die beiden Ira- Bescheide persönlich habe übergeben wol-
ker würden doch als Flüchtlinge aner- len. Der habe in die Außenstelle gern mal
kannt. Die Asylentscheidung trug die Kuchen für alle mitgebracht. Nach den
Unterschrift von Ulrike B., der Außenstel- Asylanhörungen seien B. und C. regelmä-
lenleiterin in Bremen. Die Begründung für ßig zum Essen gegangen, auch privat hät-
die plötzliche Anerkennung fiel auffällig ten sich die beiden angeblich getroffen,
knapp aus: »Nach der aktuellen Erkennt- zum Joggen im Park. Mails an ihn begann
nislage liegen die Voraussetzungen zur Behördenchefin Cordt sie schon mal mit einem lockeren »Hi«.
Anerkennung als Asylbewerber vor.« Hinter verschlossenen Türen Ulrike B. habe im Amt davon ge-
Der Anwalt der Jesiden war ein Mann schwärmt, was für ein toller Mann Irfan
namens Irfan C. aus Hildesheim. Ulrike B. C. sei, schreibt der Beamte weiter. Er habe
und er gelten heute als Schlüsselfiguren in amtin, dass sie aus reiner Menschlichkeit sie gewarnt, dass der Anwalt sie ausnutze
der Affäre. Dass sich die Bremer Bamf- Regeln umgangen habe – als eine Art Mut- – und sie gefragt, ob sie in den Mann ver-
Chefin in das Verfahren einmischte, erfuhr ter Teresa von der Weser. liebt sei. Das habe sie von sich gewiesen,
auch die Zentrale des Amts. Am 11. Juli B. durfte in die Räume ihrer alten Bre- »Herrn C. und ihr gehe es nur um die ar-
2014 schickte der Leiter der Außenstellen mer Dienststelle zurückkehren. Für zehn men Menschen«, habe sie gesagt. Einmal
Friedland und Oldenburg einen Beschwer- Prozent weniger Geld arbeitete sie von habe er in B.s Posteingang zufällig eine
debrief nach Nürnberg. Es sollte nicht der dort aus für die Nürnberger Zentrale. Ihre Mail gesehen, in der C. schrieb, das Hotel-
einzige bleiben, etliche E-Mails mit Infor- Aufgabe: die Qualitätssicherung nach der zimmer für das Wochenende sei schon be-
mationen über die Umtriebe der Bremer Affäre Franco A. zu verbessern. zahlt – dahinter ein Ausrufezeichen. B.s
Beamtin erreichten früh die oberen Ebe- Dabei hatte B. offenkundig nicht nur in Verteidiger hat Bestechlichkeitsvorwürfe
nen des Amts. einigen wenigen Verfahren die Vorschrif- zurückgewiesen.
Im Sommer 2014 trafen sich Ulrike B. ten ausgehebelt, um notleidenden Jesiden Die Behörde müsse dringend handeln,
und der Außenstellenleiter aus Friedland eine Abschiebung in ein EU-Land zu er- schrieb der Bremer Oberregierungsrat im
in Köln zum Krisengespräch. B. soll sich sparen, das Flüchtlinge nicht so freundlich Juni, Belege für das Treiben könnten be-
uneinsichtig gezeigt und behauptet haben, behandelt wie Deutschland. Im Juni 2016 reits gelöscht worden sein. Er sei ratlos
sie habe stets nach Recht und Gesetz ge- erteilte Ulrike B. einem vermeintlich staa- und frage sich, ob es irgendeinen Weg
handelt. tenlosen Mann Flüchtlingsschutz, ohne gebe, die Sache »unauffällig« zu lösen.
Der Dienststellenleiter dokumentierte dessen Fingerabdrücke zu prüfen. Denn: »Dem Bundesinnenministerium
von da an etliche Verfahren, in die sich die Zwei Tage später schrieb die Ausländer- würde diese Geschichte im Vorwahlkampf
Bremer Kollegin einmischte. Er erstellte behörde in Bad Segeberg einen bitteren überhaupt nicht gefallen. Der Ruf des
Listen mit den Aktenzeichen der auffälli- Brief: Man sei entsetzt über den positiven Bamf würde extrem Schaden nehmen.«
gen Fälle und schickte sie per Mail an seine Bescheid. Der Mann gehöre zu einer tür- Ein Beamter meldet einen Skandal nach
Vorgesetzten in der Zentrale. Mindestens kischen Großfamilie und sei wegen Straf- ganz oben. Und was macht die Behörde?
drei Beamte aus der Führungsebene erfuh- taten im Jahr 2005 aus Deutschland aus- Weder suspendierte sie die Frau, noch er-
ren so schon früh Details. Doch in Nürn- gewiesen worden. Das Bamf solle diesen stattete sie umgehend Anzeige.

52 DER SPIEGEL Nr. 20 / 12. 5. 2018


Derweil ging im Juli 2017 beim Bamf worden, auf eine Anhörung in mehreren ohne Helfer im Amt jahrelang Regeln
eine weitere, anonyme Warnmail ein. Sie Fällen verzichtet worden. Selbst wer in umgehen konnte. Eine Prüfung der Innen-
wurde unter dem Betreff »Korruptionsvor- den Akten mal als Christ und mal als Jesi- revision habe »weitere Mitarbeiter heraus-
sorge« bearbeitet. Es ging um eine syrisch- de auftauchte, wurde nicht kritisch befragt, kristallisiert, die in einer Vielzahl von Fäl-
russische Familie, die in Brandenburg zu- heißt es in einem Vermerk. len beteiligt waren«, berichtete Bamf-Che-
nächst nur einen eingeschränkten Schutz- Am Ende war es ein Zufallsfund, der fin Cordt vor Parlamentariern. Inzwischen
status erhalten hatte – bevor die Akte in das Bamf zwang, die Staatsanwaltschaft wurden mehrere Mitarbeiter versetzt, ihre
Bremen landete. Plötzlich bekam die Fa- einzuschalten. In Gießen tauchte am Zugänge zum IT-System gesperrt.
milie den vollen Flüchtlingsschutz, samt 25. Oktober ein Asylbescheid auf, den es Abgezogen wurde auch die neue Chefin
allen Vorteilen. Eine Prüfung von 20 Fäl- gar nicht geben sollte. Es ging um einen der Außenstelle, die bayerische Bürger-
len förderte weitere fragwürdige Asylver- Kurden aus dem Irak. Laut Computersys- meisterin Josefa Schmid (FDP). Sie war
fahren zutage, in die die Bremer Außen- tem hatte er seinen Antrag nicht weiter be- zum Jahreswechsel an die Weser gekom-
stelle und C.s Kanzlei involviert gewesen trieben, das Verfahren wurde eingestellt. men und verfasste offenbar auf eigene
sein sollen; in einem Fall wurde ein Ge- Doch nun lag in einer hessischen Amtsstu- Initiative einen Bericht über die Zustände,
walttäter mit einem halben Dutzend Ein- be ein zwei Seiten langes Papier, das ihm die sie vorfand. Der landete nicht nur bei
trägen im Strafregister durchgewinkt. den vollen Flüchtlingsschutz bescheinigte. der Staatsanwaltschaft, Schmid schickte
Die Vorgänge wurden der Bamf-Lei- Als Entscheider stand unter dem Doku- die 99 Seiten am 4. April auch an Innen-
tung vorgelegt. Doch die Behörde griff im- ment ein Bremer Bamf-Mitarbeiter. Doch staatssekretär Stephan Mayer (CSU).
mer noch nicht rigoros durch. Warum? der erklärte eidesstattlich, mit dem Fall In Berlin heißt es, Schmid sehe sich als
Das Amt könne sich »aufgrund der noch nie etwas zu tun gehabt zu haben – er war Whistleblowerin, der Bamf-Spitze bescher-
laufenden Ermittlungen aktuell nicht zu krank. Und noch etwas war faul: Das te der Bericht böse Schlagzeilen: Schmid
Detailfragen äußern«, teilte das Bamf mit. Dienstsiegel auf dem Bescheid trug keine verdächtigt darin die Zentrale, die Vorgän-
Nach einer Bundestagsanfrage der Lin- Nummer, dafür die Unterschrift von Ulrike ge gedeckelt und an schonungsloser Auf-
kenfraktion fielen auch dem Bundesinnen- B. Der Anwalt des Flüchtlings war: Irfan klärung wenig Interesse zu haben. Nun
ministerium im Herbst 2017 die hohen An- C. aus Hildesheim. hat das Amt sie gegen ihren Willen nach
erkennungsquoten in Bremen auf. Ein Mi- Der Entscheider, dem der Fall unter- Bayern zurückbeordert – während die
nisterialbeamter griff zum Telefon und ver- gejubelt wurde, drängte die Behörde zu Polizei ihr Bremer Büro versiegelte, damit
langte eine Erklärung. Daraufhin untersuch- juristischen Schritten. Am 13. November keine Beweise abhandenkommen.
ten Prüfer eine Stichprobe von 100 Bremer 2017 erstattete das Bamf, endlich, eine
Jörg Diehl, Hubert Gude, Philipp Seibt,
Verfahren – 70 von ihnen hatten »erheb- Strafanzeige.
Wolf Wiedmann-Schmidt
liche Mängel«. Die Identität der Asyl- Im Bundesinnenministerium hält man
bewerber sei nur sehr selten überprüft es für schwer vorstellbar, dass Ulrike B.

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Gesellschaft
»Das war Charles’ Mädchen, ein echtes Splash-Bild.« ‣ S. 56

Q UE L L E : B MVG
1962 starben 166 Bundeswehrsoldaten
in Ausübung ihres Dienstes.
Früher war alles schlechter
Nº 124: Tote in Uniform

2017: 5
1960 1970 1980 1990 2000 2010

2016: 16

1979 nahmen sich


103 Soldaten das Leben.

Woran Soldaten sterben. Die Grafik zeigt die Todeszahlen der Arbeitsunfälle machen den überwiegenden Teil der anderen
Bundeswehr seit deren Gründung 1955 – und sie macht deutlich, Todesfälle aus, nur wenige Soldaten starben tatsächlich im
dass deutsche Soldaten auch in Friedenszeiten sterben. Aber die militärischen Auslandseinsatz, die meisten in Afghanistan (57)
Zahl der Toten geht zurück. Beim Blick auf die Statistik über- und im Kosovo (27). Warum sinken die Zahlen seit langer Zeit?
rascht die Erkenntnis, dass in den meisten Jahren mehr Bundes- Weil sich die Arbeitssicherheit in der Armee genau so ver-
wehrangehörige durch die eigene Hand fielen als durch äußere bessert wie im zivilen Bereich, wo die Zahl der Arbeitsunfälle
Einwirkungen – wobei die Armee sämtliche Selbsttötungen auf- ebenfalls sinkt. Weil die Bundeswehr insgesamt erheblich
führt, unabhängig davon, ob sie während oder außerhalb des verkleinert wurde. Weil die Aussetzung der Wehrpflicht zu
Dienstes verübt wurden. Selbst dann allerdings liegt die Häufig- höherer Professionalität und besserem Risikobewusstsein
keit von Suiziden in der Bundeswehr während der meisten Jah- führte. Weil die Suizidziffer in Deutschland auch gesamtgesell-
re offenbar noch unter der der vergleichbaren Zivilbevölkerung. schaftlich rückläufig ist. guido.mingels@spiegel.de

Integration unser Land, so gut es geht, tage kein internationales Team bin kein Experte in diesen Din-
Gehört die CSU repräsentieren. Deshalb glau- hat, kann man kein Spiel mehr gen, aber der Sport hat mich
ben wir an Fair Play. Man gewinnen. Wer nur auf sich Folgendes gelehrt: Zu Hause
zu Deutschland, muss gut miteinander umge- guckt, verliert. zu spielen ist leicht. Auswärts
hen. Außerdem begeistern wir SPIEGEL: Was ist Ihre Haltung muss man kämpfen, da ist man
Herr Floca? gern Kinder und Jugendliche in der CSU zur Einwanderung? unbeliebt. Aber im Sport gilt
Horaţiu Floca, 44, ist der für die CSU. Denn, wissen Sie: Floca: Na ja, niemand verlässt auch: Wer zu uns kommt, der
Präsident der CSU im rumä- Das, was wir machen, ist sehr ja aus Spaß seine Heimat. Die muss halt unsere Regeln akzep-
nischen Transsilvanien. gesund. Wer in der CSU hier Leute gehen, weil in diesen tieren. Und die Regeln sind im
Dort steht die Abkürzung für in Transsilvanien ist, der wird Ländern Krieg herrscht. Das Fall der Einwanderung die Re-
»Club Sportiv Universitar«, nicht fett. darf man nicht vergessen. Ich geln der europäischen Gesetz-
einen Basketballverein. SPIEGEL: Die Englischkennt- gebung. Das ist doch klar.
nisse unserer CSU wurden oft SPIEGEL: Heimat ist in
SPIEGEL: Herr Floca, die CSU belächelt, wie sieht das bei Deutschland ein wichtiger
in Deutschland war in den ver- Ihnen aus? Begriff geworden. Dafür gibt
gangenen Tagen viel in der Floca: Wir sprechen hier jeder es jetzt auch ein eigenes Minis-
Kritik. Ihre CSU in Rumänien täglich und fließend Englisch. terium. Was bedeutet Ihnen
ist sehr beliebt. Was ist Ihr Das ist eine Selbstverständlich- Heimat?
Geheimnis? keit. Wir haben hier Leute aus Floca: Heimat ist für jeden in
Floca: Als Präsident der CSU der ganzen Welt, deshalb geht der CSU etwas anderes. Für
kenne ich mich mit Politik es nicht anders. Früher haben mich ist Heimat, wenn meine
nicht so gut aus. Aber ich glau- einige in der CSU sogar Mutter mir Sarmale macht.
be, Geduld und Menschlich- Deutsch gesprochen. So ist das Das ist so eine Art rumänische
keit sind keine schlechten eben. Die Welt ist globaler Kohlroulade. Schmeckt sehr
Eigenschaften. Wir wollen geworden. Wenn man heutzu- Floca gut. JST

54
Ein Foto und seine Geschichte Denn einige Menschen, die sein preisgekröntes Foto betrach-
teten, beschlich ein ungutes Gefühl, die sagten: Da stimmt
was nicht. Sie glaubten den Ameisenbären zu kennen, der

Zu schön sich so fotogen über den Termitenhügel hermacht. Und zwar


aus dem Besucherzentrum des »Emas«-Nationalparks, ge-
nauer gesagt vom Eingang »Portão do Bandeira«. Dort, im
Warum einem Brasilianer sein Oscar für Savannenhochland von Brasilien, steht ein Ameisenbär, der
Tierfotografie aberkannt wurde exakt so aussieht wie jener auf dem prämierten Schuss von
Marcio Cabral. Allerdings ist der aus dem Nationalpark aus-
gestopft. Die Zweifler, deren Namen die Jury nicht öffentlich

E s war im Oktober des vergangenen Jahres, als Marcio


Cabral, Naturfotograf aus Brasilien, in der Haupthalle
des Naturhistorischen Museums in London saß und auf
den Moment wartete, der sein Leben für immer verändern
machen möchte, sandten im März Fotos des ausgestopften
Ameisenbären an das Museum, in hoher Auflösung, und ba-
ten Rosamund Kidman Cox, die Vorsitzende der Jury, das
prämierte Foto zu überprüfen.
würde. Cabral trug, wie die anderen Männer im Raum, einen Es war ein schwerwiegender Verdacht, aber es wäre nicht
Smoking, die Frauen führten ihre beste Abendgarderobe aus, das erste Mal, dass ein Wildtierfotograf unredlich gearbeitet
und vor ihnen, auf festlich gedeckten Tischen, perlte Cham- hätte, um ein attraktiveres, besser zu vermarktendes Bild zu
pagner in hohen Gläsern. produzieren. Clay Bolt, Mitglied der Jury, berichtet von
Die Freunde und Förderer des Museums waren zusammen- Tierfotografen, die Insekten auf Blätter und Gräser kleben
gekommen, um wie jedes Jahr im Herbst die Vielfalt der oder in Kühlbehältern lagern, um mehr Zeit für Aufnah-
Natur zu feiern und das ehrliche Bemühen von Fotografen men zu gewinnen, andere locken Greifvögel mit Mäusen
auf der ganzen Welt, die Schönheit der Schöpfung abzubilden, an. Schon beim Wettbewerb des Jahres 2009 sahen sich
unverstellt und frei von Manipula- die Organisatoren des »Wildlife
tionen. Zehntausende Einsendun- Photographer of the Year« gezwun-
gen waren in den vergangenen Wo- gen, einen Preis abzuerkennen.
chen eingegangen, von einer inter- Das Bild des Fotografen José Luis
national besetzten Jury geordnet, Rodríguez zeigte einen Wolf, als
gesichtet, bewertet worden. Und der über ein Gatter sprang. Es stell-
nun war es an der Zeit, die Oscars te sich heraus, dass der Wolf ein
der Tierfotografie, die »Wildlife gut trainiertes Tiermodel war. Man
Photographer of the Year«, zu kü- konnte ihn für Aufnahmen aller

MARCIO CABRAL
ren, in 16 Kategorien. Art mieten.
Cabral, ein kleiner, stämmiger Rosamund Kidman Cox legte
Mann, hatte sein Bild in der Kate- die Fotos dem Tierpräparator des
gorie »Tiere in ihrer Umgebung« Disqualifiziertes Cabral-Foto Museums, einem südamerikani-
eingereicht. Das Foto, aufgenom- schen Experten für Ameisenbären
men in der Savanne Brasiliens, und drei weiteren Fachleuten vor.
zeigt einen Ameisenbären, der in Außerdem bat die Jury den Foto-
sternklarer Nacht einen grünlich grafen, zu den Vorwürfen Stellung
leuchtenden Termitenhügel über- zu nehmen, vor allem zu der Frage,
fällt. Der Hügel wirkt wie ein Ding Von der Website Derstandard.at warum es nur ein einziges Bild des
aus einer anderen Welt, und auch Ameisenbären am Termitenhügel
der Ameisenbär scheint vom Himmel gefallen zu sein. Es ist gebe. Üblicherweise schießen Tierfotografen Dutzende Fotos,
ein außergewöhnliches Bild. Man kann nachvollziehen, wa- wenn sich das lange gesuchte Tier endlich blicken lässt. War
rum Cabral zum Sieger in dieser Kategorie gekürt worden Cabral womöglich in Eile gewesen, weil er den Ameisenbären
war. Der Jury hatte er schriftlich versichert, dass er drei Jahre möglichst schnell wieder dorthin zurückbringen musste, wo-
lang habe warten müssen, bis endlich alles zusammengekom- hin er gehört? Cabral antwortete, dass der Blitz den Amei-
men war, bis das Wetter, die Sterne und das Tier mitspielten, senbären nach der ersten Aufnahme vertrieben habe.
bis das perfekte Bild geschossen war. Die Moderatorin des Die Jury hielt diese Begründung für nicht überzeugend.
Abends erwähnte in ihrer Laudatio folgerichtig vor allem die Sie schloss sich dem Befund der fünf Experten an, die unab-
Geduld des Fotografen. hängig voneinander zu dem Ergebnis gekommen waren, dass
Als Marcio Cabral dann oben auf der Bühne stand und der Ameisenbär auf dem Foto Cabrals identisch sei mit dem
seinen Preis entgegennahm, wirkte er zwar ein bisschen un- ausgestopften Tier, das am Eingang des Nationalparks zu se-
sicher, manche sagen jetzt, er sei regelrecht gestresst gewesen, hen ist. Cabral war, nach Ansicht der Jury, ein Betrüger. Der
aber das machte ihn nur sympathisch. Ein Wildtierfotograf bestreitet die Vorwürfe zwar noch immer, aber der Preis ist
eben, ein Mann der Einsamkeit, nicht der Stehempfänge. ihm jetzt aberkannt worden. Auch das Preisgeld, immerhin
Cabral las seine Dankesrede, die kaum länger als eine Minute 1250 Pfund, soll er zurückzahlen.
dauerte, von seinem Handy ab. Einen neuen Preisträger in der Kategorie »Tiere in ihrer
In den folgenden Wochen und Monaten wurden die Bilder Umgebung« wird es leider nicht geben. Die Jury begründet
der Preisträger an vielen Orten der Welt gezeigt. Auch der das so: Die eingereichten Arbeiten seien ihr anonym vor-
SPIEGEL druckte Cabrals Bild in der Ausgabe 51/2017. Es ge- gelegt worden, sie habe ausschließlich die Bilder bewerten
hört zum Konzept des Wettbewerbs, dass die Fotos in einer wollen, ohne zu wissen, wer sie geschossen hatte. Jetzt aber,
Art Wanderausstellung von Stadt zu Stadt, von Land zu Land, seitdem die Namen der Fotografen bekannt seien, noch mal
von Kontinent zu Kontinent ziehen. Mit jeder Station werden einen Preis zu vergeben verbiete sich. Man wolle sich
die Bilder populärer, ihre Fotografen berühmter. Im Fall von schließlich nicht dem Vorwurf der Manipulation aussetzen.
Cabral hatte das allerdings eine unerwünschte Nebenwirkung. Uwe Buse

DER SPIEGEL Nr. 20 / 12. 5. 2018 55


Gesellschaft

»Er nennt mich Arthur,


ich nenne ihn Sir«
SPIEGEL-Gespräch Am 19. Mai heiratet Prinz Harry die US-Schauspielerin Meghan Markle.
Wie immer wird die Welt fasziniert sein. Der Fotograf Arthur Edwards, seit 43 Jahren für
die britische »Sun« im Dienst, über Anstandsregeln bei Hofe und gelegentliche Konflikte damit.

E
r ist pünktlich auf die Minute, so rum sind wir eigentlich immer wieder fas- Dinge, die ihre Leser interessieren. So ist
pünktlich, wie es nur jemand sein ziniert von solchen Bildern? das nun mal.
kann, der sein halbes Leben damit Edwards: Nun, unsere Monarchie ist tau- SPIEGEL: Wird es Meghan helfen, dass sie
verbracht hat, auf andere zu war- send Jahre alt. Sie geht zurück auf William schon berühmt ist?
ten. Arthur Edwards würde nie jemanden den Eroberer. Wenn Sie hier ans Fenster Edwards: Na ja, was heißt berühmt? Sie
auf sich warten lassen. Er ist mittlerweile treten, sehen Sie den Tower; William ließ war eine Netflix-Berühmtheit, ich hatte
77 Jahre alt, fotografiert seit mehr als ihn bauen. Wir hatten ein paar Problem- noch nie von ihr gehört. Andererseits hat
40 Jahren die Royal Family, von ihm stam- chen, ein König wurde geköpft, aber ins- sie in sieben Staffeln dieser Serie mitge-
men ikonografische Bilder: Diana als Kin- gesamt ging es immer weiter. Die Wind- spielt, sie war in Ruanda und hat vor der
dergärtnerin, im durchscheinenden Rock, sors sind vermutlich das zäheste und wich- Uno gesprochen. Sie hat einiges erreicht
Diana allein vor dem Taj Mahal; Prinz tigste Königsgeschlecht der Welt. und kann sich ausdrücken. Ich denke, sie
Charles, der sich im Skiurlaub mit einem SPIEGEL: Wissen Sie eigentlich schon, wo wird das ganz gut hinkriegen.
falschen Schnurrbart tarnt; Königin Eliz- Sie an diesem Tag sein werden? SPIEGEL: Das hatte man von Lady Diana
abeth, die vor ihrem eigenen Gemälde lä- Edwards: Nein, weiß ich nicht. Keiner von auch angenommen. Sie waren der Erste,
chelt. Auf rund 200 Reisen hat Edwards uns Journalisten weiß, wo er sein wird. der Diana fotografiert hat.
Mitglieder der königlichen Familie be- Wir stecken noch in Verhandlungen. Der Pa- Edwards: 1977 bat mich mein Chef he-
gleitet, in 120 Länder; sieben Hochzeiten, last hat eine Liste geschickt, wer dabei sein rauszufinden, wen Prinz Charles heiraten
vier Trauerfeiern, acht königliche Gebur- darf, wir finden das etwas unbefriedigend. würde. Drei Jahre lang habe ich wie ein
ten. Alle Fotos in diesem Gespräch stam- Sie wollen nur Reporter, keine Fotografen. Besessener gearbeitet. Charles hatte eine
men von Arthur Edwards. Gerade bereitet SPIEGEL: Sie verhandeln mit dem Kensing- Freundin nach der anderen, aber keine
er sich auf die Hochzeit von Prinz Harry ton-Palast? hielt lange durch. Eines Tages besuchte ich
und Meghan Markle, einer amerikani- Edwards: So ist es. Es gibt zu wenig Presse- ein Polo-Match; ich bekam den Tipp, dass
schen Serienschauspielerin, vor, die am pässe. Von den Reportern soll auch nur er dort sei, mit Lady Diana Spencer. Ich
19. Mai in der St George’s Chapel von einer in die Kirche. Darüber ist noch zu kannte sie nicht. Ich lief also herum und
Windsor Castle zelebriert werden wird. reden. Es ist eine rein private Hochzeit. entdeckte dieses Mädchen mit einer Hals-
Als das Interview stattfindet, in einem Niemand von der Regierung ist da, keine kette, an der ein D baumelte. Ich fragte:
Konferenzraum im Redaktionsgebäude ausländischen Politiker. Mal sehen, wo ich Sind Sie Lady Diana Spencer? Sie sagte: Ja.
der »Sun«, 1 London Bridge Street, am Samstag sein werde. Darf ich Sie fotografieren? Sie war einverstan-
17. Stock, trägt Edwards eine Krawatte mit SPIEGEL: Warum ist der Palast so wenig den und hat sich sofort in Pose geworfen.
Beefeatern, die er eigens für den Besuch entgegenkommend? SPIEGEL: Ein Scoop für einen Fotografen.
aus Deutschland ausgesucht hat, und eine Edwards: Keine Ahnung. Vielleicht liegt Edwards: Ich rief sofort in der Redaktion
Medaille, die ihn als Member of the British es daran, dass Meghan allerhand abbekom- an. Ich habe ein Mädchen fotografiert,
Empire ausweist. Edwards ist vorfreudig, men hat. Ihre Familie, ihre erste Ehe, sol- das den Prinzen begleitet. Was wisst ihr
auf sehr höfliche Weise müde und, nun ja, che Sachen. Aber wenn ein Mitglied des von ihr? So erfuhr ich, dass Diana gerade
ein wenig verstimmt. Königshauses eine Freundin hat, ist das 19 Jahre alt geworden war.
eben eine Geschichte. Wir müssen darüber SPIEGEL: Und am nächsten Tag erfuhr es
SPIEGEL: Mr Edwards, am kommenden berichten. Selbstverständlich wollen wir das gesamte Königreich?
Wochenende wird wieder mal die ganze auch mit ihrer Familie reden. Ihre Familie Edwards: Nein. Ich habe die Bilder zurück
Welt bewegt sein, weil in London ein Mit- will aber nicht reden. Was macht man da? nach London gebracht und zu meinem
glied der königlichen Familie heiratet. Wa- Natürlich findet sich immer jemand, der Redakteur gesagt: Archivier das Zeug, und
gegen Geld etwas erzählt. Oder Fotos an- behalt es erst mal für dich. Ich konnte mir
Das Gespräch führten die Redakteure Hauke Goos bietet. Wenn du in einem Land mit freier nicht vorstellen, dass Charles etwas mit
und Jörg Schindler in London. Presse lebst, berichten die Zeitungen über Teenagern anfängt.

56 DER SPIEGEL Nr. 20 / 12. 5. 2018


SPIEGEL: Er war zu dem Zeitpunkt 31.
Edwards: Einen Monat später, am ersten
Samstag im September, war ich auf dem
Weg nach Balmoral, der Sommerresidenz
der Queen. Da sah ich Charles, wie er am
River Dee angelte. Diana war bei ihm. Als
ich anfing, Bilder von ihm zu schießen, lief
sie in ein Wäldchen. Sie versteckte sich
hinter einem Baum, aber es gelang mir, ein
Foto von ihr zu machen.
SPIEGEL: Diana soll in einem Spiegel be-
obachtet haben, wo Sie waren.

ARTHUR EDWARDS / BULLS


Edwards: Oh ja. In der Schule hatte sie
nie besonders gute Noten, aber sie war
sehr clever, wirklich gewieft.
SPIEGEL: Wie kam es zu dem berühmten
Foto, auf dem man sie als Kindergärtnerin
im durchscheinenden Rock sieht?
Lady Diana auf einer Jacht vor Mallorca 1990 Edwards: Ich wusste, dass sie irgendwo
im Londoner West End als Kindergärtne-
rin arbeitete. Gemeinsam mit einem Re-
porter fuhr ich alle Kindergärten ab.
Irgendwann landeten wir in Pimlico. Ar-
beitet hier eine Lady Diana Spencer? Ja.
Dürften wir ein Foto von ihr machen? Sie
erschien tatsächlich mit zwei Kindern und
stellte sich auf. Gerade als ich das Bild ma-
chen wollte, kam die Sonne raus – und
ihre Beine waren zu sehen. Das war
Charles’ Mädchen, ein echtes Splash-Bild.
SPIEGEL: Ein paar Jahre später machten
Sie ein anderes berühmtes Bild, 1990, vor
Mallorca: Diana im Bikini.
Edwards: Die beiden waren auf der Jacht
des spanischen Königs. Sie saß mit Charles
auf dem Vorderdeck; er hatte gerade sei-
nen Arm gebrochen, beim Polo, und trug
ihn in einer Schlinge. Wir hatten ein Boot
gemietet. Als sie uns entdeckte, stand sie
auf, ging in die Kabine, nahm sich einen
ARTHUR EDWARDS / DDP

Apfel und kam wieder raus.


SPIEGEL: Sie wusste, dass Sie da waren?
Edwards: Na klar. Diana hatte ein sehr
gutes Gespür für Fotografen, häufig hat
sie uns geholfen. Damals verwendete ich
Prinz Harry, Verlobte Markle 2017 ein 800-Millimeter-Objektiv, ohne Auto-
fokus – und beide Jachten schaukelten auf
dem Meer. Als ich sah, dass das Foto eini-
germaßen scharf war, konnte ich es kaum
glauben.
SPIEGEL: Hat sie sich nie bedrängt ge-
fühlt?
Edwards: Es war abhängig von ihrer Stim-
mung. Einmal besuchte sie das Kranken-
haus in der Great Ormond Street, sie
sprach gerade mit Kindern, und plötzlich
ließ sie uns Fotografen alle rauswerfen. Als
sie das Krankenhaus verließ, sah sie sehr
traurig aus. Zwei Arbeiter auf der anderen
ARTHUR EDWARDS / DDP

Straßenseite entdeckten sie und pfiffen hin-


ter ihr her. Sie sah hoch, und plötzlich lä-
chelte sie. Und ich hatte mein Foto. Sie
war eine der großen Frauen des 20. Jahr-
hunderts.
SPIEGEL: Die keinen unbeobachteten
Königin Elizabeth 2005 Schritt tun konnte.

57
Gesellschaft

Edwards: Am Ende fühlte sie sich von den kumentiert. Er konnte sich betrinken, nach Highgrove zu fahren. Ich ging auf ei-
Paparazzi wirklich verfolgt. Sie waren im- wenn er wollte, er konnte ein normales nem öffentlichen Fußweg, meine Kamera
mer da, egal ob sie einkaufen ging oder Studentenleben führen. Und er konnte mit einem großen Teleobjektiv auf der
ins Fitnessstudio. Irgendwann trug sie je- Kate kennenlernen. Schulter, als Charles auf seinem Pferd he-
den Tag, wenn sie zum Gym fuhr, dasselbe SPIEGEL: War das ein Entgegenkommen rangaloppiert kam. Er rief: Was machen
Oberteil, weil sie hoffte, die Fotografen der Presse oder eine Bitte des Palasts? Sie auf meinem Land? Ich antwortete: Es
würden desselben Motivs irgendwann Edwards: Sie haben das von uns verlangt. ist nicht Ihr Land; es ist ein öffentlicher
überdrüssig werden. Ich hatte immer das SPIEGEL: Hat der Tod von Diana etwas Fußweg. Er sagte: Nun, ein Weg zum Spa-
Gefühl, dass Diana auf Fotos noch besser geändert am Verhältnis der Royals zur zierengehen, nicht zum Fotografieren. Ich
aussah als in Wirklichkeit. Bei Catherine, Presse? sagte: Ich mache hier nur meinen Job. Er
der Frau von William, ist es andersherum: Edwards: Der Königshof änderte sich. Sie sagte: Ein feiner Job ist das! Worauf ich
Sie sieht in Natur besser aus als auf Fotos. begannen, mehr von sich aus zu machen antwortete: Zumindest habe ich einen.
SPIEGEL: Wo waren Sie, als Sie von Dia- und nicht nur zu reagieren. Sie heuerten SPIEGEL: Mittlerweile verstehen Sie sich,
nas Unfall in Paris erfuhren? professionelle Presseleute an, die uns, sa- oder?
Edwards: Ich war gerade mit meiner Frau gen wir, »helfen« sollten. Edwards: Oh ja. Von allen Menschen, de-
auf dem Heimweg von einer Hochzeit. SPIEGEL: Ohne die Helfer vom Palast nen ich begegnet bin, arbeitet er am här-
Mein Sohn, der damals bei der »Sun« als machte die Arbeit mehr Spaß, richtig? testen. Ich habe ihn zu jedem Regenwald
Bildredakteur arbeitete, rief mich an. Ob Edwards: Heute prüfen wir jedes Paparaz- dieser Erde begleitet, allein dreimal waren
ich den nächsten Flug nach Paris nehmen zo-Bild, das reinkommt. Wurde es an ei- wir zusammen in Brasilien, wir waren in
könne. nem öffentlichen Ort aufgenommen? Hat Australien, in Kamerun, in Brunei, Malay-
SPIEGEL: Die Meldung kam kurz nach Mit- jemand Grenzen überschritten? Wir haben sia und Indonesien. Es interessiert ihn lei-
ternacht. einen Kodex unterschrieben, es geht um denschaftlich, das imponiert mir, ich liebe
Edwards: Ich hörte im Autoradio, wie die Persönlichkeitsrechte. Früher haben wir’s es, mit ihm zu arbeiten. Er nennt mich Ar-
Nachrichten sich verschlimmerten. Ihr Be- einfach gedruckt. Also: Ja, früher hat’s thur, ich nenne ihn Sir. Es funktioniert sehr
gleiter Dodi werde auf dem Bordstein be- mehr Spaß gemacht. gut.
handelt. Und dann: Dodi tot. Wir charter- SPIEGEL: Außerdem ist die Konkurrenz SPIEGEL: Was Sie nicht gehindert hat, sei-
ten ein Flugzeug, ich griff meine Kamera- größer geworden. ne beginnende Glatze zu fotografieren.
tasche, morgens um drei starteten wir in Edwards: Ende April, als Prinz Louis ge- Edwards: Er hat mich gefragt: Sind Sie der
Heathrow. Als wir in Le Bourget landeten, boren worden war, Kates und Williams Mann, der dieses Bild aufgenommen hat?
riefen sie aus der Redaktion an, um mir drittes Kind, da gingen 5000 Bilder über Ich wollte wissen, ob er deswegen Stunk
zu sagen, dass Diana gestorben war. Das unseren Fototisch. Es gibt zu viele Foto- bekommen habe. Wo immer er seither hin-
Flugzeug war noch nicht mal zum Stehen grafen, zu viele Leute, die hoffen, vom Bil- komme, sagte er, fotografieren die Leute
gekommen. seinen Hinterkopf.
SPIEGEL: Sie hatten Diana 17 Jahre lang SPIEGEL: Würden Sie sagen, Sie sind be-
begleitet, Tausende Fotos geschossen. Was »Keine Fotos von der freundet?
macht man in so einem Moment? Königin; wenn sie Edwards: Nein.
Edwards: Ich fuhr zuerst zum Tunnel, wo SPIEGEL: Sie sprechen von ihm mit Zunei-
es passiert war. Ein Kind legte Blumen nie- etwas trinkt, wenn sie gung.
der, ich machte ein paar Fotos. Dann fuhr isst, wenn sie betet.« Edwards: Wir sind Arbeitskollegen. Wir
ich zum Krankenhaus. Sie trugen den Sarg mögen einander.
hinaus, ich musste das fotografieren. Als SPIEGEL: Ist die Zuneigung gegenseitig?
ich schließlich in mein Hotel wollte, konn- derverkauf leben zu können. Es gibt Free- Edwards: Nun, kürzlich feierte meine Frau
te ich kein Taxi bekommen. Ich hatte mei- lancer, die zwei Pfund für ein Foto verlan- einen großen Geburtstag. Am Sonntag hat-
ne Kameras umgehängt, die Taxifahrer be- gen. Lächerlich. Und alle machen die glei- ten wir zu einem festlichen Mittagessen
schimpften mich: Mörder. Killer. Sie hiel- chen Bilder. eingeladen. Zwei ihrer Freunde hatten
ten mich für einen Paparazzo. Zurück in SPIEGEL: Das macht die Jagd nach exklu- Prinz Charles einen Brief geschrieben und
London ging ich nach Kensington Gardens, siven Bildern schwieriger. ihm von dem Geburtstag erzählt. Am
wo Prinz Charles gemeinsam mit William Edwards: Mit Jagd hat das nichts zu tun. Samstag erhielt ich einen Anruf von sei-
und Harry die Stelle besuchte, an der all Die Royals wollen, dass über die Dinge, nem Assistenten. Der Prinz habe einen
die Blumen, Bilder und Briefe abgelegt wa- die sie tun, berichtet wird. Wir wollen persönlichen Glückwunsch für meine Frau
ren. Das ganze Land war wie von Sinnen. Fotos in unseren Zeitungen. Es ist ein gu- verfasst. Die Karte werde aber erst am
Alle standen unter Schock. ter Deal. Wir kommen miteinander aus. Montag eintreffen. Er bot an, den Text zu
SPIEGEL: William und Harry geben den Wenn ich in einem Fotografenpool bin, faxen, damit ich ihn am Sonntag vorlesen
Paparazzi bis heute die Schuld am Tod ih- gibt es vorher ein Briefing, ich kann alles könne. Und zu Weihnachten schickt er mir
rer Mutter. fotografieren, was passiert. Aber wir drin- ein wundervolles Foto, unterschrieben von
Edwards: Die Fotografen haben sicher gen nicht in ihre Privatsphäre ein. Wir wer- Camilla und ihm, mit Datum.
ihren Teil dazu beigetragen. Andererseits: den eingeladen. Jeden Monat bekommen SPIEGEL: Ist es mit der Königin ähnlich?
Es gab keinen Grund, mit so hoher Ge- wir eine Liste mit Events. Das ist keine Edwards: Natürlich nicht. Sie ist die Köni-
schwindigkeit in den Tunnel zu rasen. Die Jagd; wir dokumentieren die Tätigkeit von gin. Sehr respekteinflößend. Sie ist sehr
Fotografen wollten nur ein Bild. Und das Mitgliedern der königlichen Familie. formell. Man weiß fast immer, was sie als
hat noch niemandem geschadet. SPIEGEL: Ein Deal, von dem beide Seiten Nächstes tun wird. Wann sie sich umdreht.
SPIEGEL: Danach kamen Palast und Me- profitieren. Wann sie lächelt. Es kommt nur darauf an,
dien überein, zurückhaltender über Wil- Edwards: Eine Übereinkunft, ja. zur Stelle zu sein.
liam und Harry zu berichten. SPIEGEL: Stimmt es, dass es mit Charles SPIEGEL: Kann man mit der Queen Small
Edwards: Richtig. Wir durften nur am ers- am Anfang schwierig war? Talk machen?
ten Schultag an sie ran. Als William stu- Edwards: Als ich gerade bei der »Sun« an- Edwards: Wo denken Sie hin? Sie macht
dierte, haben wir das nicht pausenlos do- gefangen hatte, bekam ich den Auftrag, alles streng nach Regeln. Keine Oberfläch-

58 DER SPIEGEL Nr. 20 / 12. 5. 2018


lichkeiten. Meist fotografiert man und hält
den Mund. Und wenn man genug Geduld
hat, bekommt man ein schönes Bild. Weil
sie weiß, was sie dafür zu tun hat.
SPIEGEL: Waren Sie mal versucht, sie an-
zusprechen? Sie etwas zu fragen? Ihr et-
was zu erzählen?
Edwards: Nein. Das würde ich in einer
Million Jahre nicht tun. Sie würde mich
ansehen, als hätte ich zwei Köpfe.
SPIEGEL: Es gibt das Gerücht, die Königin
habe einen Handtaschen-Code: Je nach-
dem, wie sie ihre Tasche hält, signalisiere

ARTHUR EDWARDS / REX FEATURES


sie ihren Leuten, ob eine Begegnung sie
langweilt, ob sie von einem Gesprächspart-
ARTHUR EDWARDS / DDP

ner befreit werden will.


Edwards: Ich kann das nicht bestätigen.
Es gilt ohnehin: Die Königin beginnt die
Unterhaltung, die Königin beendet die
Unterhaltung. Nicht du sprichst mit ihr –
Prinz Charles 1979 Kindergärtnerin Diana 1980 sie spricht mit dir. Du schüttelst ihre Hand
erst, wenn sie sie dir reicht. Und: keine Fo-
tos von der Königin; wenn sie etwas trinkt,
wenn sie isst, wenn sie betet.
SPIEGEL: Gab es je Augenblicke, wo Sie
enttäuscht waren von den Royals?
Edwards: Charles und ich, wir hatten
schon auch unsere Auseinandersetzungen.
Ich kann mich an mindestens drei Situa-
tionen erinnern, in denen es ein wenig mit
ihm durchging. Einmal hat er mich ange-
brüllt, als ich einen seiner Freunde beim
Schießen auf einer Wiese fotografierte.
Aber nach ein paar Minuten hatte er sich
beruhigt.
SPIEGEL: Stimmt es, dass es bei dem Job,
König zu sein, nicht darum geht, glücklich
zu sein?
Edwards: Absolut. Ich war mal mit Prinz
ARTHUR EDWARDS / DDP

Charles in Indien. Sie hatten in der Wüste


einen Damm gebaut, es ging um Wasser-
versorgung. Also führten sie einen Regen-
tanz auf, und Charles machte mit. Es war
fantastisch. Er wusste, wie wichtig die Sa-
Prinz Harry auf Barbados 2010 che für seine Gastgeber war; er scherte
sich nicht darum, dass er am nächsten Tag
in der Zeitung vermutlich ein wenig be-
scheuert aussehen würde. Es geht darum,
seine Pflicht zu tun. Ich erinnere mich an
einen Termin in Schottland vor ein paar
Jahren, mit der Königinmutter. Es schüt-
tete, der Regen kam im 45-Grad-Winkel
runter. Ich hätte nie gedacht, dass sie auf-
tauchen würde. Aber sie kam. Sie tauchen
immer auf, komme, was wolle.
SPIEGEL: Ist es schwer, in eine solche Fa-
milie einzuheiraten?
Edwards: Für alle: für Sarah Ferguson,
die Duchess of York; für Diana; für Mark
Phillips, den ersten Mann von Prinzessin
ARTHUR EDWARDS / DDP

Anne. Sie hatten ja alle ein äußerst ange-


nehmes Leben vorher. Und plötzlich sind
sie mit jemandem verheiratet, der davon
besessen ist, Dinge richtig und pünktlich
zu erledigen. Nach der Königin können
Sie die Uhr stellen. Das gilt auch für
Prinz Philip 2013 Harry, er ist unglaublich beliebt bei den

59
IN DER SPIEGEL-APP

Leuten. Er macht erstaunliche Dinge, mit bleiben, ich war froh darüber. Paparazzi
großer Begeisterung. fotografierten sie am Pool, mit ihrem
SPIEGEL: Es gab eine Zeit, da galt Harry Freund, im Bikini – ich mag sie sehr und
als nationale Peinlichkeit. hätte es gehasst, ihr das anzutun.
Edwards: Er war vor allem für sich selbst SPIEGEL: Hätten Sie die Bilder der ster-
die größte Peinlichkeit. Diese Sache mit der benden Diana gedruckt?
Wüstenfuchs-Uniform und der Hakenkreuz- Edwards: Nein. Aber ich verurteile die
binde am Arm. Meiner Ansicht nach war Fotografen nicht, die diese Bilder damals
das einer der Momente, wo die Mutter fehlt, gemacht haben. Warum nicht? Hätte sie
die sagt: In diesem Aufzug gehst du nicht überlebt, dann hätten wir die Bilder veröf-
aus dem Haus! Als er anfing, Drogen aus- fentlicht. Ich bin allerdings überhaupt nicht
zuprobieren, ein bisschen Gras, war es sein damit einverstanden, dass die Kollegen ver-
Vater, der ihn in eine Entzugsklinik schlepp- sucht haben, die Bilder zu verkaufen, nach-
te, um ihm zu zeigen, wie es da zugeht. dem Diana gestorben war. Die Fotos sind
SPIEGEL: Sie machen diesen Job seit 41 Jah- hier irgendwo im Safe, ich habe sie nie an-
ren. Was schätzen Sie: Wie viele Jahre ha- geschaut. Ich wollte Diana nicht so sehen.
ben Sie damit verbracht, irgendwo auf je- SPIEGEL: Glauben Sie, dass Sie der könig-
manden zu warten? lichen Familie in all den Jahren nahe ge-
Edwards: Oh Gott, keine Ahnung. Viel- kommen sind? Oder kennen Sie nur das
leicht 20? Ich denke darüber nicht allzu Bild, dass die Familie von sich veröffent-
viel nach. Ich kriege einen Auftrag, gehe licht sehen will?
los und erledige ihn. Edwards: Ich verstehe Ihre Frage nicht.
SPIEGEL: Wie vertreiben Sie sich beim Niemand lernt die königliche Familie je-
Warten die Zeit? mals wirklich kennen. Sie werden nie er-
Edwards: Die meisten Termine sind ja be- fahren, ob die Königin nach dem Abend-
kannt und geplant. Bisweilen habe ich eine
MATTHEW ABBOTT / OCULI

Leiter dabei, um einen besseren Aufnahme-


winkel zu bekommen, aber ich stehe nicht
zwei Tage lang auf der Leiter. Man trinkt
Kaffee, checkt seine Mails, redet mit ande-
ren. Mit Fotos ist es wie mit einem Urlaub:
Die Regentage sind hinterher vergessen.
SPIEGEL: Gibt es ein Bild, das Sie besser
nicht veröffentlicht hätten?
Edwards: Als Diana mit William schwan-
ger war, hatte ich ziemlich gute Fotos von
Charles und Diana am Strand, auf den Ba-
Highway to Hell hamas. Sie wussten nicht, dass ich da war,

DDP
ich dachte mir nichts dabei, es war mein
Sie ist die längste zusammenhängende Job. Ich hatte ihn gut erledigt. Als die Fo- Fotograf Edwards mit Ehepaar Charles
Straße des Kontinents: Der Highway tos veröffentlicht wurden, unter der Zeile und Camilla 2013: »Wir mögen einander«
»Bahama Mama«, gab es einen Aufschrei.
One schlängelt sich über 14 500 Kilome-
Sogar im Parlament waren die Fotos The- essen noch gepflegte Konversation be-
ter durch Australiens Wälder, Wüsten ma. Wenn ich daran zurückdenke, würde treibt, weil sie nie dabei sein werden, wenn
und Städte. Der Fotograf Matthew ich sagen: Es war möglicherweise nicht sie es tut. Angeblich kann sie gut Leute
Abbott war neun Monate lang auf dem meine größte Stunde. nachmachen. Aber ich habe das nie mit ei-
Highway unterwegs: Er traf Gestrandete SPIEGEL: Haben Sie je darauf verzichtet, genen Augen gesehen. Es gibt ein privates
in den Weiten des Outbacks, Abenteu- ein Foto zu machen? Aus Respekt, aus An- Leben, es gibt ein öffentliches Leben. Mein
rer und Menschen auf der Flucht vor der stand? Job hat fast ausschließlich mit dem öffent-
Großstadt. Er fotografierte gewaltige Edwards: Als Harry nach dem Tod seiner lichen Leben zu tun.
Goldminen, Industrieruinen und ausge- Mutter das Blumenmeer in London be- SPIEGEL: Ist es wesentlich für eine Mo-
brannte Trucks am Wegesrand. »Auf suchte, war ich dabei und sah, wie sich narchie, dass die Menschen nicht alles er-
dieser Reise habe ich das Land, in dem sein Gesicht verzerrte. Dieses Foto habe fahren, dass sie nicht alles sehen?
ich nicht gemacht. Edwards: Weil es den Zauber zerstört, ja-
ich lebe, ganz neu kennengelernt, ein
SPIEGEL: 2012 gab es einen Skandal, weil wohl.
ungeschminktes Porträt«, sagt Abbott. Paparazzi Kate beim Sonnenbaden foto- SPIEGEL: Einmal sind Sie selbst in einem
grafiert hatten, oben ohne. Hätten Sie die- Bild verewigt worden, in Öl, eine Weile
Sehen Sie die Visual Story im digitalen se Fotos gemacht? hing es in der National Portrait Gallery.
SPIEGEL, oder scannen Sie den QR-Code. Edwards: Eine hypothetische Frage. Viel- Sind Sie stolz darauf?
leicht nicht. Es war ja nicht möglich, die Edwards: Allerdings. Wir waren mit der
Bilder legal zu schießen. Ich weiß noch, Malerin Catherine Goodman unterwegs
wie das war, als ich von einer Australien- nach Sri Lanka. Sie fragte, ob ich ihr Mo-
reise zurückkam und in der Zeitung las, dell sitzen würde. Nach einem Monat Be-
die Duchess of York, Sarah Ferguson, sei denkzeit sagte ich ja.
in Saint-Tropez. Ich rief in der Redaktion SPIEGEL: Mr Edwards, wir danken Ihnen
an und fragte, ob ich mich auf den Weg für dieses Gespräch.
JETZT DIGITAL LESEN machen solle. Ich durfte dann zu Hause

60
Gesellschaft

Kleines Problem
cken Oberarmen. Sie lassen uns nicht aus den Augen, und
das zu Recht. Wir haben uns ja den Hass im Laufe der Jahr-
hunderte einigermaßen wegzivilisiert. Nun wütet er in 300
Seelen.
Ich stehe drei Stunden an, um ein Hotelvoucher und eine
Homestory Kaputte Maschinen, eine müde Bordkarte für den nächsten Versuch zu bekommen, UA 2740,
Crew – es kann sehr schwer sein, Abflug um 19 Uhr. Um 6 Uhr bin ich in einem Flughafenhotel,
von New York nach Berlin zu kommen. um 12 Uhr muss ich das Zimmer räumen.
Vierter Versuch: Um 13 Uhr treffe ich wieder am Flughafen
ein, wo ich als Erstes erfahre, dass der Abflug auf 20.30 Uhr

