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Musik

zweier Welten

Ein Versuch von Peter Pörtner

In den ersten Minuten des Anfangs des dritten Akts des
Rigoletto von Verdi können wir Ohrenzeugen eines bruta-
len Übersetzungs-Verbrechens werden, wenn der Herzog
von Mantua in der deutschen Fassung singt:

O wie so trügerisch
Sind Weiberherzen,
Mögen sie klagen,
Mögen sie scherzen,

Der Name des Verbrechers, dessen Verbrechen im Jahr
1853 geschah, ist Johann Christoph Grünbaum.

Und das Opfer ist ein Vers, den Franceso Maria Piave ge-
schrieben hat, seinerseits das Französische Victor Hugos
(der wiederum Francois den Ersten zitiert) imitierend:

La donna è mobile
Qual piuma al vento,
Muta d'accento
E di pensiero.

In einigermaßen wörtlicher Übersetzung, könnten diese
Zeilen eine mutwillige Beschreibung der japanischen Spra-
che sein:

Sie ist so beweglich
Wie eine Feder im Wind
Wechselhaft in ihren Akzenten

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Und ihrem Sinn

Auf Japanisch klingt das, zum Beispiel, so:






Man könnte diesen Vierzeiler übrigens sehr genau und
elegant mit einem japanischen Sprichwort übersetzen,
welches lautet: onna no kokoro wa neko no me, - in dem die
Feder im Wind sich zu einem Katzenauge mausert...



Die japanische Musik, ich rede von der traditionellen japa-
nischen Musik, lebt primär von der Melodie und vom Rhy-
thmus und von der Klangfarbe, die hier oft dem Geräusch
näher ist als in der europäischen so genannten klassischen
Musik. In der japanischen Musik spielen die stimmlichen,
Ausdruckpotentiale jedenfalls eine große Rolle.

Die Harmonie, hingegen, spielt, wo überhaupt, nur eine
untergeordnete Rolle. Vielleicht kann man sogar sagen: Die
Idee (Idee ist in diesem Kontext aber auch ein proble-
matisches Wort!) – das Konzept des Akkordes – wie ähn-
lich auch im europäischen Mittelalter - existierte nicht;
und damit wohl auch nicht (das versuche ich ganz vorsich-
tig zu sagen) die Unterscheidung von Konsonanz und Dis-
sonanz.

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Gerade auch diese Tatsachen müssten beschrieben gedeu-
tet werden, wenn von den Zwei Welten der japanischen
und der europäischen Musik die Rede ist, - was ich aber
heute hier und jetzt nicht leisten kann. Ich muss reduk-
tionistisch und idealtypisch bleiben. –

Ich muss auch zugeben, dass es stellenweise ein wenig
akademischer zugeht, als mir selbst recht ist.. Trotzdem
hält es sich im gebotenen Rahmen.

Ich kann Sie nur bitten, das zu entschuldigen. Und sich ein
wenig zu gedulden. – Sie werden nach meinem nur ca.
30minütigen Vortrag, so sieht es das Programm ja vor, ent-
schädigt werden.

Ich werde anscheinend, anders als es der Titel verspricht,
auch mehr über Sprache als über Stimme reden. Weil die
Stimme als Vollzugsorgan, als Performativ der Sprache – ja
immer dabei ist. – Außerdem wurde Dichtung in Japan we-
niger gelesen als in einem geselligen Rahmen rezitiert.
Nicht selten in der Form von Wettbewerben; so genannter
uta-awase. – Auch dieses Beispiel zeigt, welche Bedeutung
der Stimme in der japanischen Tradition zugemessen wur-
de. Natürlich muss man in diesem Kontext auch die Reli-
gion und die bäuerliche Arbeitswelt nennen. Bis zu Beginn
des 20. Jahrhunderts leben noch 80% der japanischen
Bevölkerung auf dem Land.

Heute interessiert uns der Rhythmus der japanischen Mu-
sik mehr, von dem zunächst und vor allem zu sagen ist,
dass er im Vergleich zum europäischen ungemein flexibel
erscheint, und sich nicht an einem Puls oder mit einem

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Metronom messen lässt. Eher kann man ihn mit dem Atem
in einen sozusagen generischen Zusammenhang bringen.

Und wenn man doch auf auf die Vorstellung eines gehei-
men, inneren messbaren Taktgeber nicht verzichten möch-
te, muss man sagen, dass die japanische Musik versucht,
ihn, diesen unsichtbaren Taktgeber, quasi bis zur Unkennt-
lichkeit zu umspielen. – Was übrigens auch für die japa-
nischen Tonalität gilt, - aber auch das ist kein Thema für
heute Abend.


Der japanische Rhythmus ist eine Art Fließen, fluxus, er ist
zumindest im Fluss. Oder: Er ähnelt dem Wellenschlag des
Meers, der ja und zwar auch einen Rhythmus kennt, aber
eben doch keinen mechanischen; oder metrisch geordne-
ten. Der japanische Rhythmus ist gleichsam die hörbare
Seite von „Spannungspausen“. – Auf Japanisch ma genannt,
doch davon später.

Um die japanische Traditionelle Musik besser hören zu
lernen, habe ich vor langer Zeit in Kyôto Unterricht im Sha-
misen-Spiel genommen. – Und das Bild vom Wellenschlag
als einer Metapher für den japanischen Rhythmus ist auch
ein Bild für die Art, wie ich damals die japanische Musik zu
hören gelernt habe. Also ein sehr subjektives Bild. – Das sei
noch als „caveat“, zur Vorsicht, gesagt. -

Jedenfalls tickt der Rhythmus anders als der europäische;
wenn er überhaupt „tickt“. Jedenfalls ist er nicht einem uh-
renmäßigen Tick-Tack verpflichtet.

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Die heutige Situation und die Praxis der traditionellen
Musik in Japan ist aber sehr komplex und problematisch.

Zum Beispiel: Die Frage nach der „Authentizität“ der heu-
tigen Musikpraxis ist nur schwer zu klären. Die ältesten
Tonaufnahmen stammen aus der mittleren Meiji-Zeit,
bekannt sind Aufnahmen von der Weltausstellung in Lon-
don im Jahr 1900; also einer Zeit, in der schon eine ganze
Generation – auch in musicis - eine westlich orientierte
Schulausbildung hinter sich hatte.

– Und die traditionellen darstellenden Künste in einer tie-
fen Krise steckten und – wie das bunraku-Puppentheater
gefährdet waren. Gerade das Puppen-Theater, das ja auch
eine große Rezitations-Kunst ist, konnte nur mit „Mühe
und Not“ gerettet werden.

Vor allem aber nach 1868 hat sich – unweigerlich sozu-
sagen - auch die japanische Sprache unter dem massiven
Einfluss der Westens sehr verändert.

Sie sehen: der Titel meines Vortrags ist nicht nur zu groß-
spurig, sondern auch viel zu unspezifisch. Aber wenns um
Rhythmus und Akzente geht, gehört der Klappern eben
zum Handwerk.

Das Japanische ist eine Akzentsprache durchaus eigener
Art. Das bedeutet: Anders als die sogenannten Europä-
ischen Standardsprachen kennt das Japanische keine
Druckakzente oder Stärkeakzente, also keine „echten“ Be-
tonungen, sondern ausschließlich Tonhöhenakzente. – Das
ist ein wesentlicher Unterschied.

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Das heißt: Das Japanische kennt im Grunde keine „wirk-
lichen“ Silbenbetonungen wie das Deutsche. („O wie so
trügerisch sind Weiberherzen“). – Es kennt keine „echte“
Betonungen und den Wechsel betonter und unbetonter
Silben, wie sie sich im Takt der europäischen Musik mit
ihren betonten und unbetonten Füßen oder „Schlägen“ wie
sie bezeichnend heißen, spiegeln, all das gibt es im Japa-
nischen nicht.

Folglich, und das macht eben eine gewaltige Differenz aus,
ist auch die Grundlage für eine Unterscheidung lyrischer
Formen nach Maßgabe ihrer rhythmischen Struktur im
Japanischen nicht gegeben. Hier, in der japanischen Spra-
che, findet der Hexameter, das Sonett, aber auch selbst der
Knittelvers keinen Platz.

Zumal es ja auch keinen Reim gibt. Denn auch einen Reim,
das mag überraschen, kann es nur in Sprachen geben, die
einen strukturierten und strukturierenden Wechsel betonter
und unbetonter Silben kennen. Überhaupt werden Reim
und Rhythmus von den Etymologen in Zusammenhang ge-
bracht. Auch der Reim geht, letztlich, auf Versfüßen. Lassen
Sie mich wagen / Es ihnen so zu sagen.