D er Plan: Von New York nach Berlin kommen, möglichst


schnell, möglichst direkt. Der Weg: Ein Flug vom Air-
port Newark nach Berlin-Tegel, mit United Airlines,
Flug UA 962, ohne Zwischenstopp, Abflug am Freitag, 4. Mai,
verschoben wurde. Ich bin müde, ich starre auf die Monitore,
New York gegen New York (Fußball), Utah gegen Houston
(Basketball), Trump gegen Stormy Daniels (Politik?).
Wahrscheinlich glaubt mir das jetzt niemand, aber kurz
um 17.50 Uhr Ortszeit, Ankunft am 5. Mai um 7.50 Uhr Orts- vor dem Boarding höre ich die Durchsage, dass auch diese
zeit. Dauer: acht Stunden. Maschine kaputt sei. Wir würden umgebucht auf Flüge unse-
Erster Versuch: Ich gehe sofort zu Gate 110, draußen steht rer Wahl. Sprachlos, fassungslos. Ich komme mir vor wie der
eine Boeing 767, weiß und blau. On time, verspricht die An- BER, ständig neue Termine, aber kein Flugbetrieb.
zeigentafel, pünktlich. Um 17.30 Uhr gehe ich an Board, Eco- Fünfter Versuch: Wir stehen wieder in einer Schlange, war-
nomy, Platz am Fenster. ten, bis uns eine von zwei Servicekräften bedient. Ich schreibe
17.50 Uhr verstreicht, 18 Uhr, 18.15 Uhr. Der Pilot sagt, es ständig Nachrichten an meine WhatsApp-Familiengruppe.
gebe ein Problem mit dem Gepäckraum, aber kein großes. Hier sind meine Einträge ab 20.04 Uhr:
Er hat eine schöne Stimme, die Vertrauen einflößt. Ich lese, Jetzt sagen sie, es gibt doch einen Ersatzflieger.
der Mann neben mir telefoniert. Wir sind nicht beunruhigt. Sagt der eine.
Wir sind ziemlich überrascht, als es plötzlich heißt, das Der andere sagt das Gegenteil.
Problem sei nicht zu beheben, die Maschine müsse aus- Das ist eine Satire.
getauscht werden. Wir verlassen das Flugzeug. Kein Gemurre, Und ich muss da mitspielen.
kann ja mal passieren. Jetzt sitze ich hier.
Zweiter Versuch: Ich setze mich an eine Bar, Weißwein, Keine Ahnung.
Calamares, auf den Monitoren läuft Fox News und Basketball. Sie sagen, dass eine neue Maschine kommt.
Gegen 21.30 Uhr sitze ich wieder im Flugzeug und lese weiter, Aber jetzt haben sie keine Crew.
»Why Liberalism Failed« von Patrick Deneen. Habe mich als Pilot gemeldet.
Irgendwann merke ich, dass es zu ruhig ist an Bord, ich Ist jetzt eh egal.
höre nicht mehr diese Geräusche, die es vor dem Start immer Die Leute schreien.
gibt, die Geschäftigkeit der Besatzung, das Klappern in den Warten.
Bordküchen. Stille. Ich sehe, wie ein kleiner Mann mit einer Die Crew kommt, alle klatschen.
giftgrünen Warnweste nach hinten geht. Der Kapitän sagt, 21.45 h heißt es.
es gebe ein kleines Problem in der hinteren Bordküche, das Wird spannend.
Licht würde flackern. Ist sicher bald behoben. Boarding.
Der Mann mit der giftgrünen Warnweste geht nach vorn, Klingt wie ein Witz.
geht wieder nach hinten. Sein Gesicht ist ernst. Ich lese, ich Bin drin.
warte. Gegen 22.45 Uhr sagt der Kapitän, wir sollten aus- Wir rollen zur Startbahn, eine Durchsage, Panik, aber es
steigen. Es gebe ein ziemlich großes Problem. Wir steigen geht gut aus, wir starten, wir fliegen.
aus, ein paar Leute murren. Auch bei dieser Maschine ist die Elektronik gestört. Wi-Fi
Dritter Versuch: Fox News. Basketball. Um 23.41 Uhr stei- funktioniert nicht, die Leselampen funktionieren nicht. Ich
ge ich wieder ein. Alles in Ordnung. Ich lese. lese im Licht meines Handys, bin aber nicht konzentriert,
Stille. weil ich mich frage, wann die Elektronik ganz ausfällt und
Wir sitzen seit eineinhalb Stunden in der Maschine und wir in den Atlantik stürzen.
wissen nicht, was los ist. Keine Ansage, nichts. Jemand sagt, Das Ende: Am 6. Mai um 11.05 Uhr Ortszeit landet UA
dass sie das Essen hätten austauschen müssen und das neue 2740 in Berlin-Tegel, mit 27 Stunden Verspätung. Mein Koffer,
Essen noch nicht an Bord sei. Wir wollen nach Hause, wir war klar, ist nicht da. Ich finde ihn bei der Gepäckermittlung,
würden Hunger in Kauf er ist mit einer anderen
nehmen. Wir warten. Maschine gekommen.
Um 2.03 Uhr ist das Es- Sechster Versuch? Am
sen verstaut, wir rollen los. Tag danach, am 7. Mai,
Es ist so schön, die Trieb- empfange ich um 8.21 Uhr
werke zu hören. Wir sind eine Mail von United Air-
an der Startbahn, gleich lines. Man teilt mir mit,
fliegen wir, noch einmal mein Flug sei abgesagt
eine Durchsage: Der Flug worden und ich würde um-
ist gecancelt, die erlaubte gebucht.
Arbeitszeit der Crew wür- Habe ich meine An-
de unterwegs ablaufen. kunft nur geträumt? Bin
Am Gate empfangen ich immer noch in New-
uns drei Polizisten mit di- ark? Dirk Kurbjuweit

DER SPIEGEL Nr. 20 / 12. 5. 2018 61


Wirtschaft
»Menschen fühlen sich viel zu sicher, wenn sie Hotelgäste sind.« ‣ S. 72

PATRIK STOLLARZ / AFP / GETTY IMAGES


Jobcenter

Tarifabschluss kostet 800 Millionen Euro


Ohne zusätzliche Mittel steht weniger Geld für die Förderung von Hartz-IV-Empfängern zur Verfügung.
 Der Bundesagentur für Arbeit (BA) und den kommunalen von 800 Millionen wurde in der letzten Sitzung des BA-Ver-
Trägern von Jobcentern könnten in den nächsten zweieinhalb waltungsrates genannt. Seit Jahren fließt bei der BA immer
Jahren insgesamt rund 800 Millionen Euro für die Eingliede- mehr Geld aus dem Budget für Eingliederung, das eigentlich
rung von Hartz-IV-Empfängern in den Arbeitsmarkt fehlen. etwa für die Förderung von Langzeitarbeitslosen vorgesehen
Grund dafür ist der Tarifabschluss im öffentlichen Dienst, der ist, in Verwaltungsausgaben. 2017 waren dies rund 911 Millio-
die mehr als 400 Jobcenter in Deutschland diese Summe kos- nen Euro, fast ein Viertel des Etats für Eingliederung. BA-
ten wird. Weil bislang etwa für die BA im Bundeshaushalt kei- Chef Detlef Scheele beklagt seit Längerem das Missverhältnis.
ne zusätzlichen Mittel für die steigenden Lohnkosten vorgese- Von dem Geld, das die BA für die Grundsicherung erhält, gin-
hen sind, wird sie Mittel für die »Eingliederung in Arbeit« gen 2017 rund 41 Prozent in die Eingliederung von Hartz-IV-
von Hartz-IV-Empfängern umschichten müssen. Die Summe Empfängern und 59 Prozent in Verwaltungsausgaben. MAD

Öl- und Gasförderung von fast 19 Prozent. Zum Vergleich: Im Weltmärkten. In den USA hat die Pro-
Mehr als 1000 Bohrtürme Nahen Osten legte die Anzahl in dieser duktion vor allem in Texas stark zuge-
Zeit nur um rund zwei Prozent zu, in nommen, heute arbeiten dort fast ein
in den USA Europa sank sie um drei Prozent. Bei vier Drittel mehr Pumpen als vor einem Jahr.
von fünf US-Projekten handelt es sich um Insgesamt fördern die Vereinigten Staa-
 Erstmals seit Jahren ist die Zahl der Öl- Bohrungen nach Erdöl, der Rest zielt auf ten so viel Öl wie seit Anfang der Siebzi-
und Gasbohrungen in den USA über die Gas ab. Vor einem Jahrzehnt förderten gerjahre nicht mehr, sie sind zur weltgröß-
1000er-Marke geklettert. Im April zählte die Energiekonzerne noch überwiegend ten Fördernation aufgestiegen. Damit pro-
der Förderdienstleister Baker Hughes Erdgas. Die von Baker Hughes ermittel- fitieren die USA am meisten davon, wenn
1011 Bohrstellen, 158 mehr als im Vorjah- ten Zahlen gelten als wichtiger Indikator es im Fall von Sanktionen gegen Iran
resmonat; das entspricht einem Zuwachs für das künftige Rohstoffangebot auf den demnächst an Rohstoff fehlen sollte. AJU

62
Luftfahrt maligen Geschäfts der pleitegegangenen Dieselaffäre
»Die Preise bleiben erst Air Berlin und von Monarch in Großbri- Bosch will Beweise
tannien wird der Markt neu aufgeteilt,
einmal niedrig« und alle wollen sich positionieren. Daher nicht herausrücken
ist der Wettbewerb um Crews und Flug-
Christoph Debus, 47, zeuge tatsächlich stark wie selten zuvor.  Der Autozulieferer Bosch legt sich
Chef der Flugsparte Wir gehen aber davon aus, dass sich dies mit dem Stuttgarter Landgericht an.
des zweitgrößten bald wieder normalisiert. Dort klagen Anleger gegen den VW-
europäischen Reise- SPIEGEL: Was bedeutet das für die Flug- Konzern, die sich geschädigt fühlen,
QUELLE XING

veranstalters Thomas preise? weil VW zu spät über die Manipulation


Cook (unter anderem Debus: Wo Wettbewerb herrscht, wird von Dieselmotoren informiert habe.
Condor), über den der Konkurrenzdruck weiterhin dazu füh- Der Richter Fabian Richter Reuschle
aktuellen Preiskampf ren, dass die Preise erst einmal niedrig hatte Bosch aufgefordert, dem Gericht
und Personalwettbewerb in der Luftfahrt- bleiben. Wir sehen Überkapazitäten in mehrere heikle Dokumente zur Verfü-
branche der Branche. Die Anzahl der Flugzeuge gung zu stellen. Sie sollen helfen aufzu-
und Bestellungen in Europa wächst mit klären, ab wann Führungskräfte bei
SPIEGEL: Lufthansa-Chef Carsten Spohr rund sechs Prozent pro Jahr. Allein in VW von illegalen Abschalteinrichtun-
sagt, der weltweite Luftverkehr stoße Deutschland ist die Kapazität auf touristi- gen für die Abgasreinigung gewusst ha-
gerade an Wachstumsgrenzen. Sehen Sie schen Flugrouten im Vergleich zum vori- ben. Bosch verweigert die Herausgabe
das auch so? gen Sommer um acht Prozent gestiegen – der Dokumente und beruft sich auf das
Debus: Nein. Die vergangenen Jahrzehn- trotz des Marktaustritts von Air Berlin.
te haben gezeigt, dass der Luftverkehr SPIEGEL: Lufthansa-Chef Spohr meint,
immer deutlich über dem Bruttoinlands- die Preise würden sich stabilisieren.
produkt gewachsen ist. Wir gehen davon Debus: Das sehe ich noch nicht. Die
aus, dass diese Entwicklung sich fortsetzt. Insolvenzen von Air Berlin und anderen
Wachstumsgrenzen sehe ich dort, wo ein- Airlines zeigen, dass die Konsolidierung
zelne Flughäfen an Kapazitätsgrenzen in Europa Fahrt aufnimmt, aber sie
stoßen. Eng könnte es auch in Märkten beginnt erst. Aktuell stehen Alitalia und
werden, wo eine oder wenige Airlines Norwegian vor Übernahmen. Langfristig
eine dominierende Stellung erlangt haben. hoffe ich, dass die europäische Luftfahrt

JÖRG EBERL / DDP IMAGES


SPIEGEL: Bei der Lufthansa mangelt es sich ähnlich entwickelt wie in den USA.
nach Aussagen von Spohr zurzeit an Dort haben vier große Fluglinien 80 Pro-
Personal und Jets. Spüren Sie das auch? zent Marktanteil. Das würde auch unse-
Debus: Aktuell erleben wir eine Sonder- rer notorisch margenschwachen Airline-
situation. Nach der Aufteilung des ehe- Industrie helfen, zu gesunden. DID

Bosch-Chef Volkmar Denner

Wirtschaftspolitik vorangingen, zeigten die IWF-Vertreter Zeugnisverweigerungsrecht. Das Unter-


IWF schlägt Entlastung Verständnis für den anhaltend hohen Leis- nehmen hat VW mit Software für die
tungsbilanzüberschuss Deutschlands, den Motorsteuerung und Abgasreinigung
der Bürger vor sie in den vergangenen Jahren stets kriti- beliefert. Weil die Software womöglich
siert hatten. Die US-Steuerreform mit illegal zur Manipulation genutzt wurde,
 Entgegen seiner bisherigen Linie rät der ihren Entlastungen in Billionenhöhe trage ermittelt die Staatsanwaltschaft Stutt-
Internationale Währungsfonds (IWF) dazu bei, dass sich die Schieflagen im gart auch gegen Bosch-Mitarbeiter. In
unter seiner Chefin Christine Lagarde der Welthandel verfestigten, argumentieren Amerika laufen ebenfalls Verfahren.
Bundesregierung davon ab, ihren finan- die IWF-Abgesandten. Der IWF gibt all- Bei den eingeforderten Dokumenten
ziellen Spielraum für mehr Investitionen jährlich wirtschaftspolitische Empfehlun- handelt es sich unter anderem um E-
zu nutzen. In der gegenwärtigen wirt- gen für seine Mitgliedsländer ab. REI Mails zwischen Mitarbeitern von Bosch
schaftlichen Situation würden zusätzli- und VW aus dem Jahr 2007, in denen
che Infrastrukturausgaben nur zur Über- es offenbar um illegale Abschalteinrich-
hitzung der Konjunktur beitragen, heißt tungen (»defeat device«) ging. Außer-
es in den wirtschaftspolitischen Empfeh- dem will Richter Reuschle einen Brief
lungen des IWF für Deutschland, die am von Bosch an VW vom 2. Juni 2008
Montag vorgestellt werden. Die Exper- sehen, in dem die Stuttgarter VW bit-
ten aus Washington plädieren jedoch ten, sie von der Haftung freizustellen,
dafür, dass die Bundesregierung im beste- die sich aus einer behördlichen Einstu-
henden Etatrahmen staatliche Konsum- fung der Software als »defeat device«
ausgaben zugunsten von Investitionen ergeben könnte. Am 13. Juni wird vor
zurückfährt. So könnten die Wachstums- Gericht gestritten, ob Bosch die Unter-
möglichkeiten Deutschlands verbessert lagen herausgeben muss. Im September
werden. Angesichts von stetig steigenden beginnt die eigentliche Verhandlung.
Steuereinnahmen und gut gefüllter So- Die Kläger haben Manager und Ex-
THOMAS IMO

zialkassen solle die Bundesregierung die Manager beider Konzerne als Zeugen
Bürger zudem nachhaltig entlasten. In beantragt. Bosch äußert sich unter Ver-
den Konsultationen mit Regierung und weis auf laufende Ermittlungsverfahren
Bundesbank, die den Empfehlungen Lagarde, Finanzminister Olaf Scholz nicht zu dem Sachverhalt. MHS

DER SPIEGEL Nr. 20 / 12. 5. 2018 63


Wirtschaft

Täuschen und vertuschen


Autoindustrie Dass die amerikanischen Staatsanwälte so hart mit VW und dessen Ex-Chef
Martin Winterkorn umspringen, hat sich der Konzern selbst zuzuschreiben: Er hat es bis
heute versäumt, die Dieselaffäre richtig aufzuarbeiten und die nötigen Konsequenzen zu ziehen.

E
nde April reiste der neue VW- tag, der Konzern dürfe sich »nicht immer zahlen. Zwei VW-Manager wurden vor
Chef Herbert Diess zu einem An- wieder angreifbar machen«. US-Gerichten in Hand- und Fußfesseln
trittsbesuch in die USA. In Atlanta Nur wenige Stunden später passierte vorgeführt und sitzen mittlerweile im Ge-
empfing ihn ein freundlicher Herr genau das: Der Konzern wurde attackiert, fängnis, verurteilt zu mehr als drei Jahren
Anfang siebzig, der stets elegante Anzüge weil er sich angreifbar gemacht hatte. Aus- und zu sieben Jahren Haft.
trägt – und eine heikle Mission verfolgt: gerechnet am Abend der Aktionärsver- Seither war es ruhig geworden um die
Larry Thompson ist eine Art Bewährungs- sammlung verkündete die US-Justiz, sie Dieselaffäre. Das Management demons-
helfer für Volkswagen. Im Auftrag des US- habe Anklage gegen Martin Winterkorn trierte business as usual, das Schlimmste
Justizministeriums überwacht er den Auto- erhoben, Diess’ Vorvorgänger als VW- schien überstanden: Die Geschäfte laufen
hersteller aus Wolfsburg, um einen weite- Chef. Die Behörden drohten Winterkorn blendend – als hätte es den Betrug an Milli-
ren Dieselskandal zu verhindern. mit bis zu 25 Jahren Haft. »Wer versucht, onen Kunden nie gegeben.
Thompson erwartet von Vorstandschef die Vereinigten Staaten zu betrügen, wird Doch nun ist die »Dieselthematik«, wie
Diess, dass der großen Worten wie »Inte- einen hohen Preis zahlen«, sagte Justizmi- die Verantwortlichen die Affäre vernied-
grität« und »Kulturwandel« endlich Taten nister Jeff Sessions. lichend nennen, wieder zurück. Der Druck
folgen lässt. Nach Ansicht des US-Juristen Für Volkswagen ist der Vorstoß der auf die deutschen Ermittler wächst, ihrer-
hat Gesetzestreue bei den 640 000 VW- Amerikaner mehr als peinlich. Der Kon- seits hart durchzugreifen. Geschädigte An-
Mitarbeitern noch immer nicht die nötige zern hatte Winterkorn im September 2015 leger und Dieselfahrer schöpfen neue Hoff-
Priorität. Auch fordert er mehr sichtbare zwar zum Rücktritt gedrängt, ihn aber in nung auf Schadensersatzzahlungen. Mög-
personelle Konsequenzen. allen Ehren verabschiedet. Der Aufsichts- licherweise muss der Konzern nachholen,
Der Druck auf Diess ist gewaltig: Kann rat erklärte gar, »dass Herr Professor Dr. was er von Anfang an zu vermeiden ver-
er die Forderungen des US-Aufpassers Winterkorn keine Kenntnis hatte von der sucht hat: einen wirklichen Neuanfang.
nicht erfüllen, hat VW ein Problem. Dann Manipulation von Abgaswerten«. Bis heu- Der Wille, den Skandal tatsächlich auf-
drohen dem Konzern weitere Ermittlun- te hält der Konzern an der Version fest: zuklären, mit den Behörden zu kooperie-
gen in den USA, an deren Ende womöglich Kein Vorstandsmitglied sei in die Abgas- ren und die betrogenen Kunden zu ent-
schmerzhafte Geldstrafen stehen. affäre verwickelt. Nun muss sich der Kon- schädigen, war bei VW nie zu erkennen.
Seit seinem Amtsantritt im April insze- zern von der US-Justiz vorhalten lassen, Das große Täuschen und Vertuschen be-
niert sich Diess als Aufklärer. In Brand- der Dieselbetrug reiche »den ganzen Weg gann schon an dem Tag, an dem die Um-
reden vor Führungskräften fordert er, VW bis an die Spitze des Unternehmens«. weltbehörden in den USA die Manipula-
müsse »ehrlicher, offener, wahrhaftiger« Rund 25 Milliarden Euro musste VW in tion der Dieselmotoren öffentlich gemacht
werden. Seinen Aktionären sagte der Vor- den USA bislang für Strafen und Schadens- hatten. Es war Freitag, der 18. September
standsboss am vorvergangenen Donners- ersatzzahlungen wegen des Dieselbetrugs 2015, als die amerikanischen Behörden
eine zunächst dürre Presseerklärung ver-
breiteten, in der Volkswagen Abgasmani-
pulation bei Dieselfahrzeugen vorgewor-
fen wurde.
In Wolfsburg trommelte VW-Chef Win-
terkorn eine Runde von rund 30 Spezia-
listen zusammen. Juristen, Manager und
Ingenieure von VW und den größten Toch-
terfirmen mussten sich am Sonntag in aller
Frühe in Wolfsburg einfinden. Unter Lei-
tung von Juristen wollten Winterkorn und
MANUEL BALCE CENETA / PICTURE ALLIANCE / AP / DPA

der damalige Finanzvorstand Hans Dieter


Pötsch eine Bestandsaufnahme machen.
Die Ergebnisse waren ernüchternd.
»Schon nach kurzer Zeit war klar, dass
nicht nur die in den USA montierten Autos
betroffen waren«, erinnern sich Teilneh-
mer. Techniker berichteten von ähnlichen
Abschalteinrichtungen und möglicher-
weise illegalen Eingriffen in die Abgasrei-
nigung auch bei europäischen Fahrzeugen.
Selbst der Vorzeige-Dieselmotor des Kon-
zerns, der Drei-Liter-TDI, könnte ins Vi-
FBI-Ermittler Timothy Slater: Dieselbetrug reiche »bis an die Spitze des Unternehmens« sier der Behörden geraten, führten die

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STEFAN THOMAS KROEGER / LAIF

Konzernlenker Winterkorn 2014: »Mensch, warum habt ihr mir das nicht gesagt?«

DER SPIEGEL Nr. 20 / 12. 5. 2018 65


Dieselkrise Wie ein Autohändler aus New Jersey Volkswagen Amerikaner kennt noch den Werbespot
sein Leben widmete – und nun mit der Marke leidet von vor ein paar Jahren, in dem eine
Ökopolizei die Autonation Amerika

Alte Liebe rostet


drangsaliert: Alle Wagen werden von ihr
gestoppt, nur ein weißer Audi nicht –
weil er so sauber ist.
Die USA sind auch das Land, in dem
es VW nun an den Kragen geht. Der
 Mit seiner Frau Betty ist Kenneth Gen- Großvater war ein Auswanderer aus dem neue Konzernchef Herbert Diess hatte
singer seit 60 Jahren zusammen, in ihrer Schwarzwald. vor der US-Justiz ausgesagt, sein Vor-
Firma sitzen sie nebeneinander, Schreib- Kenneth Gensinger ist Volkswagen, vorgänger Martin Winterkorn wurde
tisch an Schreibtisch im holzverkleideten 6000 Kilometer von Wolfsburg entfernt. wegen Betrugs angeklagt. Ein Artikel
Büro. Seine zweite große Liebe, die zu Umso mehr hat ihn der Dieselskandal über Winterkorn liegt auf Gensingers
Volkswagen, währt sogar noch länger; erschüttert. Finanziell wie persönlich. Schreibtisch, er hat ihn vor ein paar
zuletzt hat sie ihn, anders als Betty, eher Seit im September 2015 bekannt wur- Tagen aus dem »Wall Street Journal«
traurig gemacht. de, dass VW systematisch Abgaswerte ausgeschnitten, kopiert und das Datum
Gensinger ist VW-Händler in Clifton, manipuliert hat, ist Gensingers Geschäft draufgeschrieben. Er macht das manch-
New Jersey, sein Autohaus liegt am eingebrochen, um ein Drittel, wie er sagt. mal, wenn er irgendwo etwas über VW
Stadtrand, neben der Route 46. Er hat Ihm fehlen die Dieselkäufer. Wer ressour- liest, gleich ob Niederlage oder Triumph.
es von seinem Vater übernommen, der censchonend fahren will, entscheidet sich Kommentieren will er den Text nicht. Er
seit 1950 verschiedene Marken führte jetzt vielleicht eher für einen Tesla. will nicht schlecht reden über »Dr. Win-
und später ausschließlich Volkswagen. Hunderte seiner Kunden haben ihren terkorn« oder das Management, »ich
Seit seiner Schulzeit arbeitet Gensinger Diesel seither zurückgebracht, Gensinger habe großen Respekt vor ihnen«. Aber
hier, unterbrochen von drei Jahren Mili- hat ihnen ihr Geld erstattet. Bis heute kom- sich abzugrenzen wird wohl noch
tärdienst bei den Marines. Drei seiner men welche, manchmal drei pro Woche. erlaubt sein. »Sie haben ihre Entschei-
vier Kinder sind bei ihm angestellt, der Den letzten Diesel hat er im Februar vori- dungen getroffen, wir kümmern uns um
Chef ist mit 80 Jahren immer noch er, gen Jahres verkauft, einen Touareg, er hat unsere. Wir sind nur der Händler, wir
ein zackiger, aber höflicher Senior. jetzt nur noch Benziner da. haben damit nichts zu tun.« Haben sie
Wäre VW ein Staat, dann wäre Gen- Gensinger hätte allen Grund, auf VW überhaupt am selben Strang gezogen, all
singer der ideale US-Botschafter. Er hat zu schimpfen, auf die deutschen Mana- die Jahre, er und der Konzern?
einen Käfer von 1950 in der Garage ger und ihre kriminelle Energie. Vermut- 644 VW-Händlern in den USA hat
und gern eine Porsche-Mütze auf dem lich tut er es gelegentlich. Jetzt sagt er Volkswagen Schadensersatz gezahlt für
Kopf. In seinem Verkaufsraum hängt nur: »Ich bin enttäuscht. Das hätte ich die Einbußen, die sie durch den Diesel-
das Wappen der Stadt Wolfsburg, nicht gedacht. Es tut weh.« skandal erlitten haben. 1,21 Milliarden
Stammsitz von VW, es zeigt einen Wolf Volkswagen war ein Mythos, auch in Dollar bekamen sie insgesamt. Gensinger
auf einer Burgmauer. Gensinger war den USA. Und ein Versprechen. Mehr hat von der Entschädigung sein Geschäft
dort, mehrmals, zuletzt 1987. »Deutsche noch als in Deutschland wurde hier pro- modernisiert. Ein neuer Tresen, ein neu-
Autos sind die besten«, sagt er. Er pagiert, wie umweltfreundlich Dieselau- er Warteraum für die Kunden, mit Kaf-
selbst ist auch ein wenig deutsch, sein tos von VW und Audi seien. Fast jeder feemaschine. LED-Leuchten, neue
Waschanlagen, die Wände frisch gestri-
chen. Nur das Vertrauen der Kunden, das
lässt sich nicht mit Geld erwerben.
Gensinger sagt, die Zeiten seien hart.
Aber das seien sie immer wieder gewe-
sen. Etwa 1998, als die ersten New Beet-
les auf den Markt kamen und die Nach-
frage so riesig war, dass Kunden sechs
Monate auf ihren Wagen warten muss-
ten, manche ein Jahr.
Krisen kommen, Krisen gehen. Auch
diesmal? Gensinger sagt: »Wir stehen
immer noch für Qualität.«
Vor seinem Betrieb entsteht eine wei-
tere Straße. Gensinger freut sich darauf,
auch weil dann die Bäume weichen, die
sein Autohaus verdecken. In drei Jahren
soll alles fertig sein. Wenn es nach ihm
ginge, hieße der Chef hier dann immer
noch Kenneth Gensinger.
BEN SKLAR / DER SPIEGEL

Was würde er »Dr. Winterkorn« gern


sagen, wenn er ihn träfe? »Das wird
nicht passieren«, sagt Gensinger. »Käme
er in die USA, würde er sofort verhaf-
tet.« Es ist nicht klar, ob es salomonisch
gemeint ist. Oder sarkastisch.
VW-Händler Gensinger: Sich abzugrenzen wird wohl noch erlaubt sein Alexander Kühn

66
Wirtschaft

Dass es so weit kam, hat auch der Auf-


sichtsrat zu verantworten. Das Kontroll-
gremium wird beherrscht von den Fami-
lien Porsche und Piëch, sie besitzen mehr
als 50 Prozent der stimmberechtigten
Stammaktien des Konzerns. Ohne sie geht
nichts im VW-Konzern. Und mit ihnen oft
das Falsche.
Seit dem Abgang des allmächtigen Fer-
dinand Piëch vertreten Wolfgang Porsche
und Hans Michel Piëch den Clan im Auf-
sichtsrat, sie sind mit dieser Aufgabe of-
fensichtlich überfordert. Das zeigte sich
schon, als nach Winterkorns Rücktritt die
beiden wichtigsten Posten im Unterneh-
men neu besetzt werden mussten, der des
LUCY NICHOLSON / REUTERS

Konzernchefs und der des Aufsichtsrats-


vorsitzenden.
Das Kontrollgremium wurde damals für
eine Übergangszeit vom einstigen IG-
Metall-Chef Berthold Huber geleitet. Er
brachte Erfahrung mit, hatte im Aufsichts-
VW-Dieselautos in den USA: Wahrheit nur scheibchenweise präsentiert rat von Siemens gesessen, als der Münch-
ner Konzern seinen Bestechungsskandal
aufarbeiten musste. Der Gewerkschafter
Techniker aus. Insgesamt, so das Resümee ließen die Clearing-Stelle nach Zeugen- sorgte bei Siemens mit dafür, dass die Er-
des Krisentreffens, das von neun Uhr mor- angaben in abgemilderter Form: gekürzt mittlungen vorangetrieben und weite Teile
gens bis in den späten Abend andauerte, und ohne jene Schlüsselworte, die Exper- des Führungspersonals ausgetauscht wur-
könnten weltweit bis zu elf Millionen Fahr- ten illegale Funktionen signalisieren. den. Siemens führte Kontrollsysteme ein,
zeuge betroffen sein. Für viele Manager und Techniker im die schwarze Kassen in Zukunft verhin-
Winterkorn habe an jenem Tag erstmals Konzern war das ein Zeichen, dass eine dern sollen. Das überzeugte offenbar auch
von den illegalen Abschalteinrichtungen wirkliche Aufklärung und ein ehrlicher die US-Justiz, die sich mit Strafzahlungen
und den Eingriffen in die Abgasreinigung Umgang mit Autokäufern und Behörden von 800 Millionen Dollar zufriedengab.
gehört, heißt es in einer mehr als 700-sei- nicht gewollt waren. Statt mit den US-Er- Huber forderte, dass VW den Siemens-
tigen Erwiderung des VW-Konzerns auf mittlern zu kooperieren und geringe Stra- Weg geht, konsequent aufklärt und Ver-
eine Sammelklage von VW-Aktionären. fen auszuhandeln, wie es Konkurrenten antwortliche entlässt. Den Aufsichtsrat
Er sei überrascht gewesen. »Mensch, wa- erfolgreich praktiziert hatten, versuchte müsse einer führen, der nicht aus dem
rum habt ihr mir das nicht gesagt?«, soll VW, den Betrug weiter zu verheimlichen. Konzern komme. Nur so könne man
er einen Techniker gefragt haben. Ende November hatten die US-Behör- Glaubwürdigkeit zurückgewinnen. Doch
Gleichzeitig erging der Auftrag an die den einen neuen Anhörungstermin nahe der Gewerkschafter stieß auf Widerstand,
Ingenieure und verantwortlichen Manager, Detroit angesetzt, kurz zuvor soll sich ein vor allem bei den Familien Porsche und
aufzuarbeiten, welche Modelle und Moto- weiteres Gremium über die von den Tech- Piëch. Sie vertrauen nur Managern, die
ren betroffen seien und ob es weitere Un- nikern zu diesem Anlass gefertigten Prä- sie schon lange kennen, und setzten durch,
regelmäßigkeiten gebe. Das geschah offen- sentationen hergemacht haben. Ihm ge- dass Hans Dieter Pötsch, als Finanzvor-
bar auch, weil die US-Behörden weiter un- hörten Juristen, aber auch Topmanager stand lange hinter Winterkorn die Num-
angenehme Fragen stellten und neue An- wie Audi-Chef Rupert Stadler und Por- mer zwei im Konzern, zum Vorsitzenden
hörungstermine anberaumen wollten. sche-Manager Michael Steiner an. Als sie des Aufsichtsrats befördert wurde.
Dieser Tag, sagt ein Teilnehmer, hätte mit ihrem Werk fertig waren, soll von dem Pötsch soll aufklären, wer für den Die-
der Beginn einer ehrlichen Aufklärung AdBlue-Betrug so gut wie nichts mehr zu selbetrug verantwortlich ist. Der Aufsichts-
sein können. erkennen gewesen sein. ratschef Pötsch muss also auch feststellen,
Doch als zwei Tage später die ersten Prä- Auch das sagten Zeugen vor der Staats- ob der Finanzvorstand Pötsch die Anleger
sentationen und Aufstellungen im Konzern anwaltschaft in München aus. Gegen Por- rechtzeitig informierte. Und er muss mit-
und in der eingesetzten Clearing-Stelle sche-Mann Steiner wurde auch deshalb entscheiden, ob der Konzern von Mana-
eintrafen, muss jemand der Mut verlassen ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Stei- gern Schadensersatz fordert, unter ande-
haben. Denn tatsächlich hatten die Ingeni- ner bestreitet genau wie Stadler, an sol- rem von Pötsch selbst.
eure ihren damaligen Kenntnisstand relativ chen Vertuschungen beteiligt gewesen zu Das ist absurd. Mit dieser Personalent-
offen zusammengetragen. Audi etwa mel- sein. In VW-Kreisen heißt es, die Vorgänge scheidung war klar, dass es die stets ver-
dete den Einsatz einer zweifelhaften Do- seien von Anwaltskanzleien geprüft wor- sprochene lückenlose Aufklärung nicht ge-
sierstrategie von AdBlue bei Dieselfahr- den und hätten sich nicht bestätigt. ben kann. Selbst als die Staatsanwaltschaft
zeugen. Das zumindest haben Zeugen bei Fakt ist, dass VW fortan in Widersprü- Braunschweig Ermittlungen gegen Pötsch
der Staatsanwaltschaft in München ausge- chen gefangen war, die Manager gaben nur wegen des Verdachts der Marktmanipula-
sagt, die seit einem Jahr gegen Audi er- zu, was ohnehin nicht mehr zu verbergen tion aufnahm, korrigierten die Familien
mittelt. Auch bis dahin nicht bekannte Ab- war. Die US-Behörden fühlten sich von Porsche und Piëch ihre Entscheidung nicht.
schaltvorrichtungen sollen in den darauf- dem Autobauer hintergangen. Sie agierten Pötsch bestreitet die Vorwürfe.
folgenden Wochen bekannt geworden sein. deshalb bei Managern wie Winterkorn ri- Ebenso verbissen halten die Familien
Doch so genau wollte das bei VW of- gider als üblich, die Strafen für den Kon- an Audi-Chef Rupert Stadler fest, einem
fenbar niemand wissen, die Papiere ver- zern erreichten ebenfalls Rekordmarken. engen Vertrauten, der im Nebenjob als

DER SPIEGEL Nr. 20 / 12. 5. 2018 67


Wirtschaft

Vorstand bei drei Privatstiftungen von Fer- Die Abgasaffäre bei Volkswagen hüllt hat. Die »Auffälligkeiten« seien von
dinand und Hans Michel Piëch wirkte. Die den eigenen Ingenieuren entdeckt und an
2008
Marke Audi führt Stadler seit über zehn das KBA gemeldet worden, behauptete
In den USA werden die ersten VW-»Clean Diesel«
Jahren. Er ist also verantwortlich für den mit Betrugssoftware verkauft. ein Sprecher der VW-Tochter.
Dieselbetrug mit Audi-Motoren, ganz gleich, In Verkehrsministerium und KBA sind
ob er davon gewusst hat oder nicht. Aber 2014 die Beamten empört über die in ihren Au-
was heißt schon Verantwortung im VW- Eine Studie eines US-Forschungsinstituts und gen »dreiste« Darstellung der Ereignisse.
Konzern? Stadler wurde vor wenigen Wo- der Universität West Virginia deckt erhöhte Vielmehr habe Audi erst reagiert, als der
Emissionswerte bei einigen Volkswagen-
chen noch befördert. Er steuert jetzt zu- Betrug aufzufliegen drohte. Sie hatten am
Modellen in den USA auf.
sätzlich den Vertrieb aller Marken. 24. April eine Sonderprüfung des A6 an-
Und Gewerkschafter Huber? Er musste September 2015 gemeldet. Diese Ankündigung verursachte
sich von Kollegen im Aufsichtsrat als Nach Veröffentlichungen der US-Umweltbehörde ganz offensichtlich hektische Betriebsam-
»Rambo« beschimpfen lassen, weil er ra- EPA räumt VW den Betrug ein. Weltweit seien keit bei Audi. Drei Tage später soll das Ma-
dikal aufräumen wollte. Am vergangenen elf Millionen Dieselautos betroffen. Volkswagen- nagement die Auslieferung gestoppt ha-
Chef Martin Winterkorn tritt zurück, Porsche-
Mittwoch verließ Huber aus Altersgrün- Chef Matthias Müller wird Konzernleiter. ben. Wieder drei Tage später schickte das
den den Audi-Aufsichtsrat, in dem er KBA einen Fragebogen an Audi.
mehrfach vergebens die Ablösung Stadlers Dezember 2015 Dann herrschte erst einmal Stille, bis
gefordert hatte. VW kündigt den Start einer bundesweiten Rück- sich am 4. Mai in der Flensburger Behörde
Wie Chefkontrolleur Pötsch die Aufklä- rufaktion für 2,4 Millionen Dieselfahrzeuge an. ein Audi-Manager kleinlaut meldete und
rung der Dieselaffäre betreibt, zeigt sich Januar 2016 erklärte, bei dem betreffenden Modell
im Umgang mit den Ermittlungsergebnis- Das US-Justizministerium reicht Schadens- seien »Auffälligkeiten« entdeckt worden.
sen der beauftragten US-Kanzlei Jones ersatzklage gegen Volkswagen, Audi und Was wohl bedeutet: Weit über zwei Jahre
Day. Im Vorstand forderten zunächst eini- Porsche in Höhe von 46 Milliarden Dollar ein. nach Ausbruch des Dieselskandals liefert
ge, sie zu veröffentlichen. Ansonsten, argu- Oktober 2016 der VW-Konzern immer noch Autos aus,
mentierten sie, werde VW sich dem Vorwurf Ein Gericht genehmigt den Vergleich zwischen die illegale Abschalteinrichtungen in der
aussetzen, man habe etwas zu verbergen. Volkswagen und US-Kunden in Kalifornien, der Motorsteuerung enthalten.
Doch es kam anders. Volkswagen ver- VW in den USA bis zu 16,5 Milliarden Dollar Die Münchner Staatsanwaltschaft hat
öffentlichte keinen Bericht – obwohl kosten könnte. ihre Ermittlungen gegen Audi schon vor
Pötsch im Dezember 2015 versprochen Januar 2017 einigen Monaten ausgeweitet. Zunächst
hatte: »Alles kommt auf den Tisch, nichts VW vereinbart mit den US-Aufsichtsbehörden hatte sie nur wegen der in den USA aufge-
wird unter den Teppich gekehrt.« eine Strafzahlung von 4,3 Milliarden Dollar. tauchten Vorwürfe ermittelt. Vieles sah
Später überraschte Pötsch seine Aktio- Juni 2017 nach einer Routineuntersuchung aus, zu-
näre mit der Aussage, es gebe gar keinen Bundesverkehrsminister Dobrindt macht publik, mal das Kraftfahrt-Bundesamt unter dem
Abschlussbericht, der veröffentlicht wer- dass auch bei den Audi-Modellen A7 und A8 damaligen Verkehrsminister Alexander
den könnte. Das habe »rechtliche Grün- illegale Software eingesetzt wurde, und ordnet Dobrindt (CSU) den Ermittlern signalisier-
de«, eine Veröffentlichung sei »unvertret- ein Rückrufprogramm an. te, in Deutschland sei alles in bester Ord-
bar riskant« – nicht zuletzt wegen der vie- nung, und alle Fahrzeuge des Konzerns
Juni 2017
len Zivilverfahren und behördlichen Er- Ein im Auftrag des SPIEGEL vorgenommener
besäßen einwandfreie Zulassungen.
mittlungen, die weltweit gegen VW liefen. Labortest eines Porsche Cayenne offenbart Doch dann sagten Zeugen aus, dass der
Pötschs Rückzieher war das Eingeständ- einen unzulässigen Schaltmodus zur Erken- Dieselbetrug bis in die Spitze des Kon-
nis, dass VW kein Interesse an umfassen- nung einer Abgastestsituation. zerns bekannt gewesen sei, dass Spitzen-
der Aufklärung hat. Zu viel Transparenz manager bei Audi die jeweiligen Abteilun-
Juli 2017
würde den Konzern womöglich teuer zu Interne Dokumente von Audi legen nahe, dass gen angewiesen hätten, illegale Funktio-
stehen kommen. Der Konzern hält es für sich deutsche Autobauer über die Größe der nen in die Autos einzubauen, und dass der
»unerlässlich, den Schutz der Unterneh- AdBlue-Tanks abgesprochen haben. gesamte Skandal nach seiner Aufdeckung
mensinteressen zu priorisieren«. in den USA professionell vertuscht werden
November 2017
Lediglich eine grobe Abhandlung der sollte. Im März 2017 durchsuchten die
VW muss einen unabhängigen Sonderprüfer
Dieselaffäre (»Statement of Facts«), ver- akzeptieren, der die Vorgänge um die wo-
Münchner Staatsanwälte zudem die Audi-
fasst von der US-Justiz, wurde ins Internet möglich zu späte Information der Kapitalmärkte Konzernzentrale und beschlagnahmten da-
gestellt. Darin heißt es gleich zu Beginn, über den Abgasskandal beleuchten soll. bei auch Akten der US-Kanzlei Jones Day.
das Dokument enthalte »nicht alle Fak- Und VW? Der Konzern zog gegen die
ten«, die VW oder dem Justizministerium Februar 2018 Verwertung der Unterlagen bis vor das
bekannt seien. Der Konzern machte sich Brisante Dokumente belasten Ex-VW-Chef Bundesverfassungsgericht.
Winterkorn, der demnach bereits 2014 detailliert
nicht einmal die Mühe, das Statement ins über den Verstoß gegen US-Abgasvorschriften Die Münchner Staatsanwälte spornte
Deutsche zu übersetzen. unterrichtet wurde — mehr als ein Jahr vor die harsche Reaktion aus Wolfsburg offen-
Dass der Konzern kein Interesse an Aufdeckung des Skandals. bar an. Mehrfach durchsuchten sie in den
wahrer Aufklärung hat, bekam auch die vergangenen Monaten Privaträume von
April 2018
Bundesregierung zu spüren, ihr wurde die Managern und Produktionsstätten von
Chef-Wechsel bei VW: Müller muss gehen,
Wahrheit ebenfalls nur scheibchenweise Markenchef Herbert Diess kommt.
Audi. Sie sperrten den ehemaligen Audi-
präsentiert. Und daran hat sich bis heute Motorenentwickler Giovanni Pamio und
nichts geändert. Mai 2018 den ehemaligen Porsche-Vorstand und
Immer noch versuchen die Verantwort- Es kommt heraus, dass die US-Justiz bereits im Müller-Vertrauten Wolfgang Hatz mona-
lichen bei VW, mit den Beamten des Kraft- März Anklage gegen Winterkorn erhoben hat. telang in U-Haft und arbeiteten sich durch
fahrt-Bundesamtes (KBA) Katz und Maus Mai 2018 Hunderte Festplatten und E-Mails.
zu spielen, selbst im Falle der Abgasmani- Eine neue Betrugssoftware in den Modellen Inzwischen, heißt es in Justizkreisen,
pulationen am aktuellen Modell des Audi Audi A6 und A7 wird bekannt, die Fahrzeug- glaube man, dass der Betrug nicht die Tat
A6, die der SPIEGEL in dieser Woche ent- auslieferung wird gestoppt. einiger Angestellter und Techniker im mitt-

68
Für geschädigte Autokäufer und VW-
Aktionäre, die von dem Konzern Scha-
densersatz fordern, sind die Aktivitäten
der Ermittler in den USA und in Deutsch-
land gute Nachrichten.
»Wir fühlen uns bestätigt, weil die ame-
rikanischen Behörden der Anklage zufolge
offenbar davon ausgehen, dass schon seit
Mai 2006 auch die Führungsebene bei VW
von der Verschwörung wusste oder sie so-
gar betrieben hat«, sagt der Anwalt An-
dreas Tilp, der den Musterkläger im Scha-
densersatzprozess geschädigter VW-Ak-
tionäre vertritt.
Die US-Anklage hat VW wieder in die
Defensive gebracht. Anwälte, die geschä-

SEAN GALLUP / GETTY IMAGES


digte Dieselkäufer und VW-Aktionäre ver-
RONNY HARTMANN / AFP

treten, wollen die Situation nutzen. So be-


reitet die Kanzlei Hausfeld eine Straf-
anzeige gegen Audi-Chef Stadler wegen
mittelbarer Falschbeurkundung und Be-
trugs vor.
VW-Aufsichtsratschef Pötsch, Konzernchef Diess: Prüfung ohne Ansehen der Person Stadler habe für rund 800 000 Diesel-
modelle sogenannte Übereinstimmungsbe-
scheinigungen unterzeichnet, die dokumen-
leren Management gewesen ist, sondern Zeugen und Verdächtigen vernommen – tieren, dass die Merkmale eines Fahrzeugs
mit Wissen von ganz oben geschehen sein oft in Begleitung amerikanischer Strafver- mit dem jeweils genehmigten Typ überein-
könnte. Den Münchner Staatsanwälten lie- folger, wie beteiligte Anwälte berichten. stimmen, erklärt Hausfeld-Anwalt Chris-
gen Aussagen vor, die auch Audi-Chef Stad- Von der transatlantischen Zusammen- topher Rother. Da das Kraftfahrt-Bundes-
ler belasten. Doch ein Papier, mit dem sie arbeit haben beide Seiten erheblich profi- amt jedoch festgestellt habe, dass für die
einen solchen Verdacht auch beweisen tiert. Die US-Behörden sammelten Ver- eingebaute Abschalteinrichtung keine Typ-
könnten, haben sie offenbar nicht gefun- nehmungsprotokolle und Informationen, genehmigung vorliegt, was Stadler gewusst
den. Stadler bestreitet, wie alle Topmana- die ihnen nun in der Anklage gegen Win- habe, habe er falsche Angaben gemacht
ger bei Audi und VW, überhaupt Kenntnis terkorn und andere VW-Manager helfen. und Verbraucher betrogen. Ein Sprecher
von illegalen Abgasmanipulationen gehabt Die Braunschweiger wiederum konnten erklärte, angesichts laufender Ermittlungen
zu haben. Und so ist derzeit völlig offen, Zeugen und Verdächtige vernehmen, die könne Audi das Thema nicht kommentieren.
ob zu den bisher bereits Beschuldigten wei- bewusst die Nähe zur amerikanischen Jus- Mit jeder Aktion der Staatsanwälte und
tere Manager aus der Topetage des Unter- tiz gesucht hatten: Viele trieb die Angst, der Geschädigtenvertreter wächst zudem
nehmens hinzukommen und wie lange die von den US-Behörden international ver- der Druck auf Aufsichtsratschef Pötsch,
Ermittlungen in München andauern. folgt zu werden. Sie hofften, sich durch Schadensersatz von Winterkorn zu verlan-
Die Staatsanwaltschaft Braunschweig ihre Aussage freikaufen zu können. gen. Volkswagen erklärt, der Aufsichtsrat
dagegen ist bereits an der Firmenspitze an- Trotz der vielen Aussagen werden sich prüfe mögliche Ansprüche vorbehaltlos
gekommen. Sie ermittelt gegen mehrere die Ermittlungen hinziehen. Das liegt zum und ohne Ansehen der Person.
Prominente, darunter VW-Chef Diess, den einen an der langen Liste der 39 Verdäch- Christian Strenger, Gründungsmitglied
Aufsichtsratsvorsitzenden Pötsch und Ex- tigen im Betrugsverfahren und zum ande- der Regierungskommission für gute Unter-
Boss Winterkorn. Alle drei werden der ren an den Tücken des deutschen Rechts- nehmensführung, sieht das anders: »Wenn
Marktmanipulation beschuldigt: Sie sollen systems. Anders als in den USA müssen Pötsch und der gesamte Aufsichtsrat mög-
die Anleger zu spät über den Dieselskan- die Ermittlungen abgeschlossen sein, ehe liche Ansprüche nicht endlich mit Nach-
dal informiert haben. Winterkorn steht zu- es zu einer Anklage kommt. druck verfolgen, verletzen sie ihre Pflich-
dem unter Betrugsverdacht. Alle Manager Im Verfahren wegen Marktmanipula- ten.« Aufsichtsratsmitglieder könnten sich
haben die Vorwürfe stets bestritten. tion könnten die Staatsanwälte jedoch selbst schadensersatzpflichtig machen.
Die Ermittlungen laufen seit zweiein- schon bald zu einem Ergebnis kommen. Doch Chefkontrolleur Pötsch spielt offen-
halb Jahren, noch immer sind keine Ergeb- Ein Abschluss der Ermittlungen, so die Be- bar auf Zeit, er nutzt aus, dass die Ansprü-
nisse sichtbar. Anders als ihre Münchner hörde, sei »noch in diesem Jahr denkbar«. che nach zehn Jahren verjähren.
Kollegen haben die Braunschweiger auf Dass es am Ende zu Anklagen kommt, Solange der frühere Finanzvorstand
spektakuläre Aktionen bisher verzichtet. gilt unter Prozessbeteiligten als wahr- Aufsichtsratsvorsitzender bleibt und Stad-
Die niedersächsischen Ermittler stehen scheinlich. Die Staatsanwaltschaft hält sich ler Audi-Chef und solange die Ergebnisse
deshalb in der Kritik, den Großkonzern bedeckt, betont aber, dass sie vor großen von Jones Day nicht veröffentlicht werden,
aus dem benachbarten Wolfsburg zu scho- Namen nicht zurückschrecke: »Wir haben ist jedenfalls klar: Dieser Konzern will
nen. Doch dieser Eindruck mag täuschen. bei unseren Ermittlungen von Beginn an nicht lückenlos aufklären und nicht die nö-
Die Zurückhaltung der Ermittler hängt alle Konzernetagen ins Visier genommen«, tigen Konsequenzen ziehen. Und so lange
damit zusammen, dass sie einen mächti- sagt Behördensprecher Klaus Ziehe. Das wird »die Dieselthematik« VW immer wie-
gen Partner haben, der Wert auf maximale bedeutet: Auch in Deutschland könnte es der von Neuem erschüttern.
Diskretion legt: das Justizministerium der für Winterkorn eng werden. Wird er am Frank Dohmen, Simon Hage,
Vereinigten Staaten. Seit Beginn der Er- Ende wegen Betrugs verurteilt, droht ihm Dietmar Hawranek, Martin Hesse,
mittlungen haben die Braunschweiger im schlimmsten Fall eine Freiheitsstrafe Armin Mahler, Gerald Traufetter
Staatsanwälte eine dreistellige Zahl an von bis zu zehn Jahren.