Stattdessen finden sich im Japanischen nur: in der Ton-
höhe steigende oder fallende Akzente., die auch pitch-Ak-
zente genannt werden. Diese Akzente können sich durch
den Kontext, in den die einzelnen Worte tagtäglich geraten,
- in immer anderen Sätzen - verändern. – Also: so wie auch
la donna können sie, wenn auch nicht exzessiv, muta
d’accento sein: In einer Phrase oder innerhalb eines Satzes
können sich die Akzente der Wörter diskret verschieben.

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Außerdem gibt es auch zwischen den verschiedenen japa-
nischen Dialekten erhebliche Akzent-Unterschiede...

Sprachwissenschaftlich gesehen kennt das Japanische ge-
nau genommen also gar keine Silben, auch wenn die euro-
päischen Haiku-Dichter das vielleicht nicht wahrhaben
wollen, sondern nur so genannte Moren. Moren - das sind
Zeit- oder Zähleinheiten. – Ein Wort wie „zenzen“ was so-
viel bedeuten kann wie „überhaupt nicht“ klingt in deut-
schen Ohren so, als hätt es zwei Silben. Hat es aber nicht.
Es hat vielmehr vier Moren: ze-n-ze-n. Mindestens aber
drei, weil das „–n“ einen eigenen Status im japanischen
Lautsystem hat, der es, salopp gesagt, als eine halbe More
deutbar macht. Darauf kommen wir wohl noch einmal zu-
rück. Das „-n“ gehört jedenfalls zu den Ausnahmen, welche
die Regel bestätigen. Zur Verdeutlichung ein anderes
Exempel -

Während die Deutschen das Wort Tôkyô, wenn sie nicht
To-ki-o sagen, als zweisilbig empfinden, hat es in der japa-
nischen Sprach- und Sprechwirklichkeit eigentlich vier
Moren: to o kyo o. Und jede More könnte prinzipiell einen
Akzent tragen. Und folglich sehr verschieden ver-tont, in
Töne gesetzt werden. Das Japanische kannte, grob gesagt,
ich bitte die Spezialisten kurz wegzuhören, nur kurze
„Silben“; lange Silben, die genau genommen aus zwei Mo-
ren bestehen, sind erst durch die integrierende und in ei-
nen gewissen Sinn lautlich deformierende Übernahme des
Chinesischen ins Japanische (vor etwa anderthalbtausend
Jahren) entstanden. Auch „Tôkyô“ ist ein solches hybrides,
so genanntes sino-japanisches Wort; wie Kyôto auch.

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Sozusagen als Bauernopfer verschwanden bei der Über-
nahme des Chinesischen ins Japanische, um das ein wenig
unsauber so zu beschreiben, auch die berühmten, für das
Chinesische so charakteristischen und bedeutngsrelevan-
ten „Töne“; die mir vor Jahrzehnten mein erster Chine-
sischlehrer (H.O.H. Stange) in der Form eines Gesprächs
zwischen einem Meister und seinem Lehrling versucht hat,
nahe zu bringen: Der Meister sagt: sô musst du es machen.
Der Lehrling fragt só? – Meister: Nein, sòó! – Lehrling,
schließlich: Ach sò!

Aber das Japanische zeichnet sich natürlich nicht nur
durch all das aus, was ihm fehlt. Es gibt zwar keine echten
Versfüße, keine rhythmisch definierten Gedichtformen,
keinen Reim; aber das merkwürdige Phänomen, dass Japa-
nerinnen und Japaner cluster aus 5 oder 7 Moren als präg-
nant, „eingängig“, schön, oder auch nur „für leicht zu mer-
ken“ halten. Die gängigsten Gedichtformen, das haiku und
das waka bestehen – idealiter – nur aus einem Wechsel
von 5- und 7-morigen Zeilen, die überdies eigentlich keine
Zeilen sind...

Als Beispiel ein berühmtes Haiku des berühmtesten japa-
nischen Haiku-Dichters, Matsuo Bashô:

Shizukesa ya 5
Iwa ni shimi-iru 7
Semi no koe 5

(kire-ji: ya... (=hörbarer Doppelpunkt))

Diese Stille hier
In den Fels hinein dringen

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Zikadenstimmen

Ich habe bisher noch keine wirklich überzeugenden Erklä-
rungen dafür finden können. Diese 5- und 7-er Gruppie-
rungen finden sich nicht nur in Gedichten und Liedern,
sondern durchaus auch in der Prosa und – sehr häufig in
Werbe-Sprüchen, Slogans und dergleichen.