DER SPIEGEL Nr. 20 / 12. 5. 2018 69


Wirtschaft

»Wie Dinosaurier«
spiel, Coca-Cola, JPMorgan Chase, Nike
oder Nestlé werden hier von Frauen ge-
führt …
SPIEGEL: Trotzdem gilt in den meisten
Familien noch die klassische Aufteilung:
Karrieren Frauenlobbyistin Wiebke Ankersen über die Frage,
Er arbeitet Vollzeit, sie verdient etwas hin-
warum es in deutschen Unternehmen so wenige Frauen zu und übernimmt die Kinderbetreuung.
in den Vorstand schaffen – und was andere Länder besser machen Das ist doch eine bewusste Entscheidung
der Frauen, auf Karriere zu verzichten.
Ankersen: Das ist das gesellschaftlich ak-
Ankersen, 46, ist Geschäftsführerin der zeptierte Modell, das am wenigsten Wider-
deutsch-schwedischen AllBright Stiftung, stand erzeugt. Die Mutter in Teilzeit hat
die sich für mehr Frauen in Führungsposi- bei uns ja die Hausfrau als Norm abgelöst.
tionen einsetzt. Mütter, die stattdessen gleichzeitig einen
Vollzeitjob machen, müssen sich dafür
SPIEGEL: Frau Ankersen, Ihre Stiftung ständig rechtfertigen.
wird am Montag einen Bericht über Frau- SPIEGEL: Ist dann nicht eher das deutsche
en in Vorstandspositionen in sechs Län- Mutterbild das Problem als die Unterneh-
dern vorstellen. Der Titel: »Schlusslicht menskultur?

HC PLAMBECK / DER SPIEGEL


Deutschland«. Ist es wirklich so schlimm? Ankersen: Das deutsche Mutterbild ist si-
Ankersen: Das war schlicht das Ergebnis. cher nicht unproblematisch. Aber ein Fünf-
Nur 5 von 30 Dax-Konzernen haben mehr tel der deutschen Frauen hat ja gar keine
als eine Frau im Vorstand: Siemens, Deut- Kinder und kommt trotzdem nicht weiter.
sche Bank, Daimler, SAP und die Allianz. Unser Bericht zeigt, dass sich die Situation
Die meisten anderen erscheinen im inter- erst maßgeblich ändert, wenn sich die
nationalen Vergleich wie Dinosaurier. Bei Unternehmen ändern und sich besser auf
Unternehmen wie Apple, Coca-Cola, Vol- aus, wie in der Adenauer-Zeit. Für Unter- weibliche Karrieren einstellen.
vo, Unilever oder L’Oréal liegt der Frau- nehmen ist das nicht unproblematisch. Im SPIEGEL: Die aktuelle Bundesregierung
enanteil bei mehr als 30 Prozent, bei Innovationsranking der Boston Consulting setzt auf den Ausbau der Kinderbetreuung,
H&M sogar bei mehr als 50 Prozent Group findet man das erste deutsche um die Berufstätigkeit von Frauen zu för-
SPIEGEL: Sie haben die Vorstände der je- Unternehmen nicht umsonst erst auf Platz dern. Hilft das nicht?
weils 30 größten Konzerne Deutschlands, 21. Viele zukunftsweisende Unternehmen Ankersen: Kinderbetreuungsmöglichkei-
Frankreichs, Großbritanniens, Polens, der wie beispielsweise Apple oder Spotify ten erhöhen die Erwerbsfrequenz von
USA und Schwedens verglichen. Überall sind in den USA oder in Schweden ent- Frauen. In Deutschland und Schweden, wo
gab es mehr Frauen als hier. Warum? standen die Situation gut ist, arbeiten laut OECD
Ankersen: Zum einen sind beispielsweise SPIEGEL: Das soll daran liegen, dass dort 74 beziehungsweise 80 Prozent aller Frau-
in den USA und Schweden rein männli- Frauen in den Vorständen sitzen? en. In den USA, wo sie die Versorgung der
che Führungsteams gesellschaft- Ankersen: Frauen an der Kon- Kinder privat organisieren müssen, sind
lich nicht mehr akzeptiert. In Frauenanteil zernspitze sind ein Indikator es nur 67 Prozent. Aber die arbeiten eben,
den USA gibt es unter den 30 in Vorständen der dafür, wie veränderungsfähig wenn sie arbeiten, größtenteils in Vollzeit …
größten Konzernen nur noch jeweils 30 größten und offen für Neues die Unter- SPIEGEL: … und machen deshalb eher
einen mit einem rein männ- Börsenunternehmen nehmenskultur insgesamt ist. Karriere? Heißt: Wenn ich Chefin werden
lichen Vorstand. Zum anderen Firmen, die es nicht schaffen, will, muss ich Vollzeit arbeiten?
bringen diverse Teams bessere Frauen in Führungspositionen Ankersen: Die Teilzeit ist nicht an sich
Ergebnisse, und die Unter- zu bringen, hinken oft bei der das Problem. Frauen in Schweden arbeiten
nehmen rekrutieren dement- 24,8% Digitalisierung hinterher. auch in Teilzeit, aber eben nur zeitweise.
sprechend. Große Teile der USA SPIEGEL: Uns haben Dax-Vor- Und nicht mit so wenigen Stunden wie vie-
deutschen Wirtschaft sind da- stände gesagt, es sei schwierig, le deutsche Frauen. Wichtig ist, dass auch
gegen von einer satten Zu- 24,1% Frauen für hohe Führungsposi- die Männer weniger arbeiten können. Da
friedenheit geprägt und emp- Schweden tionen zu begeistern, selbst muss ein viel grundsätzlicheres Umdenken
finden gemischte Teams als wenn man sie direkt fragt. Viel- stattfinden. Die Aufgabenverteilung in den
irgendwie schwierige Heraus- leicht wollen sich viele Frauen Familien muss gerechter werden. Auch
forderung. 20,1% in Deutschland solche Jobs Unternehmen können viel dazu beitragen,
SPIEGEL: Sind sie das nicht? Großbritannien auch einfach nicht antun … Karrieren von Eltern zu ermöglichen.
Ankersen: Natürlich ist es an- Ankersen: Ich glaube nicht, SPIEGEL: Wie?
ders und sicher auch anstren- dass deutsche Frauen weniger Ankersen: Es gibt beispielsweise Firmen
gender, gemischte Teams zu 15,5% ehrgeizig sind als anderswo, in Schweden, die das Elterngeld aufsto-
Polen
führen, deshalb stellen deut- aber sie werden anders beur- cken. So scheitert die Entscheidung, als
sche Manager gern ihresglei- teilt. Männer werden nach ih- Mann in Elternzeit zu gehen, nicht an der
chen ein. Wir haben ausge- 14,5% rem Potenzial beurteilt, Frauen Höhe des Gehalts, das dann wegfällt. Es
rechnet, dass es mehr Thomas- Frankreich müssen stattdessen beweisen, gibt in der Regel auch keine Meetings nach
se und Michaels in deutschen dass sie einen Job schon kön- 16 Uhr. Und wer ständig um 21 Uhr noch
Vorständen gibt als Frauen, das nen, bevor sie ihn antreten. am Schreibtisch sitzt, muss sich – Kinder
sind sehr homogene Gruppen. 12,1% Ausländische Firmen schaffen oder nicht – schon mal Sprüche gefallen
Sie müssen sich mal die Bilder Deutschland es ja auch in Deutschland, Frau- lassen wie: »Hast du eigentlich sonst kein
auf den Unternehmenswebsites en für Führungsaufgaben zu Leben?« Interview: Anne Seith
angucken, die sehen alle gleich Quelle: AllBright begeistern: Microsoft zum Bei-

70 DER SPIEGEL Nr. 20 / 12. 5. 2018


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Ungeliebte Gäste
Tourismus Hotels gelten als sicherer Ort fern des eigenen Zuhauses. Doch fast überall gibt
es Sicherheitslücken, die es möglich machen, in Zimmer einzudringen und
sie leer zu räumen. Fünfsternehäuser sind oft noch anfälliger als Durchschnittsherbergen.

E
s ist kurz vor Mitternacht, als es Sie mir kurz aufsperren?« Meistens klappt das ist als Sicherheitskonzept natürlich
wieder klappt. Eine Frau, weiße das. Dann folgt der zweite Teil der Insze- lächerlich.
Bluse, dunkles Sakko, geht an die nierung. Ist Herbst einmal drin im fremden Zimmernummern und die dazugehöri-
Rezeption des Steigenberger-Park- Hotelzimmer, schickt sie das Reinigungs- gen Gästenamen findet man in einem Ho-
hotels in Braunschweig und verlangt nach personal ebenso hektisch wie wortgewaltig tel an jeder Ecke. Auf den Etagenwagen
einer neuen Zimmerkarte. weg. Oft gelingt auch das. liegen die Listen manchmal offen herum;
»Müller, Zimmer 308.« Oder sie spielt die Rolle der verliebten wer im Restaurant oder an der Bar sitzt,
Nach ein paar Augenblicken hält sie Ehefrau. Herbst geht an die Rezeption und kann immer wieder Zimmernummern und
die Karte in der Hand, der Rezeptionist sagt, sie wolle ihren Mann überraschen. die dazugehörigen Namen aufschnappen.
wünscht ihr eine gute Nacht. Ob man sie mal eben in das Hotelzimmer Vor dem Frühstücksbüfett werden Listen
Was nach Service klingt, birgt ein Si- lassen könne. Selbst dieser abgedroschene abgehakt, im Spa-Bereich liegen sie auf
cherheitsproblem: Die Karte hätte nicht Trick hat regelmäßig Erfolg. dem Tresen. »Darf ich Ihre Zimmernum-
an die Frau ausgegeben werden dürfen. Die meisten Hotels achten nur darauf, mer wissen?« – »Na, klar.«
Denn sie hat mit dem Zimmer nichts zu dass ein Gast zur Zimmernummer den pas- Die Tricks sind in der Realität oft nicht
tun. Sie hat Raum 308 nie gebucht. senden Namen trägt und umgekehrt. Aber besser als in einer drittklassigen Gauner-
Der falsche Gast, dem es so problemlos
gelang, an die Zimmerkarte zu kommen,
heißt Bettina Herbst. Sie traut sich zu, das
in nahezu jedem Hotel der Republik zu
wiederholen. Ihr gelingt es fast immer.
Herbst, 50, ist Sicherheitsexpertin, ar-
beitete als Personenschützerin für Spitzen-
sportler und deren Frauen und Kinder,
ermittelt für Großkonzerne in Wirtschafts-
strafsachen. Mal muss sie an vertrauliche
Dokumente herankommen, mal arbeitet
sie sich über Monate in das Netzwerk einer
Person hinein, um Angaben zu überprüfen.
In Restaurants sitzt sie nie mit dem Rücken
zum offenen Raum, »Personenschützer-
Marotte«, sagt sie.
Ihr wichtigstes Thema derzeit ist die
Sicherheit in Hotels. Sie ist Managerin von
Antares Defence, einer unter anderem
auf Hotelsicherheitskonzepte spezialisier-
ten Firma. »Menschen fühlen sich viel zu
sicher, wenn sie Hotelgäste sind«, sagt
Herbst. Doch die wenigsten Herbergen
unternähmen genug, um ihre Gäste zu
schützen.
Das ist nicht nur ein Problem der Billig-
bettenburgen. Im Gegenteil. Gerade Fünf-
sternehäuser seien manchmal so sicher
wie ein Gruppenzimmer in der Jugend-
herberge. »Man will in Luxushotels den
Gast nicht belästigen und immer zuvor-
kommend behandeln. Das macht es Tätern
leicht«, sagt Herbst.
MAREK VOGEL / DER SPIEGEL

Herbst hat noch ein paar weitere Tests


auf Lager, um Schwachstellen zu finden.
Sie läuft etwa über den Gang eines Hotels
und spricht das Reinigungspersonal an. Es
ist ein etwas theatralischer Auftritt, aber
er zeigt Wirkung: »Oh Gott, ich habe mein
Handy im Zimmer vergessen. Könnten Ermittlerin Herbst: Tricks wie in einer Gaunerklamotte

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klamotte. Aber sie funktionieren trotzdem. keine Zahlen und resümiert wolkig: »Das wahrhaben, weil es die Hotelidylle stört«,
Als Monteur verkleidet schleichen Krimi- Thema Sicherheit geht alle an.« Krimina- sagt Smeulders.
nelle über die Hotelflure und geben vor, lität wird im Beherbergungsgewerbe als Und manchmal sind die Anforderungen
den Toilettenabfluss reinigen zu müssen. Verschlusssache behandelt. Die meisten an sichere Hotels widersprüchlich. Da
Immer wieder werden sie von den Reini- Hoteldirektoren leiden – und schweigen. steht dann Brandschutz gegen Einbruchs-
gungsleuten ins Zimmer gelassen. Fast alle Joost Smeulders ist da ein anderes Kali- schutz. Beispielsweise muss man eine Zim-
Hotels arbeiten mit wechselndem Personal ber. Er ist Direktor des Steigenberger-Park- mertür jederzeit von innen öffnen können,
von externen Firmen – das wissen Täter hotels in Braunschweig. Der Niederländer falls es mal brennt. Das macht es Krimi-
zu nutzen. hat Herbst und ihren Kollegen Jens Moer- nellen leicht, die einen sogenannten Flip-
Die Abwehrmaßnahmen wären simpel. ler engagiert. Moerler ist ehemaliger Fall- per unten durch den Türschlitz ziehen –
In Schulungen wird Reinigungspersonal schirmjäger, promovierter Wirtschafts- und mit dessen Hilfe die Klinke innen he-
eingeschärft, niemals für irgendjemanden ingenieur und ebenfalls Personenschützer. runterdrücken.
ein Zimmer zu öffnen. Und trotzdem pas- Smeulders will mehr Sicherheit in sein Überhaupt: Hoteltüren. Wenn ein Gast
siert das – vom Gasthaus bis zum Grand- Viersternesuperiorhaus bringen. Er sagt, das grüne Schild »Bitte aufräumen« raus-
hotel. Für Gäste ist es schwer zu erkennen, dass er mit Verbrechern zu tun habe, seit- hängt, signalisiert er, dass niemand im Zim-
welche Hotels besonders auf Sicherheit dem er im Hotelgewerbe arbeite. mer ist und eingebrochen werden kann.
setzen – wie auch? Kameras zählen? Selbst- Seine erste Station als Direktor war ein Und wenn die Täter drin sind, nutzen sie
versuche machen? Während die WLAN- Hotel in den Niederlanden; das Haus lag das »Bitte nicht stören«-Schild, um un-
Geschwindigkeit im Hotelzimmer oder die in einem Gewerbegebiet, direkt an der gehindert arbeiten zu können. Weil die
Wassertemperatur des Pools bei Google Autobahn A 2. Super Fluchtweg also. Ein wenigsten Gäste Wertsachen im Tresor
oder Tripadvisor bewertet werden kann, Räuber kam mit einem Gewehr; dann wur- verstauen, dauern die Taten oft nur Minuten.
ist der Sicherheitsstandard eines Hotels den sechs Autos vom Hotelparkplatz ge- Smeulders hat ein bisschen Bammel
kaum einzuschätzen. klaut. Ein paar Jahre später, Smeulders vor dem Rundgang der von ihm angeheu-
Die Branche tut sich schwer mit der sim- war Hotelleiter in Kassel, wurde dort der erten Sicherheitsleute. Bettina Herbst
plen Wahrheit, dass Hotels anziehende Nachtportier überfallen. »Hotels sind im- konzentriert sich an diesem Vormittag auf
Orte für Kriminelle sind. Der Hotelfach- mer stärker im Visier von Kriminellen. das Personal, flirtet hier und da ein biss-
verband Dehoga bleibt schwammig, nennt Nicht jeder in unserer Branche will das chen und versucht so, in fremde Zimmer
zu gelangen. Jens Moerler ärgert sich der-
weil über eine nicht verschlossene Tür.
Gefahrenpotenzial für Hotels »Türen sind dafür da, um aus Sicherheits-
gründen geschlossen zu sein«, mahnt er.
An der Hauswand findet er eine Kamera,
die zu niedrig angebracht ist. »Da stellt
sich ein Täter vorsätzlich mit dem Lkw
davor, und schon ist die Kamera wertlos.«
Der Fahrstuhl ist auch ohne Zimmer-
Diebe nutzen die Hilfs- Gäste entwenden karte bedienbar, ein Sicherheitsrisiko, be-
bereitschaft des Hotelausstattung. findet Moerler, weil so jeder Gast in alle
Reinigungspersonals Etagen komme und man für einen VIP-
aus, um in fremde Zimmer
zu gelangen. Gast nicht ein bestimmtes Stockwerk sper-
Zimmer- und Gast-
informationen ren könne.
liegen ungeschützt Doch selbst moderne Zugangssysteme
Fahrstühle auf Etagenwagen. können ausgetrickst werden. Manche Pro-
sind meist
ohne Karte fitäter rüsten sich mit einer Karten-Codier-
zugänglich. Mit gehackten software aus. Gerade erst veröffentlichte
Zimmerkarten fertigen eine finnische IT-Firma eine Sicherheits-
Kriminelle einen
Generalschlüssel für lücke in der Software eines verbreiteten
jedes Gästezimmer an. Systems. Die Experten konnten mittels
alter Karten einen Mastercode extrahieren,
Sensible Informationen mit dem es möglich gewesen wäre, jedes
liegen ungeschützt auf Zimmer zu öffnen. Der Hersteller verbrei-
Als Monteur verkleidete Frühstückslisten.
Diebe werden häufig vom tete zwischenzeitlich ein Softwareupdate –
Servicepersonal in die in der Branche bezweifelt man jedoch,
Gästezimmer gelassen. Einbrecher dringen dass es bereits in allen betroffenen Häu-
durch Fenster in EG-
Zimmer ein. sern installiert wurde.
»Theken-Jumper« springen
über den kaum gesicherten Angriffe auf die Software hat kaum ein
Tresen und stehlen Bargeld. Haus im Blick. Doch sie nehmen zu. Ha-
cker legten im vergangenen Jahr das See-
Attentäter verüben hotel Jägerwirt in Österreich lahm, indem
in der Tiefgarage
Anschläge durch sie die Hotel-IT mit einem Verschlüsse-
An der richtigen Position Autobomben. lungstrojaner attackierten – auch das
geparkt, verdecken Last- Schlüsselkartensystem brachten sie unter
kraftwagen die Sichtbereiche ihre Kontrolle und sperrten so Gäste aus.
der Überwachungskameras. Der Hotelier zahlte ein Lösegeld in Höhe
von zwei Bitcoins – damals gut 1500 Euro.
Moerler hat in Braunschweig seinen
Rundgang abgeschlossen – alles in allem

DER SPIEGEL Nr. 20 / 12. 5. 2018 73


Wirtschaft

schneidet das Steigenberger ordentlich ab. schoss liegen, weil hier die Einbruchsgefahr kuläre Verbrechen in Hotels zu finden, ge-
Der Sicherheitsmann sensibilisiert noch zu groß ist. Andere Großunternehmen ha- gen die Zimmereinbrüche wie die Taten
für die Feinheiten. So wird debattiert, ob ben ähnliche Regeln. von Kleinkriminellen wirken. Mitten in
an Gäste adressierte Pakete ins Zimmer Raubüberfälle auf Hotels mit Baseball- Berlin überfielen Bewaffnete im Hotel
gebracht werden sollen – schließlich könn- schläger, Pfefferspray oder Pistole gehören Grand Hyatt 2010 Deutschlands größtes
te ein Sprengsatz darin sein. in Großstädten zum Alltag – deshalb ha- Pokerturnier. Eine Massenpanik folgte,
Auch simple Ratschläge hat er. So sollen ben Hotels selbst das größte Interesse an die Täter waren nach wenigen Minuten
die Rezeptionisten ein Buch führen, in Sicherheit. Zum Trendverbrechen hat sich auf und davon – mit rund 240 000 Euro
dem Autos vermerkt werden, die vor dem in Berlin oder in Frankfurt am Main der Beute.
Hotel stehen und augenscheinlich nicht »Theken-Jumper« entwickelt: Der Täter Für die Sicherheit war damals Berlins
Gästen zuzuordnen sind. Taucht ein Wa- nimmt Anlauf und springt über die Rezep- wohl bekanntester Sicherheitsunterneh-
gen mehrmals auf, sollen die Mitarbeiter tion, um dann Geld zu erbeuten. mer, Michael Kuhr, verantwortlich.
der Polizei Bescheid geben. Früher waren Tankstellen, Banken oder Seine Firma bewacht heute unter ande-
Hotels werden in Sicherheitskreisen als Supermärkte bevorzugte Ziele. Doch sie rem das Estrel-Hotel in Berlin-Neukölln,
»weiche Ziele« für Terroranschläge geführt. sind heute oft zur kameraüberwachten Si- mit 1125 Zimmern Deutschlands größtes
Globale Aufmerksamkeit wäre Tätern cherheitszone geworden, um die mancher Hotel, »eine Stadt in der Stadt«, wie Kuhr
sicher; durch die Auswahl einer interna- Täter lieber einen Bogen macht. Hotels sagt, und das sogar einen eigenen Boots-
tionalen Kette kann ein Land auch indirekt sind dagegen leicht zu bestehlen. 500 Euro anleger hat. »Man holt sich mit dem Per-
getroffen werden. Experten streiten darü- in der Nachtkasse, erbeutet bei einem sonal eine Gefahr ins Hotel, wenn man
ber, ob Hotels deshalb standardmäßig mit 30 Sekunden dauernden Hotelüberfall, rei- nicht jeden Mitarbeiter gründlich sicher-
einem Terroralarm ausgestattet werden chen manchem Täter für die Drogen, die heitsüberprüft«, sagt Kuhr. Mitarbeiter kä-
sollen. Aktuell würde dies dem Brand- er braucht. men leicht an interne Informationen und
schutz widersprechen: Ertönt der Feuer- könnten diese an Täter weitergeben. »Ein
alarm, sollen die Gäste das Haus zügig ver- polizeiliches Führungszeugnis von jedem
lassen. Beim Amokalarm, der etwa in »Es kann Diebstahl sein, wäre absolute Grundlage«, sagt er.
Schulen eingebaut wird, sollen hingegen wenn der Gast das Haar- Doch das verlangt kaum ein Hotel.
alle Menschen in den Räumen bleiben. Auch gegen die größte Tätergruppe kom-
»Ein skrupelloser Täter löst den Feuer- shampoo oder die Bade- men die Hoteliers schlecht an. Sie gehören
alarm vorsätzlich aus, um möglichst viele schlappen mitnimmt.« weder zur organisierten Kriminalität noch
Opfer zu haben«, sagt Moerler. sind es die Mitarbeiter, und die meisten
Sein Tipp gegen Terror: einen hand- dürften ein astreines Führungszeugnis ha-
lichen Metalldetektor – für kaum 35 Euro Florian Horn arbeitete jahrelang als ben: die eigenen Gäste.
im Internet zu bestellen – auf den Rezep- »Night Auditor« in Hotels am Berliner Ale- Regenduschen, Saunaausstattung, Toi-
tionsresen legen. Die Steigenberger-Mit- xanderplatz, am Hackeschen Markt oder lettendeckel, Glühbirnen, Waschbecken,
arbeiter schauen ihn fragend an. Jeden im Stadtteil Reinickendorf. Der Posten ver- Batterien aus Fernbedienungen, Kunst
Gast in Braunschweig oder Freiburg scan- bindet in kleineren Hotels oft den Emp- oder rausgeschnittene Teppichstücke ge-
nen, bevor er einchecken darf? »Nein«, fangsdienst mit dem eines Sicherheits- hören zu deren Beute. Vor allem noble
sagt Moerler. Für eine Gruppe von Tätern manns. »Es gibt Hotels, die sind durch ihre Herbergen mit Inventarüberfluss sind be-
würde es reichen, wenn der Apparat sicht- Lage im Drogenkiez oder an Bahnhöfen troffen. »Juristisch kann es schon Dieb-
bar herumliege. Einige wenige würden besonders gefährdet und werden regelmä- stahl sein, wenn der Gast das Haarsham-
davon abgeschreckt und suchten ein ande- ßig heimgesucht«, sagt Horn. Hinzu käme poo oder die Badeschlappen mitnimmt«,
res Ziel. in allen Kategorien und Lagen das Risiko sagt Hotelsicherheitsexperte Horn. Viele
Ist das notwendig oder Berufsparanoia des Einmietbetrugs. Dabei logieren Gäste Häuser sehen großzügig darüber hinweg,
von Personenschützern? Die Wahrheit teils mehrere Tage lang im Hotel und ver- wenn es nicht gerade das 50-er-Pack Con-
liegt wohl in der Mitte. lassen es – ohne zu bezahlen. Die wirkli- ditioner aus dem Servicewagen ist.
Derartige Sicherheitsüberlegungen wer- che Identität der Täter bleibt oft ungeklärt; Mancher Hotelier berichtet, dass Gäste
den für Hotels spätestens dann zwingend, bei unverdächtig aussehenden Gästen wer- Matratzen abtransportieren und diese ge-
wenn sie Gäste aus großen Konzernen den keine Ausweisdokumente verlangt. gen Billigware austauschen. Im Dresdner
oder VIPs beherbergen wollen. Unterneh- Selbst wenn beim Check-in eine Kredit- Luxushotel Taschenbergpalais ließ sich ein
men nehmen Sicherheit meist ernster als karte eingelesen wird, sind Fälschungen Gast eine Kiste aufs Zimmer bringen, bau-
Privatreisende. Sie achten darauf, dass ihre schwer zu erkennen. »Man kann über Soft- te die Minibar ab, legte sie in den Karton
Mitarbeiter nur in Hotels schlafen dürfen, ware die Zahlenkombinationen inklusive und ließ das Diebesgut von einem Pagen
die dementsprechend zertifiziert sind. der Prüfziffern schnell und einfach zu- abholen.
Lufthansa etwa gehört zu den größten sammenrechnen lassen«, sagt Horn. Die Einem Hotel in Italien soll gleich ein
Hotelkunden im Dax. Jeden Tag benötigt Karte werde dann vom System als gültig kompletter Flügel abhandengekommen
die Linie für Flugbegleiter und Piloten rund erkannt. Wirklich absichern könnten sich sein – er wurde von drei Männern rausge-
3300 Zimmer weltweit. Bevor die Airline Hotels dagegen nur, wenn sie einen Geld- tragen und blieb seitdem verschwunden.
einen Vertrag schließt, wird das Hotel in- betrag bei der Kreditkartenfirma anfragten. Martin U. Müller
spiziert. In gefährdeten Ländern wird die Horn nennt das Dilemma, in dem die Mail: martin.mueller@spiegel.de
Konzernsicherheit über jedes neue Domi- Gastgeber stecken: »Man tut alles, um Twitter: @MartinUMueller
zil informiert. Hotels dürfen dort nicht schlechte Bewertungen zu verhindern.
neben Gebäuden mit hohem Risiko liegen, Deshalb lässt man Gäste lieber in Ruhe
etwa Ministerien oder Militäreinrichtun- und tut nicht allzu viel, um potenziell als Video
Worauf Hotelgäste
gen. Ist eine Tiefgarage oder ein Parkplatz störend empfundene Maßnahmen auch ge- achten müssen
vorhanden, dürfen Lufthansa-Mitarbeiter gen Betrug zu verhindern.« spiegel.de/sp202018hotel
nicht in unmittelbarer Nähe übernachten. Man muss nicht nach Las Vegas oder oder in der App DER SPIEGEL
Zimmer sollen grundsätzlich nie im Erdge- ins indische Mumbai schauen, um spekta-

74 DER SPIEGEL Nr. 20 / 12. 5. 2018


Bill Gates ist
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Bis Du Bücher
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Zwischen Jeff Bezos’ erstem verkauften Buch
und der heutigen Weltbedeutung von Amazon
liegen nur 23 Jahre. Die ganze Geschichte:
handelsblatt.com/handeln

FÜR ALLE,
DIE HANDELN
Medien

Digitale
Es ist ein aufwühlender Debattenbeitrag und beurteilen müssen. Meist begnügen sie
über den Umgang mit Gewalt, Hass und sich mit Beschreibungen der jungen Lösch-
anderen verstörenden Netzinhalten. beauftragten, die etwa mit stockender Stim-

Müllkippe
Fünf ehemalige »Moderatoren« demons- me von Kindesmisshandlungen berichten.
trieren darin ihren Arbeitsalltag vor den Eine Mitarbeiterin sagt, dass sie vor dem
Monitoren; rasend schnell tippen ihre Zei- nächsten Enthauptungsvideo hoffe, dass
gefinger auf Maustasten, sie murmeln »lö- die Täter lange Messer mit scharfen Klingen
Soziale Netzwerke Die Kino-Doku- schen« oder »ignorieren«, nur wenige Se- verwenden, weil das schneller vonstatten-
mentation »The Cleaners« liefert kunden bleiben ihnen, um zu entscheiden, gehe und »saubere Schnitte« bedeute.
Einblicke in die Löschindustrie, die was wohl gegen die »Richtlinien« der Kun- Fast nebenbei erklärt die Dokumenta-
den verstößt. Bis zu 25 000 Posts pro tion, wie die teils kuriosen Löschentschei-
im Auftrag von Facebook & Schicht schaffe er, berichtet einer. Fotos und dungen entstehen, die weltweit immer wie-
Co. Schmutz aus dem Netz filtert. Videos, die all das zeigen, wozu Menschen der für Irritationen sorgen – denn natürlich
in der Lage sind; was sie sich selbst antun; sind die jungen Philippiner mit ihrer Rolle
was sie anderen Menschen zufügen und als Weltinhaltepolizei heillos überfordert.

D ie Anwerber auf den Straßen von


Manila locken mit Prospekten vol-
ler Versprechungen: Datenanalys-
ten würden gesucht, für einen Bürojob, gut
manchmal auch Tieren. Zwischen einem
und drei Dollar bekommen die Mitarbeiter
in der Stunde, acht bis zehn Stunden dauere
eine Schicht, sagt Filmemacher Riesewieck.
In einer Karikatur mit dem türkischen
Präsidenten erkennen sie nur »einen alten
Mann«, im ertrunkenen Flüchtlingskind an
der türkischen Küste ein »Überschwem-
bezahlt. Meist sind es College-Absolven- Details würden so geheim wie möglich mungsopfer«. Eine Moderatorin schildert,
ten, die angesprochen werden, oft entstam- gehalten, berichtet er. Die Billiglöhner des wie sie erst langsam zur Fachfrau für den
men sie den Randgebieten der Stadt. Digitalzeitalters müssten Schweigeerklärun- Netzporno-Slang wurde. Anfangs habe
Drei bis fünf Tage Training später sind gen unterzeichnen und ihre Trainingshand- sie geglaubt, es gehe um Stöpsel für Spül-
sie »Inhalte-Moderatoren« und Teil einer bücher mit den im Silicon Valley formulier- becken, wenn von »Plugs« die Rede war,
riesigen Schattenindustrie. Manila ist die ten Löschrichtlinien wieder abgeben. Über einem Sexspielzeug. Auch die eigene kul-
Welthauptstadt dieser Filter-Dienstleister, ihre prominenten Auftraggeber sprechen turelle Prägung beeinflusst ihre Entschei-
die für Facebook, Google, Twitter und Co. sie in Codes, auch im Film ist von »Kunden« dungen, etwa der tiefe Katholizismus im
die digitale Drecksarbeit erledigen. Hier oder »der App« die Rede. Inselstaat. Die Sexexpertin wider Willen
arbeitet ein Großteil jener Löschbrigaden, Der Lohn reiche aus, um auf den Philip- etwa sagt, sie opfere sich, um das Netz von
die darüber entscheiden, was Milliarden pinen zu überleben, berichtet eine junge »sündhaften Bildern« zu säubern. Für man-
Nutzer weltweit zu sehen bekommen – Protagonistin. Sie habe sich in der Schule che werden die Zumutungen zu viel: Der
und was eben nicht. angestrengt, um nicht als Müllsammlerin Film berichtet von einem Suizid, nachdem
Es war einer dieser Fälle, der die Thea- auf einer Deponie zu enden. Nun klickt sie der Mitarbeiter zuvor mehrfach erfolglos
terregisseure Hans Block und Moritz Rie- sich durch die Müllkippe auf ihrem Monitor. um Versetzung gebeten hatte – seine Auf-
sewieck vor fünf Jahren aufmerken ließ: Manche erzählen ihren Eltern lieber nicht, gabe war es, Selbstverletzungen zu filtern.
Ein Video, in dem ein älterer Mann ein worin ihr Job als »Moderator« genau be- Die Dokumentation wirft aber nicht nur
Mädchen vergewaltigte, wurde mehr als steht, wie jener Kollege, der mit seinem Ge- ein Schlaglicht auf die Arbeitsbedingungen
16 000-mal geteilt und erhielt fast 4000 halt die gesamte Familie durchfüttert. Seine der Auftragszensoren. Sie beschreibt das
Likes, bevor es gelöscht wurde. Aus der Mutter schwärmt in ihrer Armenbehausung diffizile Geschäft mit der Zensur von In-
Frage, wie das sein kann, entstand eine jahre- stolz, ihr Sohn habe einen Bürojob ergattert. ternetinhalten insgesamt. So lässt sie einen
lange Spurensuche bis auf die Philippinen Die Filmemacher muten ihren Zuschau- Vertreter einer Organisation zu Wort kom-
und schließlich ihr Debüfilm »The Clea- ern nur wenige jener Bilder zu, die die men, die anhand von Netzvideos und Fotos
ners«, der nun in deutschen Kinos startet. Moderatoren in einem steten Strom sehen versucht, Kriegsverbrechen zu dokumentie-
ren. Für ihn kommt das schnelle Löschen
wegen vermeintlicher Terrorpropaganda
dem Vernichten von Beweisen gleich. Um-
gekehrt zeigt der Film, ganz aktuell, die ver-
heerende Rolle von Facebook-Hasspostings
bei den »ethnischen Säuberungen« gegen
die Minderheit der Rohingya in Myanmar.
Auf die deutsche Debatte um das Gesetz
gegen Hasskriminalität gehen die Filme-
macher nicht ein, die Facebook-Lösch-
teams in Berlin und Essen kommen nicht
vor. »Wir wollten bewusst denjenigen eine
Stimme geben, die dieser Arbeit ohne Min-
destlohn und ernst zu nehmende psycho-
logische Betreuung nachgehen müssen«,
GEBRUEDER BEETZ FILMPRODUKTION

sagt Regisseur Block. Im Übrigen bekämen


die Moderatoren in Manila weiterhin deut-
sche Inhalte auf den Schirm. Während der
Dreharbeiten habe ein Löschteam einen
Crashkurs in Nazisymbolik absolviert: »Sie
lernten, dass die Zahl 88 für ›Heil Hitler‹
steht und welche Bedeutung Öfen im
Nazikontext haben.« Marcel Rosenbach
Szene aus »The Cleaners«: Bis zu 25 000 Posts pro Schicht

76
Speerspitze
des Guten
Internetpolitik Der TV-
Moderator Jan Böhmermann
will das Internet vor rechten
Trollen retten – und sorgt damit
für Zulauf bei den Extremisten.

F ür Jan Böhmermann ist der Traum


jedes deutschen Entertainers wahr
geworden: Er hat es in die USA ge-
schafft. Nur vielleicht nicht so, wie er sich

IMAGO
das vorgestellt hat. »Kill that faggot«, über-
setzt »Bring die Schwuchtel um«, fordert Provokateur Böhmermann: »Dem Hass im Netz Liebe entgegensetzen«
etwa ein Nutzer des Forums 4chan. Ähn-
lich hasserfüllt wird er gerade in Foren der
Alt Right geschmäht. nald Trump zum US-Präsidenten rücken Top-Influencer, mit mehr als zwei Millio-
Böhmermann, Satiriker, Moderator, Pro- die dunklen Seiten des Netzes immer stär- nen Followern allein bei Twitter. Er wäre
vokateur, ist in kürzester Zeit zum neuen ker in den Vordergrund. auch nicht der erste Satiriker, der eine poli-
Lieblingsfeind rechter Onlineaktivisten Selbst Protagonisten der Digitalisierung tische Bewegung startet.
avanciert. Vor knapp zwei Wochen hatte sorgen sich: »Ich glaube, das Internet ist ka- »Reconquista Internet ist gewisserma-
er in seiner Sendung »Neo Magazin Ro- putt«, sagt etwa der Twitter-Mitgründer Ev ßen genau das, was sich internationale Ex-
yale« dazu aufgerufen, das Internet von Willians. »Ich dachte, sobald alle frei ihre perten seit Jahren als Antwort auf rechts-
den extremistischen Internettrollen zu- Meinung äußern und Informationen und extreme Trollfabriken wünschen«, sagt
rückzuerobern, die dem angeblichen Es- Ideen austauschen können, wäre die Welt die Extremismusforscherin Julia Ebner,
tablishment, zu dem sie auch seinen öf- automatisch auf dem Weg in eine bessere die für ihr Buch »Wut« undercover in rech-
fentlich-rechtlichen Arbeitgeber zählen, Zukunft. Ich habe mich getäuscht.« Und ten Onlineforen recherchiert hat. Sie berät
den Informationskrieg erklärt haben. der Miterfinder des World Wide Web, Tim Böhmermann bei seiner Aktion und hofft:
Böhmermann trat mit Sturmhaube und Berners-Lee, sagt: »Das System versagt.« »Das könnte zum internationalen Vorbild
Stahlhelm vor die Kamera und erklärte, Dass nun ausgerechnet ein Fernseh- für Counter-Trolling, den Kampf gegen
es sei an der Zeit »den Wichsern, die uns moderator als prominentester Vorkämpfer koordinierte Hasskampagnen und die Ver-
den Spaß am Internet verderben, den Spaß für die Rehabilitierung des Internets und zerrung des Onlinediskurses, werden.«
am Internet zu verderben«. Mehr als die Rückeroberung seiner Foren auftritt, Allerdings scheinen auch die Organisa-
50 000 Nutzer folgten innerhalb einer Wo- mag zunächst absurd erscheinen. Aber es toren der rechten Netzbewegung von Böh-
che seinem Aufruf und versuchen nun mit ist sinnbildlich für die Verfehlungen und mermanns Engagement zu profitieren –
den Mitteln der Netzguerilla »dem Hass Schwächen der digitalen Welt. immerhin liefert er ihnen reichlich Futter.
im Netz Liebe entgegenzusetzen«. Da ist erstens der Unwille der Digital- Obertroll Alexander bedankte sich in ei-
»Reconquista Internet« nennt Böhmer- konzerne wie Google und Facebook, Ver- nem Video für »die größte PR-Kampagne
mann seine Aktion. Sie ist als Gegenbewe- antwortung für Inhalte zu übernehmen, aller Zeiten« und die »extreme mediale
gung zur rechtsextremen Trollarmee »Re- statt sich stur als neutrale Plattformen zu Aufmerksamkeit«.
conquista Germanica« angelegt, einer präsentieren. Und da ist zweitens die Wei- Tatsächlich wirkt sein Netzwerk gerade
Gruppe, die sich aus einem Kreis um den gerung der schweigenden Mehrheit, sich wiederbelebt und hat neuen Zulauf. Be-
YouTuber mit dem Pseudonym Nikolai Ale- zu wehren, Grenzen aufzuzeigen, sich zu sonders die Veröffentlichung einer Liste,
xander entwickelt hat und über deren Ak- organisieren. in der mehr als tausend Twitter-Namen
tionen der SPIEGEL im Sommer vorigen Böhmermann versucht nun einen »Auf- von Reconquista-Germanica-Personal,
Jahres erstmals berichtete (37/2017). Im stand der Anständigen«. Er meint: »Wir AfD-Leuten und rechten Medien etwas be-
Vorfeld der Bundestagswahl versuchten die haben aus Versehen eine Bürgerrechts- liebig zusammengerührt wurden, brachte
rechten Aktivisten mittels zahlreicher Fake- bewegung ins Leben gerufen.« viele in Wallung. Manche der neuen Troll-
konten in sozialen Netzwerken Stimmung Das ist kokett, denn Böhmermann macht anwärter schreiben, sie seien erst durch
gegen die sogenannten Altparteien zu schü- wenig aus Versehen. Und er gibt die Speer- den ZDF-Mann aufmerksam geworden
ren und die AfD zu unterstützen. spitze des Guten wohl ganz gern. Mit der und wollten sich nun der rechten Sache
Zeitweise tummelten sich mehr als neuen Rolle schließt er an sein Schmähge- anschließen.
7000 Mitglieder auf dem Server, ab und dicht gegen den türkischen Präsidenten Re- Womöglich hinterlässt die »Rückerobe-
an gelang es der Truppe, eigene Hashtags cep Tayyip Erdoğan an. Darauf folgte eine rung« vor allem eines: ein noch größeres
wie »Verräterduell« zum Wahl-TV-Duell Debatte über Meinungsfreiheit, der Bundes- Schlachtfeld, noch mehr Polarisierung. In
in die Twittertrends zu katapultieren.   tag strich den Straftatbestand der Schmä- seiner Videoantwort auf Böhmermann
Die rechte Trollarmee ist ein hässliches, hung ausländischer Staatsoberhäupter. bläst der rechte Obertroll jedenfalls schon
aber längst nicht das einzige Symptom der Andererseits ist Böhmermann vielleicht zur »Sommeroffensive2018«.
zunehmenden Sinnkrise der digitalen Be- genau die Figur, die es braucht, um Nutzer Marcel Rosenbach, Thomas Schulz
wegung. Spätestens seit der Wahl von Do- zu mobilisieren: Der Moderator ist ein

DER SPIEGEL Nr. 20 / 12. 5. 2018 77


Ausland
»Korruptionsermittlungen und Zeugenaussagen fügen sich zu einem Bild: Venezuela ist ein Mafiastaat.« ‣ S. 80

MATTHIAS OESTERLE / DPA

Was ist eine Vergewaltigung? Spanien wird nach einem Gerichtsurteil gegen fünf Männer von Protesten
erschüttert, wie hier in Barcelona. Die Männer hatten 2016 am Rande des berühmten Stiertreibens von Pam-
plona eine angetrunkene und hilflose 18-jährige Frau zum Sex gezwungen und sie währenddessen gefilmt.
Die Staatsanwaltschaft forderte für die Vergewaltigung eine Strafe von fast 23 Jahren. Die Richter jedoch sahen
nur »sexuellen Missbrauch« gegeben und verurteilten die Täter zu je neun Jahren Haft. Bei einer Verge-
waltigung müsse eindeutig »Gewalt« oder »Einschüchterung« nachweisbar sein. Seither halten die Proteste
in allen großen Städten an. Die Regierung hat nun erklärt, das Strafgesetz überarbeiten zu wollen.

78 DER SPIEGEL Nr. 20 / 12. 5. 2018


Malaysia Libanon Selbst die Hisbollah, so bestätigen mehre-
Hoffnungsträger Der lange Arm von Assad re Mitglieder, sei nicht glücklich über
diesen Kandidaten gewesen. Dass Sayyed
 Er war eigentlich schon lange in Ren-  Jamil al-Sayyed, 68, ist eine der düs- trotzdem ihre Unterstützung bekommen
te und sein Wahlbündnis ziemlich bunt: tersten Gestalten der jüngeren libane- hat, sei nur der persönlichen Intervention
Umso erstaunlicher ist der Sieg des sischen Geschichte. Er war einst Geheim- Assads zu verdanken gewesen. Offen-
92-jährigen Mahathir Mohamad bei der dienstchef des Landes und 2005 mutmaß- sichtlich möchte Assad den Libanon wie-
Parlamentswahl in Malaysia. Man lich am Mordanschlag auf den damaligen der unter seine Kontrolle bringen. Dazu
kann den Sieg auch historisch nennen. Premier Rafiq al-Hariri beteiligt. Das könnte Jamil al-Sayyed bald noch nützli-
Nach mehr als sechs Jahrzehnten been- konnte ihm nie nachgewiesen werden, er cher werden: In absehbarer Zeit wird der
det Mahathir die Herrschaft des Regie- saß trotzdem vier Jahre lang im Gefäng- heute 80-jährige Parlamentspräsident
rungsbündnisses, nis. Nun ist er ins neue libanesische Parla- Nabih Berri zurücktreten oder sterben.
zu dem er selbst ment gewählt worden – auf einem Listen- Sein Nachfolger muss – nach dem Pro-
einst gehörte. platz der Hisbollah, der radikalen Schii- porzsystem, das Posten nach Glaubenszu-
Nun hoffen viele ten-Truppe, die für Syriens Machthaber gehörigkeit verteilt – Schiit sein. So wie
auf den »Malay- Baschar al-Assad im Nachbarland kämpft. Sayyed. CRE
sischen Tsunami«,
den er verspro-
chen hat. Maha- Chappatte
thir Mohamad
hat das Land zwar
selbst 22 Jahre
lang autoritär ge-
Mahathir führt und in
dieser Zeit viele
Oppositionelle einsperren lassen.
Aber das scheint die Wähler nicht ver-
schreckt zu haben. Mahathir konnte
auch deshalb zum neuen Hoffnungsträ-
ger werden, weil die Vorgängerregie-
rung in eine Reihe von Finanzskanda-
len verstrickt gewesen sein soll. So
verbündeten sich auch Politiker mit
Mahathir, die er einst hatte verhaften
lassen. Im Gegenzug hat Mahathir
angekündigt, in zwei Jahren abzutreten
und die Macht an Anwar Ibrahim zu
übergeben – an seinen alten Heraus-
forderer, den er Ende der Neunziger
noch wegen Korruptionsvorwürfen ins
Gefängnis werfen ließ. KKU

Analyse

Wie China den USA die Partner ausspannt


Die amerikanischen Unterhändler bereiten den Nordkorea-Gipfel vor – und Peking baut seinen Einfluss aus.

Chinas Ministerpräsident Li Keqiang unterdrückte jeden An- Nippon-Ibisse, die in Japan beheimatet waren, dort aber 2003
flug eines Lächelns, als er sich am Mittwoch mit seinem japa- ausgestorben sind, während sie in China erfolgreich gezüchtet
nischen Amtskollegen Shinzo Abe traf. Doch das war böse Mie- werden.
ne zu einem gut überlegten Spiel: Während sich die USA auf Anlass des Treffens war ein Dreiergipfel zwischen Abe, Li und
das Gipfeltreffen zwischen Präsident Donald Trump und Nord- Südkoreas Präsident Moon Jae In. Auch Südkorea, von China
koreas Diktator Kim Jong Un vorbereiten, baut Peking, vom wegen der Stationierung eines US-Raketenabwehrsystems zuletzt
Westen kaum beachtet, seinen Einfluss als Führungsmacht im boykottiert, wurde von Li umgarnt: »Wir wollen mit Japan
Fernen Osten aus. und Südkorea zusammenarbeiten«, sagte er, »um den Frieden in
Li traf diese Woche zu einem Besuch in Japan ein, dem ersten der Region aufrechtzuerhalten und die Entwicklung der drei
eines chinesischen Ministerpräsidenten seit sieben Jahren. Was Länder voranzutreiben.« Peking, Tokio und Seoul begrüßen das
er Abe anbot, geht über alles hinaus, was im historisch vergifteten für Juni geplante Treffen von Donald Trump und Kim Jong Un.
Verhältnis der beiden asiatischen Rivalen noch vor Kurzem Als führende Exportnationen verwahren sie sich aber gegen
möglich schien. Li sagte die Einrichtung einer Hotline zur Vermei- Trumps protektionistische Handelspolitik – eine Gemeinsamkeit,
dung militärischer Zusammenstöße zu, lud Abe nach China die Peking diplomatisch ausnutzt: Wie in fast allen internatio-
ein und kündigte einen Gegenbesuch von Staatschef Xi Jinping nalen Krisen plant China langfristig und scheint bereit, selbst
in Japan an. Außerdem traf er sich mit Kaiser Akihito und historische Feindschaften ruhen zu lassen, um seinen Einfluss zu
versprach den Japanern ein symbolbeladenes Geschenk: zwei mehren. Bernhard Zand

79
Ausland

Der Gangsterstaat
Venezuela Präsident Maduro will sich mit einer vorgezogenen Neuwahl die Macht sichern.
Die Regierungsspitze und die Militärführung haben sich unter ihm in
ein Drogenkartell verwandelt. Dessen Mitglieder bereichern sich, das Volk hungert.

EDEL RODRIGUEZ

Staatschef Maduro (Illustration von Edel Rodriguez): Seine Familie ist in den Rauschgifthandel verwickelt

80
W
ie eine gigantische Pyramide Lady Cilia Flores wegen eines geplanten Der Präsident schien erledigt, als seine
liegt das Gefängnis des vene- Drogendeals verurteilt. Sie wollten 800 Ki- Gegner im Dezember 2015 die Parlaments-
zolanischen Geheimdienstes logramm Kokain aus Kolumbien über den wahl gewannen, und im vergangenen Früh-
Sebin auf einem Hügel im Präsidentenhangar des Flughafens von Ca- jahr, als Zehntausende gegen die Missstän-
Zentrum von Caracas. El Helicoide, das racas in die USA schleusen. Die Einkünfte de protestierten, gegen eine Inflationsrate
Schneckenhaus, heißt der berüchtigte Bau aus dem erhofften 20-Millionen-Dollar-Ge- von geschätzt 900 Prozent, gegen die will-
im Volksmund. Über 300 Häftlinge sitzen schäft hätten, so Maduros Neffen, den kürliche Festnahme Oppositioneller, gegen
hier ein, viele sind politische Gefangene. Wahlkampf der First Lady finanzieren sol- die Tatsache, dass ein Venezolaner im Ver-
Die fensterlosen Zellen sind winzig. Insas- len, die sich damals um ihre Wiederwahl lauf der letzten Jahre im Schnitt 8,7 Kilo-
sen berichten, dass man die Schreie der ins Parlament bewarb. Der Richter schickte gramm an Gewicht verloren hat.
Gefolterten hören kann. Familienangehö- die beiden für 18 Jahre hinter Gitter. Doch Maduro lässt Proteste blutig
rige der Häftlinge warten vor der Einfahrt; Das Urteil zielte direkt ins Herz eines niederschlagen, er hat das Parlament ent-
Polizisten kontrollieren jedes Auto. Regimes, das Venezuela in den vergange- machtet, indem er eine verfassunggebende
Es gibt auch einen VIP-Bereich in dem nen Jahren zur Gangsterrepublik umge- Versammlung einberief, die ihm treu erge-
düsteren Bau. In einer geräumigen Zelle baut hat. Ein Land, in dem Minister, Rich- ben ist. Die USA froren sein Vermögen
mit Aircondition residiert der Drogenboss ter, Generäle, Geheimdienstchefs und Ma- ein, auf der Sanktionsliste steht er nun ne-
Walid Makled, den sie wegen seiner ara- nager von Staatsbetrieben zu Reichtum ben Despoten wie Baschar al-Assad und
bischen Abstammung nur »El Turco« nen- gekommen sind, während die Menschen Kim Jong Un. Aber noch ist er da, bei der
nen. Er entscheidet, welcher Häftling eine hungern. Inzwischen steht fast die gesamte Wahl am 20. Mai hat Maduro beste Chan-
Matratze bekommt und wer auf dem Elite des Staats auf internationalen Fahn- cen zu gewinnen.
Boden schlafen muss. Makled hat Inter- dungs- und Sanktionslisten. Es fällt schwer, Sein Sieg gilt als sicher, das Regime kon-
netzugang, twittert und verschickt Bot- in Maduros Umfeld jemanden zu finden, trolliert alle wichtigen Institutionen. Die
schaften via Instagram. Wenn es ihm zu dem nicht der Handel mit Drogen oder Opposition hat sich größtenteils zum Boy-
langweilig wird, verlässt er das kott der Wahl entschieden. Die
Gefängnis und amüsiert sich in USA, die EU und die meisten
Diskotheken und Bordellen. lateinamerikanischen Länder
»Makled ist der wahre Herr- werden sie nicht anerkennen.
scher von El Helicoide«, sagt Es gibt viele Gründe für das
Mildred Camero, einst Direk- Überleben des Regimes. Die
torin der Behörde zur Rausch- Opposition ist zerstritten, Chi-
giftbekämpfung. Seine Position na und Russland stützen Ma-
habe er sich mit Herrschaftswis- duro mit Krediten. Internatio-
sen erkauft: Makled hat einen nale Fondsmanager profitier-
großen Teil der venezolani- ten jahrelang von venezolani-
schen Regierung in der Hand. schen Staatsanleihen. Vor al-
Er weiß, welche Offiziere Ko- lem aber schuf die Führung in
kain verschieben, welche Mi- Caracas ein System, das auf
nister Drogengelder waschen. persönlicher Bereicherung,
MIGUEL GUTIERREZ / DPA

Vor acht Jahren wurde Ma- wechselseitigen Abhängigkei-


kled in der kolumbianischen ten sowie der Mitwisserschaft
Grenzstadt Cúcuta verhaftet. gemeinsam begangener Ver-
Später beschuldigte er über brechen beruht. Es ist derselbe
40 venezolanische Generäle Kitt, der auch die Mafia zu-
und hohe Funktionäre der Re- Präsident Maduro*: Ein System persönlicher Bereicherung sammenhält.
gierung Hugo Chávez des »Streitkräfte, Polizei und Re-
Rauschgifthandels – unter ih- gierung kämpfen um Pfründe
nen den heutigen Vizepräsidenten Tareck Waffen vorgeworfen wird, Schmuggel und plündern den Staat aus«, sagt der ehe-
El Aissami und Diosdado Cabello, den oder Korruption. malige Polizeichef Rafael Rivero Muñoz.
starken Mann unter Chávez’ Nachfolger Im Mittelpunkt dieses Systems steht Prä- »Dabei neutralisieren sie sich gegenseitig.
Nicolás Maduro. Dieses Wissen ist heute sident Maduro, ein knapp zwei Meter gro- Keine Mafia ist stark genug, um allein zu
seine Lebensversicherung. »Makled hat ßer Mann mit mächtigem Schnauzer. Be- herrschen.« Das erkläre auch, warum es bis-
Dokumente bei Anwälten in der ganzen vor Hugo Chávez 2013 starb, erkor er sei- lang nicht zu einem Militärputsch gekom-
Welt deponiert«, sagt sein Rechtsbeistand nen Vizepräsidenten zum Nachfolger. Die men sei: »Die Macht der Banden ist hori-
Miguel Ramírez Gaitán. »Wenn ihm etwas Welt belächelte Maduro, der früher als zontal verteilt, es gibt keine Hierarchie.« In
zustößt, wird es veröffentlicht.« Busfahrer gearbeitet hatte und gern er- seiner Wohnung in Caracas hat Muñoz ein
Präsident Maduro hat Makled offenbar zählt, dass der tote Chávez ihm gelegent- Archiv der korrupten Herrschaftsclique zu-
eingespannt, um seine Gegner zu diskre- lich als Vögelchen erscheine. sammengestellt, die Namen Chávez und
ditieren – als Gegenleistung gewährt die Maduro fehlten damals vor allem Ver- Maduro sind dutzendfach vertreten.
Regierung ihm wohl die Sonderbehand- bindungen ins einflussreiche Militär. Be- Prozesse wie der gegen die Maduro-Nef-
lung im Knast. Über Instagram beschuldigt obachter sahen sein Regime am Ende, als fen, Recherchen von Korruptionsermitt-
der Drogenkönig hohe Ex-Funktionäre, der Ölpreis einbrach, als Bilder leerer lern in Brasilien, Zeugenaussagen von
die sich von Maduro abgesetzt haben, sie Supermarktregale um die Welt gingen – Überläufern – dies sind die Mosaiksteine,
hätten von Drogengeschäften und Korrup- und Babys starben, weil das Land kein die sich zu einem Bild zusammenfügen:
tion profitiert. So lenkt Maduro von seiner Geld mehr hatte, um Medikamente und Venezuela ist ein Mafiastaat.
eigenen Familie ab. Lebensmittel zu importieren. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass
Im Dezember hatte ein Richter in New ausgerechnet der Mann, der als Retter der
York zwei Neffen der venezolanischen First * Vor einem Plakat seines Vorgängers Hugo Chávez. Nation angetreten war, ihren Niedergang

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Ausland

CARLOS EDUARDO RAMIREZ / REUTERS


Supermarktregale in San Cristóbal: Kein Geld für Medikamente und Lebensmittel

eingeleitet hat: Hugo Chávez, der charis- wurde, seinen Innenminister und den Chef Dass sich der wirtschaftliche Niedergang
matische Caudillo. Unter ihm begann der des militärischen Geheimdienstes mit der unter Maduro beschleunigte, war für die
Prozess, der den wohlhabenden Ölstaat Pflege der Farc-Kontakte. Die Guerilla korrupten Politiker und Beamten ein
zum korruptesten Land Lateinamerikas durfte ihre Lager in Venezuela errichten, Glücksfall. Die Regierung sah sich ge-
und wichtigsten Transitland für Rauschgift viele Guerilleros wurden mit venezolani- zwungen, immer mehr Lebensmittel zu
gemacht hat. 160 Tonnen Kokain werden schen Papieren ausgestattet. importieren, die in Staatsläden zu subven-
jährlich im Grenzgebiet zwischen Kolum- Mindestens ein Drittel des Kokains aus tionierten Preisen verkauft wurden. Sie
bien und Venezuela produziert, schätzt Kolumbien wird über Venezuela nach Eu- schaffte damit eine Parallelwirtschaft, an
die kolumbianische Polizei. ropa und in die USA geschmuggelt, schät- der sich vor allem das Militär bereichert.
Als Chávez 1999 Präsident wurde, war zen internationale Fachleute. Während Millionen Venezolaner Hunger
Drogenhandel kaum ein Thema. Die Fahn- Chávez duldete offenbar den Rausch- leiden, verkaufen Soldaten Reis, Mais,
der hatten vor allem Kolumbien im Visier, gifthandel, weil der seinem Überleben Fleisch und Bohnen für ein Vielfaches
das zum weltweit größten Exporteur von dienlich war. Nach einem Putschversuch des subventionierten Preises auf dem
Kokain aufgestiegen war. Die Drogenban- im April 2002 säuberte er seinen Offiziers- Schwarzmarkt. Zudem kontrollieren sie
den agierten unter dem Schutzschirm apparat und beförderte Hunderte treue Of- die Häfen; für jede Entladung eines Con-
einer Organisation, die bald darauf zum fiziere zu Generälen. Ihre Loyalität hatte tainers mit Lebensmitteln kassieren sie
größten Drogenkartell Lateinamerikas auf- einen Preis: Chávez ließ zu, dass viele von Schmiergeld.
steigen sollte: der marxistischen Farc-Gue- ihnen sich am Drogenhandel bereicherten. Es gibt in Venezuela keine staatliche In-
rilla. Sie kontrollierte die unzugänglichen Und das tun sie bis heute. stitution mehr, die sich dem Mafiasystem
Grenzregionen, trieb Schutzgelder von Streitkräfte und Nationalgarde kontrol- entgegenstemmt. Die Versuchung ist zu
den Kokabauern ein und kassierte Wege- lieren das Grenzgebiet sowie die Häfen groß – es ist so einfach, zum Millionär zu
zoll von den Drogenhändlern. Kokain wur- und Flughäfen, gegen Schmiergeldzahlun- werden, wenn man auf dem richtigen
de zur wichtigsten Einkommensquelle. gen gewähren sie den Kurieren der Dro- Posten sitzt. Eine der wenigen, die ver-
Chávez empfand Sympathie für die Re- genmafia freies Geleit, oft organisieren sie sucht haben, gegen das Regime anzugehen,
bellen im Nachbarland – und half ihnen. selbst den Drogenschmuggel. Sie brauchen ist Luisa Ortega Díaz, die bis August 2017
E-Mails des ehemaligen Farc-Comandante dabei kaum zu fürchten, dass sie entdeckt Venezuelas Generalstaatsanwältin und lan-
Raúl Reyes belegen, wie eng Chávez mit werden, denn Chávez hat die US-Drogen- ge eine überzeugte Chavista war, eine ju-
den Rebellen paktierte; kolumbianische fahnder der DEA (Drug Enforcement Ad- ristische Handlangerin des Regimes. Doch
Soldaten fanden sie auf einem Laptop des ministration) bereits 2005 aus dem Land als die Beweise für Korruption und Geld-
2008 getöteten Guerillabosses. geworfen. wäsche nicht mehr zu übersehen waren,
So beauftragte Chávez, der bei der Farc Nach Chávez’ Krebstod im März 2013 begann sie zu ermitteln – was von der Re-
unter dem Decknamen »Engel« geführt perfektionierte Maduro dieses System. gierung abgeblockt wurde.

82 DER SPIEGEL Nr. 20 / 12. 5. 2018


Daraufhin floh sie ins Ausland und
nahm Kopien Hunderter Dokumente mit,
die die gesamte Führungsspitze belasten.
Die meisten illegalen Geschäfte liefen laut
diesen Papieren über Drittländer. Oft war
der brasilianische Baukonzern Odebrecht
involviert, der in ganz Lateinamerika Spit-
zenpolitiker bestochen hat. Die zierliche
blonde Frau gilt als wichtige Zeugin gegen
Maduro und seine Clique.
Ortega Díaz hat in den vergangenen
Monaten ihre lateinamerikanischen Amts-
kollegen mit Beweisen für Korruptionser-
mittlungen gegen das Regime munitioniert
– etwa mit Kopien von Zahlungsanweisun-

MATEO GOMEZ / DER SPIEGEL


gen Odebrechts, die das mächtige Regie-
rungsmitglied Diosdado Cabello belasten.
Cabello soll bei der Erweiterung der U-
Bahn von Caracas 100 Millionen Dollar
abgezweigt haben.
In Mexiko hat Díaz die Staatsanwalt-
schaft mit Dokumenten versorgt, die Ma-
duro persönlich belasten. Der Präsident
soll Teilhaber einer mexikanischen Firma
sein, die die Verteilung von Lebensmitteln
in Venezuela organisiert. Ein Vorwurf, den
Maduro bestreitet.
Die Wirtschaftskrise hat den Drogen-
handel im Land befördert, nirgendwo ist
das so offensichtlich wie an der Grenze
zwischen Kolumbien und Venezuela. Aus
Venezuela kommen Benzin, Lebensmittel
und Autos. In die Gegenrichtung strömen
die »mulas«, wie die Drogenkuriere ge-
nannt werden, mit dem Rauschgift.
Jeden Morgen um sechs öffnen Solda-

MATEO GOMEZ / DER SPIEGEL


ten die Brücke über dem Río Táchira, den
wichtigsten Grenzübergang zwischen den
beiden Ländern. Männer, Frauen und Kin-
der schleppen und zerren dann schwer be-
packte Taschen und Koffer hinter sich her.
Die meisten wollen weiter nach Bogotá
oder in andere Länder, nur weg aus der
Hungerrepublik Venezuela.
Entlang der Grenze betreibt die Dro-
genmafia Laboratorien, dort werden Koka-
blätter zu Kokain verarbeitet. Die Drogen
stammen zumeist aus den Anbaugebieten,
die früher von der Farc kontrolliert wur-
den. Andere bewaffnete Gruppen sind in
das Vakuum gestoßen, das die Farc hinter-
lassen hat. Die Kokaanbauflächen haben
sich hier in den vergangenen vier Jahren
versechsfacht.
Damit es nicht zu Verwechslungen
kommt, markieren die Rauschgifthändler
die Kokainpakete mit einer Art Brandzei-
MATEO GOMEZ / DER SPIEGEL

chen. Was die Sendungen eint, ist ihr Be-


stimmungsort: Venezuela. Jede Nacht star-
ten kleine Flugzeuge von illegalen Lande-
pisten. »So viele Flugbewegungen wären
nicht möglich ohne das Mitwissen der ve-
nezolanischen Streitkräfte«, sagt Bo Ma-
thiasen, der Leiter der Uno-Organisation Antidrogenpolizei, Schwarzmarktgeld, Kokain*
zur Drogenbekämpfung in Bogotá. Die Kokaanbauflächen haben sich versechsfacht
* Im Grenzgebiet von Kolumbien zu Venezuela.

83
Schon seit Jahren gibt es Gerüchte, dass ter von Präsident Chávez; nach dessen Tod
die Rauschgiftconnection bis in die Umge- war er Diosdado Cabello zu Diensten.
bung des Präsidenten reicht. Doch der Über einen Mittelsmann wandte sich
DEA fehlten Kronzeugen, bis Walid Ma- Salazar an Rodil, der schlug ihm ein Tref-
kled festgenommen wurde. Offiziell be- fen auf einer Karibikinsel vor. Dort prüften
trieb Makled ein Lagerhaus in der Hafen- Mitarbeiter von FBI und DEA einen Teil
stadt Puerto Cabello, tatsächlich arbeitete des Materials, das Salazar ihnen in Aus-
er als Broker im Rauschgiftgeschäft. Er sicht stellte. »Es war beeindruckend«, sagt
koordinierte Kokainmengen, die sich ohne Rodil. Ȇber Monate hatte Salazar ver-
die Mithilfe höchster Regierungsstellen trauliche Gespräche von Cabello mitge-
nicht bewegen ließen. Bis zu zehn Tonnen schnitten.« Rodil riet seinem Klienten, sei-
Drogen soll er monatlich in die USA und ne damalige Freundin zu heiraten. Er wies
nach Europa geschleust haben. Salazar an, seinen Instagram-Account mit
Neun Monate saß Makled in Kolumbien Fotos der Hochzeit zu füllen. Niemand

REUTERS
im Gefängnis, während sich Bogotá, Wa- schöpfte Verdacht, als beide nach Spanien
shington und Caracas um seine Ausliefe- in die Flitterwochen aufbrachen, aus de-
rung stritten. Damals regierte noch Hugo Verhaftete Maduro-Neffen 2015 nen sie nie mehr zurückkamen.
Chávez, der Makled unbedingt zurück in Ein 20-Millionen-Dollar-Geschäft Salazar bestätigte, was zuvor schon
seine Heimat holen wollte, wohl weil er Drogenboss Makled erzählt hatte: Dios-
fürchtete, dass dieser über seine Verbin- dado Cabello soll der Chef eines Drogen-
dungen zur Regierung auspacken würde. im Spiel. Rodil, ein 46-jähriger Venezola- kartells sein, das von Militärs betrieben
Makled habe Angst gehabt, er würde in ner, sitzt in einem verglasten Konferenz- wird. Seine Aussage ist eines der wichtigs-
Venezuela umgebracht, so sein Anwalt raum in der K-Street nicht weit vom Wei- ten Teilchen in dem Puzzle, das die US-
Gaitán: »Chávez persönlich versicherte ßen Haus. Er wirkt müde. Justiz nun Stück für Stück zusammensetzt.
ihm schließlich, dass ihm nichts passieren Rodil hat in den vergangenen Jahren gro- Mehr als hundert geflüchtete Venezolaner
werde.« ße Teile der venezolanischen Elite im US- wurden mittlerweile ins Zeugenschutzpro-
Hohe Funktionäre des Regimes, die sich Zeugenschutzprogramm untergebracht. gramm aufgenommen. Ihre Aussagen und
in die USA abgesetzt haben, bewerben Mehr als 50 Fluchten hat Rodil, so sagt er, Dokumente dienen als Grundlage für An-
sich nun mit Makled-Interna um Haft- bis heute organisiert, aber kaum eine hat klagen und Sanktionen. »Es scheint, als
erleichterungen. Wenn sie flüchten, hat oft so viel Aufsehen erregt wie die von Leamsy würden die Amerikaner langsam verste-
ein Mann namens Martín Rodil die Finger Salazar. Salazar war lange Jahre Leibwäch- hen, dass man das Venezuela-Problem

Endlich Geborgenheit ANZEIGE

Wenn Alleinerziehende nur die Geschichte von ihrer Mama, die ohne Job borgenheit eines geregelten Familienalltags.
bedingt oder gar nicht arbeiten ist und nicht arbeiten kann. Mehr noch: Weil Den Kontakt zu ihrer „echten Mama“ pflegt
die Alleinerziehende Strahlen fürchtet, sind sie weiterhin. Ihre Mutter ist jetzt in einer
können, ist das Armutsrisiko für
alle Fenster mit schwarzen Müllsäcken ver- Tagesklinik. An manchen Wochenenden
die Familie groß. Die Folgen klebt. Nach draußen geht die Mutter nur, besucht sie Sina im Kinderdorf. Wenn die
treffen Kinder besonders hart. wenn es dunkel ist. Sina hat gelernt, so gut junge Frau so stabil ist, dass sie für ihre
sie kann, für sich selbst zu sorgen. Sie geht Tochter sorgen kann, möchten die beiden
mit dem wenigen Geld, das die Familie hat, wieder normal zusammenleben. „So wie
einkaufen. Über ihre Angst und Traurigkeit früher, als ich klein war. Das ist unser
schweigt sie lange Zeit. Traum“, sagt Sina. Wie immer ihre Zukunft
dann aussieht: Alleingelassen wird Sina
Höchste Zeit zu handeln nicht mehr.
* Name von der Redaktion geändert. Foto: © 123RF / Tatiana Kostareva

Das Gespräch mit der Lehrerin ist Sinas Ret-


tung. Die Pädagogin berät sich mit einer HELFEN SIE
HILFLOS
Schulsozialarbeiterin von SOS-Kinderdorf, UNS HELFEN!
Oft verschweigen Kinder die einfühlsam vorgeht und es schafft, Sinas
ihre prekäre Familien- Mutter zu einem Treffen in der Schule zu be- ARMUT IN DEUTSCHLAND
situation und bleiben
wegen. Danach ist allen Beteiligten klar: Die Viele Familien haben immer weniger finanzielle
auf sich allein gestellt
Mutter muss ihre schwere psychische Störung Mittel, um an dem Leben teilzuhaben, das um sie
behandeln lassen. Bis auf Weiteres kann sie herum stattfindet. Kinder sollten nicht darunter
leiden müssen. SOS-Kinderdorf sorgt mit Ihrer

A
ls Sina* in der Schule immer schlech- nicht allein mit Sina bleiben, denn das Mäd-
Unterstützung für benachteiligte Kinder.
ter wird und im Unterricht häufig über chen braucht eine Umgebung, in der es sich
Spendenkonto: SOS-Kinderdorf e.V.
Bauchschmerzen klagt, schöpft ihre sicher und umsorgt fühlt.
IBAN: DE02 7002 0500 0007 8080 05
Lehrerin Verdacht. Sie spricht die Achtjäh- Heute wohnt Sina in einem SOS-Kinderdorf.
Nähere Informationen erhalten Sie unter
rige auf ihr Zuhause an. Da bricht es aus dem Im Kreis ihrer Kinderdorfmutter und vier www.sos-kinderdorf.de
Mädchen heraus. Unter Tränen erzählt sie Kinderdorf-Geschwister fi ndet sie die Ge-
Ausland

nicht politisch lösen kann«, sagt Flucht- Maduros Stellvertreter soll den Rausch- Militärs. Jahrelang, so Colina, hätten die
helfer Rodil. giftschmuggel »erleichtert, koordiniert und venezolanischen Streitkräfte in Doral rund
Die US-Regierung hat die Rauschgift- geschützt« haben. Er habe den Transport 30 Lagerhäuser betrieben, in denen Güter
connection der venezolanischen Regie- von »Drogenladungen von über tausend für ihre Landsleute in der Heimat lagerten,
rung zwar seit 2003 im Visier, damals ließ Kilo« beaufsichtigt, sagt das US-Schatzamt. jede Woche sei ein Flug gegangen.
Präsident George W. Bush die Farc auf Die als »Imperium des Bösen« verteu- »Seit die Amerikaner ihre Sanktionen
eine Liste gefährlicher Drogenhändler set- felten Vereinigten Staaten galten immer verschärft haben, gehen viele Venezolaner
zen. Unter Barack Obama wurde das The- als erste Adresse, wenn es darum ging, nach Europa«, sagt Colina. Manchmal
ma diskreter gehandhabt, da er den Frie- Millionen in Sicherheit zu bringen. Be- versucht er, seine Freunde in der Armee
densprozess in Kolumbien und die Annä- sonders gern steckte die Bolivar-Bourgeoi- zu überzeugen, sich gegen Maduro aufzu-
herung an Kuba nicht gefährden wollte. sie, wie die Revolutionsbonzen genannt lehnen. »Aber sie fragen mich: ›Verdiene
Donald Trump nimmt darauf keine Rück- werden, ihr Geld in Immobilien und Fir- ich in der Armee eines demokratischen
sicht. Er ließ Venezuela zum »Narcostaat« men in Doral, eine Stadt nahe Miami. In Rechtsstaats auch 50 000 Dollar im Mo-
erklären und verhängte Finanzsanktionen Florida ist der Ort wegen der vielen Zu- nat?‹«
gegen die Führungsclique, die Europäische wanderer als »Little Venezuela« bekannt. Das Netz um die Mafiaclique in Caracas
Union schloss sich an. José Colina sitzt hier in einem kleinen zieht sich zu. Die Kriminalisierung des Re-
Washingtons wichtigstes Druckmittel ge- Restaurant beim Frühstück, im Fernsehen gimes hat aber auch einen Nebeneffekt:
gen Rauschgiftdealer und Geldwäscher ist läuft Baseball. Colina mochte Chávez nie. Sie macht einen friedlichen Ausweg aus
das Office of Foreign Assets Control des US- Im Jahr 2002 beteiligte er sich an dem dem venezolanischen Drama immer
Finanzministeriums. Die Bankguthaben de- Putschversuch gegen ihn, kurz darauf setz- schwieriger. Kaum ein Regierungsmitglied
rer, die auf der roten Liste stehen, werden te er sich in die USA ab. Heute führt er kann noch außer Landes reisen, ohne eine
eingefroren. US-Bürgern ist es verboten, mit eine Firma, die Tiefkühlkost an Super- Verhaftung fürchten zu müssen. Ein siche-
den Sanktionierten Geschäfte zu machen märkte ausliefert, seine Freizeit widmet er res Exil für Maduro und seine Leute wäre
oder Finanztransaktionen durchzuführen. dem Kampf gegen das Maduro-Regime. jedoch eine Bedingung dafür, dass ein Re-
Die Liste liest sich wie ein Who’s who Vor zehn Jahren gründete er die Orga- gimewechsel verhandelbar wird.
der venezolanischen Regierung. Sie um- nisation Veppex, die sich für die Interessen Das ist das Fatale, wenn Regierende zu
fasst Minister und Geheimdienstchefs, Ge- politisch verfolgter Venezolaner im Exil Räubern werden: Sie nehmen die gesamte
neräle und Abgeordnete. Mehr als 50 hohe einsetzt. Colina hat eine Liste mit etwa Bevölkerung als Geiseln. Aber sie sind
Funktionäre wurden bislang mit Sanktio- tausend Namen von Leuten erstellt, die auch Gefangene im eigenen Land.
nen belegt. Angeführt wird die Liste von eng mit der Regierung zusammenarbeiten, Marian Blasberg, Jens Glüsing
Vizepräsident Tareck El Aissami. unter ihnen viele Familienangehörige von

natürliche
Zutaten
Ausland

Dundalk mit einem Schlag an einer Außen-


grenze der EU.
Unternehmer könnten ihre Lieferanten
Beziehungen mit der EU verlieren und Pendler wieder stundenlang
im Stau stehen, doch das ist nicht das
Norwegen, Liechtenstein und Island Schlimmste. In Irland ist der Brexit eine
Frage von Krieg und Frieden. Die Insel ist
• Zuständigkeit des • Substanzielle
Europäischen Gerichtshofs Zahlungen an die EU seit Jahrzehnten in die Republik Irland im
• Freizügigkeit: • Regulatorische Von den Briten Süden und die britische Provinz im Nor-
keine Grenzkontrollen Zusammenarbeit abgelehnt den geteilt. Erst das sogenannte Karfrei-
tagsabkommen beendete 1998 die auch re-
Schweiz
ligiös motivierten Auseinandersetzungen
• Freizügigkeit: • Regulatorische in Nordirland. In den vergangenen 20 Jah-
keine Grenzkontrollen Zusammenarbeit
• Substanzielle ren sorgten das grenzenlose Reisen zwi-
Zahlungen an die EU schen beiden Inselteilen sowie etliche Mil-
liarden an EU-Fördermitteln dafür, dass
Ukraine der mühsam errungene Frieden zwischen
• Zuständigkeit • Regulatorische Katholiken und Protestanten hielt.
des Europäischen Zusammenarbeit Die Emotionen schlagen hoch in diesen
Gerichtshofs Tagen, dabei sind die Brexit-Verhand-
lungen auch so schon kompliziert genug.
Es geht um das Leben von gut drei Millio-
Türkei nen EU-Bürgern in Großbritannien und
Von der EU abhängige die Frage, nach welchen Regeln Kontinent
Handelspolitik und Insel künftig Handel treiben, Terro-
risten bekämpfen und Europas Vertei-
Kanada und Südkorea digung organisieren wollen. Wohl noch nie
seit der politischen Neuordnung des Kon-
Abkommen im
Rahmen der Welt- Wahrscheinlich tinents beim Wiener Kongress vor gut
handelsorganisation von den Briten 200 Jahren mussten die Europäer ähnlich
akzeptiert komplexe Verhandlungen mit so weit-
reichenden Folgen in so kurzer Zeit ab-
KE schließen.
AB IN Geht es nach der EU, soll der Austritts-
KO vertrag mit den Briten im Oktober unter-
MM schriftsreif sein, dann können die Parla-
EN mente darüber abstimmen. Doch dafür
muss erst mal Klarheit darüber herrschen,
wie die künftige Grenze in Irland aussieht,

Aus der Traum und davon kann bislang keine Rede sein.
»Das Risiko des Scheiterns ist da«, sagt
Barnier, 67. Der Franzose lässt sich in ei-
nen breiten Ledersessel fallen, an einem
Europa Das nordirische Grenzproblem wird zur entscheidenden Hürde Dienstag Ende April ist er für einen Tag
bei den Brexit-Verhandlungen. Die Regierung in London zerlegt sich, in Berlin zu Gast. Zwischen zwei Terminen
der EU-Beauftragte Barnier warnt vor dem Scheitern der Gespräche. bespricht er sich mit seinem Team in der
Vertretung der EU-Kommission am Bran-
denburger Tor, an der Wand hängt ein Por-

D er Gottseibeiuns der britischen Me-


dien, der Mann, dem »The Sun«
und »Mirror« unterstellen, er wolle
das Vereinigte Königreich spalten, der
In Dundalk, einer kleinen Grenzstadt
auf halbem Weg zwischen Dublin und Bel-
fast, wird Michel Barnier am Montag ver-
gangener Woche ein Empfang bereitet,
trät Walter Hallsteins in Öl, des bislang
einzigen deutschen Kommissionschefs.
Barnier ist ständig unterwegs, um Er-
wartungen und Befürchtungen der bald
Unterhändler, der eitel bis in die silber- wie er Brüsseler Bürokraten nicht jeden nur noch 27 Mitgliedstaaten einzusam-
grauen Haarspitzen sein soll, dieser Mann Tag zuteilwird. Selbst Irlands Premier- meln. Gleich will er Olaf Scholz treffen,
also hält plötzlich inne. Ob sie ein Selfie minister Leo Varadkar ist da, um den Bre- den neuen Bundesfinanzminister, zuvor
mit ihm machen könne, will eine Frau xit-Chefunterhändler der EU vor dessen geht es zu Merkels Beratern im Kanzler-
wissen, die eben noch im Publikum ge- Rede zu begrüßen. »Michel Barnier, das amt, mit denen er über die nächste Stufe
sessen hat. Michel Barnier will eigentlich ist in Irland ein vertrauter Name«, flötet der Verhandlungen sprechen will.
zum Ausgang, doch jetzt blickt er erst der irische Außenminister. Noch sind es nicht mehr als Vorbespre-
mal freundlich in die Handykamera. Poli- Die Popularität Barniers hat einen chungen. Selbst fast zwei Jahre nach dem
tiker nutzen die Gelegenheit und zücken Grund, denn kein EU-Mitglied wird stär- Brexit-Referendum ist weiter unklar, wel-
ihr Smartphone, sogar die irische Vize- ker vom Brexit betroffen sein als Irland. che Art von Scheidung die Regierung von
präsidentin des Europaparlaments drängt Und nirgendwo dürfte der Brexit härter Theresa May anstrebt oder, vielleicht wich-
sich an den hochgewachsenen Franzosen. zuschlagen als hier, keine zehn Kilometer tiger, im Parlament durchsetzen kann.
»Noch ein Foto?«, fragt der geduldig, südlich der nordirischen Grenze. Wenn Auch wenn es für ein zweites Referendum
bevor er sich weiter zum nächsten Termin die Briten am 29. März 2019 die Gemein- und eine Abkehr vom Austritt letztlich
schiebt. schaft verlassen, leben die Menschen in wohl keine Mehrheit gibt, drängt die briti-

86 DER SPIEGEL Nr. 20 / 12. 5. 2018


sche Wirtschaft auf eine möglichst sehen darin einen Versuch, die
enge Anbindung an die EU. Einheit des Vereinigten König-
Zuletzt gaben auch die Lords reichs zu untergraben. Dass Mays
im Oberhaus der Regierung auf, Mehrheit im Unterhaus ausge-
mit der EU eine Zollunion auszu- rechnet von der nordirischen
handeln und im Binnenmarkt zu DUP abhängt, macht die Sache
bleiben. Würden sie sich durch- nicht leichter, heftige Vorwürfe
setzen, hielte sich der wirtschaft- werden ausgetauscht.
liche Schaden eines Austritts in »Er ist kein ehrlicher Vermitt-
Grenzen. Die Unternehmen des ler«, sagt DUP-Chefin Arlene
Kontinents und der Insel könnten Foster über Barnier. Der kontert
weitgehend Handel treiben wie in Dundalk, er respektiere die
bisher. Ein derartiger, möglichst verfassungsmäßige Ordnung des
schmerzfreier Brexit hat in der bri- Vereinigten Königreichs. »Es ist
tischen Debatte sogar ein eigenes allein der Brexit, der Probleme
Kürzel – Brino heißt er, »Brexit in Nordirland verursacht.«
in name only«, Brexit nur dem Die britischen Brexit-Unter-
Namen nach. händler träumen von einer
Allerdings hat eine Zollunion elektronisch überwachten High-
so gar nichts mit dem Brexit zu tech-Grenze, an der Barcodes
tun, den sich die Hardliner in automatisch gescannt werden
Mays Tory-Partei vorstellen; ent- wie bei der Paketabfertigung im
sprechend unwahrscheinlich ist es, Onlinewarenhaus Amazon. Ab-
dass sich diese Haltung am Ende gesehen davon, dass niemand
durchsetzen wird. Schließlich ist glaubt, dass die Briten das Geld

CHARLES MCQUILLAN / GETTY IMAGES


die schöne Vision von »Global dafür aufbringen wollen, wäre da-
Britain« nicht viel wert, wenn das mit nicht geklärt, wie etwa tier-
Land bei den Verhandlungen über ärztliche Untersuchungen statt-
Freihandelsabkommen noch nicht finden sollen.
mal eigenständig über die Höhe Skepsis gibt es zudem gegen-
der Zölle bestimmen kann. über dem zweiten britischen Vor-
Barnier blickt nüchtern auf die schlag, dem einer sogenannten
Verwerfungen in London. »Ich Zollpartnerschaft. Dabei würden
habe nicht die Absicht, zwischen EU-Unterhändler Barnier die Briten für Waren, die aus
den verschiedenen britischen Posi- »Der Brexit kennt keine Gewinner« Drittländern über Großbritan-
tionen zum Brexit zu vermitteln«, nien in die Europäische Union
sagt er trocken. Der Mann war kommen, quasi im Auftrag der
Außenminister in Frankreich und als EU- Barnier mahnt. »Bislang sind wir noch EU Zölle eintreiben. Doch auch das ist
Kommissar für den Binnenmarkt zustän- nicht mal in der Nähe einer Lösung des kompliziert, außerdem haben EU-Diplo-
dig, er weiß mit delikaten Situationen um- Grenzproblems.« maten wenig Vertrauen in die britischen
zugehen. Bislang hat die EU die meisten Unterhändler der EU und Großbritan- Zöllner. Zuletzt ermittelte sogar die EU-
Scharmützel mit den Briten gewonnen: niens sind sich zwar einig, dass es auch Antibetrugsbehörde Olaf gegen Großbri-
Am Ende musste Downing Street klein künftig keine echte Grenze auf der irischen tannien, weil es bei der Einfuhr von Klei-
beigeben, bei den künftigen Rechten von Insel geben soll. Doch damit beginnen die dung und Schuhen aus China zu Betrug in
EU-Bürgern auf der Insel etwa. Probleme erst. Die EU schlägt vor, dass Milliardenhöhe gekommen sein soll. »Wir
Vor allem bei der Frage, wie das Ver- Nordirland einen Sonderstatus erhält, das werden nicht zulassen, dass in Nordirland
hältnis der EU zu den Briten künftig aus- heißt in einer Zollunion mit der Gemein- ein Schleichweg in den Binnenmarkt ent-
sehen soll, schnurrt die Zahl der Optionen schaft bleibt, und darüber hinaus EU- steht«, warnte der niederländische Regie-
zusammen. Zur Erläuterung zückt Barnier Binnenmarktregeln weiter angewendet rungschef Mark Rutte (SPIEGEL 12/2018).
ein DIN-A4-Papier mit einer Treppe (sie- werden. Das Schöne an dem Trick: Die Noch ist offen, ob der Juni-Gipfel die
he Grafik). Auf einem Schaubild ist zu se- künftige Grenze auf der Insel wäre in erwünschten Erfolge bringt. Und es ist
hen, wie die künftige Zusammenarbeit Wahrheit keine, der fragile Frieden bliebe auch nicht so, dass sich die Brüsseler
von EU und Briten aussehen könnte, wenn gewahrt. Unterhändler über das Dauerdesaster in
man die Ankündigungen Mays als Grund- Diese Idee soll, als sogenannter Back- Mays Regierung freuen. Immerhin, sie wol-
lage nimmt. stop, also als eine Art Notfalllösung, be- len ebenfalls Klarheit, zumal kaum je-
Oben links ist die Fahne Norwegens zu reits im Austrittsabkommen verbindlich mand glaubt, dass der Brexit trotz all des
sehen, das Land gehört dem Binnenmarkt geregelt werden. Wenn die Briten später Chaos doch noch abgesagt wird.
an, mehr EU geht nicht, wenn man nicht mit einem besseren Vorschlag kommen, Ob er sich als Gewinner bei den Ver-
Mitglied sein will. Weil die Briten aber den umso besser. »Es gibt kein taktisches Spiel handlungen fühle, will ein jungforscher
Zuzug von EU-Ausländern begrenzen wol- mit Irlands überlebenswichtigen Interes- Fernsehreporter wissen, der Barnier in die-
len und eine Zollunion bislang ablehnen, sen«, sagt Barnier. »Ohne den Backstop sen Tagen begleitet. Der blickt auf und
bleibt nur die Möglichkeit, die unten rechts wird es kein Abkommen geben.« fragt zweimal nach, ob er die Frage richtig
aufgelistet ist: ein Freihandelsabkommen Das Problem ist nur, dass die Zollgrenze verstanden habe. Gewinner? Barnier
nach Vorbild Kanadas oder Südkoreas. zwischen der EU und Großbritannien schüttelt den Kopf.
Doch ehe es so weit ist, muss die Irland- dann zwischen Nordirland und dem Rest »Der Brexit«, sagt er, »kennt keine Ge-
Frage beantwortet sein, am besten schon des Vereinigten Königreichs verlaufen wür- winner.« Peter Müller
beim nächsten EU-Gipfel Ende Juni, wie de. Nicht nur Hardliner in Mays Regierung

87
Ausland

Ein smarter Rebell


ten. Die Opposition ruft zum Boykott des
Referendums auf. Aber Paschinjan verwei-
gert den Kampf und nennt die Verfassungs-
frage nebensächlich.
»Im Parlament hielt Paschinjan unglaub-
Armenien Nikol Paschinjan hat erfolgreich Straßenproteste lich scharfe Reden«, erinnert sich der Poli-
angeführt. Jetzt ist er auf einmal tologe und Autor Gevorg Ter-Gabrielyan.
Premierminister, und alle erwarten Großes von ihm. »Mich hat gewundert, dass diese Reden
gar keine Folgen hatten – weder für die
Politik noch für Paschinjan selbst. Aber so

E s gibt Wunder in der Politik, die klei-


ne Kaukasusrepublik Armenien hat
es gerade wieder vorgemacht. Ein
politischer Außenseiter hat dort in weni-
yan. »Er hatte Charisma, es gab sogar Rap-
versionen seiner Reden. Aber er war auch
unerfahren und emotional.« Die Straßen-
proteste werden brutal niedergeschlagen,
war eben das System: Das freie Wort war
darin nicht verboten. Es war bloß bedeu-
tungslos.«
Heute ist Ter-Gabrielyan begeistert von
gen Wochen eine Protestbewegung ange- acht Demonstranten und zwei Polizisten Paschinjans politischer Strategie. Und
stoßen, eine korrupte Regierung gestürzt, sterben. auch der Funktionär des Nationalkon-
die Macht errungen. Aber was nun? Die Das Blutbad ist ein Schock für das gresses sagt: »Paschinjan hat die Tür zur
Leute erwarten weitere Wunder. Was, kleine Land. Viele geben Paschinjan eine Demokratie aufgestoßen. Jetzt müssen wir
wenn sie herausfinden, dass ihr Idol Nikol Mitschuld. Er taucht für mehr als ein Jahr nur noch hindurchgehen.«
Paschinjan kein Brot vermehren und keine unter, dann stellt er sich der Polizei und Im März 2018 wird Gewissheit, was alle
Lahmen heilen kann? kommt für weitere zwei Jahre in Haft. Als geahnt haben: Sargsjan will Premier wer-
Das fragt sich jeder, der derzeit Eriwan er das Gefängnis verlässt, ist er ein anderer den. Am 31. März beginnt Paschinjan des-
besucht, eine Stadt im Nikol-Fieber. Alle Mensch geworden: ruhiger, ein Opposi- halb einen Protestmarsch von Gjumri im
Hoffnung auf eine bessere Zukunft scheint tionspolitiker, nicht mehr ein Revolutionär. Norden bis nach Eriwan. Vorbild ist der
an dieser Figur zu hängen, dem bärtigen Er nennt heute gern Nelson Mandela als Marsch, mit dem Gandhi einst gegen das
Rebellen, dessen Gesicht auf vielen T- Vorbild. Salzmonopol der britischen Kolonialher-
Shirts zu sehen ist. Diese Woche hat das Das Jahrzehnt unter Präsident Sersch ren protestierte. Die Aktion wirkt schrill,
Parlament ihn zum Premierminister ge- Sargsjan ist für Armenien keine gute Zeit. auch Freunde machen sich darüber lustig.
wählt, das wurde auf dem riesigen Platz Die internationale Wirtschaftskrise hat Schließlich ist Paschinjan nicht Gandhi
der Republik gefeiert. Paschinjan stand auf das Land hart getroffen. Es wächst die und Armenien nicht Indien.
der Bühne und sagte große, einfache Wor- Kluft zwischen dem Gros der Bevölke- Es ist eine winzige Wandergruppe, die
te über das Volk und die Republik und die rung und den wenigen Oligarchen, die in da aufbricht. Aber bei Paschinjans Einzug
»Revolution der Liebe und der Solidarität«, Armenien bekannt sind wie Fernsehstars. in Eriwan zwei Wochen später sieht alles
die hier gesiegt habe. Sie haben Spitznamen und kuriose Paläs- anders aus. Paschinjan ist nun nicht mehr
Wildfremde umarmten einander, und te. Da ist Gagik Zarukjan, genannt »der der glatt rasierte Parlamentarier im Anzug,
hinten auf dem Platz gab es sogar eine aus- tumbe Gago«, Ex-Weltmeister im Arm- sondern ein bärtiger Wanderer mit Tarn-
gelassene Schneeballschlacht, weil ein wrestling, dem die Weinbrandfabrik hemd, Basecap und Rucksack. Und sein
paar Enthusiasten zur Feier des Ararat gehört und die Partei »Blü- mittlerweile beachtlicher Wandertrupp
Tages Schnee vom Berg Aragaz hendes Armenien«. vereinigt sich mit Studentenprotesten in
in einem Lastwagen herbeige- ARMENIEN Oder Samwel Alexanjan der Hauptstadt. Paschinjans Festnahme
schafft hatten. Es ist schön, in alias Lfik Samo, der sich das lässt die Proteste nur anschwellen. Die
diesen Tagen in Eriwan zu sein, staatliche Monopol auf den Im- Polizei greift nicht mehr ein. Eine Woche
man sieht viel kindliche Freude. port von Zucker gesichert hat nach Paschinjans Ankunft in Eriwan gibt
Aber es ist auch verwirrend. Was und für die Regierungspartei im Sargsjan das Amt des Premiers auf. »Nikol
ist das für ein Mann, auf den die Parlament sitzt. Politik und Ge- hatte recht. Ich hatte unrecht«, sagt er.
Menschen hier alle Hoffnungen set- schäfte sind fest miteinander verwach- Konsequent predigt der gereifte Pa-
zen? Was will er? Und wieso hat ihn Mos- sen in Armenien. schinjan von 2018 Gewaltlosigkeit. Er
kau, das in Armenien Truppen stationiert Paschinjan wird der lauteste Kritiker entschuldigt sich bei der Polizei für Un-
hat, gewähren lassen? Der Kreml hegt doch dieser Korruption. Und trotzdem gilt er annehmlichkeiten. Er ist stets höflich,
sonst wenig Wohlwollen für Machtwechsel vielen als Verräter, der sich an das System wenn auch radikal. Er lässt Straßen blo-
in seiner Nachbarschaft, auch wenn sie als verkauft hat. Das liegt daran, dass er seine ckieren; mit seinen Anhängern besetzt er
friedliche Revolution daherkommen. alte Partei – den traditionsreichen »Arme- das Gebäude des öffentlichen Radios, um
Die Geschichte von Nikol Paschinjans nischen Nationalkongress« – verlassen hat. eine Berichterstattung über die Proteste
Aufstieg zur Macht beginnt mit einem Dort grollen sie ihm bis heute. zu erzwingen.
grandiosen Scheitern. Es ist Frühjahr 2008, »Sersch Sargsjan brauchte eine zahme »Dabei haben wir ohnehin über die Pro-
und die kleine Kaukasusrepublik hat ge- Ersatzopposition statt der echten, und Pa- teste berichtet«, sagt Rundfunkchef Mark
rade einen neuen Präsidenten gewählt. Er schinjan gab sich dafür her«, sagt ein Funk- Grigorjan. »Paschinjan konnte jederzeit
heißt Sersch Sargsjan und gilt als Kriegs- tionär der Partei. Warum sonst, fragt er, bei uns auftreten, wenn er wollte.« Anders
held aus dem Konflikt mit Armeniens hätte Paschinjan in kritischen Momenten als das Fernsehen war das öffentliche
Nachbarn Aserbaidschan um die Region keinen Widerstand geleistet? Radio in Armenien relativ frei von politi-
Bergkarabach. Aber sein knapper Sieg im 2015 lässt Sargsjan die Verfassung än- schem Druck – »und ich hoffe«, sagt Gri-
ersten Wahlgang wird von der Opposition dern und alle Macht vom Amt des Präsi- gorjan, »Nikol wird künftig unseren Status
auf der Straße angefochten. Einer der An- denten auf das des Premierministers ver- respektieren«. Die Studiobesetzung war
führer ist der 32 Jahre junge Journalist und schieben. Es ist absehbar, warum: Sargsjan reine Show, Paschinjan brauchte sie, um
Politiker Nikol Paschinjan. darf nach zwei Amtszeiten nicht mehr für maximale Aufmerksamkeit zu erregen. Es
»Paschinjan war damals das Symbol der die Präsidentschaft kandidieren, er will sollte alles friedlich sein, aber schon irgend-
Jugend«, sagt der Historiker Mikael Zol- Premier werden und die alte Macht behal- wie nach Revolution aussehen.

88 DER SPIEGEL Nr. 20 / 12. 5. 2018


Es gibt Mitstreiter von Paschinjan, für
die diese Revolution zu friedlich war. Wa-
rum, fragen sie, hat er nach Sargsjans Sturz
nicht gleich Regierung und Parlament be-
setzt? Dann müsste er sich nun nicht mit
der alten Elite herumschlagen, die Minis-
terien und Parlament kontrolliert. Jetzt ist
er zwar Premier, aber er braucht die Zu-
stimmung von Sargsjans Fraktion, um sein
Programm durchzubringen und Neuwah-
len vorzubereiten. Sein wichtigstes Druck-
mittel, die Straßenproteste, wird nicht
ewig funktionieren.
Offenbar war Paschinjan klar, dass er
mit einer echten Revolution den Bogen
überspannt und Russland gegen sich auf-
gebracht hätte. Denn das ist das Erstaun-
lichste an diesem Machtwechsel: dass nicht
nur kein Mensch zu Schaden gekommen
ist, sondern dass der Kreml mit keinem
Wort Partei ergriffen hat.
Paschinjan ist nicht müde geworden zu
versichern, dass Armenien weder das Mi-
litärbündnis mit Moskau noch Putins Eu-

ANUSH BABAJANYAN / THE NEW YORK TIMES


rasische Wirtschaftsunion verlassen wird.
Er hat versprochen, dass es keine Rache
gegen Anhänger der alten Führung geben
werde. Er hat alle Grenzen, die Putin ge-
setzt hat, respektiert – auch die Sitzvertei-
lung im Parlament. So ist ausgerechnet
Wladimir Putin einer der Ersten gewesen,
der Paschinjan zur Wahl gratuliert hat.
Er sei weder prorussisch noch prowest-
lich, hat Paschinjan beteuert, er sei pro-
Politiker Paschinjan: »Revolution der Liebe und der Solidarität« armenisch. Von »softem Nationalismus«
sprechen manche. Mikael Zolyan, der
Historiker, vergleicht Paschinjan mit Eu-
ropas linken Populisten, mit der spani-
schen Podemos und der griechischen Sy-
riza. Wie er diesen Populismus in Politik
umsetzt, das muss er nun zeigen. Die meis-
ten Stimmen für seine Wahl zum Premier
kamen ausgerechnet von der Partei des
Oligarchen Gagik Zarukjan. Das verheißt
schon mal nichts Gutes für den Kampf ge-
gen die Oligarchie.
Aber noch stellen sich die Eriwaner all
diese Fragen nicht. Es ist, als hätte Paschin-
jan das Land aus einer tiefen, langen De-
pression gerissen. Gleich nach der Wahl
hat er sein Smartphone auf einen Selfie-
stick geklemmt und sich dabei gefilmt, wie
er im Büro des Premiers alle Türen auf-
reißt. Hallo, das ist mein neuer Arbeits-
platz, sagt er gut gelaunt in dem Video,
das er auf Facebook veröffentlicht hat.
Schaut her, hier ist die Küche. Hier ist das
Bad. Hier geht es ins Erdgeschoss.
Es wirkt wie eine gezielte Entweihung
von Sargsjans Machtzentrum. Die Macht
im Staat, das will der neue Premier zeigen,
SERGEI GAPON / AFP

ist nicht gottgegeben. Sie ist von Bürgern


verliehen an einen der Ihren. Eine Million
Mal wurde der Film angeklickt. Nicht
schlecht für ein Land mit drei Millionen
Einwohnern. Christian Esch
Paschinjan-Anhänger in Eriwan: Viel kindliche Freude

89
Ausland

Gasse im Stadtteil Beyoğlu, Klubbetreiber Uluğ: Die Aufbruchstimmung ist verflogen

Das Ende von Istancool


Türkei Istanbul war bei Touristen so beliebt wie nur wenige andere Städte, es stand für die
Versöhnung von Orient und Okzident. Dann kamen Erdoğan und der Terror. Und jetzt?