Wahrscheinlich gibt es einige Nicht-Japanisch-Sprechende
unter Ihnen. Daher erlaube ich mir, Ihnen kurz vorzufüh-
ren, was aus einem der berühmtesten deutschen Gedichte
im Japanischen wird; - oder werden kann. Ich weiß gar
nicht, wie viele japanische Übersetzungen vom Nachtlied
des Wanderers existieren. Gerade dies Gedicht lebt von
seinem Rhythmus, dem Vokalklang, dem Reim. Also von
Elementen, die nur schwer ins Japanische zu über-setzen
sind. Selbst der Vokalklang ist schwer zu imitieren, weil,
wie gesagt, lange Vokale über das Chinesische ins Japa-
nische gekommen sind. Und solche sino-japanischen Wor-
te werden in der traditionellen japanischen Lyrik aber
gemieden. Deswegen finden sie auch in der folgenden
Übersetzung des Nachtlieds keinen einzigen langen Vokal.

Zunächst das Original:

Über allen Gipfeln
Ist Ruh
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch

Die Vögelein schlafen im Walde
Warte nur, balde

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Ruhest du auch

Eine der vielen japanischen Übersetzungen lautet:

Yamayama no itadaki wa shizumarinu
Moromoro no kozue wa
Soyokaze no ugoki mo miezu

Morigake ni tori wa modaseri
Mate shibashi yagate mata nare mo ikiowan

Auch diese Übersetzung besteht bis auf eine – erlaubte –
Ausnahme ausschließlich aus 5er und 7er Moren-Gruppen.
(ji-tarazu, ji-ammari!)

(((Eine weniger pathetische, fast umgangssprachliche,
man könnte sagen: eine Interlinearübersetzung – lautet:

subete no yama no / itadaki ni
yasurai ga aru
subete no ki no kozue ni wa
soyokaze sae
mattaku kanjirarenai
kotori tachi wa mori no naka de chinmoku suru
tada matsu no da mô sugu
omaeni mo yasurautoki ga kuru)))


Viele von Ihnen kennen die schlichtweg unüberschaubare
wissenschaftliche Literatur über „Zeitmaß, Takt und Rhy-
thmus“ besser als ich; und die Zeit, sich detailliert auf die
Diskussion einzulassen, haben wir heute auch nicht. –

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Aber umreißen, „konturieren“, müssen wir die Problem-
stellung trotzdem. Und da hilft, wie so oft, und noch immer
Hegel, der Zeitmaß Takt und Rhythmus in ihrer sozusagen
natürlichen Korrelation mit den europäischen Sprachen
beschreibt. Was ihm offensichtlich so selbstverständlich
war, dass er mögliche Alternativen nicht für möglich hielt.
Zumindest spricht er mögliche Alternativen nicht an. –

Zum Verständnis der folgenden Zitate muss ich noch vo-
rausschicken, dass Hegel wenn er von „Akzenten“ spricht
natürlich die Druck- oder Stärkeakzente der silbenunter-
scheidenden europäischen Sprachen, vor allem eben des
Deutschen, meint. – Hegel beschreibt Takt und Rhythmus,
wie es bei einem Philosophen ja sein muss, im Kontext der
Zeit.

Zitat: „Was nun zunächst die rein zeitliche Seite des musi-
kalischen Tönens betrifft, so haben wir erstens von der
Notwendigkeit zu sprechen, daß in der Musik die Zeit
überhaupt das Herrschende sei; zweitens vom Takt als
dem bloß verständig geregelten Zeitmaß; drittens vom
Rhythmus, welcher diese abstrakte Regel zu beleben an-
fängt, indem er bestimmte Taktteile hervorhebt, andere
dagegen zurücktreten läßt.“ – Ende des Zitats.

Über den Takt, den er, er nennt ihn ja „verständig gere-
gelt“, eindeutig für ein geistiges Prinzip hält, schreibt Hegel
den wunderbar plastischen Satz:

Zitat: „Der Takt hat in dieser Rücksicht dasselbe Geschäft
wie die Regelmäßigkeit in der Architektur, wenn diese z.B.
Säulen von gleicher Höhe und Dicke in denselben Abstän-
den nebeneinanderstellt oder eine Reihe von Fenstern, die

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eine bestimmte Größe haben, nach dem Prinzip der Gleich-
heit regelt. Auch hier ist eine feste Bestimmtheit und die
ganz gleichartige Wiederholung derselben vorhanden.“
- Ende des Zitats.