B
aba Zula tritt auf – im Babylon. An diesem Abend wird Baba Zula, eine eröffnet hat, nippt an einem Espresso und
Noch vor nicht allzu langer Zeit türkische Rockband, zwar wieder einmal wirkt melancholisch: »Das gab es früher
hätte das geheißen: Istanbuls ein Konzert geben, und das Babylon wird nicht«, sagt er und schaut Richtung Ein-
Partyjugend, Hipstervolk und auch wieder einmal voll sein – aber viel hat gang, wo die Röntgengeräte stehen. Seine
Musikerszene kommt im coolsten Klub sich in den vergangenen Jahren geändert. Gäste hätten aber nach den vielen Terror-
der Stadt zusammen, ein euphorischer Wie ein wertvolles Kunstwerk oder ein Flug- anschlägen der vergangenen Jahre Sicher-
Abend mitten im Stadtteil Beyoğlu kün- hafen ist der Klub gesichert, mit Sicherheits- heitsmaßnahmen verlangt. Immerhin kom-
digt sich an, dem allzeit bebenden Herzen schranken und Wachleuten, die Besucher me das Publikum auch an den neuen
der jungen Türkei. Baba Zula und Baby- nach Waffen abtasten. Das Babylon musste Standort, hier draußen – der Name Ba-
lon, die beiden Namen versprachen rau- schon 2015 fort aus der Mitte der Stadt, weg bylon ziehe immer noch. Und Baba Zula
schende Partys, auf denen die Jugend der von Beyoğlu, auf ein altes Brauereigelände, sowieso.
Stadt und Touristen aus Berlin, New York umschlossen von zugigen Straßen. Ahmet Uluğ sah schon vor fast 20 Jah-
und Paris sich selbst feierten, die Liebe Ahmet Uluğ, der den Klub 1999 gemein- ren Istanbuls riesiges Potenzial: Damals
und das Leben. sam mit seinem Bruder und einem Freund war das Babylon nicht viel mehr als eine

90
ren Augen kaum, ihre heruntergekomme-
ne Ecke blühte auf.
Als 2003 nach Jahrzehnten kemalisti-
scher Herrschaft der muslimisch-konser-
vative Politiker Recep Tayyip Erdoğan die
Regierungsgeschäfte übernahm, dämpfte
das die Hoffnungen in der Stadt nicht etwa,
es nährte sie: In den Jahren seiner ersten
Amtszeit wurde Istanbul von einer bei-
spiellosen Dynamik erfasst. Junge Türken,
die im Ausland gelebt hatten, kehrten in
die Stadt zurück und eröffneten Bouti-
quen, Restaurants, Galerien.
Erdoğan schien die Kraft zu haben, den
religiösen Teil der türkischen Bevölkerung
mit der Idee einer modernen Gesellschaft
versöhnen zu können. Das war der kema-
listischen Elite in den Jahrzehnten seit
Gründung der Republik nicht gelungen.
2005 nahm die EU offiziell Beitrittsver-
handlungen mit der Türkei auf. Ein Jahr
später erhielt der Istanbuler Schriftsteller
Orhan Pamuk den Literaturnobelpreis.
2010 wurde Istanbul zu Europas Kultur-
hauptstadt ernannt. Die Stadt schien nur
eine Richtung zu kennen: aufwärts.
Auch die europäischen Touristen ent-
deckten das alte, neue Istanbul. Stolz
präsentierten die Istanbuler der Welt die
ehrwürdigen Orte der Altstadt: den Gro-
ßen Basar, die Hagia Sophia, den Sultans-
palast. Bald schien aber auch die andere
Seite des Goldenen Horns vorzeigbar zu
FURKAN TEMIRN / DER SPIEGEL

sein, das Herz des europäischen Istanbul:


FURKAN TEMIR / DER SPIEGEL

die Theater und Galerien im Szeneviertel


Beyoğlu, der Taksim-Platz und die Bars,
Cafés und Musikklubs am westlichen Ufer
des Bosporus.
Die Menschen kamen aus Westeuropa
und von anderswo her, um sich die Metro-
pole anzusehen, die den Osten mit dem
Westen verband. Die Zeiten, in denen alle
Idee, genauso wie das Schlagwort vom traten etliche Bands auf, die bei Uluğs Plat- paar Jahre ein gewaltsamer Putsch das
»Cool Istanbul«. Uluğ mietete einen herun- tenlabel unter Vertrag standen. Bild des Landes in der Welt geprägt hatte,
tergekommenen Altbau in Beyoğlu an, Das Babylon hatte bald einen guten Na- schienen vergessen.
dem Herzen des europäischen Zentrums men: International bekannte Musiker tra- Bis die Gewalt in die Türkei und auch
der Stadt. Er stellte einen Tresen hinein, ten dort auf, wie Patti Smith oder Pete nach Istanbul zurückkehrte.
eine Bühne – und machte sich auf die Su- Doherty. Das Lebensgefühl damals, zu Be- Im Januar 2016 sprengte sich ein isla-
che nach jungen, guten Musikern, die im ginn der Nullerjahre, sei »magisch« gewe- mistischer Selbstmordattentäter auf dem
Klub auftreten sollten. sen, erzählt Uluğ heute. Es habe sich Platz zwischen Blauer Moschee und
Noch um die Jahrtausendwende war schnell auf die ganze Stadt ausgedehnt: Hagia Sophia in Sultanahmet in die Luft.
Beyoğlu ein verfallendes Viertel, vollge- »Ein Fieber hatte Istanbul erfasst. Alles Es folgten im Juni desselben Jahres der
stopft mit Wohnhäusern europäischen schien möglich.« Angriff auf den Istanbuler Atatürk-Flug-
Zuschnitts: gassenweise Jugendstil und Es war die goldene Zeit von Beyoğlu hafen, im Juli der Putschversuch gegen
Historismus, nie renoviert, rapide zer- und von Istanbul, »Newsweek« widmete Präsident Erdoğan und dann zunehmend
bröckelnd und überwuchert von heimlich dem Ganzen eine Titelgeschichte und Repressionen gegen Oppositionelle. In
errichteten Anbauten und zusätzlichen schrieb: »Europas hipste Stadt ist nicht län- der Silvesternacht 2016/17 tötete ein
Geschossen. In den dunklen Gassen ger auf Europa angewiesen«. Terrorist im Istanbuler Nachtklub Reina
handelten Kriminelle mit Drogen und Künstler und Studenten erst aus der Tür- 39 Menschen.
Waffen. kei, dann aus Europa und aller Welt zogen 2017 sorgten die Verhaftungen der
Uluğ förderte Künstler wie Mercan für eine Zeit in die unsanierten Altbau- deutschen Journalisten Deniz Yücel und
Dede, der Sufi-Melodien mit Electro wohnungen des Viertels; Bars und Disko- Meşale Tolu und des Menschenrechtlers
verbindet – oder eben Baba Zula. Er ver- theken entstanden an vielen Ecken, im Kel- Peter Steudtner zumindest in Deutschland
half so einer Musik zum Durchbruch, die ler, auf dem Dach und in den zahlreichen für großes Aufsehen.
als »Sound of Istanbul« berühmt wurde. Ruinen und auf Brachen. An den Wochen- Die Einnahmen aus dem Tourismus gin-
In dem Fatih-Akin-Film »Crossing the enden feierten Jugendliche Raves auf den gen in der Türkei 2016 im Vergleich zu
Bridge« über die Istanbuler Musikszene Straßen. Die Alteingesessenen trauten ih- 2015 um ein Drittel zurück. 2017 erholte

DER SPIEGEL Nr. 20 / 12. 5. 2018 91


Ausland

en sitzen vor Flachbildschirmen. An der


Wand hängen Poster von Kunstausstellun-
gen. Durch das offene Fenster dringen die
Gebetsrufe des Muezzins und das Gebell
von Straßenhunden.
Günal leitet Depo, ein Istanbuler Kunst-
und Kulturzentrum, das durch progressive,
politische Ausstellungen, Panels und Film-
vorführungen immer wieder für Aufsehen
gesorgt hat. Im Moment ist sie vor allem
damit beschäftigt, eine Kampagne für ih-
ren Mitstreiter Osman Kavala zu organi-
sieren. Er hat Depo gegründet und finan-
ziert. Im Herbst 2017 wurde er als ver-

PEDRO GOMES / GETTY IMAGES


meintlicher Terrorunterstützer verhaftet.
Kavala, ein Unternehmer und Philan-
throp, ist der wichtigste Förderer der tür-
kischen Zivilgesellschaft. Es gibt kaum ein
Kulturprojekt in Istanbul, an dem er nicht
beteiligt ist. Seine Festnahme hat Kultur-
schaffende über die Türkei hinaus scho-
Baba-Zula-Bandmitglied Ertel: »Eine andere Türkei ist möglich« ckiert. Die Botschaft der Regierung sei ein-
deutig, sagt Günal: Jeder, der sich Erdoğan
nicht beuge, müsse damit rechnen, ins Ge-
sich die Branche wieder, die Zahlen lagen und Unterstützung. Doch er wurde mit fängnis gesteckt zu werden.
jedoch hinter jenen aus den Vorjahren. jedem Wahlsieg autoritärer. Nach seinem Doch die staatliche Willkür provoziert
Expats aus Europa und den USA, die Triumph bei der Parlamentswahl 2011 auch Solidarität. Günal fühlt sich ermutigt
sich noch vor einiger Zeit in Scharen in Is- begann er, gegen säkulare, liberale Be- durch den Zuspruch, den Depo nach Ka-
tanbul niederließen, meiden mittlerweile völkerungsschichten vorzugehen. Seine valas Verhaftung erfahren hat. Etliche
die Stadt. Die Zahl der Erasmus-Studenten Regierung löste Demonstrationen in Is- Künstler, Autoren, Akademiker beteiligen
hat sich im akademischen Jahr 2016/17 tanbul mit Gewalt auf. Sie erhöhte die sich an der Kampagne für ihn. »Osmans
halbiert. Die Ausländer, die nun in die Steuern auf Alkohol, woraufhin viele Verhaftung hat die Menschen wachgerüt-
Stadt kommen, sind eher Krisenreporter Bars schließen mussten. Es war, als zielte telt«, sagt Günal. Zum ersten Mal seit den
und Mitarbeiter von Hilfsorganisationen Erdoğans Politik im Besonderen auf Istan- Gezi-Protesten von 2013 widersetzt sich
als Partytouristen. bul; als zeigte die Stadt, wie sie war, die Istanbuler Kunst- und Kulturszene
Wer heute durch den Stadtteil Beyoğlu nicht die Zukunft der Türkei, die er sich dem Despotismus Erdoğans.
geht, kann nur noch schwer nachvollzie- wünschte. Im Babylon werden die ersten Gäste
hen, welche Aufbruchstimmung hier einst An keinem anderen Ort war in den durch die Sicherheitsschleuse gelotst. Ah-
herrschte. Kneipen werben mit Freigeträn- vergangenen Jahren der Widerstand ge- met Uluğ schaut auf die Uhr. Die Kreati-
ken um Gäste: »Drei Tequilashots für ei- gen Erdoğan und seine Politik, seine isla- vität von einst, sagt er, sei nicht aus der
nen Euro«. An den Tresen sitzen verein- misch-konservative Restauration und sei- Stadt verschwunden. Sie könne sich wegen
zelt Trinker. Die Schnapsflaschen im Regal ne Selbstermächtigung so laut und so der Repressionen durch die Politik jedoch
sind verstaubt. Discokugeln werfen Lich- sichtbar wie hier. nicht mehr so frei entfalten.
ter auf leere Tanzflächen. In den Schau- Als im Frühsommer 2013 Hunderttau- Uluğ betrachtet sein Babylon als eine
fenstern hängen Schilder mit der Auf- sende Menschen im Gezi-Park gegen die Art Schutzraum, in dem das progressive,
schrift »Zu verkaufen«. Regierung demonstrierten, gingen die Bil- liberale Istanbul weiter existieren kann.
Mit dem Bild vom jungen, weltoffenen der der Proteste um die Welt. Für die Kul- Dezidiert politisch ist der Klub nicht. Aber
Istanbul stirbt mehr als nur ein Touris- turmanagerin Asena Günal blitzte damals Uluğ tritt für Pluralismus, Meinungs- und
tenziel: Die Stadt verkörperte wie keine noch einmal all das auf, was das moderne Kunstfreiheit ein. Er bietet ganz bewusst
andere die Hoffnung auf eine Liaison Istanbul ausmachte: Schüler, Studenten, auch kurdischen, armenischen, syrischen
oder zumindest eine friedliche Koexistenz Muslime, Atheisten, Kurden, Sozialisten, Künstlern eine Bühne. In der Türkei unter
zwischen Ost und West, zwischen Musli- Transsexuelle traten gemeinsam für De- Erdoğan steht er allein dadurch aufseiten
men, Christen, Juden, Atheisten. Die Bos- mokratie ein. Sie verwandelten den Gezi- der Opposition.
porus-Brücke, die Europa und Asien ver- Park, der auch im Stadtteil Beyoğlu liegt, Am Abend, als Baba Zula dann auf der
bindet, wurde zum Symbol für die Verein- in ein Festivalgelände, auf dem Menschen Bühne steht, ist der Saal voll. Die Musiker
barkeit von Islam und Demokratie. Istan- feierten, tanzten, zueinanderfanden. der Band sind Stars in der Türkei, jeder
bul stand für eine europäische Zukunft Erdoğan ließ den anfangs friedlichen Song wird gefeiert. Zigarettenrauch hängt
der Türkei. Protest von der Polizei niederschlagen. in der Luft. Junge Frauen in Röhrenjeans
Dass die Dynamik fort ist und die Stim- Dieser Frühsommer 2013, sagt Günal heu- und Männer in Retrojacken tanzen zu den
mung gedrückt, liegt nicht allein an der te, sei der Wendepunkt gewesen: Er habe psychedelischen Elektrobeats. Murat Er-
Gewalt – es liegt auch an Staatschef Erdo- das vorläufige Ende von Istanbul als un- tel, Frontmann der Band, trägt heute ein
ğan und seiner Politik. beschwerte Kunst- und Kulturstadt mar- Sultansgewand. Er hebt den Arm und ruft:
Erdoğan stammt selbst aus Istanbul, er kiert. »Eine andere Türkei ist möglich.«
ist hier geboren und aufgewachsen. In Asena Günal, 44 Jahre alt, hat ihr Büro Sein Publikum will nichts lieber als ihm
den Neunzigerjahren regierte er die Stadt im Dachgeschoss eines ehemaligen Tabak- das glauben. Maximilian Popp
als Bürgermeister und fand quer durch lagers im Istanbuler Arbeiterviertel Topha- Twitter: @maximilian_popp
die gesellschaftlichen Gruppen Anklang ne eingerichtet. Junge Männer und Frau-

92 DER SPIEGEL Nr. 20 / 12. 5. 2018


Sport
Die Fußballklubs auf der Insel wissen offenbar nicht, wohin mit all dem Geld. ‣ S. 100

Landesmeister der Top-Ligen und die Punktedifferenz zum Tabellenzweiten 2017/2018


Saison 2008/2009 2009/2010 2010/2011 2011/2012 2012/2013 2013/2014 2014/2015 2015/2016 2016/2017 Stand: 10. Mai
2 25 24
VfL Bayern 5 Borussia Borussia Bayern Bayern Bayern Bayern Bayern
Wolfsburg München Dortmund 7 Dortmund 8 München München München München München
19
10 10
15
1 0 2
Man- 4 Man- Man- Man- Man-
FC FC Leicester FC
chester chester chester chester chester 7
Chelsea Chelsea 8 City Chelsea
United United 9 City United City 19
11 10

2 1
3 4 3 3
FC FC FC Real FC Atlético FC FC Real
Barcelona Barcelona Barcelona Madrid Barcelona Madrid Barcelona Barcelona Madrid
9 9
15 15

2
4 4
Inter Inter AC 6 Juventus Juventus Juventus Juventus Juventus Juventus 6
Mailand Mailand Mailand Turin Turin Turin Turin Turin Turin
9 9
10 17 17 Rechnerisch ist auch noch die
Meisterschaft des SSC Neapel möglich

Der FC Bayern München ist mal wieder Europameister, zumin- Turin bereits das siebte Mal in Folge siegen, diesen Rekord können
dest im Vergleich der vier Top-Ligen: Nirgendwo hatte der Fuß- die Bayern erst im kommenden Jahr einstellen. Die weiter zuneh-
ballmeister des Jahres 2018 einen größeren Vorsprung vor dem mende Kommerzialisierung des Fußballs hat aber auch Folgen
Tabellenzweiten als in Deutschland. Der Vorwurf der Langeweile in Spanien und England. Dort machten in den vergangenen zehn
trifft in dieser Saison jedoch nicht nur die Bundesliga allein. Auch Jahren zwei beziehungsweise drei Vereine den Titelkampf un-
Manchester City und der FC Barcelona standen lange Zeit vor ter sich aus. Leicester City 2016 und Atlético Madrid 2014 waren
dem letzten Spieltag als Titelträger fest. In Italien würde Juventus Ausnahmen – wie der VfL Wolfsburg 2009 in der Bundesliga.

Magische Momente wettkampf gegeneinander antreten.


Irgendjemand kam dabei auf die Idee,
»Die Idee war einfach da« dass man die Mannschaften doch spontan
zusammenlegen könnte.
Thomas Weikert, 56, Präsident des Internationalen Tischtennis-Verbands, SPIEGEL: Wer hatte die Idee?
über eine sportpolitische Sensation Weikert: Sie war einfach da. Der Turnier-
verlauf deutete an, dass sich möglicher-
SPIEGEL: In der vergangenen Weikert: Unser Verband hat eine neue weise ein rein koreanisches Viertelfinale
Woche sollten im Viertel- Tischtennisstiftung ins Leben gerufen. Es ergeben würde.
finale der Mannschafts- gab Überlegungen, unser erstes Projekt in SPIEGEL: Mussten sich die Nordkoreaner
tischtennis-WM im schwe- Korea stattfinden zu lassen. Wir haben für erst in der Heimat rückversichern?
dischen Halmstad die eine Veranstaltung während der WM die Weikert: Ja, die Zusage kam irgendwann
Frauenteams von Nord- und beiden koreanischen Frauenteams eingela- in der Nacht.
Südkorea gegeneinander antreten. Die den. Sie sollten in einem kleinen Show- SPIEGEL: Was ging Ihnen durch den Kopf?
HORSTMÜLLER / ULLSTEIN BILD

Teams beschlossen, nicht zu spielen, Weikert: Ich kann das nicht allein
sondern gemeinsam ins Halbfinale machen. Ich muss die Zustimmung der
einzuziehen. Erlaubt das Reglement Mannschaften einholen. Wenn Japan,
so etwas? der Halbfinalgegner, Nein gesagt hätte,
Weikert: Das geht eigentlich nicht. wäre es nicht dazu gekommen.
SPIEGEL: Als Präsident mussten Sie die SPIEGEL: Sportlich wäre das verständlich
TT NEWS AGENCY / REUTERS

eigenen Regeln ignorieren? gewesen. Die gesamtkoreanische Mann-


Weikert: Ja, musste ich, aber es gibt schaft war stärker einzuschätzen als Nord-
Momente, in denen man erkennen muss, oder Südkorea allein.
dass es wichtigere Dinge gibt als ein Sport- Weikert: Die Japaner brauchten keine
reglement. Zum Beispiel die Annährung zwei Stunden, um zuzustimmen. Das fand
und den Frieden in Korea. ich beachtlich. Am Ende war es gleichgül-
SPIEGEL: Wie kam es dazu? Gesamtkoreanisches Team in Halmstad tig, weil sich Japan durchgesetzt hat. JMO

93
Seine Wenigkeit
SPIEGEL-Gespräch Wie sich Kevin-Prince Boateng mit einem Foulspiel von seinem Land
TIM WEGNER / DER SPIEGEL

und seinem Bruder Jérôme entfremdete und


warum er Niko Kovač für einen guten Trainer für Bayern München hält

94
Sport

I
m Vorwort seiner Autobiografie hat SPIEGEL: Sie hatten sich damals dafür ent- Deutschen, geboren am 6. März 1987 im
Kevin-Prince Boateng, 31, seinen schieden, für Ghana zu spielen, Ihr Halb- Wedding, einem Problemviertel Berlins.
Freund Mario Balotelli zu Wort kom- bruder Jérôme spielte für Deutschland. Im Hinter ihm liegt eine schwierige Kindheit.
men lassen. Der italienische Natio- dritten Vorrundenspiel der WM in Südafri- Enttäuschungen über einen Vater, der die
nalspieler beschreibt darin einen Wettbe- ka, das zum Bruderkrieg stilisiert wurde, Mutter für eine andere Frau verließ, die ein-
werb, den die beiden hatten: »Es ging um trafen Sie dann aufeinander. einhalb Jahre nach Kevins Geburt Jérôme
die Frage: Wer ist attraktiver, wer trägt die Boateng: Der Abend vor dem Spiel war zur Welt brachte. Und der die Vaterschaft
cooleren Klamotten, wer kommt stylischer einer der bewegendsten Momente meines anzweifelte, bis sie durch einen Vaterschafts-
daher, wer fährt das fettere Auto? Ich schät- Lebens. Ich habe mich aus dem Land ver- test nachgewiesen wurde. Auch sein älterer
ze, dieser Fight steht unentschieden.« stoßen gefühlt, in dem ich geboren bin. Bruder George, der Rapmusik macht, eine
Das hat mich verletzt, aber auch ange- Art Ersatzvater wurde, konnte nicht immer
SPIEGEL: Herr Boateng, gibt es den Wett- spornt: ich gegen ganz Deutschland. für ihn da sein, weil er mehrere Monate im
bewerb mit Balotelli noch? SPIEGEL: Sie haben Ihren Vater dafür kri- Gefängnis saß. Seine Kindheit und seine
Boateng: Den brauchen wir nicht mehr. tisiert, dass er zu diesem Spiel als Deutsch- Jugend beschreibt Kevin-Prince so: »Mama
SPIEGEL: Wieso? landfan erschienen ist. Sie empfanden es zu Hause betrunken, nichts im Kühl-
Boateng: Weil ich eh gewinne. als »eine verlogene Aktion meines Erzeu- schrank, der Bruder im Knast.«
gers – ein Vollblut-Ghanese mit einer
Im Leben von Kevin-Prince Boateng gab Deutschlandjacke«. Haben Sie mit ihm da- SPIEGEL: Als Kind haben Sie Weihnachten
es verrückte Tage, an denen er sich zwei rüber gesprochen? gehasst. Warum?
neue Tattoos stechen ließ, nur weil er ei- Boateng: Nein. Das hat wehgetan, aber Boateng: Natürlich hat der Papa gefehlt.
nen Freund übertrumpfen wollte, der ein ich bin darüber hinweg. Ich habe mir selbst Aber es geht bei Weihnachten ja auch um
neues Tattoo hatte. Oder er sich drei Autos eine Erklärung dafür gegeben, und damit die ganze Familie, um Onkel und Tanten,
kaufte, einen Lamborghini Gallardo Spy- ist es erledigt. und dass da alle zusammen feiern und dass
der für 300 000 Euro, einen Hummer H2 SPIEGEL: Wie lautet die? man die Probleme, die man hat, für einen
für 75 000 Euro und einen Cadillac, Bau- Boateng: Darüber möchte ich nicht spre- Moment einfach zur Seite schiebt. Das war
jahr 1967, für 40 000 Euro, drei Schecks chen. bei uns nicht so. Deshalb hab ich Weih-
für drei Autos an einem einzigen Tag. Es SPIEGEL: Wie wird es im Pokalfinale sein? nachten als Kind nie gemocht. Ich mochte
war ein Leben, von dem er sagt, es liege Ist Ihr Vater wieder dabei? es erst, als ich selbst Kinder hatte.
weit hinter ihm. Boateng: Ganz sicher. Und meine Mama SPIEGEL: Jérôme hat eine Familie gehabt.
Am kommenden Samstag steht er mit wird wahrscheinlich auch da sein. Jérômes Und er hatte den Vater, auf den Sie ver-
Eintracht Frankfurt im DFB-Pokalfinale Mama wird da sein. Vielleicht sitzen sogar zichten mussten. Hat das Ihr Verhältnis
gegen den FC Bayern München. Er ist der alle zusammen. belastet?
Star einer Mannschaft, die eigentlich chan- SPIEGEL: Es wird also ein Familienfest? Boateng: Nein. Das ist eine Entscheidung,
cenlos ist. Boateng: Wir sind eine ganz normale, in- die mein Papa getroffen hat. Er hat eine
Boateng ist wieder zurückgekehrt nach telligente Familie, und deswegen wissen neue Frau gefunden. Das war Jérômes
Deutschland, zum zweiten Mal nach sei- wir: Nach Krieg kommt Frieden. Mama. Die hatten finanziell mehr Mög-
ner missglückten Zeit bei Schalke. In sein SPIEGEL: Wird Ihr Vater diesmal im Bay- lichkeiten als wir. Die konnten zum Bei-
Heimatland, aus dem er sich vor acht Jah- erntrikot erscheinen? spiel in den Urlaub fliegen. Wir nicht.
ren verstoßen fühlte, nachdem er ein gro- Boateng: (lacht) Wenn er das macht, hole Mein erster Urlaub war mit Jérôme. Den
bes Foul an Michael Ballack begangen hat- ich ihn von der Tribüne. hat seine Mama gezahlt, weil wir uns das
te, dem damaligen Kapitän der deutschen SPIEGEL: Sie hatten sich auf das direkte nicht erlauben konnten. Meine Mama war
Nationalmannschaft. Es war 2010, kurz Duell mit Ihrem Bruder gefreut. Sind Sie trotzdem eine starke Frau.
vor Beginn der Weltmeisterschaft in Süd- enttäuscht, dass er wohl nicht dabei sein SPIEGEL: In Ihrer Biografie schreiben Sie,
afrika, als Boateng im englischen Pokalfi- kann, weil er sich gegen Real Madrid ver- das Verhältnis zu Ihrem Vater sei zerstört.
nale gegen den FC Chelsea antrat und Bal- letzt hat? Ist es immer noch so?
lack so hart foulte, dass der nicht zur WM Boateng: Ich bin natürlich sehr traurig da- Boateng: Dass etwas zerbrochen ist, ist klar.
fahren konnte. In einer »Bild«-Kolumne rüber, ich habe mich sehr darauf gefreut. Und die Zeit, die man verloren hat, kriegt
stand, er sei ein »Arschloch«. Aber damit haben wir auch bessere Chan- man nicht zurück. Aber wir haben uns aus-
Danach hatte Boateng das Gefühl, sein cen. Jérôme ist einer der besten Innenver- gesprochen, nach elf Jahren Funkstille. Es
Land verloren zu haben, aber auch seine teidiger der Welt, und ohne ihn sind die ist nicht das Vater-Sohn-Verhältnis, das ich
Familie. Sein Bruder Jérôme gab ihm öf- Bayern ein bisschen schwächer. mir immer gewünscht habe. Inzwischen ha-
fentlich den Ratschlag, sich persönlich bei SPIEGEL: Haben Sie darüber nachgedacht, ben wir eine sehr gute Beziehung, mein Va-
Ballack zu entschuldigen. was passiert, wenn sich die Geschichte ter war zuletzt auch häufiger zu Besuch in
wiederholen sollte und sich wieder ein deut- Frankfurt und hat mit meinem Sohn ge-
SPIEGEL: Sie schickten Ihrem Bruder eine scher Nationalspieler kurz vor der WM in spielt. Mir war es sehr wichtig, dass mein
SMS: »Tolles Interview, Bruda.« Warum? einem Zweikampf mit Ihnen verletzt? Sohn auch etwas von der afrikanischen Sei-
Boateng: Das war sarkastisch gemeint. Boateng: Wenn ich so denken würde, te seiner Großeltern mitbekommt.
SPIEGEL: Klar. Sie haben noch eine weite- würde ich mich hemmen. Ich gebe immer SPIEGEL: Ihre Berliner Lehrerin nannte
re, sehr eindeutige SMS geschrieben: »Je- 100 Prozent. Es gab zuletzt schon Tackles Jungen wie Sie »Schwarzköpfe«. Am Fuß-
der hat seine eigene Familie – du deine, in der Bundesliga von mir, die hart waren, ballfeld riefen Leute von der Seitenlinie:
ich meine.« War das nicht zu hart? aber niemand hat mir danach etwas unter- »He, Nigger, für jedes Tor kriegste ’ne Ba-
Boateng: Man hätte es auch anders lösen stellt. Ich bin nicht mehr automatisch der nane!« Wie haben Ihre Trainer reagiert?
können, aber wir waren jung, und ich war Bad Boy. Boateng: Die Trainer haben versucht, das
enttäuscht. herunterzuspielen. Die haben mir gesagt:
Der »Bad Boy«, das »Gettokid«, das war Das sind Menschen, die keinen hohen IQ
Das Gespräch führte der Redakteur Marc Hujer in lange das Bild, mit dem er verbunden wur- haben, ich soll mich nicht damit beschäfti-
Frankfurt am Main. de, der Sohn eines Ghanaers und einer gen. Und in der Schule habe ich mir an-

DER SPIEGEL Nr. 20 / 12. 5. 2018 95


Sport

trainiert, es nicht zu persönlich zu nehmen, reit sein, deinen Weg allein zu gehen. Ich Boateng: Niko hat seine eigene Art. Er ist
es runterzuschlucken. Das muss ich mir hab’s so extrem gemacht, dass ich mich so- kein Trainer alter Schule. Ich mag Trainer,
heute wieder abtrainieren. Es darf nicht gar von meiner ganzen Familie abgeschot- die auf gut Deutsch einen Knall haben.
sein, dass wir ins Stadion gehen und so tet habe, von meinem Vater, meiner Mut- Das meine ich in positivem Sinne. Ein biss-
was hier noch passiert. ter, meinem Bruder, meiner Schwester, chen verrückt zu sein, das gehört dazu.
SPIEGEL: Sie haben nach der WM in Süd- von allen. Ich musste diesen Weg gehen: SPIEGEL: Inwiefern ist Kovač verrückt?
afrika Nelson Mandela getroffen. nur ich. Ein Jahr nicht gefeiert, nur zum Boateng: Er gibt alles als Trainer, er liebt
Boateng: Nelson Mandela hat uns nach Training und wieder heim. Ein guter seine Arbeit und überlegt sich 24 Stunden
Hause eingeladen. Das war unglaublich. Freund hat gekocht, sechs Monate kom- am Tag, welche Taktik er spielen soll, wer
Wenn man sich vorstellt, dass er sich hat plett abgeschottet, dann bist du clean. im nächsten Spiel auflaufen soll: Das ist
einsperren lassen, unschuldig, um anderen SPIEGEL: Klingt wie Drogenentzug. so eine positive Verrücktheit. Diese Ziel-
Menschen eine Chance zu geben. Alles an Boateng: 90 Prozent der Freunde von da- strebigkeit finde ich einfach geil.
ihm ist zehnmal besser und größer, als man mals hab ich nicht mehr. SPIEGEL: Sie kennen Niko Kovač seit Ihrer
sich vorstellt, wenn man ihn trifft. Er hat SPIEGEL: Und wie haben Sie das Ihrer Fa- Jugend. Als Sie 2005 in die Profimann-
eine Aura um sich, ein ganz kleiner Mann milie erklärt? schaft zu Hertha BSC kamen, war er einer
mit weißen Haaren, aber er saß da wie ein Boateng: Die haben das verstanden. der Führungsspieler. Er hat Ihnen einmal
Engel. Und wenn du ihm die Hand gibst, Wenn du clean bist, fängst du an, ihnen al- den Kopf gewaschen, weil Sie dauernd zu
denkst du, die Aura kriegst du jetzt auch. les zu erklären, langsam, einem nach dem spät zum Training gekommen sind.
SPIEGEL: Was hat Sie so beeindruckt? anderen: Mama. Papa. Bruder. Schwester. Boateng: Also, es war nicht so, dass Niko
Boateng: Er kannte drei, vier Spieler, mich SPIEGEL: Das hat Sie verändert? da mit der Uhr in der Hand stand und rum-
auch. Er sagte: »Du bist doch der Prince. Boateng: Ich kann heute sagen: Ja, ich war gefuchtelt hat. So ist er nicht. Aber er hat
Meine Tochter ist voll verrückt nach dir. ein Bad Boy, das hab ich auch gebraucht, mich nach dem Training zur Seite genom-
Willst du sie heiraten?« Dann kam seine ich fand das sogar cool, aber jetzt bin ich men und mir erklärt, dass das nicht geht.
Tochter rein. Und ich nur: »Danke, ich bin ein erwachsener Mann, dem es wichtig ist, Er meinte: »Ich bin Fußballprofi und habe
schon verheiratet.« Da meinte er: »Ich hab dass sein Sohn kein Bad Boy wird. Es ist Kinder, die ich zur Schule bringen muss.
noch ’ne andere Tochter.« Als wäre mir Und ich bin jeden Tag pünktlich beim Trai-
seine Tochter nicht gut genug. Ich hab da- ning. Und du? Du bist 18 Jahre alt, hast kei-
nach gedacht: Einer, der so lange einge- ne Kinder, wohnst allein, brauchst dich nur
sperrt war, hat so einen Humor, das ist ins Auto zu setzen und zum Training zu
doch nicht normal. Er muss mental so un- kommen. Wieso kannst du nicht pünktlich
glaublich stark sein. sein? Warum schaff ich das, der tausend an-
SPIEGEL: Drei Jahre später haben Sie wegen dere Sachen zu tun hat, und du nicht?«
rassistischer Rufe von Zuschauern mitten im SPIEGEL: Warum durfte er Sie kritisieren?
Spiel das Feld verlassen, Ihre Mannschafts- Boateng: Er versteht genau meinen Mind-
LUKAS SCHULZE / GETTY IMAGES

kameraden vom AC Mailand sind Ihnen in set, er ist aufgewachsen, wo ich aufgewach-
die Kabine gefolgt. Die Uno hat Sie danach sen bin, Kolonie/Soldiner, die gleiche Ecke
zu ihrem Botschafter im Kampf gegen Ras- in Berlin. Er ist ein Straßenjunge wie ich.
sismus ernannt. Im März waren Sie wieder SPIEGEL: Was heißt das konkret?
einmal in Genf, um Gespräche mit dem Ho- Boateng: Er kennt den Hass und Zorn,
hen Kommissar der Uno für Menschenrech- den ich empfunden habe. Es war nicht
te zu führen. Worum ging es dabei? Hass und Zorn gegen den, den ich an-
Boateng: Der Commissioner wollte wis- Frankfurt-Trainer Kovač geschrien habe, sondern der Hass und
sen, was meine Wenigkeit weiter zu dieser »Diese Zielstrebigkeit finde ich geil« Zorn da drinnen in mir. Das hat er bei
Problematik beitragen kann. Hertha langsam aus mir herausgeführt.
SPIEGEL: Hat sich Ihre Wahrnehmung ver- Wenn mich Niko kritisierte, hab ich zuge-
ändert? mir nicht mehr wichtig, einen Ferrari zu hört. Er war ein Fighter, der immer an die
Boateng: Mich werden immer Leute für haben. Heutzutage ist Autofahren für Grenzen gegangen ist. Ich wollte errei-
einen Bad Boy halten. Und es wird immer mich, von A nach B zu kommen. chen, was er erreicht hat. Seine Kritik
Leute geben, die nicht verstehen, dass ich SPIEGEL: Das klingt gewöhnungsbedürftig konnte ich akzeptieren, er war da, wo ich
mich verändert habe. Aber das ist okay. aus Ihrem Mund. hinwollte. Die Kritik von einem, der noch
Ich muss nicht von allen geliebt werden. Boateng: Ich war nie der Beste in der Schu- nie da war, wo ich bin, konnte ich nicht
Die Phase habe ich gehabt. England. 2008. le, aber ich habe Straßenintelligenz. Ich annehmen. Er ist heute mein Boss, ich bin
SPIEGEL: Das ist die Phase, als Sie bei Tot- habe das umgewandelt in Intelligenz, um sein Angestellter.
tenham Hotspur auf der Ersatzbank saßen, mein besseres Ich zu finden. Und des- SPIEGEL: Waren Sie diese Saison schon
von einer Party zur anderen gefallen sind, wegen bin ich stolz auf mich. mal zu spät im Training?
Pickel hatten, Übergewicht und falsche SPIEGEL: Ihren Jugendtrainer Dirk Kunert Boateng: Nein.
Freunde. haben Sie einmal so beschrieben: »Super SPIEGEL: Als Jürgen Klopp Sie nach Dort-
Boateng: Ich kann Ihnen sagen: Es ist Typ, jung, locker, gut aussehend, super mund geholt hat, hat er Sie mit dem Satz
leichter, Jasager zu bekommen, als sie los- Lifestyle, eine wunderschöne Frau.« Ist begrüßt: »Gib Vollgas, du Idiot.« Wie hat
zuwerden. Aber das ist deine eigene das Ihr Maß für einen Trainer, den Sie das Kovač in Frankfurt gemacht?
Schuld. Wenn du Jasager um dich herum ernst nehmen können? Boateng: Ähnlich. Wir haben telefoniert,
hast, willst du auch Jasager um dich herum Boateng: Ich mag halt nicht so einen Trai- bevor ich nach Frankfurt gekommen bin,
haben. Du brauchst das irgendwie. Das ist ner, der einfach nur draufhaut, so auf die und er hat gefragt: »Bist du bereit?« Ich
wie mit der Luft: Ahhhhhh, ich bin der alte Schule, sondern der richtig cool ist. natürlich: »Ja klar.« Er: »Nein. Bist du be-
Beste. Die Leute zu bekommen ist einfach, SPIEGEL: Ein Trainer auf Augenhöhe – ist reit zu arbeiten?« Ich wieder: »Ja klar.«
sie wegzubekommen ist schwieriger, als Ihr heutiger Coach Niko Kovač auch so Dann bin ich gekommen, und da hat er
man es sich vorstellt. Du musst mental be- ein Trainer? mich noch mal gefragt: »Bist du noch im-

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mer bereit?« Da hab ich gesagt: »Niko, ich Boateng: Nein. Wir sind ja ganz andere sammen. Wir haben uns gestritten. Aber
bin müde.« War natürlich ein Scherz. Er Menschen. Um ehrlich zu sein: So wie ich am Ende haben wir uns wieder versöhnt,
dann: »Hier wird hart und akribisch gear- bin, bin ich komplett zufrieden. Ohne mei- und im Flugzeug haben wir zusammen ge-
beitet, das ist genau das, was du jetzt ne Fehler würden mich Menschen nicht so weint, weil wir nicht wegwollten.
brauchst. Ich mach aus dir ’ne Maschine.« wahrnehmen, wie sie mich heute wahrneh- SPIEGEL: Wer hat mehr aus sich rausge-
SPIEGEL: Sie haben einmal gesagt, Jürgen men. Ich polarisiere, aber sie nehmen holt, Sie oder Jérôme?
Klopp sei für Sie der »geilste Trainer der wahr, wer ich bin. Boateng: Jérôme hatte immer eine Person,
Welt«. Hat Kovač ihn jetzt abgelöst? SPIEGEL: Jérôme hat gesagt, der Bruder- die vorangegangen ist, die Fehler gemacht
Boateng: Für mich ist Jürgen Klopp noch kampf habe Sie beide immer angespornt. hat, die er nicht mehr machen musste. Ich
immer der beste Trainer, mit dem ich zu- Ist das nur seine Sicht? habe viele Fehler gemacht. Und er war
sammengearbeitet habe. Das ist der Trai- Boateng: Nein, das gilt für uns beide. Frü- intelligent genug zu sehen, welche Fehler
ner, der mich am besten gepackt hat, der her hat der Bruderkampf ihn mehr ange- er vermeiden musste. Und dann hat er
alles aus mir rausgeholt hat. trieben, weil ich schon von sehr jungen natürlich hart gearbeitet. Jérôme war im-
SPIEGEL: Er hat sich auch über Sie lustig Jahren an hochgelobt und gefeiert wurde. mer ein guter Verteidiger, aber er hat die-
gemacht, zum Beispiel, als Sie einmal mit Das war bei ihm nicht so. Er war Verteidi- ses »aber« gehabt. Aber er ist zu schläfrig.
froschgrünen Fußballschuhen zum Aber er ist zu langsam. Aber dies.
Training kamen. Aber das. Das hat er sich zu Herzen
Boateng: Ja, er meinte da nur: »Zeig genommen. Er hat trainiert und das
mal her die Schuhe.« Dann hat er ge- abgestellt. Er hat sich immer wei-
furzt und meinte nur: »Geil, deine terentwickelt und ist noch nicht
Schuhe machen ja auch Geräusche.« fertig. Er ist ja ein ganz ruhiger
Der ist einfach ein lustiger Typ, aber Typ, macht die Augen zu und geht
wenn’s drauf ankommt, ist er auch da durch.
’ne harte Sau. SPIEGEL: Wird er unterschätzt?
SPIEGEL: Ist Kovač auch so? Boateng: Jérôme kann einen über-
Boateng: Niko ist ähnlich. Wenn raschen. Kleine Anekdote: Wir wa-
man angeschlagen ist, sagt er: Das ren zu Hause an der Panke, und
hatte ich auch schon mal. Kannste ich konnte links wie rechts schie-
rauslaufen. Hast ’nen Muskelfaser- ßen. Bumm. Bumm. Bumm. Ich
riss? Kannste rauslaufen. Hab ich glaube, da war ich zwölf. Jérôme
schon dreimal gehabt. Aufs Fahrrad konnte aber nur mit rechts schie-
mit dir! Er glaubt nicht, wenn man ßen. Mit links klappte es nicht so.
Schmerzen hat. Er sagt, dass alles Dann war er halt traurig, ist zurück
Kopfsache ist. Man muss es einfach zu seiner Mama nach Wilmersdorf
nur wollen. gefahren, und wir haben uns erst
SPIEGEL: Sie haben gesagt, 90 Pro- drei Monate später wiedergesehen.
zent des Erfolgs von Frankfurt ge- Aber dann hat er die Bälle rechts
hen auf Kovačs Konto. Was heißt und links reingehauen, weil er die
das für die Eintracht, wenn er geht? drei Monate lang trainiert hat. Das
Boateng: Das heißt, dass wir einen
HANS-JÜRGEN SCHMIDT / PICTURE ALLIANCE

ist Jérôme: traurig. In sich gegan-


finden müssen, der genauso gut oder gen. Nach Hause gegangen. Trai-
besser ist. niert. Zurück. Und dann: Bamm.
SPIEGEL: Ist München eine Num- Bamm. Bamm.
mer zu groß für Kovač? Kann er SPIEGEL: In 13 Profijahren waren
Stars wie Arjen Robben auf die Re- Sie bei acht Vereinen, Ihr größter
servebank setzen? Erfolg ist die italienische Meister-
Boateng: Ich traue es ihm zu. Aber schaft 2011. Hätten Sie gern mehr
es ist nicht meine Aufgabe, darüber Titel gewonnen?
zu reden. Ich denke aber: Bayern Boateng: Es gibt andere, die 20-mal
wird nächstes Jahr das fitteste Bay- Brüder Boateng 2016: »Wir haben zusammen geweint« mehr Titel gewonnen haben als ich,
ern, das es je gab. aber die werden auf der Straße nicht
SPIEGEL: Ist Kovač so schlimm? erkannt. Ich werde auch ohne Titel
Boateng: Ich bewerte ihn nicht, kann nur ger, ich in der Offensive. Später aber wur- erkannt. Ich will ja nicht Vorbild sein, weil
das Beste sagen. Das muss reichen dazu. de er einer der besten Verteidiger der Welt, ich die Champions League gewonnen habe.
SPIEGEL: Hätten Sie gern mal beim FC und das hat mich dann angespornt. Wir Mir ist es wichtiger, als Mensch wahrge-
Bayern gespielt? haben uns gegenseitig immer sehr gepusht, nommen zu werden.
Boateng: Real Madrid war immer mein besser zu werden. SPIEGEL: Hm.
Lieblingsverein. Die weißen Trikots waren SPIEGEL: Bei Ihrem ersten gemeinsamen Boateng: Gutes Schlusswort, oder?
immer mein Traum. Vielleicht war ich Urlaub hat es Krach gegeben, so erzählt SPIEGEL: Herr Boateng, wir danken Ihnen
nicht offen genug, einmal die Chance zu es Jérôme. Er sagt, Sie hätten ihm Freunde für dieses Gespräch.
haben, für den FC Bayern zu spielen. weggenommen, den Chef gespielt.
SPIEGEL: Was hat gefehlt? Boateng: Ich stand immer im Mittelpunkt.
Boateng: Ich hätte ehrlicher zu mir selbst Und das war in diesem Urlaub genauso. Video
Audienz beim Prinzen
sein müssen. Ich hätte mir sagen müssen: Aber daran ist Jérôme gewachsen. Er hat
Du musst mehr machen, es reicht nicht. gelernt, die Ellenbogen auszufahren. Wir spiegel.de/sp202018boateng
SPIEGEL: Hätten Sie sich wie Jérôme quä- waren im Urlaub zusammen, aber wir wa- oder in der App DER SPIEGEL
len müssen? ren auch irgendwie nicht im Urlaub zu-

DER SPIEGEL Nr. 20 / 12. 5. 2018 97


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Sport

ANDREW YATES / REUTERS


Liverpool-Spieler Salah

Die Prämien-League
balen Unterhaltungsindustrie. Englands
erste Fußballliga boomt und boomt und
boomt. Seit ihrer Gründung im Jahr 1992
hat die grellste Bühne des Profifußballs
Football Leaks Englische Vereine sind die Vorreiter des keine länger anhaltende Phase erlebt, in
der die ökonomischen Kennziffern rück-
Turbokapitalismus im Fußball. Auch der Champions-League-Finalist läufig gewesen wären.
FC Liverpool zahlt absurde Ablösesummen und Gehälter. Mittlerweile ist die Premier League so
etwas wie eine Sonderwirtschaftszone.
Die Klubs auf der Insel wissen offenbar

I m August 2016 hatte Jürgen Klopp


noch den Fußballromantiker gegeben.
Der französische Mittelfeldspieler
Paul Pogba war für 105 Millionen Euro
74 Millionen Pfund für einen Abwehr-
mann, das war mal wieder eine neue
Höchstmarke in der Premier League. Und
was fiel Klopp diesmal dazu ein? »Wir be-
nicht, wohin mit all dem Geld, das ihnen
vor allem durch ihre weltweite Fernseh-
vermarktung in die Kassen rauscht. Allein
in der Saison 2016/17 kamen für die 20 Ver-
von Juventus Turin zu Manchester United stimmen die Preise nicht, es ist der Markt. eine umgerechnet 2,75 Milliarden Euro zu-
gewechselt. Das war damals Weltrekord, Die Liverpool-Fans sollten sich darüber sammen, eine halbe Milliarde mehr als in
und Klopp, seit fast einem Jahr Trainer keine Gedanken machen.« der Spielzeit zuvor.
des FC Liverpool, hatte gesagt: »An dem Jürgen Klopp und sein FC Liverpool ste- Der FC Chelsea nahm als Meister
Tag, an dem das Fußball ist, werde ich mei- hen am 26. Mai in Kiew im Finale der 173 Millionen Euro an Fernsehhonoraren
nen Job nicht mehr machen.« Champions League, Gegner ist Real Ma- ein, selbst Absteiger FC Sunderland be-
Etwa anderthalb Jahre später hörte sich drid. Im Turbokapitalismus des englischen kam 107 Millionen Euro gutgeschrieben –
Klopp ganz anders an. Am 1. Januar 2018 Klubfußballs, vor allem befeuert von Man- etwa 30 Millionen Euro mehr als der
verkündete der FC Liverpool die Verpflich- chester City, Manchester United und dem FC Bayern München von der Deutschen
tung des niederländischen Innenverteidi- FC Chelsea, galten die »Reds« bislang als Fußball Liga.
gers Virgil van Dijk. Die Ablösesumme: einer der Klubs, die nicht jede Summe be- Inflationsfördernd kommt hinzu, dass
70 Millionen Pfund, umgerechnet knapp zahlen, um sich zu verstärken. Spätestens fast alle großen britischen Klubs Milliar-
80 Millionen Euro. 4 Millionen Pfund kom- seit der Verpflichtung van Dijks, Klopps dären gehören, luxusliebenden Menschen
men hinzu, sollte van Dijk 150 Spiele für Wunschspielers, ist diese Underdog-Ver- aus den USA, Russland oder Abu Dhabi.
sein neues Team gemacht haben und der sion überholt. Zusammengenommen ergibt das eine Ge-
FC Liverpool in den kommenden vier Jah- Seit sich die Briten im Juni 2016 für den mengelage, die weltweit die Preise in die
ren regelmäßig zum Saisonabschluss zu Austritt aus der Europäischen Union ent- Höhe jagt. Man könnte auch sagen: die
den vier Bestplatzierten gehören. So steht schieden haben, steht das gesamte Wirt- die Preise verdirbt.
es in dem »Transfer Agreement«, das die schaftsleben auf der Insel unter Druck. Die Datensammlung von Football
Direktoren des FC Southampton und des Nur eine Branche zeigt sich von der ge- Leaks enthält Dutzende Transferverein-
FC Liverpool unterzeichneten. Es liegt drückten Stimmung unberührt: die Pre- barungen und Arbeitsverträge, die den
dem SPIEGEL vor. mier League, eines der Zugpferde der glo- inflationären Schub detailliert dokumen-

100
tieren. Alles läuft auf einer noch höheren der in seiner fünften Saison 32 Jahre alt hatte sich den Verantwortlichen der Bo-
Drehzahl, und alles bewegt sich längst in sein wird, fast doppelt so hoch bezahlt wer- russia verweigert. Der FC Arsenal belohnt
surreal wirkenden Sphären: die Ablöse- den wie in den Spielzeiten zuvor? ihn nun.
summen, die Festgehälter, die Prämien, Neun Tage nach Mchitarjan schloss sich Die Bereitwilligkeit, mit der die Vereine
die Honorare für die Berater. Nicht einmal auch Pierre-Emerick Aubameyang dem der Premier League sich den von ihnen ho-
das schwächelnde Pfund ist ein Problem: FC Arsenal an. Die Londoner überweisen fierten Spielern und deren Beratern unter-
Wenn ein Spieler Wert darauf legt, wird Borussia Dortmund für den Stürmer werfen, ist frappierend. Der Vertrag, den
sein »Premier League Contract« in Euro 63,75 Millionen Euro, zahlbar in drei der Stürmer Alexis Sánchez mit Manches-
verfasst. Raten. Der Stichtag für Aubameyangs ter United unterschrieb, hat einen Umfang
Auch Virgil van Dijk, 26, wird an der Wechsel, der 31. Januar 2018, war der letz- von 43 Seiten. Es war ja auch einiges zu
Anfield Road sehr flott zum Multimillio- te Tag der laufenden Saison, an dem die klären. Mit Festgehalt (»Basic Wage«) und
när. Sein Wochenfixum ohne Prämien: Verpflichtung möglich war. Der Klub Vermarktungsrechten (»Image Rights«)
124 058 Pfund. Mit diesem Grundsalär brauchte unbedingt einen Ersatz für den kommt Sánchez, die jährliche Champions-
liegt van Dijk sogar über dem von Moha- Stürmer Alexis Sánchez, der im Tausch League-Qualifikation vorausgesetzt, auf
med Salah, dem neuen Helden des Klubs. für Henrich Mchitarjan zu Manchester durchschnittlich 20,35 Millionen Pfund pro
Salah, der im Sommer 2017 nach Liver- United gewechselt war. Der Zeitdruck Ar- Saison. Pro Woche, wie man in Großbri-
pool wechselte, erhält ein Grundgehalt senals bei den Verhandlungen spiegelt sich tannien solche Zahlungen gern serviert be-
von 123 030 Pfund pro Woche. in den Summen wider, die Aubameyang kommt, macht das 391 346 Pfund.
Der ägyptische Stürmer, im Januar zu nun verdient. Hinzu kommen sein Handgeld, eine Prä-
Afrikas Fußballer des Jahres gekürt, hat Sein jährliches Grundgehalt bis Ende mie für jeden Pflichtspieleinsatz in der
sich in seinen Vertrag allerdings noch ei- Juni 2021 liegt bei 10,3 Millionen Pfund Startelf, eine Prämie für 40 Tore oder Vor-
nige lukrative Zusatzleistungen schreiben im Schnitt, umgerechnet rund 11,7 Millio- lagen pro Saison, eine Prämie für den Ge-
lassen, unter anderem einen »Goal and nen Euro. Aubameyang wird zudem – so winn der Champions League und eine für
Assist Bonus«. Demnach kassiert Salah absurd es klingt – einen einmaligen den Titel in der Premier League. Verletzt
zusätzlich 2,5 Millionen Pfund, wenn er »Champions League Bonus« von 2,26 Mil- sich Sánchez nicht und bleibt er Stamm-
pro Saison mindestens 35 Tore erzielt spieler, kann er in einem guten Jahr leicht
oder vorbereitet. Der pfeilschnelle Spieler auf 25 Millionen Pfund kommen.
hat diese Marke bereits Ende Januar ge- Gibt es noch Grenzen?
knackt. Im Arbeitsvertrag zwischen Manchester
Verteidiger van Dijk, der mit dem FC Li- United und Sánchez findet sich eine Pas-
verpool noch 5 Millionen Pfund »Treue- sage, in der sich der Klub von seinem
prämie« und 6 Millionen Pfund Handgeld Wunschspieler ausdrücklich distanziert. Es
vereinbarte, kassiert ebenfalls zusätzliches geht um Steuerprobleme des Chilenen.
Geld, wenn er ein Tor in einem Premier- In Spanien, wo Sánchez bis Sommer
League-Match oder einem europäischen 2014 beim FC Barcelona gespielt hatte, er-
CLIVE MASON / GETTY IMAGES

Wettbewerb erzielt: 20 000 Pfund. Den mittelten zum Zeitpunkt seines Wechsels
gleichen Betrag erhält er für eine Vorlage. zu Manchester United die Strafbehörden
Doch weil das wahre Profil seines Arbeits- gegen den Profi – so steht es in Paragraf
platzes das Toreverhindern ist, ließ der 16.2 seines Arbeitsvertrags. Tatsächlich
Innenverteidiger sich darüber hinaus wurde wenige Tage nach Sánchez’ Unter-
beachtliche Prämien garantieren, wenn schrift bekannt, dass der Stürmer in Spa-
der FC Liverpool ohne Gegentreffer Arsenal-Stürmer Aubameyang (l.) nien wegen Steuerhinterziehung in Millio-
bleibt. »Clean Sheet« nennt sich dieser 15,15 Millionen Pfund »Treueprämie« nenhöhe zu einer Geldstrafe sowie einer
Bonus: weißes Blatt. Für mindestens 22 Zu- Freiheitsstrafe von 16 Monaten verurteilt
null-Spiele bekommt der Verteidiger worden war. Sein Berater bestätigte das.
750 000 Pfund extra. lionen Pfund für die Saison 2018/19 kas- Das Gefängnis bleibt Sánchez erspart, weil
Premier-League-Verträge bieten Einbli- sieren, obwohl Arsenal die Qualifikation das Strafmaß unter zwei Jahren liegt und
cke in eine Welt, in der Absurdes zur Nor- für die Königsklasse in der kommenden der Chilene nicht vorbestraft war.
malität wird. Wenn ein Verein einen Spie- Saison verpasst hat. Für jedes siegreiche Manchester United nimmt all dies in
ler unbedingt halten oder unter Vertrag Premier-League-Match, bei dem der Stür- dem »Premier League Contract« mit Sán-
nehmen will, lässt sich dieser Klub nahezu mer aus Gabun in der Startelf aufläuft, chez vorausschauend »zur Kenntnis« –
alles in ein paar Klauseln diktieren. bekommt er 50 000 Pfund. Weitere und verpflichtet den Spieler, den Klub vor
Henrich Mchitarjan zum Beispiel kam 300 000 Pfund streicht Aubameyang ein, sämtlichen Ansprüchen Dritter zu schüt-
am 22. Januar zum FC Arsenal. Er kassiert wenn er in einer Spielzeit auf 25 Tore oder zen. Die rote Linie der Vereine ist offen-
einen »Loyalty Bonus« von 8,65 Millionen Vorlagen kommt. bar erst dann erreicht, wenn die Justiz ins
Pfund, sein jährliches Grundgehalt liegt Als wäre das alles nicht schon genug, Spiel kommt.
bei 7,5 Millionen Pfund, der Vertrag läuft garantiert der FC Arsenal dem Stürmer Rafael Buschmann, Michael Wulzinger
am 30. Juni 2021 aus. Mchitarjan hat aller- bis Ende Juni 2021 auch noch einen
dings die Chance, ein weiteres Jahr im Nor- »Loyalty Bonus« – macht alles in allem,
den Londons dranzuhängen. Dazu müsste verpackt in vier Häppchen, weitere Der Text ist ein Auszug aus
Arsenal bis spätestens 5. Januar 2021, 15,15 Millionen Pfund. dem SPIEGEL-Buch Football
23.59 Uhr, eine Option zur Vertragsver- Eine Treueprämie dieser Dimension für Leaks – Die schmutzigen
Geschäfte im Profifußball,
längerung ziehen. Mchitarjans jährliches einen Spieler wie Aubameyang ist ein wun- das am 14. Mai mit aktua-
Fixgehalt würde dann einen Riesensatz derbarer Beleg für den Zynismus der Fuß- lisierten Kapiteln als Taschen-
machen: von 7,5 Millionen auf 12,5 Millio- ballbranche. Um seinen Wechsel nach Lon- buch erscheint (Penguin;
nen Pfund. Eine Logik dahinter lässt sich don zu erzwingen, war Aubameyang in 352 Seiten; 10 Euro).
nicht erkennen. Warum sollte ein Spieler, Dortmund vertragsbrüchig geworden und

DER SPIEGEL Nr. 20 / 12. 5. 2018 101


Wissenschaft+Technik
»Wir können nicht sicher sein, dass wir die Ersten auf der Erde waren, die Industrie betrieben haben.« ‣ S. 110

BRUCE OMORI / PARADISE HELICOPTERS / EPA-EFE / REX / SHUTTERSTOCK


Höllenfeuer im Inselparadies: Glühende Lavaströme wälzen sich über Hawaii. Rund 30 Häuser wurden auf
Big Island von der über tausend Grad heißen Gesteinsmasse bereits zerstört, knapp 2000 Menschen mussten
evakuiert werden. »Wir erleben aber eine eher kleine Eruption«, sagt Peter Cervelli vom United States
Geological Survey. Unter Hawaii rumort ein gewaltiger Hotspot aus Magma, der sich wie ein Schneidbrenner
durch die ozeanische Kruste frisst und dabei im Laufe von Jahrmillionen immer neue Inseln schafft.

Kommentar

Alles auf eine Karte


Wie sich die multimorbide elektronische Gesundheitskarte doch noch retten ließe

Die Patientin kränkelt vor sich hin, seit Jahren schlagen die The- erhofft, in negativem Sinn. Jahrelang kabbelten sich die Beteiligten,
rapien nicht an, die Gesundung wird immer weiter hinausgescho- bis ein kompliziertes, überteuertes Monstrum herauskam. Nicht
ben. Derweil wachsen die Behandlungskosten, sie liegen inzwi- nur die Arztpraxen müssen eine aufwendige Lese- und Verschlüsse-
schen bei über einer Milliarde Euro. Die Rede ist von der elektro- lungsmaschine namens Konnektor installieren, auch die Patienten
nischen Gesundheitskarte. Eigentlich steckte dahinter eine gute selbst brauchten wohl ein klobiges Gerät, wenn sie am Handy einen
Idee: der einfache und schnelle Austausch von Gesundheitsdaten, Blick auf ihre Gesundheitsdaten werfen wollten. Der neue Gesund-
Röntgenbildern, Rezepten zwischen Ärzten, Krankenhäusern, heitsminister Jens Spahn (CDU) hat nun angekündigt, das Konzept
Apotheken, Krankenkassen – zum Wohle der Patienten, zur Ver- komplett zu überarbeiten – löblich, wenn auch um Jahre zu spät.
meidung überflüssiger Therapien. Zu Beginn ihrer ersten Amts- Von Anfang an hatten Praktiker gewarnt, dass das Projekt
zeit 2005 pries Kanzlerin Angela Merkel (CDU) die Karte als zu stark von Hardwareherstellern dominiert werde; nicht von den
»Leuchtturmprojekt«, um der Welt zu beweisen, »auf welchen Patienten her gedacht, sondern von Lobbygruppen. Länder wie
Gebieten wir vorn sind«. Österreich oder Estland sind deutlich weiter beim Thema digitale
Die Karte wurde tatsächlich zum Gradmesser für die deutsche Krankenakte. Dort könnte sich Spahn Anregungen holen, um Tei-
Innovationsfähigkeit – allerdings, anders als von der Kanzlerin le der multimorbiden Karte doch noch zu retten. Hilmar Schmundt

102 DER SPIEGEL Nr. 20 / 12. 5. 2018


Medizin steigen bestimmte Immunzellen und Ent- Umwelt

»Hunde können vor zündungsbotenstoffe stärker und nach- Klimasünder Urlauber


haltiger an als bei den Landbewohnern.
Allergien schützen« SPIEGEL: Mit welchen Folgen?  Ferienzeit, Reisezeit, Zeit für ein
Reber: Solche überschießenden Reaktio- schlechtes Gewissen: Der Tourismus
Stefan Reber, 39, Leiter nen des Immunsystems spielen zum Bei- trägt eine weitaus größere Schuld an
der Sektion für Moleku- spiel bei der Entstehung von Allergien der globalen Erwärmung als angenom-
lare Psychosomatik am und Asthma eine wichtige Rolle – beides men. Rund acht Prozent des weltwei-
Universitätsklinikum Krankheiten, die bei Menschen, die in ten Treibhausgasausstoßes wird offen-
Ulm, hat in einer neuen der Stadt aufwachsen, deutlich häufiger bar durch Urlaubsreisende verursacht.
Studie die unterschied- auftreten als bei Landbewohnern. Chro- Zu diesem Ergebnis kommt eine For-
lichen Reaktionen von nische Entzündungsreaktionen können schergruppe um den Physiker Manfred
Stadt- und Landbewoh- auch zur Entstehung von Herzkrankhei- Lenzen von der Universität Sydney
nern auf Psychostress in einem simulier- ten oder Depressionen beitragen, die bei in der Zeitschrift »Nature Climate
ten Bewerbungsgespräch untersucht. Städtern ebenfalls häufiger vorkommen. Change«. Bisherige Schätzungen gin-
SPIEGEL: Gibt es eine Erklärung für diese gen davon aus, dass der Tourismus
SPIEGEL: Sind Städter die gestressteren erstaunlichen Unterschiede? höchstens für drei Prozent der Klima-
Menschen? Reber: Wahrscheinlich hat die überschie- gase verantwortlich sei. Zu dem Fehler
Reber: Die Frage ist falsch gestellt. Es ßende Immunreaktion damit zu tun, dass kam es durch die Berechnungsmetho-
kommt nicht darauf an, wie viel Stress Städter in der Kindheit weniger in Kon- den. Früher berücksichtigte man nur
man hat, sondern wie sehr er einem takt mit bestimmten Mikroorganismen den Brennstoffverbrauch von Verkehrs-
schadet. Viele Städter in unseren Psycho- kommen, die das Immunsystem regulie- mitteln; die übrigen Klimafolgen der
stress-Experimenten hatten weniger ren und so vor Überreaktionen schützen. Reiseindustrie hingegen – darunter die
Angst und niedrigere Stresshormon-Level Solche Mikroorganismen kommen Produktion von Nahrungsmitteln oder
als Landbewohner. Dennoch haben wir gehäuft in der Umgebung von Nutztieren der Bau von Hotels – wurden ausge-
klare Hinweise darauf gefunden, dass wie Kühen vor. Aber es könnte auch sein, blendet. Und es wird immer schlimmer:
Stress den Städtern deutlich mehr zusetzt dass Haustiere wie Hunde den Kontakt Die Tourismusbranche wächst mit rund
als der Landbevölkerung – und das hat mit diesen wichtigen Mikroorganismen vier Prozent pro Jahr, schneller als der
mit dem Immunsystem zu tun. fördern. Das ist möglicherweise ein Rest des Welthandels, stellten die Auto-
SPIEGEL: Wie genau haben Sie das her- Grund dafür, warum Hunde vor Aller- ren bei der Analyse von 160 Ländern
ausgefunden? gien schützen können. Vielleicht sollten fest. Allein im Betrachtungszeitraum von
Reber: Wir haben gemessen, wie stark sich Städter also vor den negativen Fol- 2009 bis 2013 nahm der jährliche Aus-
das Immunsystem von Stadt- und Land- gen von Stress schützen, indem sie sich stoß der Branche an Treibhausgasen
bewohnern jeweils auf Psychostress rea- einen Hund anschaffen oder viel Zeit von 3,9 auf 4,5 Gigatonnen zu. Insbeson-
giert. Hierbei zeigte sich: Bei Städtern draußen in der Natur verbringen. VH dere Flugreisen zu exotischen Zielen
sind erwartungsgemäß klimaschädlich.
Mit ihrer Studie widerlegen die For-
scher den Mythos vom Tourismus als
Biologie Bestände. Die Gewebeproben von einer umweltschonenden Wirtschafts-
Babyboom im Polarmeer 268 Weibchen zeigten, dass im Untersu- form. Was tun? Die Autoren erwähnen
chungszeitraum im Schnitt 63 Prozent die Möglichkeit, lieber regionale
 Mit der Population der Buckelwale trächtig waren. Mögliche Erklärung für Urlaubsziele anzusteuern – und Klima-
geht es weiter aufwärts. Nachdem die den Babyboom vor der Antarktischen gaszuschläge auf Flugtickets. HIL
Meeressäuger Mitte des 20. Jahrhunderts Halbinsel: Durch die Erwärmung der
fast ausgerottet waren, fand ein Biologen- Ozeane wird das Eis zurückgedrängt –
team nun Hinweise auf stark wachsende und das Nahrungsangebot nimmt zu. HIL
Fußnote

Über

1000000000
Menschen benötigen aufgrund einer
Fehlsichtigkeit dringend eine Sehhilfe,
bekommen aber keine, vor allem in
armen Ländern. Die herkömmliche Ent-
wicklungshilfe hat das Problem bislang
FRANCOIS GOHIER / VW PICS / REDUX / LAIF

weitgehend ignoriert – was kurzsichtig


ist. Denn Weit- oder Kurzsichtigkeit
verursachen hohe Folgekosten: Last-
wagenfahrer riskieren Unfälle, Fabrikar-
beiter begehen teure Fehler, Bauern
haben Probleme bei der Ernte. Schät-
zungen zufolge könnte allein das un-
scharfe Sehen die Weltwirtschaft jedes
Jahr rund 269 Milliarden Dollar kosten.

103
LAERKE POSSELT / NYT / REDUX / LAIF

Archäogenetiker Willerslev: »Ohne Pferde muss es gewesen sein wie auf einer Autobahn ohne Autos«

104
Wissenschaft

Invasion aus der Steppe


Vorgeschichte Linguisten, Genetiker und Archäologen haben rekonstruiert, wie ein Volk einfacher
Hirten die Welt veränderte – eine dramatische Erzählung aus der Bronzezeit über
Völkerwanderungen, Eroberungskriege, Seuchenzüge und die Entstehung der Ureuropäer.

D
as Schlimmste auf seiner Reise noms eine Nachricht wert. Inzwischen je- Europas, Persiens und Indiens ein ent-
nach Kasachstan war für Eske doch werden sie zu Hunderten entziffert, scheidendes Kapitel der Menschheitsge-
Willerslev das Warten. Er ist ein die Lektüre alten Erbguts ist zu einer re- schichte heraus.
zupackender Mann, der es ge- gelrechten Industrie geworden. Die Se- Ende des 18. Jahrhunderts waren dem
wohnt ist, die Dinge rasch zu erledigen. quenzierautomaten überschwemmen die britischen Gelehrten William Jones beim
Außerdem kann er sich Warten nicht leis- Labors mit einer Flut genetischer Daten, Studium religiöser Sanskrittexte Ähnlich-
ten: Er muss sich auf dem Gebiet der Ar- denen die Forscher mithilfe raffinierter sta- keiten zum Latein und zum Altgriechisch
chäogenetik behaupten, einem sich rasant tistischer Methoden erstaunliche Details aufgefallen: »Kein Philologe könnte diese
entwickelnden Forschungsfeld. Da kann über vorgeschichtliche Völkerwanderun- drei studieren, ohne den Verdacht zu he-
jeder verlorene Tag bedeuten, dass ihm gen, Eroberungskriege oder Seuchenzüge gen, dass sie alle einer gemeinsamen Quel-
einer der Konkurrenten zuvorkommt. entlocken. le entspringen«, notierte er.
In Kasachstan aber half das alles nichts. Große Rätsel haben die Genetiker ins Dieser Intuition folgend tüftelten die
Er musste einsehen: Wenn er mit Archäo- Visier genommen, und so geht es denn Wissenschaftler die Gesetzmäßigkeiten
logen zu tun hat, dann ist Geduld gefragt. auch bei Willerslevs Projekt um mehr als aus, nach denen sich Sprachen zu wandeln
Willerslev war den weiten Weg bis in nur die Domestizierung des Pferdes. pflegen. Diesen Regeln gemäß tasteten sie
die kasachische Steppe gekommen, um Unterstützt von einer ungewöhnlichen Ko- sich langsam in die Vergangenheit vor, bis
den Ursprung der Pferdezucht zu ergrün- alition aus Archäologen, Historikern und sie irgendwann glaubten, die Wörter der
den. Und da stand er nun an einem rund Linguisten, will der Genetiker aus Däne- gemeinsamen Ursprache rekonstruiert zu
5500 Jahre alten Grab, vor sich das Skelett mark untersuchen, wie vor 5000 Jahren haben. »Oynos« für »eins«; »amma« für
einer Frau, die vermutlich zum Volk der in der Steppe nördlich von Schwarzem »Mutter; »ekwos« für »Pferd«: Rund 1500
ersten Pferdehalter gehörte – und die Ar- Wörter, die einst am Herdfeuer der Ur-
chäologen wollten ihm den Zugang nicht Indoeuropäer gesprochen wurden, glau-
gewähren. »Im Nebel längst ver- ben sie inzwischen zu kennen.
Tagelang musste Willerslev untätig war- stummter Wörter zeich- Und noch viel mehr behaupten die
ten, bis die Forscherkollegen mit ihrer linguistischen Detektive herausgefunden
nervtötenden Langmut das verwitterte Ge- nen sich die Konturen zu haben: Menschen, die über ein solches
bein aus dem Sediment freigekratzt hatten. des Steppenvolkes ab.« Vokabular verfügten, müssen nicht nur
Dann endlich durfte er einen Zahn zur das Pferd gekannt haben, sondern auch
Untersuchung ins heimische Labor nach das Rad und den Wagen. Sie hüteten
Kopenhagen mitnehmen. und Kaspischem Meer einfache Hirtenvöl- Schafe und wussten Wolle zu spinnen. Sie
Die Geduld, sagt Willerslev, habe sich ker zu Wanderungen aufbrachen, die die lebten in patriarchalischen Gemeinschaf-
gelohnt. Denn hätte er nicht selbst in der Welt verändern sollten. ten, in denen Häuptlinge das Sagen hatten.
unermesslichen Weite des kasachischen 45 Prozent der Menschheit sprechen Der älteste Sohn erbte die Herde des
Graslands gestanden, dann hätte er viel- indoeuropäische Sprachen – und sie alle Vaters. Verehrt wurde eine männliche
leicht nie so recht das Drama begriffen, gehen aufs Idiom ebenjener Hirten zu- Himmelsgottheit, der die Priester Rinder
das er im Begriff war aufzuklären. 8000 rück. Von Island bis nach Indien, vom und Pferde opferten. Honig war beliebt
Kilometer weit Steppe im Herzen des eu- Nordkap bis nach Gibraltar, ja sogar in und der Bär mit einem religiösen Tabu
rasischen Kontinents, horizontweit nichts Australien, Brasilien und Kanada sind heu- belegt.
als wogende Gräser: kein Wunder, dass te Abkömmlinge jener uralten Nomaden- Es mutet fantastisch an, wie sich da im
die Menschen hier auf die Idee kamen, das sprache gebräuchlich. Sprachhistorisch Nebel längst verstummter Wörter die Kon-
Pferd zu zähmen. betrachtet dichteten Shakespeare und turen einer spezifischen bronzezeitlichen
»Vorher muss es gewesen sein wie auf Goethe, Vergil und Homer in einem Step- Stammesgesellschaft abzeichnen. Rasch
einer Autobahn ohne Autos«, sagt Willer- pendialekt. tauchte die Frage auf, wo denn dieses von
slev. Willerslev und seine Mitstreiter wollen vielen romantisch zu Ureuropäern verklär-
Das Projekt des Dänen ist Teil einer wis- herausfinden: Wie nur konnte es dazu te Volk einst heimisch gewesen sein könn-
senschaftlichen Revolution, die sich der- kommen? te. Die einen meinten es in Indien verorten
zeit in den Labors der Archäogenetiker Die Geschichte, wie die Forscher den zu können, die anderen in Anatolien oder
vollzieht. Überall auf der Welt wetteifern legendären Ur-Indoeuropäern auf die im Himalaja. Wieder andere schlugen
Genforscher um den Zugang zu prähisto- Spur kamen, ist auch wissenschaftshisto- Skandinavien vor, Deutschland oder das
rischen Menschenknochen, weil sie an- risch interessant. Es waren weder Histori- ferne Sibirien. Auch Atlantis war ein hei-
hand des darin verborgenen Erbguts die ker noch Genetiker, sondern Linguisten, ßer Kandidat.
Bevölkerungsgeschichte der Menschheit die als Erste dieser Fährte folgten. Einzig Am Ende war es erneut die Sprache, die
nachvollziehen wollen. anhand des sorgfältigen Vergleichs von den Forschern den Weg in die Heimat der
Noch vor wenigen Jahren war das Aus- Lauten, Wörtern und grammatischen Ur-Indoeuropäer wies: Ein Volk, das die
lesen jedes einzelnen steinzeitlichen Ge- Formen schälten sie aus den Sprachen Honigbiene kannte, konnte nicht aus Sibi-

DER SPIEGEL Nr. 20 / 12. 5. 2018 105


Wissenschaft

Ausbreitung der indoeuropäischen Sprachen


Gebiet der Jamnaja-Kultur Ursprung des Proto-Indoeuropäischen
Wanderungen gestützt durch DNA-Analysen archäologischer Knochenfunde Vierrädriger Wagen
Steppenvölker nutzten den auf zwei
nachgewiesene Pestopfer Achsen ruhenden Ochsenkarren.
ab ca. 3000 v. Chr. bis 1500 v. Chr. Anfangs kannte man nur
schwere Vollholzräder.
l

ra
U
ca. 2300 v. Chr. bis 1200 v. Chr.
Wanderung nach Indien
Von Osteuropa kommend, zogen einige der Steppenbewohner
Baltisch zunächst ostwärts südlich des Ural zum Altaigebirge. Erst im
zweiten vorchristlichen Jahrtausend brachten sie dann die
aus dem Proto- indoeuropäische Sprache bis nach Indien und Persien.
Keltisch Indoeuropäischen B o t a i
hervorgegangene Slawisch
Sprachgruppen
(Auswahl): Germanisch
Proto-Indoeuropäisch
D o n au

pisches
Kas
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M e
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Schwarz
es
Meer
Vorläufervolk der Jamnaja (hypothetisch)

Hethitisch (ausgestorben)

M
i t
t e l
ab ca. 3000 v. Chr. m e e r Ankunft in Anatolien
Wanderung nach Mitteleuropa Schon um 2400 v. Chr. ist
Die Migration führte durchs Donau- das zu den indoeuropäi-
Indoiranisch
tal. Der DNA zufolge waren die meis- schen Sprachen gehörige
ten der Zuwanderer aus der Steppe Hethitisch in Anatolien
männlich. Treibende Kraft könnten nachweisbar. Wie deren
kriegerische Banden Heranwach- Sprecher dorthin gekom-
sender gewesen sein. Zugleich dezi- men sind, bleibt rätselhaft.
mierte möglicherweise die von den Forscher vermuten, sie
Migranten eingeschleppte Pest die stammten aus dem Kauka-
ansässige Urbevölkerung. sus, wo ein Vorläufervolk
der Jamnaja gelebt haben
könnte.

rien stammen. Sein Vokabular enthielt kei- theoretisches Konstrukt, das in der realen vorhergesagt haben, in massiven Wande-
ne tropischen und keine mediterranen Welt nie ein Mensch gesprochen habe. rungen in Richtung Mitteleuropa und In-
Pflanzen, deshalb tippten die Linguisten In den vergangenen Jahren haben Eske dien ausgebreitet – ein später Triumph für
auf die gemäßigte Klimazone. Die Präsenz Willerslev und sein Team in mehreren gro- die Sprachgelehrten.
von Pferden sprach für eine Steppenland- ßen Untersuchungen die alten Theorien Doch das Erbgut offenbart noch eine
schaft. der Linguisten überprüft. Sie haben die zweite Botschaft: Alles war viel komplexer,
Und dann gab es da die verräterischen DNA im Erbgut Hunderter stein- und als es der Sprachenstammbaum der Lin-
Lehnwörter aus anderen Sprachen, die auf bronzezeitlicher Skelette quer durch Eu- guisten suggeriert.
Kontakte zum Kaukasus und zum Ural ropa, aber auch aus Anatolien, Sibirien In den weitläufigen Steppen im Grenz-
schließen ließen. Auf diese Weise engten und Zentralasien ausgewertet. Ihre Ergeb- land zwischen Asien und Europa ging es
die Gelehrten die Möglichkeiten ein, bis nisse, ebenso wie diejenigen der Konkur- mitunter zu wie auf einem Umsteigebahn-
schließlich nur noch die pontisch-kaspi- renzlabors an der Harvard-Universität hof. Bauern, Hirten und Wildbeuter sind
sche Steppe übrig blieb. und im Jenaer Max-Planck-Institut für hier hin- und hergezogen, sie verdrängten
Doch stimmt all das überhaupt? Ist es Menschheitsgeschichte lassen nun keiner- und vertrieben einander. Und stets haben
mehr als pure Fantasterei? Manch ein His- lei Zweifel mehr: Ja, es hat die sagenum- sich Neuankömmlinge und Eingesessene
toriker oder Archäologe argwöhnte, dass wobenen Hirten in der pontisch-kaspi- gepaart, ihre Gene vermischten sich.
diese vermeintliche Ursprache, dieses schen Steppe wirklich gegeben. Sie gehör- So groß war der Wandertrieb des Men-
»Proto-Indoeuropäisch«, nichts als ein ten zur sogenannten Jamnaja-Kultur, und schen, so groß waren seine Neugier und
Hirngespinst der Schriftgelehrten sei, ein sie haben sich, genau wie es die Linguisten seine Hoffnung, in der Ferne ein neues,

106 DER SPIEGEL Nr. 20 / 12. 5. 2018


Idee, wie das zu erklären sein könnte: Die Forscher zeichnen jetzt die Etappen
»Verantwortlich ist vielleicht ein Initia- der jahrhundertelangen Wanderung nach.
tionsritus, wie er unter den Steppenvöl- Sie begann vor rund 4800 Jahren etwa auf
um 3500 v. Chr.
kern verbreitet war«, sagt er. dem Gebiet des heutigen Weißrussland.
Domestizierung des Pferdes
Die jüngeren Söhne der Jamnaja-Hirten, Dort hatten sich eindringende Jamnaja mit
Dem Steppenvolk der Botai-Kultur
gelang es, das Wildpferd zu zähmen. die von der Erbfolge ausgeschlossen wa- der örtlichen Bauernbevölkerung ver-
Die Jamnaja übernahmen diese ren, mussten auf eigene Faust ihr Glück mischt. Gleichsam als Mitbringsel hatten
Innovation, eine Vermischung suchen. Im Rahmen eines feierlichen Ri- sie fortan deren Gene im Gepäck.
der beiden Völker fand laut tuals warfen sie sich Wolfsfelle über und Die nächste nachweisbare Station liegt
DNA-Analyse nicht statt. schwärmten dann in kriegerischen Banden mehr als 2000 Kilometer weiter östlich.
aus, um sich durch Viehdiebstahl ihre Dort, so jedenfalls rekonstruieren es die
eigenen Herden zu erwerben. Linguisten, schnappten die Reisenden
Ob es wirklich vorwiegend solche Jung- neue Begriffe auf, die dafür sprechen,
männerbünde waren, die ihre Gene in dass sie die Kunst des Streitwagenbaus
Europa ausstreuten, muss einstweilen erlernten. Das stimmt mit den Erkennt-
noch als Spekulation gelten. Gewiss aber nissen der Archäologen überein: Sie ver-
scheint: Es kamen viele. orten die Geburtsstätte dieses wirk-
Anders lässt sich der hohe Anteil der mächtigen Kriegsgeräts am Fuße des
Steppen-DNA, der sich bis heute in großen Uralgebirges.
Teilen Europas findet, kaum erklären. Erst Bis hierher waren die Migranten im
an den Pyrenäen scheint die Ausbreitung Ochsenkarren durch die Steppe gezuckelt,
A l zum Stillstand gekommen zu sein. Dafür fortan preschten sie auch in grazilen zwei-
t
jedenfalls spricht, dass der Anteil im Erb- rädrigen Karossen durchs Grasland. Das
a

gut heutiger Spanier und Portugiesen deut- lässt auf soziale Veränderungen schließen.
i

lich geringer ist. Archäologe Kristiansen jedenfalls hält


Möglicherweise hat zum genetischen es für sehr wahrscheinlich, dass der Vor-
Erfolg der Steppenmenschen auch ein marsch in Richtung Indien nicht wie in
Verbündeter beigetragen, den sie aus ihrer Europa in Gestalt marodierender Jugend-
Heimat mitgebracht zu haben scheinen: banden, sondern militärisch organisiert
Yersinia pestis, das Pestbakterium. Dessen geschah.
Gene fanden Jenaer Max-Planck-Forscher Es dürfte den Neuankömmlingen aus
in europäischen Gräbern – und offenbar der Steppe zupassgekommen sein, dass
taucht es genau zu jener Zeit erstmals auf, von der Harappa-Kultur inzwischen ver-
als der Vorstoß der Jamnaja begann. mutlich nicht viel mehr als Ruinen geblie-
H

Denkbar ist, dass die Seuche große Teile ben war. Ob auch hier die Pest ihr Übriges
i
m

der ansässigen Bevölkerung dahinraffte, tat, das werden erst künftige Untersuchun-
a

während sich die Neuankömmlinge, deren gen erweisen.


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a

Harappa j Immunsystem mit dem Erreger vertraut Nicht überall allerdings bestätigte die
a
war, als resistenter erwiesen. Analyse der Gene die Vorhersagen der
um 2000 v. Chr. In der Zeitschrift »Science« legt Willer- Sprachgelehrten. Die größte Überra-
Speichenrad, Streitwagen slevs multidisziplinäres Forscherteam nun schung erwartete die Forscher in Anato-
Im südlichen Ural lernten die Einwanderer den Streitwagen nach. Im zweiten Teil der Steppen-Saga lien.
kennen. Beim Einfall nach Indien nutzten sie das schnelle geht es darum zu klären, wie die indo- Das Hochland der heutigen Türkei gilt
Gefährt vielleicht als Kriegsgerät. Die einst blühende europäischen Sprachen nach Südasien als wichtige Begegnungsstätte antiker Kul-
Harappa-Kultur war zu diesem Zeitpunkt bereits unter- gelangt sind. Und auch hier zeigt sich: turen. Die Experten hatten deshalb schon
gegangen.
Das Mosaik aus linguistischen, archäolo- länger den Mangel an genetischen Daten
gischen und genetischen Versatzstücken aus dieser Region beklagt.
fügt sich zu einem erstaunlich detaillierten Ein besonderes Verdienst der jüngsten
besseres Leben zu finden, dass Begriffe Szenario. »Science«-Studie besteht darin, dass die
wie »Rasse« oder »genetisch reine Ab- Vor 4500 Jahren, als der große Treck Autoren erstmals Zugang zu Knochen-
stammung« ihre Bedeutung verlieren. gen Europa schon weit vorangekommen material aus Anatolien bekamen. Sie be-
»Das Konzept der Rasse ist tot«, resümiert war, fand sich noch kaum ein Jamnaja-Gen mühten sich, Fundstücke auszuwählen,
Willerslev. jenseits des Hindukusch. Möglich ist, dass die dem hethitischen Kulturkreis zuzurech-
Schon vor drei Jahren hatten er und an- der Süden die Steppenbewohner einfach nen sind.
dere Forscher der DNA stein- und bron- weniger lockte. Denkbar ist auch, dass die Denn gerade das Hethitische spielt eine
zezeitlicher Bauern in Europa den ersten urbane Harappa-Hochkultur, die damals zentrale Rolle im Theoriegebäude der
Teil der großen Erzählung vom Auszug im Industal blühte, Eindringlinge abzu- Linguisten. Zum einen zählt dieses Idiom
der Steppenvölker entlockt. Er handelt da- wehren wusste. zu jenem Zweig der indoeuropäischen
von, wie die Menschen der Jamnaja-Kul- Trotzdem fanden sowohl die Wörter als Sprachen, der sich als erster von den übri-
tur ab etwa 3000 v. Chr. nach Mitteleuro- auch die Gene den Weg von der Steppe gen abgespalten hat. Zum anderen liefert
pa vorzudringen begannen. bis nach Indien – nur dass dies, verglichen das Hethitische die ersten schriftlichen
Besonders markant ist die genetische mit Europa, mit mindestens tausend Jah- Quellen dieser Sprachfamilie: Die bisher
Signatur aus der Steppe auf dem Y-Chro- ren Verspätung geschah. Zu dem Zeit- ältesten Tontafeln stammen aus dem
mosom. Daraus schließen die Forscher, punkt, als ihre Gene schließlich auf dem 19. vorchristlichen Jahrhundert. Der As-
dass der Großteil der Zuwanderer männ- indischen Subkontinent eintrafen, existier- syriologe Gojko Barjamovic, der in Wil-
lich war. Kristian Kristiansen, Chefarchä- te die Jamnaja-Kultur, wie sie die Archäo- lerslevs Team mitgearbeitet hat, konnte
ologe im Willerslev-Team, hat auch eine logen definieren, gar nicht mehr. hethitische Namen jetzt sogar noch 500

107
Wissenschaft

DER SPIEGEL live Jahre weiter in die Vergangenheit zurück-


verfolgen.
Und ausgerechnet hier nun, wo sich
Asien und Europa geografisch begegnen,
in der Uni fehlt jede Spur der Jamnaja-Gene. Das
wanderlustige Volk aus der pontisch-kas-
pischen Steppe fand offenbar weder den
Weg über den Balkan noch den durch das
Kaukasusgebirge.
Vermögen hat etwas mit Nun rätseln die Forscher: Wie kann es
sein, dass eine Sprache auf Wanderschaft
geht, ohne dass die zugehörigen Sprecher
Verantwortung zu tun mitkommen? Ist es möglich, dass das
Indoeuropäische in Anatolien einsickerte,
ähnlich wie sich das Englische heute
verbreitet, ohne dass es dazu Engländer

© Dirk Rossmann GmbH


bedarf?
Archäologe Kristiansen mag daran nicht
glauben. Die Forscher würden kaum um-
hinkommen, ihre Theorien noch einmal
zu überdenken, sagt er: »Vor allem das
erste Kapitel der Story muss umgeschrie-
ben werden.«
Er vermutet, dass es einen Vorläufer
der Jamnaja-Kultur gegeben hat, in dem
eine Art Ur-Ur-Indoeuropäisch gespro-
chen wurde. Und er hat auch schon einen
Verdacht, wo sich dieses Volk herumge-
trieben haben könnte: Der Kaukasus,
meint Kristiansen, war seine Heimat. Das
aber sei unausgegoren: »Da klafft noch ein
Loch«, gesteht er.
Dirk Roßmann spricht mit SPIEGEL-Wirtschaftsredakteurin Und eine zweite Überraschung hält Wil-
lerslevs Genanalyse bereit. Sie betrifft
Simone Salden über den harten Wettbewerb im unter anderen jenes Frauenskelett in der
kasachischen Steppe, bei dessen Ausgra-
deutschen Handel, sein soziales Engagement und bung der Genforscher selbst zugegen war.
Diese Frau gehörte zu einem Volk, des-
wie man als Unternehmer Rückgrat zeigt – sen Kultur die Archäologen »Botai« nen-
nen. Diese Menschen waren Wildbeuter,
in guten wie in schlechten Zeiten. die sich von der Jagd ernährten. Fernab
vom Rest der Welt haben sie Menschheits-
geschichte geschrieben, denn sie haben das
Pferd domestiziert.

Dienstag, 22. Mai 2018, 19 Uhr


Die Untersuchung ihres Erbguts förder-
te nun zutage, dass sich dieses Volk gene-
tisch radikal von den Angehörigen der
Leuphana Universität Lüneburg Jamnaja-Kultur unterschied. Die Botai,
so scheint es, mieden konsequent jeden
Hörsaal 4, Universitätsallee 1 Kontakt zu ihren Nachbarn – und das, ob-
wohl diese auf ihren Wanderungszügen
(Zufahrt Scharnhorststraße 1) das Territorium der Botai durchquert
haben müssen.
21335 Lüneburg Willerslev geht davon aus, dass sich die
Steppen-Nomaden der Jamnaja die Kunst
der Pferdehaltung von diesen Naturmen-
Der Eintritt ist frei. Einlass ab 18.30 Uhr. Änderungen vorbehalten. schen abgeguckt und sie dann fortent-
Verpassen Sie keine Veranstaltung mehr, und melden Sie sich wickelt haben. Irgendwann könnte den
für unseren Newsletter unter spiegel-live.de an. Botai dann ihre bahnbrechende Innova-
tion selbst zum Verhängnis geworden sein:
Während sich die Nachfahren der Jamnaja
hoch zu Ross über halb Eurasien ver-
breiteten, verschwanden die Botai, ohne
Spuren zu hinterlassen.
Willerslev findet: »Eine tragische Ge-
schichte.« Johann Grolle

108
Schlaue T-Shirts sind durch eingewebte Sensoren in der
Lage, unter anderem den Herzschlag zu erspüren.
Kosten: ca. 330 Euro inklusive Analysegerät

Sohlen Hanteln zählen die Einheiten mit,


Medizin Die digitalen Trainer Springseile die Sprünge.

kommen: Was bringen die per-


sönlichen Lauftipps der neuen Eine Smartwatch misst den Puls
über Diodensensoren und die Strecke
Sport-Apps? Ein Selbstversuch. über GPS.

Ein rollender Tempomacher- Trinkflaschen

R echts, links, einatmen, rechts, links,


ausatmen: Wer regelmäßig läuft,
plagt sich häufig mit der unerträg-
lichen Langweiligkeit des Unterwegsseins
Roboter fährt vor einem
Jogger her, um genau das
richtige Tempo vorzugeben.
Auf holprigen Waldwegen
messen über
Hautsensoren den
Schweiß und geben
Nachricht, wenn
herum. Hobbysportler setzen daher zu- kann er jedoch nicht ein- nicht genug
nehmend auf digitale Motivationshelfer, gesetzt werden. getrunken wird.
zumeist simple Lauf-Apps auf dem Handy
mit Standard-Trainingsplänen der Sorte
08/15.
Nun aber kommen elektronische In Reizstrom-Studios
Übungsleiter auf den Markt, die einen werden von einem
persönlichen Coach simulieren sol- Reglerpult aus gezielte
len; verblüffend genau analysieren Stromstöße durch die
sie Bewegungsabläufe und leiten Sohlen messen Schritt- Muskeln geschickt,
daraus individuelle Lauftipps ab. frequenz und Laufstil. um diese zu trainieren.
Viel Beachtung finden beispiels-
weise derzeit die schlauen Sohlen von
Evalu, einem Start-up aus München: Wer
sich die gummiartigen Kraftsensoren in die So erfährt der Jogger nach dem Training, bau; vielmehr nähren sie beim Nutzer
Joggingschuhe legt, bekommt unter ande- dass er 20 Minuten lang »geflogen« ist, lediglich die Illusion, mithilfe der Daten-
rem aufs Smartphone gemeldet, ob man sich also beide Füße gleichzeitig zwischen flut alles unter Kontrolle zu haben. Dabei
mit dem Vorfuß aufsetzt wie gazellenhaft zwei Schritten in der Luft befanden. wäre es für Hobbyathleten am wich-
elegante Wundersprinter oder doch eher Schneller läuft deshalb niemand. tigsten, vor allem eines zu trainieren:
mit der Ferse, was bei jedem Schritt einen Mit ihrer schlauen Sohle liegen die Gelassenheit.
bremsenden Schlag auslöst und schlecht Münchner voll im Trend. Auf Sportmessen Zu dieser Erkenntnis ist man nun offen-
für Tempo, Wirbelsäule und Kniegelenke wie der Ispo wird ein immer skurrilerer bar auch beim Münchner Sohlen-Start-up
ist. Auch spürt die Sohle feinfühlig, ob das Gerätezoo präsentiert (siehe Grafik), dar- gelangt. Seit diesem Monat bietet die Fir-
eine Bein eine ein paar Prozent schwäche- unter neuerdings sogar Kletterwände, die ma nicht mehr die ursprünglich 300 Euro
re Leistung abliefert als das andere; so genau die richtige Abfolge an Griffen durch teure Dauervermessung einer jeden Trai-
ein Ungleichgewicht könnte zu Rücken- das Aufleuchten von LEDs markieren. ningseinheit an, sondern einzelne Analy-
schmerzen führen. In diesem Fall schlägt Was aber bringt es wirklich, wenn der sen für 49 Euro pro Lauf.
die dazugehörige App Kräftigungsübun- Körper von einem Computercoach über- Für die meisten Hobbysportler dürfte
gen vor, so wie es ein besorgter Physiothe- wacht und optimiert wird? Ein streng un- eine solche einmalige Bewertung vollkom-
rapeut auch tun würde. wissenschaftlicher Selbstversuch mit den men genügen, um zu wissen, worauf sie
Dieser fürsorgliche Ansatz der elektro- schlauen Laufsohlen liefert folgenden Be- bei ihrem Training künftig achten müssen.
nischen Helfer ist neu. Bislang peitschten fund: Die Trainingssteuerung ist sehr prä- Danach können sie es einfach wieder lau-
Lauf-Apps ihre Nutzer eher stumpf zu zise, ständig meldet ein Warnton, wenn fen lassen – ohne dass ihnen ständig ein
einem Schneller-höher-Weiter an, mit man ein Schrittchen zu schnell oder zu digitaler Einpeitscher im Nacken sitzt.
Ranglisten und Medaillen und Belohun- langsam läuft. Hilmar Schmundt
gen – gern im Kasernenhofton: »Athlet, Und immerhin: Wer bislang stumpf sein
aufgeben ist keine Option“. stets gleiches Durchschnittstempo gelaufen
Die smarten Sohlisten aus Bayern hin- ist, wird durch das vom digitalen Trainer Wie man mehr
gegen raten mit ihrer App immer wieder vorgegebene Intervalltraining tatsächlich Bewegung in seinen
dazu, nach einer harten Trainingseinheit spürbar schneller – zumindest auf kurzen Alltag einbauen
besser einen Ruhetag einzulegen, auch mal Distanzen. Doch ist der Trainingserfolg kann, erklärt
zwei. Und während viele App-Hersteller auch von Dauer? Nach drei Monaten folgt SPIEGEL WISSEN
»Endlich fit!«, jetzt
sich eher durch Business- als durch Trai- die Ernüchterung beim Berliner Halbma-
im Handel.
ningspläne hervortaten, lassen sich die rathon: Das Tempo war trotz der ausge- Auch online unter
Münchner von Medizinern der Berliner sprochen harten Trainingseinheiten lang- amazon.de /
Charité und der Deutschen Sporthoch- samer als sonst; lag das tatsächlich nur am spiegel oder im Abo
schule in Köln beraten. warmen Wetter? unter abo.spiegel-
Aus dem Datenbeifang destilliert die Der Test zeigt: Viele der elektronischen wissen.de.
App auch unterhaltsam-unnützes Wissen: Ratgeber dienen kaum dem Muskelauf-

DER SPIEGEL Nr. 20 / 12. 5. 2018 109


Wissenschaft

»Was von uns bleibt«


auch das wäre nur dann möglich, wenn
diese nicht allzu häufig mit Grundwasser
in Berührung kämen – das ist aber ein sehr
unwahrscheinliches Szenario.
SPIEGEL: Schwer vorstellbar, dass Wolken-
Paläoastronomie Der Geobiologe Dirk Schulze-Makuch über den kratzer einfach so vom Erdboden ver-
schwierigen Nachweis versunkener technischer Zivilisationen – und schwinden.
die Frage, ob die Dinosaurier einst ins Weltall geflogen sind Schulze-Makuch: Mag sein, aber der Zer-
fall schreitet unweigerlich voran – und
zwar meist schneller als gedacht. Nehmen
Schulze-Makuch, 54, ar- statt. Selbst Betonkonstruktionen zerfallen Sie das Denkmal von Mount Rushmore,
beitet an der TU Berlin. irgendwann. wo die Köpfe bedeutender amerikanischer
Der Astrobiologe er- SPIEGEL: Wir sprechen natürlich über sehr Präsidenten aus dem Bergmassiv geschla-
forscht dort Methoden, lange Zeiträume … gen wurden. Diese berühmten, 1941 fer-
um außerirdische Lebens- Schulze-Makuch: In der Tat, die Dinosau- tiggestellten riesigen Skulpturen bestehen
formen aufzuspüren. In rier beispielsweise sind vor 66 Millionen aus Granitgestein. Doch schon heute, nach
seinem neuen Buch »The Jahren ausgestorben. Nach einer ähnlich nur wenigen Jahrzehnten, sind die Gesich-
Cosmic Zoo. Complex Life on Many langen Dauer würden sich keine Spuren ter schlechter zu erkennen als früher. Denn
Worlds« ergründet er unter anderem, wel- mehr von Berlin, New York oder Tokio auch Granit verwittert.
che Spuren eine industrielle Hochkultur finden lassen. Eine denkbare Ausnahme: SPIEGEL: An welchen Standorten wären
hinterließe. verschüttete U-Bahn-Tunnel, die unter der die Chancen am größten, dass etwas von
Erde vom Zerfall verschont blieben. Aber uns erhalten bliebe?
SPIEGEL: Herr Schulze-Makuch, lassen Sie
uns ein kleines Gedankenexperiment an-
stellen: Angenommen, schon die Dinosau-
rier hätten Häuser gebaut, könnten wir da-
von heute noch irgendwelche Überreste
finden?
Schulze-Makuch: Das ist eine spannende
Frage. Die Antwort lautet: sehr wahr-
scheinlich nicht. Wenn lange vor unserer
Zeit irgendeine technische Zivilisation exis-
tiert hätte, wäre es nahezu unmöglich,
Hinterlassenschaften davon zu entdecken.
Wir können also nicht hundertprozentig
sicher sein, dass wir die Ersten auf der
Erde waren, die eine Industrie betrieben
haben.
SPIEGEL: Gibt es denn tatsächlich irgend-
welche Hinweise, dass die Dinosaurier
schlauer waren, als wir annehmen?
Schulze-Makuch: Nein, aber unterschät-
zen darf man diese Biester natürlich auch
nicht. Die vermutlich intelligentesten aller
Dinosaurier stammten aus der Familie
der Troodons. Sie hatten ein ungewöhn-
lich großes Gehirn. Wenn man sich die
Arme und die Hände der Troodons
anschaut, hätten sie theoretisch durchaus
in der Lage sein können, Werkzeuge zu
benutzen.
SPIEGEL: Warum wäre es so schwer, Über-
reste einer vor langer Zeit untergegange-
nen industriellen Hochkultur zu finden?
Bleiben Gebäude, Brücken, Bahngleise
oder Maschinen nicht ewig in der Land-
schaft stehen?
Schulze-Makuch: Keineswegs. Nehmen
Sie nur unsere eigenen Hinterlassen-
schaften. Wenn man lange genug warten
würde, bliebe von all unseren schönen
Städten nichts mehr übrig. Holz verrottet,
Metall verrostet, und auch Kunststoffe
werden von Bakterien aufgefressen, wie
wir inzwischen wissen. Überall dort, wo
Mikroben an Material herankommen, fin-
den unweigerlich Zersetzungsprozesse Eisenbahnfriedhof in Ungarn: »Wir können nicht sicher sein, dass wir die Ersten waren«

110
Schulze-Makuch: Recht gut werden Bau- wir versteinertes Holz oder Fußabdrücke Handy vergraben, verwittert es in immer
ten in der Wüste konserviert. Deswegen von Dinosauriern gefunden. Aber in Wahr- kleinere Teile, bis irgendwann nichts mehr
stehen die Pyramiden der alten Ägypter heit kommen solche Versteinerungen recht davon übrig ist. Allenfalls mag es im Bo-
immer noch. Aber diese Monumente sind selten vor. den eine geringfügige Anreicherung mit
auch erst ein paar Tausend Jahre alt. Nach SPIEGEL: Ist es so gesehen nicht erstaun- Gold, Silber oder seltenen Erden geben.
einigen Hunderttausend Jahren werden lich, dass wir heute überhaupt versteinerte Knochen übrigens, die aus Kalziumphos-
wir die Pyramiden nicht mehr von natür- Knochen der Dinosaurier entdecken? phat bestehen, sind unter bestimmten Um-
lichen Gesteinsformationen unterscheiden Schulze-Makuch: Gegenfrage: Wie oft weltbedingungen tatsächlich erstaunlich
können. Oder sie sind ganz verschwun- stoßen wir wirklich auf Dinosaurierkno- stabil. Wichtig ist, dass es möglichst
den – zumal sich in so langen Zeiträumen chen? Wenn man bedenkt, dass diese schnell zu Luftabschluss kommt, beispiels-
die Klimazonen verschieben. Auch die imposanten Geschöpfe 170 Millionen Jah- weise indem ein Lebewesen in einem
Sahara war früher grün. Zu den wenigen re lang diesen Planeten beherrschten – Sumpf versinkt.
Wüsten, die auf der Erde bereits seit vielen hundertmal länger als wir Menschen –, SPIEGEL: Würde man nach langer Zeit
Jahrmillionen existieren, gehören die chi- finden wir verdammt wenige Überreste überhaupt erkennen, dass man auf die
lenische Atacamawüste und die Wüste von ihnen. Überreste eines künstlich geschaffenen
Gobi – aber sogar dort gab es schon feuch- SPIEGEL: Wenn Knochen konserviert wer- Gegenstands gestoßen ist?
tere Perioden als heute. den, und sei es noch so selten – könnte Schulze-Makuch: Das ist genau das Pro-
SPIEGEL: Unter welchen Voraussetzungen das nicht auch mit technischen Geräten blem. Als junger Student in Gießen habe
werden Dinge konserviert? passieren? Wird man in ferner Zukunft ver- ich einmal an einer Exkursion in Nordhes-
Schulze-Makuch: Wie gesagt: Je trocke- steinerte Handys finden? sen teilgenommen. Plötzlich entdeckten
ner die klimatischen Verhältnisse, desto Schulze-Makuch: Das ist leider nicht zu wir im Buntsandstein den Fußabdruck
besser. In der Wüste von Arizona haben erwarten. Wenn Sie heute irgendwo ein eines Stiefels. Jede Rille war genau zu
erkennen – dummerweise in einer Schicht,
die mehr als 200 Millionen Jahre alt war.
Natürlich konnte das nicht sein, denn in
der Trias gab es noch keine Lebewesen,
die Stiefel trugen.
SPIEGEL: Und wie war die Erklärung für
diese Entdeckung?
Schulze-Makuch: Es gab keine. Wir stuf-
ten den vermeintlichen Stiefelabdruck ein-
fach als eine natürliche Struktur ein, die
nur wie eine künstliche aussah. Es hat also
auch viel mit unserer Erwartungshaltung
zu tun, wie wir eine Entdeckung inter-
pretieren.
SPIEGEL: Gibt es wirklich nichts, was die
Äonen überdauert?
Schulze-Makuch: Es gibt in der Tat nur
wenig, was von uns bleibt. Unter Umstän-
den wären Spuren einer früheren techni-
schen Zivilisation zu finden, wenn diese
Energie aus Atomkraft gewonnen hätte.
Die dabei erzeugte künstliche Radioakti-
vität wäre noch nach Jahrmillionen vor-
handen; allerdings ließe sie sich gar nicht
so leicht von der natürlichen Radioakti-
vität unterscheiden.
SPIEGEL: Das ist alles?
Schulze-Makuch: Nicht ganz. Noch bes-
ser wäre es, wenn eine untergegangene Zi-
vilisation Raumfahrt betrieben hätte und
schon auf fremden Himmelskörpern ge-
landet wäre, wo es wie auf unserem Mond
JONATHAN JIMENEZ / CARPETBOMBINGCULTURE.CO.UK

keine Atmosphäre gibt; denn im Vakuum


verwittert nichts.
SPIEGEL: Bekanntlich sind wir auf dem
Mond auf keinerlei fremde Hinterlassen-
schaften gestoßen …
Schulze-Makuch: … was beweist, dass die
Dinosaurier nicht ins Weltall geflogen sind.
Und ein kleiner Trost für uns: Eines
immerhin wird auf jeden Fall von der
Menschheit übrig bleiben – die amerika-
nische Flagge auf dem Mond.
Interview: Olaf Stampf

DER SPIEGEL Nr. 20 / 12. 5. 2018 111


Kultur
»Die Welt ist unnötig laut. Stille ist heute radikaler als Lärm.« ‣ S. 118

Kinderbücher  Ein neues Buch über den Räuber Hotzenplotz ist allemal ein
Grund zur Freude. Der Thienemann Verlag hat Anfang dieser

Vorsicht, Silber! Woche angekündigt, demnächst werde »Der Räuber Hotzen-


plotz und die Mondrakete« erscheinen. Das Manuskript habe
»all die Jahre« in einer Schublade »geschlummert«. Die Tochter
des 2013 verstorbenen Hotzenplotz-Erfinders Otfried Preußler
entdeckte es, als sie einen Ordner ihres Vaters mit der Aufschrift
»Ideen und Fragmente« durchblätterte. In einer Werbebroschüre
des Thienemann Verlags wird das Buch opulent auf fünf Seiten
präsentiert, in großen Buchstaben steht »Sensation« darüber.
Doch ob es sich dabei wirklich um eine Sensation handelt, da
hat man in einem kleinen Ort bei München seine Zweifel. Hier
gibt es ein Puppentheater, das einmal im Jahr zum Pfarrfest
seine provisorische Bühne aufbaut und seit fast 40 Jahren immer
mal wieder Preußlers Kasperltheater »Die Fahrt zum Mond«
aufführt. Das Stück handelt davon, dass Hotzenplotz erneut aus
dem Spritzenhaus entkommen ist. Um ihn einzufangen,
locken ihn Kasperl und Seppl mit einer Mondrakete.
Angeblich sei der Mond ja über und über mit Silber
bedeckt. Da kann Hotzenplotz nicht widerstehen und
klettert in die Rakete. Vorsicht, Silber!
Der Text entstammt einem schmalen Band »Thie-
nemann’s Spielbücher Nr. 9«, herausgegeben von
Otfried Preußler, erschienen 1967 im selben Ver-
lagshaus, das nun das neue Buch angekündigt hat.
Die Verlegerin Bärbel Dorweiler versichert, bis vor
wenigen Tagen nichts von dieser frühen Veröffent-
lichung gewusst zu haben, denn das »Spielbuch« tra-
ge nicht Preußlers Namen auf dem Titel. Auch dass
Hotzenplotz’ Mondreise 1979 und 1981 in anderen Sammel-
bänden nochmals publiziert worden war, war beim Thiene-
mann Verlag nicht bekannt.
Das Buch »Der Räuber Hotzenplotz und die Mondrakete«
(erscheint am 25. Mai) wurde von Preußlers Tochter zu einem
erzählten Kasperltheater umgeschrieben, die Handlung schließt
an den zweiten von insgesamt drei Bänden an. Für die allermeis-
ten Hotzenplotz-Fans dürfte es eine neue Geschichte sein. CLV
THORSTEN SALEINE / THIENEMANN VERLAG

Tanztheater »Neues Stück I«, lautet der schlichte Titel,


Risiko und Neuanfang »eine Kreation« von Dimitris Papaioan-
nou. Der griechische Künstler will in
 Fast neun Jahre sind seit dem Tod der Wuppertal ein traumähnliches Univer-
großen Choreografin Pina Bausch vergan- sum auf der Bühne erschaffen, in dem
gen. Neun Jahre, in denen am Tanztheater der Mensch gleichermaßen Individuum
Wuppertal ihr Werk, das 46 Inszenierun- und Material auf einem Schlachtfeld
gen umfasst, weiterhin aufgeführt wurde, ist. Im Juni folgt eine zweite Urauffüh-
in denen dort aber keine Uraufführung rung, diese übernimmt der norwegische
mehr stattfand. Nun wagt die Intendantin Choreograf Alan Lucien Øyen. Für die
Adolphe Binder einen Neuanfang. »Wir Intendantin Binder sollte zeitgenössi-
experimentieren mit der kreativen Fortset- sches Tanztheater eine Gratwanderung
zung von Pina Bauschs existenziellem zwischen Tanz und bildender Kunst sein,
Œuvre«, sagt Binder. »Dabei leiten uns zwischen Sprechtheater und Philosophie.
Fragen, die auch Pina Bausch beschäftig- Seit Pina Bauschs Tod seien die Zeiten
JULIAN MOMMERT

ten: Worin ist menschliches Bewusstsein schnelllebiger geworden, sagt Binder.


verankert? Woraus nährt sich unser Tanztheater, das Aufmerksamkeit und
Selbstwertgefühl, unsere Würde?« Am Geduld brauche, sei da ein Risiko. Ein Szene aus »Neues Stück I«
12. Mai findet die erste Premiere statt, notwendiges Risiko. CLV

112
Erinnerung Vor einigen Tagen war die feierliche Elke Schmitter Besser weiß ich es nicht
Willemsens Nachlass Eröffnung der Villa Willemsen – ein
wegen der phonetischen Alliteration Teurer im Tod
 In einer Villa in Wentorf bei Hamburg inspirierender, auch etwas lustiger Name,
fand der Dichter, Denker und Weltrei- über den der Namensgeber sich tagelang Zu Lebzeiten war Sylvia Plath die
sende Roger Willemsen eine Art Heimat. amüsiert hätte. Zum Haus gehört ewige Debütantin in der Ehe mit
Er hatte das schöne Haus gekauft, um eine Stiftung, die Künstler und Lite- dem Dichter Ted Hughes, der
hier zu schreiben und zu leben, doch raten mit Aufenthaltsstipendien in schon als »angry young man«
eine schwere Krankheit durchkreuzte der Villa fördert (rwstiftung.de). Wil- der britischen Poetry ange-
diese Pläne. Als die Aussicht auf Heilung lemsen war zeitlebens in humanitä- staunt worden war, als sie ihn
geschwunden war, entstand im Kreis sei- ren und karitativen Projekten enga- auf einer Studentenparty erobert
ner Freunde die Idee, das Haus in sei- giert, etwa als Schirmherr des »afghani- hatte – mit einem Kuss, der einem
nem Geist und Namen weiterzuführen. schen Frauenvereins e. V.«. NM Biss ähnlicher war als einer romantischen
Zärtlichkeit. Er sollte es sein, so war der
Plan, und so wurde er ins Werk gesetzt, mit
beiderseitigem Ungestüm, mit attischer
Entschiedenheit, es galten das Alles-oder-
Nichts und die Hingabe an ein Schicksal,
das tragisch, doch niemals banal sein durfte.
Ted Hughes, später Poet Laureate der
Queen, war ein Naturdichter, getragen
vom männlichen, europäischen Kult um
das sängerische Genie. Dagegen Plath: ein
Zögling der Smith-College-Schmiede, ein
ewiges Mustermädchen, das nicht nur
dichten wollte (und konnte), sondern auch
kochen, kluge Aufsätze schreiben, und das
schön sein musste, um vor sich selbst et-
was zu gelten. Es endete mit dem bekann-
JAN WINDSZUS
ten Desaster; Plath beging Suizid. Ob sie
vor ihrem Tod gefunden werden wollte, ist
bis heute fraglich. Plath hinterließ jene Ge-
dichtmanuskripte, die sie nicht nur als
Dichterin des postumen Bandes »Ariel«
unsterblich machen sollten, sondern die
Pop chen in Bikini auftraten. Als wir auf die auch die feministische Gemeinde über-
»Kein Feuerwerk, nur wir« Bühne gingen, waren da: nur wir, Musi-
ker und Sänger. Das war ein Risiko. Eini-
zeugt sein ließen, dass Hughes – damals in
eine Affäre verstrickt mit einer Werberin
Der amerikanische Soulmusiker Aloe ge Leute verstanden nicht, wie er sich für (die ihrerseits sechs Jahre später auf die
Blacc, 39, sang »Wake Me Up«, den so eine Show entscheiden konnte. Aber gleiche Art ihrem Leben ein Ende setzen
bekanntesten Song des schwedischen er folgte da seinen Überzeugungen. sollte wie Plath) – der Schuldige war.
DJ und Produzenten Avicii, der am SPIEGEL: Bergling spielte über 800 Kon- In diesem März nun hat die gemeinsame
20. April im Alter von 28 Jahren tot auf- zerte, 2016 gab er bekannt, nicht mehr Tochter der beiden, die Schriftstellerin und
gefunden worden war. aufzutreten. In der Dokumentation Malerin Frieda Hughes, die Hinterlassen-
»Avicii: True Stories«, in der schaft ihrer Mutter veräußert: ein Vorab-
SPIEGEL: Wie haben Sie man Sie gemeinsam im Stu- exemplar von Plaths einzigem – und sehr
erfahren, dass Tim Bergling, dio sieht, wird deutlich, dass gutem – Roman »Die Glasglocke« über die
EARL GIBSON III / GETTY IMAGES

genannt Avicii, gestorben ist? Liveauftritte ihn stark unter Abrichtung begabter Mädchen für den
Blacc: Von unserer gemein- Druck gesetzt haben müssen. männlich dominierten Kulturbetrieb, ihre
samen Plattenfirma. Ich war Sie kennen das Leben in der Schreibmaschine, aber auch Kleider und
tieftraurig. Und aufgewühlt. Öffentlichkeit und auf der eine Kette mit einem Drachenmotiv als
Beim letzten Mal, als Tim Bühne. Was setzt einen so Anhänger. Dieses Stück ging an einen
und ich miteinander kom- sehr unter Druck? anonymen Bieter für 14 178 US-Dollar,
muniziert hatten, im vergan- Blacc: Die eigene Erwartung, »eine Menge für ein Stück Modeschmuck«,
genen Jahr, schien es ihm stets zu funktionieren und wie ein Mitarbeiter des Auktionshauses in
besser zu gehen. Ich glaube, wir alle immer das Beste zu geben. Die letzte London trocken vermerkte. Auch ein Tar-
dachten, es gehe ihm richtig gut. Person, an die man dabei denkt, ist tan-Kilt, drei Armbanduhren und ein
SPIEGEL: Was war aus Ihrer Sicht das Be- man selbst. Exemplar von »Joy of Cooking«, mit der
sondere an Tim Bergling? SPIEGEL: Haben Sie Ihren gemein- Anmerkung »Ted likes this« bei einem
Blacc: Er verstand es, Songs zu machen, samen Hit »Wake Me Up« seit Rezept für Kalbsschnitzel, fanden ein neu-
die Menschen mehr fühlen ließen als nur dem Tod von Tim Bergling noch ein- es Zuhause. Insgesamt überstieg der Erlös
die Musik. Er hatte eine starke Verbin- mal gehört? denjenigen des Hughes-Nachlasses – der
dung zur Melodie und immer sehr spezi- Blacc: Ehrlicherweise nicht. Ich brau- allerdings hauptsächlich aus Büchern
fische Vorstellungen. Bei einem Festival che noch ein bisschen Zeit. Aber wahr- bestanden hatte – enorm.
in Miami spielten wir »Wake Me Up«, scheinlich werde ich den Song bald
und ich erinnere mich daran, wie andere wieder singen. Und dann wird es mir An dieser Stelle schreiben Elke Schmitter und
Künstler mit Feuerwerk, Rauch und Mäd- eine Ehre sein. SKR Nils Minkmar im Wechsel.

DER SPIEGEL Nr. 20 / 12. 5. 2018 113


Kultur

Hinter der Tür


Literatur Die Schwedische Akademie wird in diesem Jahr den Nobelpreis
nicht vergeben. Fraglich ist sogar, ob sie den Preis überhaupt
weiter vergeben darf. Chronik eines überfälligen Desasters. Von Georg Diez

E
s geht so lange gut, bis es nicht »Die Penetration ist immer eine Nieder- Engdahl wirkt da eher wie die dunkle Fi-
mehr gut geht. Dann drehen sich lage für die Frau und ein Sieg für den gur in einem Roman, der einen Glutkern
alle um und schauen zurück und Mann«, so lautet einer der Aphorismen, von Gier, Sex, Verbrechen hat und dabei
staunen über die zerstörten Men- die Engdahl, Sohn eines Offiziers, als Buch die größere Geschichte erzählt, wie Tradi-
schen und die zerstörte Ehre und über- veröffentlicht hat. »Es gibt eine Kammer tionen entstehen und vergehen, wie Ver-
haupt den moralischen Morast und fragen im Inneren eines Mannes, wo nur Platz ist änderungen möglich sind und was der
sich: Wie konnten wir glauben, dass das für eine Sache, ihn selbst«, so lautet ein Preis ist, für das eine und für das andere.
gut gehen könnte? anderer Aphorismus. »Auch im Inneren Womit wir bei Jean-Claude Arnault
Das ist, kurz gefasst, die Geschichte der einer Frau gibt es eine Kammer. Sie ist leer. sind, 71, der anderen dunklen Gestalt,
Schwedischen Akademie und des Nobel- Sie ist nicht einmal selbst darin. Die Frau Franzose, Grapscher, Tatscher, möglicher-
preises für Literatur, eine bittere Farce, als wartet davor, bis jemand dieses Zentrum weise Vergewaltiger, Manipulator, Mytho-
wäre August Strindberg aus seinem Grab füllt.« mane, Ehemann von Katarina Frostenson,
gestiegen, um zu sehen, wie sie sich die fei- Die Akademie war für ihn das ideale die in ihrer Erscheinung genauso kalt ist,
nen Champagnerkelche an den Kopf wer- Machtmittel, eine Art Geheimbund von wie es ihr Name suggeriert, gefeierte Dich-
fen, die Gecken von der Akademie, terin und Mitglied der Akademie, ein
die Strindberg, der große schwedi- Traumpaar, ein Albtraumpaar, denn
sche Hasser, nicht einmal hassen wür- die sexuellen Vergehen, die Arnault
de, so sehr würde er sie verachten. vorgeworfen werden, sind langjährig
Zwei Männer sind es vor allem, und systemisch und letztlich eine Fra-
die im Zentrum der ganzen Affäre ge an diese Ehe.
stehen, die den Preis zerstören könn- Sie lernten sich kennen, als Fros-
te, der einmal der wichtigste der Welt tenson 17 war und Arnault, der Anar-
war, goldenes Tamtam, das die Tür chist gewesen war im Paris von 1968,
HENRIK MONTGOMERY / AFP
öffnet für all die Wichtigtuer, die sich gerade nach Schweden gekommen
mit solchem Ruhm schmücken wol- war – und die, die ihn damals schon
len: Männer wie Horace Engdahl kannten, erzählen von einem Aufrei-
und Jean-Claude Arnault, zwei Ge- ßer, von einem Angeber, von einem
stalten, als hätte sie sich Strindberg Charmeur mit destruktiver Energie,
ausgedacht, der sich wünschte, dass der am Ende alle mit sich in den Ab-
auf seinem Grab einmal ein Penis aus Festakt der Schwedischen Akademie 2011 grund reißen könnte, das ist wiede-
rotem Sandstein stehen würde. Klub ohne lästige Kontrolle rum die Sicht von heute auf diesen
Engdahl, 69, ist die Spinne im Mann, von dem sich weder Frosten-
Netz, der langjährige Ständige Sekre- son noch Engdahl distanziert haben.
tär der Schwedischen Akademie, ein Ma- 18 Mitgliedern, manche davon alters- Was Engdahl und Arnault verbindet, ist
nipulator wie Arnault, ein Alleskönner, schwach und leicht zu beherrschen, ein dabei mehr als eine Freundschaft. Sie sind
der die Menschen fasziniert, durch seine Klub mit Privilegien wie vergünstigten wie zwei Seiten derselben Person, böse
Bildung, durch seine Reden, durch die Lie- Wohnungen und kulturellem Superpresti- Zwillinge, das Janusgesicht, Doktor Jekyll
der, die er singt, in Schwedisch, in Russisch, ge und ohne die demokratische Kontrolle, und Mister Hyde, Engdahl, geistig, gebil-
bis in den frühen Morgen, und erst als er die so lästig ist, wenn man unter sich blei- det, geschickt, der Kopf ohne Körper, so
einmal anfing, Jazzlieder zu singen, er- ben will. würden ihn Kinder zeichnen, sagt Svante
innert sich der Verleger Svante Weyler, der Es war ein feudales Regime, das hier Weyler, ein Kopffußmensch, und Arnault
Engdahl seit Studienzeiten kennt, wurde weiter bestand und jedes Jahr nicht nur ganz Gier und geil und grob, vor allem
klar: Synkopen wenigstens kann er nicht. den Literaturnobelpreis vergab, sondern Körper und, so sagen es viele, eher wenig
Weyler sitzt in seinem Büro in der Alt- Preise und Stipendien in Millionenhöhe, Kopf.
stadt von Stockholm, nur ein paar enge es war eine Adelsclique in einem Land, Es war Arnault, der die Akademie in
Gassen von der Akademie entfernt, alles das egalitär sein will und es in vielem auch die existenzielle Krise stürzte, als im No-
in allem ein Museum der Vormoderne, das ist und sich dennoch diese Anachronismen vember bekannt wurde, dass 18 Frauen
nur noch als Kulisse taugt für Touristen in gönnt, ja manchmal sogar genießt, einen ihm vorwerfen, dass er sie sexuell belästigt
ihrer Trägheit, das Leben hat es schwer an König etwa oder ebendiese Akademie, de- oder genötigt haben soll – es war aber ein
diesem Ort und auch die Realität, die Zei- ren Missbrauch im Grunde nur die über- ganzes System, das verantwortlich ist da-
ten verschwimmen, ideal für jemanden raschen kann, die ein Misstrauen gegen für, dass dieses Verhalten, das allgemein
wie Engdahl, machthungrig, geltungssüch- die Demokratie hegen. bekannt war, so lange geduldet wurde.
tig, männerbündisch, der die deutsche Ro- Denn das ist der tiefere, der symboli- Die Vorwürfe beginnen bei finanzieller
mantik liebt und den Kult des Genies, der sche, der politische Kern dieses schwedi- Vorteilsnahme, Arnault und Frostenson
Frauen in die Rolle der Muse drängt. schen Weltskandals, und ein Mann wie betrieben gemeinsam einen kulturellen

114 DER SPIEGEL Nr. 20 / 12. 5. 2018


CHRISTIAN ASLUND / DER SPIEGEL CHRISTIAN ASLUND / DER SPIEGEL

Lehrerin Bylund, Zeugin Elin, Feministin Witt-Brattström, Autorin Karlsson: Es war ein System

115
CHRISTIAN ASLUND / DER SPIEGEL CHRISTIAN ASLUND / DER SPIEGEL
Kultur

Klub, das Forum, das von der Akademie Und weil ich gehen wollte, gab ich sie weil es jetzt einen neuen Vergewaltigungs-
gefördert wurde, und sie reichen bis zu ihm.« Er rief sie an, immer wieder, sie vorwurf gibt, der noch nicht verjährt ist,
Insiderinformationen, die genutzt wurden, machte ihm klar, dass sie keinen Sex wollte entschied sie sich, nun, 26 Jahre danach,
um vorab auf Nobelpreisträger zu wetten mit älteren Männern, die sie an Warte- zur Polizei zu gehen, um zu belegen, dass
– am schwersten und verstörendsten aber schlangen vorbei ins Café Opera brachten, es ein System Arnault gab.
sind immer noch die Anschuldigungen der und als sie glaubte, er habe das verstanden, Es war die #MeToo-Bewegung, die den
Frauen, manche von ihnen wirken mehr trafen sie sich auf ein Bier. Es schien Elin, 18 Frauen den Mut gegeben hatte zu spre-
und manche weniger traumatisiert durch dass sie ihre Würde wiederbekommen chen, Frauen wie Elise Karlsson, 36, eine
das, was Arnault ihnen angetan haben soll. könnte, wenn sie es schaffte, dass zwischen Autorin und Verlagsmitarbeiterin, die an
Herr Arnault war für eine Stellungnahme Arnault und ihr Freundschaft wäre und einem Abend im Jahr 2008 die Hand von
bis Redaktionsschluss nicht zu erreichen. Respekt. Sie trafen sich zum Abendessen, Arnault an ihrem Hintern hatte, als sie
Da ist zum Beispiel Elin, die ihren ech- er bezahlte, im Gegenzug lud sie ihn zu nachts in einem Foyer stand und auf Freun-
ten Namen nicht nennen will. Sie war sich ein, sie kochte. Sie wurden Freunde, de wartete. »Ich drehte mich um und sah
23 Jahre alt, als sie Arnault 1991 kennen- so schien es ihr, auch wenn die Kellner in ihn und dachte, Mist, es ist Jean-Kladd,
lernte, und erzählt ruhig und selbstbe- den Restaurants, in die sie Arnault führte, und ich bin allein mit ihm.«
wusst davon, was damals passierte, als er sie mit einem Blick musterten, wie sie ihn »Fass mich nicht an«, sagte sie.
sie auf einem Filmfestival ansprach, mit noch nicht gekannt hatte: Ah, das ist also »Was passiert, wenn ich es tue?«, fragte
dem plumpen Satz: Du schaust aus wie die Neue. er und grinste.
meine Schwester. Ein Jahr lang ging das so. Bis zu dem Da gab sie ihm eine Ohrfeige.
»Ich fand ihn auf den ersten Blick schlei- Abend im Herbst 1992, dem Jahr, in dem Es hätte an diesem Punkt enden können.
mig«, sagt sie, auf einer Bank im Schatten Katarina Frostenson in die Schwedische Aber sie trafen sich wieder an diesem
Abend, Karlsson und Arnault waren in
derselben Bar, er kam auf sie zu und schrie
sie an, vor allen Leuten, er schrie, sie wer-
de nie wieder einen Job finden in dieser
Stadt, sie sei eine Psychopathin, und wenn
sie kein stabiles System gehabt hätte, fragt
sie sich heute, wenn sie keine Sicherheit
gehabt hätte, was dann?
Einmal begegneten sie sich noch, auf
einer Brücke in der Stadt, und als er sie
MALIN HOELSTAD / SVD / TT / PICTURE ALLIANCE / DPA
sah, spuckte Arnault ihr entgegen: »Fette
Sau!« Es sind die cleveren, die sicheren,
die etablierten Frauen, sagt Karlsson, die
Arnault oft mögen, weil er sie gut behan-
delt; es sind die schwachen und die unsi-
cheren und die jungen, die er sich sucht,
mit all seiner Vulgarität und seiner kaum
unterdrückten Wut.
Frauen wie Anna-Karin Bylund, 53, in
vielem ein Schlüsselfall, weil sie schon
1996 auf die Übergriffe und das System
Arnault hinwies, weil sie Briefe schrieb an
Beschuldigter Arnault: Weites Spektrum der Vorwürfe die Schwedische Akademie und die städ-
tische Kulturbehörde, von denen keine Re-
aktion kam – dafür berichtete die Zeitung
im Vasa-Park, ganz in der Nähe, wo sich Akademie gewählt wurde und Jean- »Expressen« darüber, nichts geschah.
all das abgespielt hat, was sie erzählt, ganz Claude Arnault, der den Spitznamen Jean- Bylund, die heute weit von Stockholm
in der Nähe auch des Forums, das heute Kladd trägt, Jean mit der Hand am Hin- lebt, auf dem Land als Grundschullehrerin,
geschlossen ist, eine dunkelrote Tür ist al- tern, Elin vergewaltigte. und weiter an ihren Kunstprojekten arbei-
les, was davon geblieben ist. »Und er war Er war stark, so erinnert sie sich, sie wa- tet, war damals eine junge Künstlerin, und
alt. Aber es kann ja trotzdem Spaß ma- ren in einer anderen Wohnung als der, die der sexuelle Übergriff, von dem sie in dem
chen, mit so jemandem zu reden.« er mit Frostenson bewohnte, es gab keinen Brief berichtete, hatte ein paar Jahre zuvor
Sie tranken Wein, sie gingen ins schicke Tee, wie versprochen, sondern eine Atta- stattgefunden, 1994, als sie eine Ausstel-
Café Opera, wo Arnault sie elegant an der cke und erst den Versuch, sie in den Hin- lung in Arnaults Forum vorbereitete.
Warteschlange vorbeilenkte, viel Wein tern zu ficken, das sind die Worte, die Elin »Er lud mich zum Essen zu sich ein, um
trank sie nicht, so erinnert Elin sich heute, wählt, die sich so bewegte, dass das nicht die Ausstellung zu besprechen«, erzählt
sie habe eine Art Blackout gehabt, obwohl passiert; dann vergewaltigte er sie in der Bylund. »Ich war noch Studentin damals,
sie sonst sehr genau darauf achtete, dass gleichen Stellung vaginal. ich war jung und unsicher, aber er war im-
sie nicht zu viel trank. Sie ging damals nicht zur Polizei, weil mer nett zu mir gewesen. Nach dem Essen,
Sie nahmen ein Taxi, er brachte sie zu ihr die Worte fehlten, um das zu beschrei- im Wohnzimmer, wollte er auf einmal Sex.
sich in die Wohnung, zog sie aus, hatte Sex ben, was geschehen war. »Ich entschied Ich dachte, oh shit, was mache ich nun?
mit ihr. »Am Morgen wollte ich einfach mich, was ich erlebt hatte, aus meinem Le- Wir hatten Sex. Ich wusste, dass ich so tun
aus der Wohnung verschwinden. Ich ben herauszuschneiden«, sagt sie. Bis zu musste, als sei nichts passiert, weil ich
schämte mich so, ich fühlte mich so dumm, dem Tag, an dem sie den Text las über die sonst nicht mehr hätte arbeiten können.«
so schlecht, dass ich so etwas zugelassen 18 Frauen, die Arnault sexuelle Übergriffe Sie hatte eine weitere Ausstellung im
hatte. Er wollte unbedingt meine Nummer. vorwarfen. Elins Fall war verjährt. Aber Forum, sie hielt Arnault fern, aber mehr

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und mehr hörte sie, wie er über sie sprach, eigenen Buch, das den Titel trägt: »Das erscheinen manche Preise in anderem
was er über sie erzählte, eine Nutte sei sie, letzte Schwein«. Licht, als Produkt eines Geheimklubs
ein »pussy artist«, eine, die ihr Geschlecht Er, der im Guten wie im Schlechten für mit dunklen Seiten und schalen Kompro-
zum Teil ihrer Arbeit macht, und tatsäch- diesen Job gemacht schien, war spätestens missen.
lich war das letzte Kunstwerk, das Bylund seit 1997 einer der »Jungs«, wie sie sich Manche sagen, das Nobelkomitee solle
im Forum zeigte, eine Arbeit, bei der 1500 nannten, eine Camorra, so nennt es Witt- der Schwedischen Akademie einfach den
Stoffmäuse in der Form der weiblichen Brattström – unangreifbar hätten sie sich Preis wegnehmen und einer anderen Aka-
Scham in einer riesigen Mausefalle saßen. gefühlt, ausgestattet mit zu viel Geld und demie übertragen, nur so sei der Preis,
»Er hat seinen Einfluss benutzt, um zu viel Privilegien und zu wenig Kontrolle. wenn überhaupt, noch zu retten. Lars Hei-
Frauen zu bekommen«, sagt Bylund. »Das 1999 übernahm Engdahl das Amt des Stän- kensten, der Chef der Nobelstiftung, hat
Geld, das er für seinen Klub bekam, war digen Sekretärs von Sture Allén, der den dazu eine klare Meinung: »Wir werden
nur der Rahmen für seine sexuellen Akti- Brief von Anna-Karin Bylund ignoriert uns nicht einmischen«, sagt er, »es ist Sache
vitäten. Ich fühlte mich elend. Etwas in hatte, der heutige kommissarische Stän- der Akademie, die strukturellen, institu-
mir war zerbrochen. Ich wusste, dass ich dige Sekretär ist Anders Olsson, auch einer tionellen und persönlichen Probleme zu
etwas tun musste, also schrieb ich diese der »Jungs«. lösen. Wir werden das natürlich genau
Briefe.« Und was dann passierte, formte Von den 18 Mitgliedern sind derzeit nur beobachten. Und wenn wir das Gefühl ha-
die Freundschaft und Verbundenheit von noch 10 aktiv, auf dem Höhepunkt des ben, dass das nicht auf überzeugende Art
Arnault und Engdahl, eine Verbin- und Weise geschieht, dann können
dung, die ganz auf Treue und Loya- wir natürlich entscheiden, der Aka-
lität gegründet scheint. demie den Preis zu entziehen.«
So beschreibt es Ebba Witt-Bratt- Die nächsten Monate seien ent-
ström, 64, die Ex-Frau von Eng- scheidend, sagt Heikensten. Die
dahl, Literaturprofessorin und be- Akademie hat sich externe Berater
kannte feministische Autorin. Im geholt, um die dringendsten Fragen
Frühjahr 1997, als im »Expressen« zu regeln: Es soll künftig möglich
über die Vorwürfe von Bylund be- sein, aus der Akademie auszutre-
richtet wurde, so erinnert sie sich, ten, mehr noch und wichtiger, die
kam Engdahl zu ihr und bat sie, für Zeit in der Akademie sollte, das
seinen Freund Arnault tätig zu wer- findet Heikensten, begrenzt sein,
den, er werde der sexuellen Nöti- wie auch in anderen Gremien, mit
gung beschuldigt, es ging um Soli- denen die Nobelstiftung bei den
daritätsbekundungen, die Witt- Nobelpreisen zusammenarbeitet.
Brattström einholen sollte. Im »Um die Glaubwürdigkeit zurück-
Herbst 1997 wurde Engdahl in die zugewinnen, wäre eine Kombina-
Akademie gewählt. tion aus alten und neuen Mitglie-
»Ich erinnere mich noch genau dern das Beste. Die Gruppe muss
an diesen Tag«, sagt Witt-Bratt- sich einig sein, dass Veränderungen
ström, deren Ehe mit Engdahl, mit notwendig sind.«
dem sie drei erwachsene Söhne hat, Auch Heikensten sieht die
ULF ANDERSEN / GETTY IMAGES

2014 geschieden wurde: »Ich kam Schwedische Akademie als ein


nach Hause von einem Vortrag Zwitterwesen zwischen den Zeiten,
über die Geschichte des weiblichen ein Schicksal, das sie mit anderen
Widerstands. Horace sah aus, als Institutionen teilt in einer Epoche
hätte er Heroin genommen. Er der Verunsicherung und Disrup-
tanzte herum. Er hatte gerade die tion – wodurch die Affäre eine Be-
Wahl in die schlimmste Bastion des deutung gewinnt, über die Fragen
Kulturpatriarchats angenommen.« Akademie-Mitglied Engdahl der Literatur, der Lust und der Lü-
Die Reaktion von Witt-Bratt- »Horace sah aus, als hätte er Heroin genommen« gen hinaus.
ström war, dass sie erst einmal ih- Die Erschütterung ist grundsätz-
ren kleinsten Sohn in den Arm lich: Ohne Social Media kein #Me-
nahm, der Schnupfen hatte und weinte. Streits um Arnault hatten die bisherige Too und ohne #MeToo keine Krise der
»Ich glaube, er hat mir nie vergeben, dass Ständige Sekretärin Sara Danius und auch Akademie. Das 21. Jahrhundert trifft hier
ich mich nicht mit ihm gefreut habe«, sagt Arnaults Frau Katarina Frostenson ihren auf das 18. Jahrhundert, was einen Litera-
sie. Und weil die Akademie für ihn wie Rückzug bekannt gegeben. Der König als turpreis des 20. Jahrhunderts berührt und
eine Frau war, weil von ihr auch nur in der oberster Dienstherr erließ eine Regel- Männer, wie sie sich seit der Steinzeit be-
weiblichen Form gesprochen wird, habe änderung, wonach man nicht lebenslang nehmen. Und, braucht man überhaupt ein
sie sich von dem Tag an gefühlt, »als sei Mitglied sein muss und austreten kann. Königshaus?
ich mit einem Bigamisten verheiratet«. Worauf Kerstin Ekman, eine bekannte Diese Geschichte ist, wie gesagt, so reich
Alles änderte sich, so erinnert sie sich Autorin, die 1989 aus Protest gegen die und traurig wie ein Buch von Strindberg,
heute, so beschreibt sie es in ihrem Buch passive Haltung der Akademie in Bezug ein vielschichtiger Eheroman von monströ-
über die Ehe, das 2016 erschien, unter gro- auf Salman Rushdie ihren Rückzug erklärt sen Dimensionen. »Ich bin nur theoretisch
ßem literarischen Getöse, »Der Liebes- hatte, schäumte: »Sie haben nicht das ein Frauenhasser«, hat Strindberg einmal
krieg des Jahrhunderts«, so heißt es, und Recht, mir etwas zu bewilligen, was seit über sich gesagt. Über das Zitat, eingelas-
sie nannte den Mann darin unter anderem 1989 Fakt ist.« sen in den Boden einer Stockholmer Fuß-
eine »verstoßene Ratte« und eine »psycho- Im Grunde ist die Akademie funktions- gängerzone, laufen sie relativ achtlos, die
analytische Kernschmelze«. Engdahl ant- unfähig. Für dieses Jahr ist die Preisver- Spätmodernen unserer Tage.
wortete nur einen Monat später mit einem gabe ausgesetzt, und auch rückblickend

117
Kultur

Der Klangforscher
Der Elektriker betritt Frahms Studio.
Elektriker: »Bei mir drüben hat’s nich’
jeflackert. Hatte jetzt hier ’nen Putzi je-
fragt. Hat o nüscht jesehen irgendwie.«
Musik Der deutsche Pianist Nils Frahm hat es in den Frahm: »Guck mal in die Ecke. Es
flackert.«
vergangenen Jahren zu internationalem Ruhm gebracht – dabei Elektriker: »Das ist doch nur deine
ist er vielen hierzulande gar kein Begriff. Über ein Lampe …«
Experiment der Popkultur, das aus der Zeit gefallen scheint Frahm: »Nein.«
Elektriker: » … die da flackert.«
Frahm: »Das ist überall. Und es flackert
schon seit ein paar Tagen. Das pulst, das
schwingt sich auf, das geht gleich kaputt.«
Elektriker: »Meinst du?«
Frahm: »Ja. Ich würd das ernst neh-
men.«
Geht es um seine Musik und alles, was
sie beeinflussen könnte, nimmt Frahm die
Kontrolle und die Präzision sehr ernst. Sei
es das Licht, das bei zwei Hertz flackert.
Sei es ein Klang beim Soundcheck, der
»beim Konzert immer sechs bis zehn De-
zibel leiser« ist. Sei es ein Ersatzschwamm,
der neben der Spüle in der Studioküche

GORDON WELTERS / DER SPIEGEL


fehlt. Für Frahm, der seine Arbeit mit der
eines Forschers vergleicht, könnten solche
Details den Ablauf seines Experiments ver-
zögern oder gefährden; eines Experiments
der Popkultur, dessen Versuchsanordnung
so komplex wie fehleranfällig ist.
In seinem Studio, Saal 3 des Funkhau-
Schreibmaschine im Studio: Eine Frage des Drucks ses, herrscht eine Ordnung wie in einem
Labor, nur knarzt hier das Parkett heime-
lig, und gedimmtes Licht fällt auf dunkles

N ils Frahm, der gleich ein ausverkauf-


tes Konzert im Berliner Funkhaus
spielen soll, hat Angst vor dem
Licht. An diesem Tag Ende Januar steht
getragen werden. Zu den Konzerten bringt
er, der seit seiner Kindheit Klavier spielt,
eine Armada von Tasteninstrumenten mit,
analog und digital, Synthesizer und Orgeln,
Holz. »Dieses ›Wir hängen im Studio ab‹,
und überall liegen Pizzaschachteln«, sagt
Frahm, »das stößt mich ab.« In Saal 3
hat alles seinen Platz: Kabel, kein Salat.
er in seinem Studio, ein Stockwerk unter die wegen Termitengefahr auch mal am Ein Nachkriegssynthesizer neben einem
jenem Konzertsaal, und blickt auf eine Zoll hängen bleiben können, statt wie Effektgerät, das Krautrockbands in den
Lampe. Ihr Licht pulsiert subtil. Doch andere Solokünstler vor allem auf Samples Sechzigerjahren genutzt haben. Eine alte
Frahm sagt: »Es flackert bei zwei Hertz.« aus Laptops zu setzen. Frahm sagt: »Ich Olympia-Schreibmaschine, auf der Frahm
Das war schon mal so, später fiel der Strom bin die lebende Kritik an der Kulturin- Nachrichten für seine Fans schreibt. An der
im Block B des Funkhauses aus. Frahm zö- dustrie.« Olympia reizt ihn, dass er »den richtigen
gert nicht, er ruft den Elektriker an. Sinnbild dieser Kritik ist sein Liveset, Druck« aufbauen müsse, um klare Zeichen
Der Hamburger Frahm, 35, ist still, fast das sich auf den Bühnen wie ein Bollwerk zu setzen; präzise und kontrolliert. An einer
unmerklich über die Grenzen Deutschlands aus Tasten, Kabeln, Schaltern und Knöp- Wand steht ein Schrank mit 112 etikettier-
hinweg zu einem gefeierten Musiker gewor- fen vor Frahm aufbaut. »Mein Liveset ist ten Schubladen, »Filzfüsse«, »Kabelbin-
den. Der »Guardian« schrieb kürzlich über wie so eine Erinnerung«, sagt er. In der der«, »Schraubenreste«, »Klebt I«, »Klebt
ihn, er sei »möglicherweise der populärste Kopplung akustischer und elektronischer II«: Frahms Ersatzteillager. Er spricht von
Solopianist auf der Welt«. Seine Kunst Instrumente erinnert es ihn an den Kultur- »geputzten Erlenmeyerkolben«.
zieht große Namen der Musikindustrie an, kampf, dem er als Jugendlicher beiwohnte,
den einflussreichen US-Produzenten Rick als sein Vater, ein Verehrer von zeitgenös- Wer in Frahms Studio will, muss durch
Rubin oder den kalifornischen R&B-Star sischer Klassik und Jazz, und sein Bruder, Korridore im Funkhaus, die mal an die Flu-
Frank Ocean etwa, auf Spotify hat sie mehr ein Techno- und Trance-Fan, sich um die re eines retrofuturistischen Forschungszen-
als zwei Millionen Hörer im Monat. Deutungshoheit im Hamburger Haus strit- trums gemahnen, mal an Stanley Kubricks
Einen »Nischenmusiker« nennt er sich ten. Die Musik, die heute aus Frahms Boll- »The Shining«. Das Funkhaus Nalepa-
und ist doch, seit Mitte der Nullerjahre, werk dringt, wirkt wie ein Patt in jenem straße, von 1952 bis 1991 Sitz des DDR-
nach sieben Soloalben, diversen Kollabo- Streit. Irgendwie klassisch im hohen hand- Rundfunks, heute teilweise denkmalge-
rationen und einigen Filmmusiken (»Vic- werklichen Anspruch, irgendwie technoid schützt, liegt neben Ruinen und Schutt, im
toria«), fast in den Mainstream vorgedrun- im Hang zur fein variierenden Wieder- Osten an der Spree, da, wo Berlin leise ist
gen, obgleich er sich von jeher gängigen holung. Sie läuft im Berghain, aber auch und fast vergessen. Erich Honecker hat
Mechanismen der Musikindustrie entsagt: in der Elbphilharmonie. sich hier gehalten. In Saal 3 lehnt sein Por-
Frahms Alben erscheinen bei einem klei- Frahm macht es dem Hörer und Kritiker trät an einer Wand, verblichen, bald ist
nen Label mit dem aus der Zeit gefallenen nicht leicht, sich selbst aber auch nicht. Für von Honecker nur noch die Brille übrig.
Namen Erased Tapes Records. Er spielt, die Handhabung seiner Kunst braucht er »Ich genieße das sehr«, sagt Frahm, »dass
wie er sagt, nur Konzerte, die an ihn heran- Präzision und Kontrolle. er mir dabei zugucken muss, wie ich hier

118 DER SPIEGEL Nr. 20 / 12. 5. 2018


GORDON WELTERS / DER SPIEGEL
Komponist Frahm beim Soundcheck im Funkhaus Berlin: Seine Musik passt ins Berghain wie in die Elbphilharmonie

meine freie Kunst mache.« Weshalb ist durchbrochen vom Deutschlandfunk, um zusammenzufallen. Dann spielt Frahm
Frahm, ein selbst ernannter »Kulturskep- etwas von der Welt da draußen zu erfah- eine Viertelstunde lang Soloklavier und
tiker« und »Kontrollfreak«, der einer Art ren, von der er sagt, sie sei derzeit in einem haut nach den Klatschern erneut in die
Prinzip des höchsten Aufwands folgt und »Dark Age«. Im Laufe der Arbeit an »All Tasten, dreht an den Reglern, klickt auf
sich in ein Refugium in der Peripherie Melody« blieb Frahm irgendwann im die Schalter, übt im richtigen Augenblick
flüchtet, eigentlich so erfolgreich? Viel- Funkhaus, schlief neben seinem Ersatzteil- den richtigen Druck aus. Er läuft inmitten
leicht, weil er mit alldem einen stillen lager. seines Bollwerks hin und her wie ein viel-
Kontrapunkt setzt – in einer Zeit, in der Jetzt, eine halbe Stunde vor Frahms leicht genialer, vielleicht verrückter Pro-
es scheint, als bestimmten jene die Debat- Konzert, einem von vier ausverkauften fessor, jedenfalls wie ein Getriebener, der
ten, die besonders laut brüllen, in der Konzerten im Funkhaus, Auftakt einer ein Experiment am Laufen halten will.
gleichsam Lärm, der in den Städten zu- Tour, die ihn nach New York, Paris und
nimmt, deutlicher als Stressor benannt Osaka bringen wird, hockt er im Back- Seine Zuhörer könnten aus urigen Knei-
wird; einer Zeit, in der vor Jahren ein stagebereich und sieht nicht aus wie einer, pen, Smoothie-Bars, Lehrerzimmern oder
»Loudness War« in der Musikindustrie be- der Großes vorhat. Er macht sich klein, Hauptseminaren gekommen sein, in de-
gann, bei dem Aufnahmen von Künstlern eine Kugel Nils Frahm, und schaut weg nen just die »Dialektik der Aufklärung«
immer weiter in die Höhe gepegelt werden, von seinem Team, hin zur geschlossenen diskutiert wurde. So unterschiedlich sie
um sie sichtbarer zu machen. »Die Welt Tür, die in den Konzertsaal führt. Dahinter aussehen, so mannigfaltig verhalten sie
ist unnötig laut«, sagt Frahm. Einer seiner sammeln sich die Menschen allmählich um sich zu der Musik, die sie alle dazu ge-
oft zitierten Sätze lautet: »Stille ist heute den Flügel, die Mischpulte, die Boxen. Die bracht hat, ins leise Berlin zu kommen.
radikaler als Lärm.« Menschen werden nach und nach von Viele sitzen, andere stehen, einige tanzen,
Sein neues Album »All Melody«, Ende Hunderten zu tausend, während Frahm manche haben ihre Schuhe ausgezogen
Januar veröffentlicht, klingt, als hätte Backstage den Blick hebt, zum Licht, und und liegen auf ihren Jacken, als schliefen
Frahm diese Zitate vertonen wollen. Da- sagt: »Es sieht aus, als wäre irgendwas fast sie. Kaum ein Räuspern, kaum ein Hüsteln.
rauf wabern die Klangflächen voller Er- kaputt.« Frahms Fans eint, trotz ihrer Verschieden-
wartung, die Beats pluckern sanft, und die Als Frahm die Bühne betritt und der Ap- heit, dass sie gekommen sind, um die Stille
Crescendi laufen manchmal langsam aus. plaus einsetzt, wirkt er, als mache ihm das nicht nur aus- , sondern hochzuhalten.
Hier spielt sich die Leidenschaft eines Licht keine Angst mehr. Er setzt sich an Über Frahm flackert wieder das Licht,
Keith Jarrett in den Vordergrund, da die die Tasten, spielt ein paar Töne, und doch nun schaut er nicht hoch. Nun fla-
Tanzbarkeit von Caribou. »All Melody« schnell fordern die anderen Teile des Boll- ckert es, weil es flackern soll, als Teil der
ist das Destillat aus 200 Stunden Musik, werks seine Aufmerksamkeit. Langsam Show, als Teil des Experiments: kontrol-
von Frahm ohne Hilfe über zwei Jahre im stapelt er die Bässe, ein Plock, ein Klack, liert. Jurek Skrobala
Saal 3 aufgenommen, allein, im Stillen, ein Wusch, Schicht für Schicht wachsen Twitter: @skrobala
ohne andere Musik zu hören, manchmal seine Stücke, um auch mal plötzlich in sich

119
Kultur

I m Halbdunkel des ersten Stockwerks


im Zeughaus Unter den Linden ragt

Die Säule vom


sie auf. 3 Meter und 54 Zentimeter
hoch. Aus verwittertem weißlichem Sand-
und Kalkstein. Die Säule vom Kreuzkap

Kreuzkap
ist ein Schmuckstück in der Dauerausstel-
lung im Deutschen Historischen Museum.
Das Wappen des Königreichs Portugal
ziert die Säule.
Sowohl auf Latein als auch auf Portu-
Beutekunst Ein von Portugiesen an der heutigen Küste giesisch ist folgende Inschrift eingemeißelt:
Namibias errichteter Wappenpfeiler geriet auf »Seit der Erschaffung der Welt sind 6685
Jahre vergangen, und seit der Geburt von
langen Wegen ins Deutsche Historische Museum in Berlin. Christus 1485, da hat der erhabenste und
Wo gehört das Artefakt wirklich hin? allerdurchlauchtigste König Johann der
Zweite von Portugal den Befehl gegeben,
dass dieses Land entdeckt werde und dass
dies Padrão durch Diogo Cão, Ritter seines
Hauses, hier errichtet werde.«
Solche Wappensäulen ließen die portu-
giesischen Seefahrer zu Beginn des Kolo-
nialzeitalters bei ihren Entdeckungsfahrten
in Afrika und Asien aufstellen, um den Be-
sitzanspruch ihres Königs zu manifestieren.
Sie dienten zugleich als Orientierungspunk-
te für Seefahrer. Das Kreuz aus dem Deut-
schen Historischen Museum hatte seit 1486
auf einer Landspitze an der Skelettküste
im Südwesten Afrikas gestanden.
Der Ort wurde Cabo da Cruz genannt,
Cape Cross oder Kreuzkap. Heute ist die
Küste Teil Namibias und ein Naturschutz-
gebiet, in dem sich Jahr für Jahr an die
200 000 Robben der Art Arctocephalus
pusillus versammeln.
Wie kommt eine portugiesische Säule
als wichtiges Exponat in das Deutsche His-
torische Museum? Das ist eine ziemlich
komplizierte Geschichte. Sie hat dazu ge-
führt, dass Raphael Gross, der Direktor
des Deutschen Historischen Museums,
sich mit einer Rückgabeforderung konfron-
tiert sieht. Die Regierung von Namibia hat
von der Bundesregierung die Restitution
des Kreuzes verlangt.
Aber wer ist der rechtmäßige Eigentü-
mer des Wappenpfeilers? Wo sollte das
Kreuz von der Skelettküste heute am bes-
ten stehen? Die Suche nach Gerechtigkeit
vor der Geschichte ist gewöhnlich ein kom-
pliziertes Geschäft. Nicht nur das Deut-
sche Historische Museum, viele Museen
in Europa stehen heute vor der Frage: Wie
sollen sie mit den Kunstwerken umgehen,
die sie aus Kolonien in ihren Besitz ge-
bracht haben?
Nach der schleppenden Rückgabe von
NS-Raubkunst müssen die Museen jetzt
erforschen, welche Kunstwerke sie sich un-
ter welchen Umständen aus den Kolonien
THOMAS BRUNS / DHM

angeeignet haben. Die Sammlungen des


British Museum in London, des Museums
Guimet in Paris oder demnächst des Hum-
boldt Forums in Berlin sind voll mit sol-
chen Kunstschätzen.
Wappensäule im Deutschen Historischen Museum Aus deutscher Sicht begann die Affäre
Die Suche nach Gerechtigkeit vor der Geschichte um das Kapkreuz am 30. Januar 1893, als

120
ein Korvettenkapitän namens Gottlieb Ergebnis der Niederlage im Ersten Welt-
Becker in der Kolonie Deutsch-Südwest- krieg – Deutsch-Südwest an die Südafri- SPIEGEL GESCHICHTE
afrika das steinerne Stück wiederfand, das kaner verloren hatten, versuchte deren SONNTAG, 13. 5., 19.10 – 20.10 UHR | SKY
der portugiesische Entdecker Diogo Cão Regierung eine Rückgabe des Kreuzes zu
einst hatte aufstellen lassen. Die Wappen- erreichen. Ein Gesandter berichtete aller- David Bowie – Five Years
säule befand sich in einem beklagenswer- dings seiner Regierung, »dass es die politi- Erinnerung an den großen David
ten Zustand; sie stand nicht mehr aufrecht, sche Stimmung verhindere, eine so kostba- Bowie, der zugleich einer der
sondern ausgesprochen schräg. re Antiquität nach der früheren deutschen prägendsten wie der rätselhaftesten
Kapitän Becker ließ ein fünf Meter ho- Kolonie zurückzubringen«. Künstler unserer Zeit war.
hes Kreuz aus Holz errichten und die por- Das Museum für Meereskunde in der
tugiesische Säule auf sein Schiff »Falke« Berliner Georgenstraße bombten die Al- SPIEGEL TV MAGAZIN
laden. Der Kreuzer fuhr nach Douala, die liierten im Zweiten Weltkrieg in Schutt SONNTAG, 13. 5., 22.45 – 0.00 UHR | RTL
Hauptstadt der damaligen deutschen Ko- und Asche, auch das Kreuz wurde beschä-
lonie Kamerun. Von dort brachte ein digt. Bei der Bergung, die erst in den Fünf- Nah dran, investigativ und
Dampfer des Norddeutschen Lloyd das zigerjahren erfolgte, brach die Steinsäule authentisch –
gute Stück im Herbst 1893 nach Wilhelms- in drei Stücke auseinander. Später wurde
30 Jahre SPIEGEL TV
haven. die restaurierte Säule im Ost-Berliner Mu- Eine Sondersendung zum Jubiläum
Die Säule landete in der historischen seum für Deutsche Geschichte aufgestellt. des vielfach prämierten Magazins.
Sammlung der Kaiserlichen Marineaka- Dessen Bestände erbte die Bundesrepu- Ausschnitte aus herausragenden
demie in Kiel. Bei der Entzifferung der blik 1990, als die DDR ihr beitrat. Beiträgen werden dabei von Zeit-
lateinischen und der portugiesischen In- Einer Website aus Namibia ist zu ent-
schrift war der Sekretär der portugiesi- nehmen: Die Bemühungen, die Säule zu-
schen Geografischen Gesellschaft hilf- rückzubekommen, seien »aufgrund poli-
reich. Kaiser Wilhelm II. verfügte, dass tischer Differenzen gescheitert, obwohl
Ersatz für das abtransportierte Kreuz ge- Portugal und Namibia die Bundesrepublik
schaffen werden sollte. unter Druck zu setzen versucht haben.«
Berlin habe eine Rückgabe verweigert.
Doch seit Anfang Juni 2017 liegt der
Bundesregierung nun ein offizielles Rück-
BRITTA PEDERSEN / PICTURE ALLIANCE / DPA

gabeersuchen der Republik Namibia vor.


Zuvor hatten schon namibische Parlamen-
tarier einmal vorsichtig nachgefragt, als

SPIEGEL TV
sie im März 2013 Deutschland besuchten.
Das Auswärtige Amt leitete die diplo-
matische Note der namibischen Regierung Moderatoren Aust 1988, Gresz
an die Beauftragte für Kultur und Medien,
Monika Grütters, und das Deutsche His- zeugen wie Claudia Roth, Wolfgang
torische Museum weiter. Diese sollten prü- Kubicki, Kevin Kühnert, Gregor
fen, wie die komplexen historischen, völ- Gysi oder dem Entertainer Thomas
kerrechtlichen und eigentumsrechtlichen Gottschalk kommentiert.
»Restitutionsforderungen Fragen zu bewerten seien.
einfach auszusitzen Raphael Gross, Direktor des Deutschen
ist keine Option mehr.« Historischen Museums, setzt auf Dialog SPIEGEL TV REPORTAGE
und Debatte, deshalb hat er für Anfang DIENSTAG, 15. 5., 23.10 – 0.15 UHR | SAT.1
Museumsdirektor Gross Juni zu einem Symposium geladen: »Die
Säule von Cape Cross – Koloniale Objekte Harry und Meghan –
und historische Gerechtigkeit«. Historiker, Nahaufnahme eines
Eine Kieler Steinmetzfirma produzierte Juristen, Museumsfachleute aus Afrika
Traumpaars
aus schwedischem Granit eine Kopie, die und Europa werden nach Berlin kommen Wer ist eigentlich Meghan Markle,
ursprünglichen Inschriften wurden in und den skurrilen Fall diskutieren. die zukünftige Frau des britischen
das Kreuz gemeißelt, zusätzlich noch ein Der aus der Schweiz stammende Histo- Prinzen Harry? Interviews mit
Reichsadler und: »Auf Befehl seiner Ma- riker Gross hat erkannt: Restitutionsfor- Freunden und Verwandten zeichnen
jestät des Deutschen Kaisers und Königs derungen einfach auszusitzen, wie es Mu- das Bild einer Frau, die das Königs-
von Preußen Wilhelm II. im Jahre 1894 seumsdirektoren lange praktiziert haben, haus verändern könnte.
anstelle der ursprünglichen Säule, die ist keine Option mehr. Die Politiker und
sehr verwittert war, wurde diese Säule Museumschefs einstiger Kolonialmächte
errichtet.« müssen sich mit Rückgabeforderungen ARTE RE:
Das Originalkreuz wurde 1903 von Kiel ernsthaft und ergebnisoffen auseinander- FREITAG, 18. 5., 19.40 – 20.15 UHR | ARTE
nach Berlin transportiert, und wenige Jah- setzen.
re später im Innenhof des Museums für Noch heißt es auf der Website »Mu- Englands Streit um
Meereskunde aufgestellt, in der Georgen- seumsportal Berlin«, einer offiziellen In- Eichhörnchen – verdrängen
straße in Berlin-Mitte, wo den Deutschen formationsseite: »Zu uns kam die Säule,
die grauen die roten?
Begeisterung für ihre Flotte beigebracht als das Deutsche Reich Deutsch-Südwest- Werden die roten Eichhörnchen
werden sollte. Ein Wissenschaftler des Süd- afrika in Besitz nahm.« Hat die gute Säule in Großbritannien durch ihre
afrikanischen Museums in Kapstadt fertig- sich ein Schiffsticket gekauft? nordamerikanischen Verwandten,
te 1913 Gipsabdrücke von Original und Michael Sontheimer die Grauhörnchen, verdrängt?
Kopie. Nachdem die Deutschen 1919 – als Bericht von der Nagetierfront.

DER SPIEGEL Nr. 20 / 12. 5. 2018 121


Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin „buchreport“ (Daten: media control);
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Belletristik Sachbuch

1 (2) Volker Klüpfel / Michael Kobr 1 (1) Richard David Precht


Kluftinger Ullstein; 22 Euro Jäger, Hirten, Kritiker Goldmann; 20 Euro

2 (1) Frank Schätzing 2 (3) Bas Kast Der Ernährungskompass


Die Tyrannei des Schmetterlings C. Bertelsmann; 20 Euro
Kiepenheuer & Witsch; 26 Euro
3 (2) James Comey
3 (3) Martin Walker Größer als das Amt Droemer; 19,99 Euro
Revanche Diogenes; 24 Euro
4 (4) Peter Hahne Schluss mit euren
4 (5) Ferdinand von Schirach ewigen Mogelpackungen! Lübbe; 10 Euro
Strafe Luchterhand; 18 Euro
5 (5) Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt
5 (6) Maja Lunde Mit den Händen sehen Insel; 22,95 Euro
Die Geschichte der Bienen btb; 20 Euro
6 (9) Wolfram Eilenberger
6 (4) Paluten / Klaas Kern Freedom. Zeit der Zauberer Klett-Cotta; 25 Euro
Die Schmahamas-Verschwörung
Community Editions; 12 Euro 7 (10) Michael Wolff
Feuer und Zorn Rowohlt; 19,95 Euro
7 (7) Jojo Moyes Mein Herz
in zwei Welten Wunderlich; 22,95 Euro 8 (6) Hamed Abdel-Samad
Integration Droemer; 19,99 Euro
8 (9) Laetitia Colombani
Der Zopf S. Fischer; 20 Euro
9 (7) Manfred Lütz
9 (8) Maja Lunde Der Skandal der Skandale Herder; 22 Euro

Die Geschichte des Wassers btb; 20 Euro


10 (11) Gerald Hüther
10 (10) Haruki Murakami Die Ermordung des Würde Knaus; 20 Euro

Commendatore Band II DuMont; 26 Euro


11 (15) Ranga Yogeshwar Nächste Ausfahrt
11 (11) Maxim Leo / Jochen Gutsch Es ist Zukunft Kiepenheuer & Witsch; 22 Euro

nur eine Phase, Hase Ullstein; 12 Euro


12 (12) Peter Wohlleben Das geheime
12 (13) Mariana Leky Was man von hier Leben der Bäume Ludwig; 19,99 Euro

aus sehen kann DuMont; 20 Euro 13 (16) Elke Heidenreich


13 (12) Bernhard Schlink
Alles fließt
Corso; 24,90 Euro
Olga Diogenes; 24 Euro
Elke Heidenreich bereist
14 (16) Éric Vuillard den Rhein von der Quelle bis
zur Mündung, dabei kommen
Die Tagesordnung Matthes & Seitz; 18 Euro ihr Autobiografisches, Heraklit
und Poesie in den Sinn
15 (19) Elena Ferrante Die Geschichte
des verlorenen Kindes Suhrkamp; 25 Euro 14 (17) Hans Rosling
Factfulness Ullstein; 24 Euro
16 (–) Perry Rhodan
Der Psi-Schlag Edel Books; 19,95 Euro 15 (8) Markus Feldenkirchen
Die Schulz-Story DVA; 20 Euro
17 (18) Daniel Kehlmann
Tyll Rowohlt; 22,95 Euro 16 (–) Thea Dorn
deutsch, nicht dumpf Knaus; 24 Euro
18 (–) Marc-Uwe Kling
QualityLand Ullstein; 18 Euro 17 (14) Rolf Dobelli Die Kunst
des guten Lebens Piper; 20 Euro
19 (–) Haruki Murakami Die Ermordung des
Commendatore Band I 18 (20) Axel Hacke Über den Anstand
DuMont; 26 Euro in schwierigen Zeiten
Ein Maler in der Ehekrise und die Frage, wie wir miteinander
und ein vergessenes Gemäl- umgehen Kunstmann; 18 Euro
de. Murakami variiert in
dem zweibändigen Werk 19 (19) Wilhelm Schmid
seine Themen Einsamkeit,
Liebe, Parallelwelten Selbstfreundschaft Insel; 10 Euro

20 (–) Nina George Die Schönheit 20 (18) Gregor Gysi


der Nacht Knaur; 18,99 Euro Ein Leben ist zu wenig Aufbau; 24 Euro

122
Kultur

Schröder ist ja bloß der Gratulant. Er freut sich, dass etwas

Wer ist der Mann Staub von der kosmischen Macht des Kreml auf ihn abfällt,
aber dann wäre es ja eher ein trauriges Bild, wie von einem
Überseekapitän in Rente, der am Kai den ablegenden Schif-

auf diesem Foto? fen nachblickt und sich freut, wenn auch mal jemand winkt.
Während Schröder uns fremder wird, wissen wir über Putin
mehr, als uns geheuer ist. Von den unglücklichen Unfällen
seiner Gegner, der Unterstützung für rechtsextreme Parteien,
Bildkritik Das Staunen über die Präsenz des der Allianz mit dem Massenmörder Assad zulasten syrischer
ehemaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder im Zivilisten – lauter Informationen, die nur einen Schluss zu-
Kreml stellt uns vor grundlegende Fragen. lassen: Ein Sozialdemokrat hat in solch einer Gegenwart nur
im staatlichen, diplomatischen Dienst seinen Platz, keinesfalls
aber als Privatmann. Oder nimmt der vorerst letzte sozial-

Ü ber keinen Deutschen wissen wir so viel wie über


Gerhard Schröder. Das liegt nicht nur an der langen
Dauer seiner Berühmtheit, sondern auch an seinem
freundlichen und leicht narzisstischen Wesen. Er redet gern
demokratische Bundeskanzler eine eigenwillige Interpreta-
tion der Willy-Brandt-Legende vor? Schließlich erinnert uns
das Bild an frühere Fotos, als man als Bundesbürger durchaus
hoffnungsfroh sah, dass ein Bundeskanzler mit dem Chef
von sich, und da ist dann schon einiges zusammengekommen des Kreml in Kommunikation war. Aber das war der Job.
an Interviews, Auftritten, Reden und Büchern. Er war Gegen- Die Entspannungspolitik Brandts war öffentlich wie parla-
stand zahlloser Porträts, auch in diesem Magazin. Seine im mentarisch kontrolliert und folgte klaren humanistischen
Jahr 2015 veröffentlichte, von Gregor Schöllgen verfasste Werten. Er verdiente in Russland kein Geld und verurteilte
Biografie umfasst großartige 1040 Seiten. In ihr bleibt von die Menschenrechtsverletzungen, die dort ersonnen und be-
den Krampfadern, die zu seiner verminderten Wehrtaug- fohlen wurden.
lichkeit führten, bis zum Inhalt sei-
ner Stasiakte kaum ein Detail un-
berücksichtigt. Man weiß von die-
sem ehemaligen Bundeskanzler,
seinen Ehen, Freunden und Ge-
schäften unendlich viel mehr als
über die amtierende Bundeskanz-
lerin. Und doch blicken wir auf das
Foto, das ihn bei der vierten Amts-
einführung Wladimir Putins im
Kreml zeigt, mit ehrlicher Ratlo-
sigkeit. Es ist, als ob eine liebe
Tante im Venedigurlaub beim Ver-
such, einen Giorgione mit Edding
zu verschönern, festgenommen
würde. Man sucht nach Erklärun-

ALEXEI DRUZHININ / ITAR-TASS / IMAGO


gen. Zunächst bei sich selbst: Hat
man sich nicht genug gekümmert?
Was konnte Deutschland einem
Schröder noch bieten, den sein
Biograf treffend als »Machtmen-
schen«, als einen, der »süchtig ist
nach Macht«, bezeichnet. Aber
wo gibt es den hierzulande noch?
Zwei totalitäre Systeme und jahr- Präsident Putin, Gäste Schröder, Dmitrij Medwedew, Warnig (2. v. r.): Macht im Osten
zehntelange antiautoritäre Erzie-
hung haben den Begriff der Macht
selbst diskreditiert. Wir reden lieber schamhaft von Verant- Plausibler ist, das Bild als Rückkehr Schröders zu seinen
wortung, von Gestaltungsmöglichkeiten. Konzerne sind Anfängen zu deuten. Er hat selbst in einem Fernsehporträt
von Complianceabteilungen gefesselte Riesen. Christian gesagt, dass er als Jugendlicher durchaus gespürt habe, dass
Lindner folgte dem Zeitgeist, als er der Macht, die schon man ihn und seine arme Familie im Dorf gering geschätzt
nahe war, wieder absagte – weil es irgendwie nicht optimal habe: »Die Frage ist nur, wie gehen Sie damit um?« Und er
passte. Und einer von Schröders Nachfolgern als SPD- bot eine Alternative an: »Zeigen Sie es denen? Oder zeigen
Vorsitzender, Sigmar Gabriel, wollte noch nicht einmal Kanz- Sie es denen nicht?« Schröder entschied sich, wie jeder weiß,
lerkandidat werden. Das ist nicht Schröders Art, nicht seine für Ersteres. Und nun kehrt er zu dieser Haltung zurück. Der
Zeit und daher vielleicht nicht mehr sein Land. Hier gibt krasse Prunk des Saals, die Anwesenheit des ehemaligen Sta-
es einfach zu wenig Macht. sioffiziers Matthias Warnig, eines hohen orthodoxen Wür-
Es war schon zu Zeiten der alten Griechen und Marco denträgers und die Herzlichkeit des sonst so kühlen Putin –
Polos so: Wer pure Macht erleben möchte, muss ostwärts jedes Element der Szene widerspricht dem ethischen, ästhe-
reisen. Xerxes, Kublai Khan und eben Putin – solche Herr- tischen und politischen Konsens der Bundesrepublik. Schröder
scher umweht der Schwefelduft von Männern, denen kein globalisiert sich. Aber die Welt ist ein Dorf, und dort heißt
Sterblicher in die Quere kommen kann und die schwer daran Schröder mit seinem Fußballernamen »Acker«. Und es ist,
arbeiten, diesen Eindruck von überirdischer Potenz zu er- wie es immer war: Wir schauen, Schröder zeigt es uns.
zeugen. Aber so gesehen, kippt das Bild auch wieder, denn Nils Minkmar

DER SPIEGEL Nr. 20 / 12. 5. 2018 123


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Dworschak, Marco Evers, Dr. Veronika Nadine Markwaldt, Dr. Andreas Meyhoff, Befristete Abonnements werden anteilig berechnet.
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Becker, Lars-Olav Beier, Anke Dürr, Ulrike 60322 Frankfurt am Main,
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Knöfel, Katharina Stegelmann, Claudia Tel. 069 9712680, Fax 97126820 Schumann-Eckert, Ulla Siegenthaler,
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124 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
Nachrufe
Ermanno Olmi, 86 Chef, der nachmittags um
Vielen italienischen Marxis- vier Uhr nach Hause ging,
ten war der Filmregisseur um seinen Garten zu pfle-
zu katholisch, vielen Katho- gen, und ihr die Arbeit
liken zu aufklärerisch. Olmi überließ. So hat Coates ihr
machte Filme über einfache Handwerk gelernt. 2016
Leute, arbeitende Men- erhielt sie den Ehren-Oscar.
schen, über ihren Alltag Sie war eine der wenigen
und ihre Suche nach Spiritu- Frauen, die in Hollywood
alität. Dogmen waren ihm hinter der Kamera Karriere
fremd. Sein Meisterwerk gemacht haben, und sie war
»Der Holzschuhbaum«, für Mutter dreier Kinder. Anne
das er 1978 beim Festival V. Coates starb am 8. Mai
von Cannes die Goldene in Woodland Hills, Kalifor-
Palme gewann, basierte auf nien. CLV
Erzählungen seiner Groß-

BRIGITTE FRIEDRICH / SZ PHOTO / LAIF


mutter über das Leben in Wolfgang Völz, 87
der ländlichen Lombardei. Walter Matthau und Peter
Wie viele seiner Filme be- Falk sind schon eine ganze
setzte er auch diesen aus- Weile tot, nun ist auch ihre
schließlich mit Laien, darin Stimme gestorben: der
der Tradition des Neorea- Schauspieler Wolfgang Völz,
lismus folgend. Olmi hatte der die Hollywoodstars auf
einen ausgeprägten Sinn für Deutsch synchronisierte.
Details, die er mit präzisem, Hunderte Sprechrollen sorg-
Ludwig Harig, 90 fast ethnografischem Blick ten im Laufe seiner Karriere
Sein Werk ist immer aktueller geworden, und es nimmt einfing. Es schien ihm wich- dafür, dass seine knarzende
Wunder, dass sein Wohnhaus im saarländischen Sulzbach tig zu sein, dass er mit den Stimme heute noch bekann-
nicht längst Ziel von Pilgerwanderungen wurde. Der 1927 Gegenden, in denen seine ter ist als seine Knubbelnase.
geborene Literat hat mit bemerkenswerter Sturheit jene Filme spielten, verbunden Geboren 1930 in Danzig,
Themen behandelt, die uns heute besonders beschäftigen: war. In Asiago, einer Klein- feierte Völz seine größten
Wie versöhnt man Identität und Toleranz? Wie liebt und stadt in Venetien, in der er Erfolge als Schauspieler in
beschreibt man seine Heimat, ohne die Neugier auf die mehr als 50 Jahre lang leb- der zweiten Hälfte der Sech-
Welt zu verlieren, ohne den Fremden auszuschließen? te, entwickelte er sich zum zigerjahre. In der Science-
Und wie lebt man, wenn man doch jeden Tag schreckliche filmenden Heimatforscher. Fiction-Serie »Raumpa-
Mühe damit hat, die Zumutungen der Wirklichkeit mit den Ihn zog es nicht nach Hol- trouille – Die fantastischen
Mitteln der Vorstellungskraft in die Schranken zu weisen? lywood wie etwa seinen Abenteuer des Raumschiffes
Aber auch zur Work-Life-Balance und zur Wellness hat Regiekollegen Bernardo Orion« spielte er den Armie-
der Genussmensch und Flaneur wichtige Einsichten formu- Bertolucci, sondern in die rungsoffizier Mario de Mon-
liert, lange bevor sie modern wurden. Provinz. Er war ein großer ti, in der Krimiserie »Graf
Harig war nach eigener Beschreibung ein »Luftkutscher« Regisseur, weil er klein dach- Yoster gibt sich die Ehre«
und ein »Spazierdenker«, jemand, der sich wenig um te. Ermanno Olmi starb am den Chauffeur Johann. Es
den Literaturbetrieb scherte, weswegen er auch die gröbsten 7. Mai in Asiago. LOB folgte Auftritt um Auftritt,
Fehler seiner Zeitgenossen vermied. Sich dauerhaft Grup- meist in Nebenrollen, und
pen anzuschließen, Manifeste zu verfassen oder politischen Anne V. Coates, 92 so bezeichnete er sich selbst
Ideologien zu folgen, das war mit ihm, der die Nazizeit Die beeindruckende Kar- einmal als »allerersten
erlebt hatte, nicht zu machen. Er hat diese Erfahrungen in riere der Filmcutterin Mann der zweiten Klasse«.
seiner autobiografischen Trilogie, vor allem in dem Band begann mit einem Oscar für Für Kinder hingegen wird
»Wer mit den Wölfen heult, wird Wolf« verarbeitet – bis »Lawrence von Arabien«. er immer erstklassig bleiben,
heute eines der wichtigsten Bücher über die ordentlichen Legendär geworden ist der ja Champions League: als
Wege, die das deutsche Kleinbürgertum in die Nazizeit Schnitt, bei dem Coates Stimme des Käpt’n Blaubär.
führten. der Großaufnahme eines Wolfgang Völz starb am
Die Freiheit war sein Lebensthema, die der Gedanken, Streichholzes in Peter 2. Mai in Berlin. TOB
der Worte und der Füße auf den Feldwegen. An Selbst- O’Tooles Hand einen Son-
vertrauen mangelte es ihm nie, der ausgebildete Lehrer nenaufgang in der Wüste
begann zu reden, sobald er einen Saal betrat, und dann folgen ließ. Mit Ende acht-
überraschte er mit Sätzen, auf die seine freundlich-biedere zig verantwortete Coates
Erscheinung nicht vorbereitet hat. Mit nur leichter Ironie den Schnitt von »Fifty
RUEDIGER OSTERWALD / ACTION PRESS

erklärte er dem staunenden Publikum dann, warum der Shades of Grey«, dazu sagte
Saarländer der »vollkommene Mensch« sei, und äußerte sie in einem Interview, die
mitleidiges Verständnis für all jene, die es nicht sind – Küsse der Hauptdarsteller
Pfälzer etwa. Am bemerkenswertesten aber ist die immen- seien etwas »lauwarm«
se Freude, mit der er durch sein Leben ging, mit der er gewesen. Ende der Vierzi-
schrieb und deren Spur wir lesend und spazierend auf- gerjahre, als sie in den Pine-
nehmen sollen. Ludwig Harig starb am 5. Mai in seinem wood Studios bei London
Geburtsort. NM begann, hatte sie einen

DER SPIEGEL Nr. 20 / 12. 5. 2018 125


Personalien

Gute
Beziehungen
G Es ist eine Nachricht, die in einer gerech-
ten Welt keine Nachricht wäre: Für das
Beziehungsdrama »Everybody Knows« hat
die Hauptdarstellerin Penélope Cruz, 44,
eine Gage in derselben Höhe bekommen
wie der Hauptdarsteller Javier Bardem, 49.
Das berichtete Cruz bei den Filmfestspielen
von Cannes, die mit »Everybody Knows«
eröffneten. Gemessen an ihrer Gage, spielen
Frauen in Hollywood bislang oft nur eine
Nebenrolle. Weibliche Stars wie Patricia
Arquette, Meryl Streep, Jennifer Lawrence,
Natalie Portman und Robin Wright haben
die ungleiche Bezahlung in den vergange-
nen Jahren immer wieder angeprangert. Gut
möglich, dass diese Kampagne inzwischen

ANTONIN THUILLIER / AFP


wirkt. Gut möglich aber auch, dass Cruz
bei den Verhandlungen davon profitiert hat,
dass das Geld ohnehin aufs selbe Konto
verbucht wird: Cruz und Bardem sind seit
2010 verheiratet. TOB

Bunte Show es genau deshalb nicht im-


mer leicht hatte. Über ihren
G Wenn an diesem Samstag Kampf mit Schönheitsidealen
wieder Millionen Menschen in der Popwelt erzählte sie
das schöne, trashige und in einem Interview: »Mir wur-
immer spektakulär inszenier- de gesagt: Kleide dich so, als
te Ritual des Eurovision Song hättest du nichts zu feiern.
Contest verfolgen, wird sie Kleide dich schwarz, kurze
dank ihres schrägen Auftritts Röcke und kurze Ärmel ste-
besonders viele Blicke auf hen dir nicht. Du bist weder
sich ziehen: Netta Barzilai, sexy noch schön.« Dass
25, vertritt Israel, das seit 1973 Netta sich davon nicht hat ein-
als nicht europäisches Land schüchtern lassen, sieht man
DANIEL KAMINSKY / DPA

an dem Wettbewerb teil- an ihrer Performance. In der


nimmt. Netta gibt ihren Song hebräischen Textzeile des
»Toy« zum Besten, der so überwiegend englischen Songs
knallig und überbordend ist heißt es: »Ani Lo buba« – ich
wie die Künstlerin selbst, die bin kein Püppchen. XVC

126 DER SPIEGEL Nr. 20 / 12. 5. 2018


Kriminelle Seele schrift zu Ehren der früheren
Ratsvorsitzenden der Evan-
G Es soll Prominente geben, gelischen Kirche in Deutsch-
die ihren Barbier als Beicht- land (»Eine Frau mit Zivil-
vater nutzen – und ihm nach courage und Zuversicht«).
dem Schneiden ein Schweige- Die Theologin Käßmann,
gelübde auferlegen. Margot die am 3. Juni 60 Jahre alt
Käßmann , 59, ist Protes- wird und in den Ruhestand
tantin. Und so berichtet der geht, habe selten einen
hannoversche Friseur Peter Termin verschoben, berich-

FRANK SORGE / DER SPIEGEL


Grontzki ganz frei über tet Grontzki, sie sei immer
seine Begegnungen mit ihr: pünktlich gewesen und
»Ich habe Margot Käßmann habe dann ungezwungen
so kennengelernt, wie sie über Bücher geplaudert,
sich ihren Haarschnitt die sich mit dem Übergang
wünschte. Unkompliziert vom Diesseits ins Jenseits
und ohne großen Aufwand«, beschäftigen – Kriminal-
schreibt er in einer Fest- romane. TOB Die Augenzeugin

»Gefährliche Reise«
Störche stehen für Fruchtbarkeit, doch

M. DJURIC / DER SPIEGEL


THOMAS TRUTSCHEL / PHOTOTHEK VIA GETTY IMAGES

in Brandenburg mangelt es den Tieren


an Nachwuchs. Katrin Koch vom
Naturschutzbund erklärt, was es den
Störchen schwer macht.

G »Was braucht der Mensch zum Überleben? Er braucht


Nahrung und ein Dach über dem Kopf. Das ist bei den
Störchen nicht anders. Ein Dach über dem Kopf heißt, der
Storch braucht eine Nistmöglichkeit. Davon gibt es leidlich
viele, auch dank uns Menschen: die berühmten Storchen-
dörfer an der Elbe wie Rühstädt oder die Storchenschmieden
in Linum, wo viele künstliche Nistplätze gebaut wurden,
um es den Vögeln komfortabel zu machen.
Woche startet der Film Die Nahrung ist komplizierter. Die Tiere müssen ja eine
Hinter der »Deadpool 2«, in dem Rey- möglichst gute Kondition haben, wenn sie Eier legen und
Fassade nolds einen zynisch-boshaf- ihre Jungen ernähren. Störche fressen natürlich nicht nur
ten Superhelden spielt. Die Frösche, sondern auch Mäuse, Fische, Insekten, Regenwür-
G Der Spagat zwischen dem mit dem Start eines solchen mer, Eidechsen, Schlangen – alles, was ihnen so vor den
eigenen inneren Seelenleben Blockbusters verbundene Schnabel kommt. Wenn die Beutetiere der Störche nach und
und dem nach außen trans- Promotiontour mit vielen nach ihren Lebensraum verlieren, ist das ein Problem. Daher
portierten Image ist dem Talkshow-Auftritten, in müssen wir die Landwirte einbeziehen. Sie sollten Geld da-
Prominentsein eingeschrie- denen die Promis selbstbe- für bekommen, dass sie den Lebensraum der Störche erhal-
ben, ist gewissermaßen die wusst und lässig Anekdoten ten, etwa indem sie Äcker nicht zu intensiv bewirtschaften.
DNA einer jeden öffent- erzählen sollen, wird für Dramatische Umweltereignisse wie starke Regenfälle und
lichen Figur. Wie extrem Reynolds allerdings zur Tor- Unwetter können sicherlich auch ihren Anteil daran haben,
und schmerzvoll dieser Spa- tur werden. Vor öffentlichen dass weniger Störche in Brandenburg leben als früher. Oft
gat sein kann, hat der kana- Auftritten werde er von verwenden die Tiere auch Plastikreste beim Nestbau, was
dische Schauspieler Ryan Übelkeit befallen und kämp- zur Folge hat, dass die Drainage der Nester nicht richtig funk-
Reynolds, 41, in einem fe mit Brechreiz, verriet Rey- tioniert. Auch dadurch können die Jungen sterben. Zum
Interview offenbart. Rey- nolds der »New York Glück richten zumindest die Hochspannungsleitungen nicht
nolds ist eigentlich das, was Times«. »Ich hatte immer mehr so großen Schaden an wie früher, weil Leitungen bes-
man gemeinhin schon Angstzu- ser sichtbar gemacht und Masten gesichert wurden.
BAUER-GRIFFIN / GC IMAGES / GETTY IMAGES

einen Sonnyboy stände«, sagte Am Ende werden wir die Probleme nicht allein hier lösen
nennt, immer der Filmstar, der können. Die meisten unserer Störche sind Ostzieher, sie flie-
grinsend, 2010 mit Deadpool gen über den Balkan und den Bosporus bis Ost- oder sogar
offiziell zum einen Charakter Südafrika. Das ist eine gefährliche Reise, und wenn sie in
»Sexiest Man gefunden hat, ihren Winterquartieren nicht genug zum Fressen finden, kann
Alive« gekürt, bei dem er die der Bestand allein deswegen enorm zurückgehen. Letzten
Schwarm der inneren Abgrün- Endes ist es wichtig, dass wir einen Kompromiss mit den Flä-
Töchter von de nicht zwang- chenbewirtschaftern hinbekommen, von ihnen hängt alles
Barack Obama. haft überdecken ab. Wir Menschen brauchen die Böden ja auch für unsere eige-
Kommende muss. XVC ne Ernährung.« Aufgezeichnet von Vivien Krüger

127
»Mit dem ›ethischen‹ Kapitalismus ist es wie mit dem alkoholfreien
Bier: Keinem schmeckt’s so richtig.«
Joachim Kehr, Weßling (Bayern)

Die Logik verändern scheinlich. Bedeutete es doch, dass sie auf so weiter aufgezehrt werden. Ob jemand
Umsatzerlöse verzichteten. Der Konsu- sich von 1500 Euro netto keine Wohnung
Nr. 19/2018 Zum 200. Geburtstag von Karl
ment hingegen kann sich aus seiner Un- in München oder Hamburg leisten kann
Marx – Geld für alle! Wie ein besserer Ka-
pitalismus die Welt gerechter machen kann freiheit lösen, indem er sich zum Beispiel oder künftig dann von 3000 Euro netto
nur alle fünf Jahre ein neues Smartphone bei doppelten Mietpreisen, das ist für den
Dass sich der SPIEGEL immer mal wieder kauft, seine zerschlissenen Jeans zum ökonomischen Stress des Einzelnen kein
Gedanken macht über einen verbesserten Schneider bringt, anstatt sich jedes Jahr Unterschied. Wenn man den Gedanken
Kapitalismus, sei ihm unbenommen. An- eine neue zu kaufen, oder sein Auto ver- weiterspinnt und den Zahlenbetrag des
lässlich von 200 Jahren Karl Marx hätte kauft, weil er in einer Stadt wie Hamburg Grundeinkommens erhöht, dann macht
ich aber die umgekehrte Fragestellung an- mit Fahrrad und öffentlichem Nahverkehr man im Grenzwert alle Gehälter gleich.
gebrachter gefunden: wie ein besserer oft viel schneller unterwegs ist. Die Macht Die Frage ist dann, warum überhaupt noch
Kommunismus die Welt gerechter machen zur Veränderung liegt im Verhalten des so- jemand arbeiten würde, um das Ganze am
kann. genannten Endverbrauchers! Laufen zu halten.
Peter Borgwardt, Stuttgart Henning Sievert, Hamburg Dr. Christoph Schmitz, Konz (Rhld.-Pf.)

Wie würde wohl ein Karl Marx reagieren Leider vermisse ich in dem ansonsten inte- Ein Filter aus Gardinen
und denken, wenn er einen Blick in das ressanten Artikel die Perspektiven der gro-
Nr. 18/2018 Die Bundesregierung
20. und 21. Jahrhundert werfen könnte, ßen Mehrheit der Weltbevölkerung zum
verschärft die Dieselkrise
was aus seinen Vorstellungen des »real Thema Kapitalismus. Dass die befragten
existierenden Kommunismus« geworden wohlhabenden Deutschen meinen, die Ex-Verkehrsminister Dobrindt war ver-
ist? Nichts weiter als Diktaturen, welche Leute seien auch nicht glücklicher als frü- mutlich überfordert. Bei seinem Totalein-
Leid und Tod über Millionen von Men- her, ist typisch für Menschen, die schon satz für die »Ausländer-Maut« konnte er
schen gebracht haben, auch unter der Re- alles haben. Was ist mit den fünf Milliar- sich nicht auch noch um den Abgasskandal
gie von Lenin und Stalin. Und die »Reste« den Menschen, die – auch dank des Kapi- kümmern. Sein Nachfolger Herr Scheuer
dieses Kommunismus, die noch in China, talismus – in den vergangenen 100 Jahren steht an der Seite der für diese Betrü-
Nordkorea sowie Kuba fest verankert sind. der bittersten Armut entkommen konn- gereien verantwortlichen Manager, statt
Mit Sicherheit wäre Marx mit dieser poli- ten? Ich denke, das erste Fahrrad, die erste sich um die Rechte der betrogenen Auto-
tischen Entwicklung seiner Vorstellungen Waschmaschine, der erste Urlaub und so besitzer zu kümmern. Ein Minister ist dem
nicht einverstanden gewesen. weiter erhöhen das Wohlbefinden ganz er- Wohle des Volkes verpflichtet, nicht dem
Detlef von Seggern, Pforzheim heblich. des Managements. Verkehrsminister oder
Christian Dittrich, München verkehrter Minister?
Dieser Artikel von Markus Brauck ist in Ekkehard Sander, Denkendorf (Bad.-Württ.)
meinen Augen ein Höhepunkt der jour-
nalistischen Arbeit der vergangenen Mo- Die Partei des Verkehrsministers, die CSU,
UWE MEINHOLD / DDP IMAGES

nate. Er enthält alle zu beleuchtenden spuckt gern große Töne, wenn es darum
Aspekte eines sich aktuell verstärkenden geht, insbesondere Migranten zu belehren,
Diskurses um das richtige Gesellschafts- dass man sich in Deutschland an Recht
system und führt mit klugen, abwägenden und Gesetz zu halten habe. Geht es aber
Worten durch die komplexe Materie. Es darum, Recht und Gesetz sowie harte Stra-
besteht Handlungsbedarf, weil sich immer fen gegenüber der kriminellen Autobran-
mehr und immer größere Risse auftun, che einzufordern oder zumindest die Be-
angesichts derer die Reparaturversuche Marx-Monument in Chemnitz 2008 seitigung der Kraftfahrzeug-Abgasmängel
der Politiker unzureichend erscheinen. zu verlangen, werden nur mickrigste Bröt-
Der Kapitalismus ist die beste Verfassung, Das Coverbild trügt. Die Menschen wer- chen gebacken. Gegen das, was hierbei
aber er muss reformiert werden. Wer den durch Geld allein nicht glücklich wer- politisch gewaltig stinkt, hilft kein Filter
stets nur auf die soziale Marktwirtschaft den. Aber zumindest erhielten sie durch mehr, höchstens einer aus schwedischen
verweist, erfasst nicht die Größe des Pro- eine Einführung des bedingungslosen Gardinen, denn es grenzt seitens der Poli-
blems. Grundeinkommens eine Chance, die ih- tik an kriminelle Beihilfe zum Betrug.
Norbert Vogel, Schechen (Bayern) nen von der aktuellen Politik vorenthalten Florian Lahmann, Peine (Nieders.)
wird.
Um die Logik des Kapitalismus zu verän- Matthias Möbius, Hamburg Wenn die Eigentümer der Autofirmen, ins-
dern, genügte es, wenn Anbieter oder besondere die Großaktionäre wie Klatten
Nachfrager von Produkten und Dienstleis- Ein Aspekt, der nie mitdiskutiert wird (BMW) oder Porsche/Piëch (VW), nicht
tungen ihr Verhalten veränderten. Dass beim bedingungslosen Grundeinkommen: so viel Anstand und gesellschaftliche Ver-
die Anbieter nur genug an Waren oder Wenn es in einer ansonsten freien Markt- antwortung besitzen, dass sie den vielen
Dienstleistungen produzieren, um den re- wirtschaft ausgezahlt wird, dann wird es geschädigten, auf ihren automobilen Alt-
alen Bedarf zu decken, ist eher unwahr- sofort von steigenden Preisen, Mieten und lasten sitzenden Kunden eine akzeptable

128 DER SPIEGEL Nr. 20 / 12. 5. 2018


Briefe

Entschädigung zahlen, dann müsste dies Recht zur Diskussion zu stellen oder gar Auch die Herren der Wirtschaft und die
eben durch Zwangsmaßnahmen geschehen. seine Abschaffung zur Diskussion zu stel- Politiker wollen gesunde Lebensmittel und
Wir haben selbst Automobilaktien und len, wenn es nicht eingelöst wird, ist rechts- sauberes Trinkwasser. Wo soll das herkom-
würden auf Dividendenzahlungen gern ver- widrig. Schafft endlich die Bedingungen men, wenn wir unsere Landschaft zube-
zichten, wenn diese für Entschädigungen für gelingende Inklusion: für Behinderte, tonieren und vergiften – aus Fernost? Und
verwendet würden. Aber darauf kann man für Nichtbehinderte, für Hochbegabte, für wo wollen wir spazieren und uns erholen?
wohl lange warten. Die Politikverdrossen- behinderte Hochbegabte – und nicht zu- In Betonlandschaften oder doch lieber in
heit der Bürger hat viele Gründe. Wer letzt für Lehrer, beispielsweise durch Tan- Wald und Flur?
wundert sich eigentlich noch über das Er- demklassen. Inklusion in Deutschland: Set- Jochen Richter, Karlsruhe
starken von Populismus und Radikalismus? zen! Sechs!
Klaus Köster, Hilden (NRW) Joscha Röder, Schülerin, 14 Jahre, Bonn
Kein schöner Start ins Leben
Nr. 18/2018 Immer mehr Kliniken
Weniger Wiesen schicken Schwangere fort, weil ihnen
FRANK RUMPENHORST / DPA
Nr. 18/2018 Deutsche Landschaften Hebammen fehlen
verschwinden zunehmend unter Beton –
eine Reise entlang der Autobahn Danke, dass Sie endlich über das Vertei-
lungsproblem sprechen statt über pauscha-
Dieser Beitrag spricht mir aus der Seele. len Hebammenmangel. Überlastung ist
Als Künstlerin und Naturfreundin, die sich aber nur ein Grund, warum viele Hebam-
seit Jahren mit dem Verlust von Land- men nicht im Kreißsaal arbeiten wollen.
schaft beschäftigt, könnte ich weinen, wie Genauso ausschlaggebend sind die schlech-
Kanzlerin Merkel, Daimler-Chef Zetsche sich Deutschland verändert. In der Innen- te Qualität und fehlende Weiterent-
stadt leere Einkaufszentren, dafür der wicklung der klinischen Geburtshilfe in
Was sind die langfristigen Interessen an Supermarkt auf der grünen Wiese mit rie- Deutschland. Was Frau Scheele erlebt hat,
der Dieseltechnologie, und was ist dabei sigem Parkplatz. Welche Politiker haben ist leider Alltag: fehlende Betreuung, öko-
langfristig wichtiger als Vertrauenswürdig- das verbrochen? Bei mir um die Ecke ein nomisch motivierte Interventionen und
keit? Die Umweltverbände sollten darüber Neubaugebiet, wieder eine Wiese weniger daraus resultierende traumatische Geburts-
auch mit den institutionellen Investoren und im Frühling Bautätigkeit überall. erlebnisse. Als Hebammen wollen wir
in diese Technologie reden, statt nur mit Wenn die Landschaft der Spiegel der Seele gute, wissenschaftlich fundierte und sinn-
deren unzuverlässigem Personal in den ist, wie in der Romantik, was macht es volle Betreuung leisten und nicht perma-
Chefetagen und Regierungen Deutsch- dann mit unserer Seele, wenn man von nent mit einem Fuß im Gefängnis stehen,
lands. Autobahnen, Gewerbegebieten und häss- weil wir gezwungen werden, möglichst
Günter Hess, Neu-Ulm (Bayern) lichen Neubausiedlungen umzingelt ist? schnell, wenn nötig gewaltsam, das Kind
Lasst uns damit aufhören! Jetzt. zu »bekommen«. Geänderte Fallpauscha-
Wohin mit mir? Claudia Mucha, Wolfsburg len sind wichtig, aber bitte auch endlich
die vielen wissenschaftlichen Erkenntnisse,
Nr. 18/2018 Inklusion muss auch am
Nach vierjähriger Arbeit in einer Flächen- die wir über gute Geburtshilfe haben, im
Gymnasium stattfinden
schutz-Bürgerinitiative komme ich zum Kreißsaal umsetzen!
Wir brauchen keine Schule für alle, son- Schluss, dass nur eine Verschärfung des Marina Weckend, Leiterin der Hebammenschule
dern für jeden Schüler die geeignete Schu- Bodenschutzgesetzes Abhilfe vom Flä- in Celle (Nieders.)
le. 2006 wurde das dreigliedrige Schul- chenfraß bringen kann, es geht alles nur
system in Schleswig-Holstein abgeschafft. über eine landesweite Gesetzesänderung.
Auch die heilpädagogische Sonderschule, Vor Ort ist man mit dem wachsweichen
die solide Arbeit geleistet hat. »Langes ge- Bodenschutzgesetz, das mehr einer Emp-

JÖRG MÜLLER / DER SPIEGEL


meinsames Lernen« war ab 2006 das Mot- fehlung gleicht, praktisch hilflos. Als Bür-
to für die neuen Gemeinschaftsschulen. gerinitiative konnten wir nur ein Gewer-
Und heute: Schulschwänzer, etliche nicht begebiet zeitlich aufhalten – über das
beschulbare Schüler, drei bis vier extreme Artenschutzgesetz (Population von Reb-
Störer pro Klasse, Gewalt, teilweise auch hühnern), das Verbotstatbestände kennt,
gegen Lehrer. Schüler und Lehrer baden das heißt, Bauverbot bis zum Nachweis
das aus, was die Politik angerichtet hat. der Umsiedlung der Vögel. Wir brauchen Hebamme Dorothee Beltmann
»Langes gemeinsames Leiden«, sagt man ein Bodenschutzgesetz, das ebenso Tabu-
heute hinter vorgehaltener Hand. und Bauverbotszonen definiert. Landes- Mir erging es wie Frau Scheele aus Hamburg.
Helmut Freudenthal, Kiel weit werden hierbei gerade die Lebens- Meine Begrüßung, als ich mit Wehen und
grundlagen kommender Generationen un- fünf Tage über Termin am Empfang stand,
Die Trennung von Inklusion und Hoch- ter Beton begraben! lautete vor drei Monaten: »Wir sind voll.«
begabung, von Förderwürdigen und För- Helga Mutschler-Thamm, Kernen (Bad.-Württ.) Und das, obwohl wir uns sogar Wochen zu-
derbedürftigen, ist sparsam im Geiste. Ich vor angemeldet hatten. Es ist mein erstes
bin Autistin und habe teils einen IQ von Kurzfristige Profitgier und kurzsichtige Kind. Es war wirklich kein schönes Gefühl,
unter 70 (geistig behindert), teils einen Gemeindevertreter sollten nicht allein für seinen Start ins Leben so zu beginnen.
von 149 (hochbegabt). Förderschule oder die Umgestaltung unserer Landschaften Katrin Dorsch, Darmstadt
Gymnasium? Puh, wohin mit mir? Die verantwortlich sein. In Bayern baut man
Trennung verstößt gegen die Uno-Konven- Logistikcenter wenigstens noch an der
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
tion zur Integration Behinderter, die jedem Autobahn, in Hessen in der Gemeinde (leserbriefe@spiegel.de) gekürzt
Menschen das Recht auf Teilhabe nach sei- Weimar (Lahn) bald inmitten von Wohn- sowie digital zu veröffentlichen und unter
nen Fähigkeiten in seinem Tempo verheißt. gebieten. www.spiegel.de zu archivieren.
Inklusion ist ein Recht, kein Almosen. Ein Ragna Ruhaas, Niederwalgern (Hessen)

129
Hohlspiegel Rückspiegel
Aufstieg und Fall
Zitate
des Martin Schulz –
Die »Jüdische Allgemeine« zur SPIEGEL-
das Buch zur Meldung »Braunes Läuten« (Nr. 17/2018):

»REPORTAGE Immer wenn von einem bedauerlichen


Einzelfall die Rede ist, kann man fast si-
cher sein, dass gleich ein Dutzend ähn-
Aus der »Halterner Zeitung« DES JAHRES« licher Einzelfälle folgt. Im konkreten Fall
sind es sogar 23. Mindestens so viele Kir-
chenglocken haben, wie der SPIEGEL be-
Aus der »Sächsischen Zeitung«: richtete, einen Nazibezug … Bekannt ist
»Der Arzt Eckart von Hirschhausen (50) der Fall im pfälzischen Herxheim, wo der
studierte Medizin und arbeitet Gemeinderat mal so tut, als sei ein Haken-
als Komiker, Auto und Moderator.« kreuz eine Verbeugung vor den Schoah-
Opfern, und ein anderes Mal glauben ma-
chen will, da würde man sowieso nichts
sehen … Im Berliner Olympiastadion gibt
es die sogenannte Olympiaglocke. In sie
Aufruf auf Nabu.de war auch ein Hakenkreuz eingraviert;
doch irgendwann wurde einfach Blei
darübergekippt, damit ein grafisch völlig
Aus den »Cuxhavener Nachrichten«: unsinniges Quadrat entstand – dem man
»Nicht vorhandene Erzieherinnen allerdings selbstredend seine frühere Ha-
sollen im Kindergarten auch kenkreuzform ansieht. Bislang galt dies als
die Sprachförderung übernehmen.« eines der peinlichsten Beispiele für den
Umgang mit dem NS-Erbe im öffentlichen
Raum. Was die Kirchen derzeit bieten,
toppt sogar das noch.

TV-Produzent Friedrich Küppersbusch in


der »tageszeitung« über den SPIEGEL-
Bericht »Das ›Bärchen‹« (Nr. 19/2018):
320 Seiten · Gebunden mit SU · C 20,00 (D)
Auch als E-Book erhältlich Geht ein Redakteur zur Chefin und sagt:
Der andere Kollege belästigt Frauen. Ist
er ein weißer Ritter des Feminismus? Oder
Nie zuvor lagen in der deutschen isses Mobbing? Beneidenswerte Lage für
Transparent vor einer Schule die damalige Fernsehdirektorin – possier-
in Hamburg
Politik der extreme Höhenflug liches Erbe für ihren Nachfolger … Im neu-
und der krachende Absturz näher en Fall erklären sechs Frauen im SPIEGEL,
beieinander als bei Martin Schulz. belästigt worden zu sein … Dabei kann
Aus dem »Hamburger Abendblatt«: man hübsch pessimistisch fürchten, dass
»Der israelische Musiker Abi Ofarim Markus Feldenkirchen hat den der WDR starke Frauen hat und als öffent-
ist tot. Der 80-Jährige starb am Kanzlerkandidaten und SPD-Vor- lich-rechtliche Anstalt zwangsläufig Trans-
Freitag in München. Zuvor hatte das sitzenden begleitet, so exklusiv und parenz. Vulgo: Schlimm, was vorgefallen
Magazin ›Bunte‹ darüber berichtet.« sein mag – schlimmer, wo gar nichts davon
hautnah, wie es in Deutschland herauskommt.
bislang nicht möglich gewesen ist.
Die Beilage »NZZ Folio« der »Neuen Zür-
cher Zeitung« zitiert einen SPIEGEL-Titel
» Zweifellos eines der von 1975 zur Angst vor der Gurtpflicht:
wichtigsten politischen Anschnallen schien da-
Bücher der letzten Jahre. mals vielen so absurd
Eine unglaublich dichte wie ein Tempolimit
oder eine Promille-
und selten zu lesende grenze. Die vorherr-
Aushang vor der Falknerei im Schloss Nahaufnahme aus dem schende Meinung war:
Lauenstein (Sachsen) Maschinenraum der Macht. « Ein Gurt macht alles
nur schlimmer … Der
MARKUS LANZ, ZDF
SPIEGEL brachte die
Aus der »Berliner Woche«: »Die Vor- Panik 1975 mit einem 50/1975
führung in der Friedenstraße 20 beginnt Cover auf den Punkt,
um 16 Uhr und dauert zwei Stunden. das eine blutüberströmte Frau auf dem Bei-
Vorher werden Kaffee und Kuchen fahrersitz zeigte. Überschrift: »Gefesselt
angeboten. Der Eintritt ist freiwillig.« an’s Auto – Anschnall-Pflicht ab Januar«.

130 www.dva.de DER SPIEGEL Nr. 20 / 12. 5. 2018


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