Hier beschreibt Hegel den Takt als geistiges Prinzip, das es
genau in dieser Form im vormodernen Japan nicht gab.
Das Konzept des „ma“, des flexiblen Intervalls – im zeitli-
chen und räumlichen Sinn -, das in Japan noch immer –
etwa auch in der zeitgenössischen Architektur - eine große
Bedeutung hat, ist dem von Hegel beschriebenen Prinzip –
wirklich - diametral entgegen gesetzt.



„ma“ als Takt ist etwas, dass in der Musik, in ihrem Verlauf,
stets hergestellt, pro-duziert wird. Wir hören, um es so zu
sagen, wie der Rhythmus entsteht. Die Musik wird hier
nicht in das vorgegebene Gestell des Takts gleichsam „ein-
gehängt“. – Wir können also fast behaupten, dass von der
europäischen Musik her gesehen, der japanischen Musik
etwas „fehlt“. Eben das abstrakte Regulativ des Taktes.

Ein unhörbares Metronom; und doch als Takt-Geber ein
Alleinherrscher, ein Monarch.

Ein solches Regulativ fehlt der japanischen Musik, von der
wir sprechen.

An seine Stelle tritt das „ma“, für das es keine rechte Über-
setzung gibt. Was – um Gottes willen! – nicht heißt, dass
wir uns etwas Mysteröses, gar rätselhaft Japanisches da-
runter oder darüber vorstellen müssen.

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„ma“ ist überall, aber immer ein bisschen anders; immer,
wie wir ja auch sagen um „eine Idee“ anders. Jedes Zimmer
kann ma genannt werden. – ma ist sozusagen eine Art
universales Modul, das sich dauernd neu bestimmt. – Zu
beschreiben, wie sich das ma – etwa in der traditionellen
japanischen Musik – immer wieder „findet“, - das ist in der
Tat sehr schwer.

„ma“ ni awanai, bedeutet wörtlich: das ma nicht treffen,
und meint: etwas verpassen, zu spät kommen.

A to iu ma ni, wörrtlich: ein ma, das so lang ist wie wenn
man „a“ (kurz!) sagt, meint soviel wie: im Nu (was im
Deutschen betont und lang gesprochen wird).

Das Verb ma-chigau, was übersetzt werden kann mit: um
ein ma verschieden sagt nicht weniger als: das ist falsch,
das ist nicht so, das ist anders.

Schön ist auch „ma-nuke“, „das ma ist entschlüpft“ – das
bezeichnet einen Dummkopf. Und ma ga warui, wörtlich:
das ma ist schlecht, bedeutet: jetzt nicht! – das timing ist
schlecht. – Ich hoffe, das gilt nicht für jetzt gerade...

Der Rhythmus, in Absetzung vom Takt, ist für Hegel etwas,
das in die Gleichförmigkeit, ja Monotonie, des Takts Leben
bringt. Bei Hegel belebt der Rhythmus den Takt. Das sagt
er selbst so. Aber wodurch und wie „belebt“ der Rhyth-
mus?

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Der Rhythmus belebt durch das Wechsel-Spiel der Beto-
nungen. Genau hier bricht die Sprache in den Takt ein.
Aber muss sich dabei den Regeln des Takts doch beugen.

Vielleicht darf man oder muss man sogar mutmaßen, dass
es Hegel nicht klar war, - nicht so klar war wie uns! -, wie
stark die Sprache für den Charakter des Takts mitverant-
wortlich ist. Und doch beschreibt Hegel den Takt gleich-
sam wie einen Sohn der Sprache, - Ein Familienverhältnis,
aus dem sich die handelsüblichen Konflikte ergeben. -

Im folgenden Zitat benutzt Hegel den Begriff „Arsis“, dem
wir uns kurz widmen müssen, weil er in unserem Kontext
eine höchst prägnante Rolle spielt.

„Arsis und Thesis bezeichnen in der Verslehre Hebung und Senkung.

In der antiken griechischen Metrik bezeichnete Arsis (griechisch ἄρσις von
αἴρω airo „erheben“, „aufheben“) das Heben des Fußes oder des Fingers,
Thesis (θέσις von τίθημι tithemi „setzen“, „betonen“) den Schlag von Fuß
oder Finger, das musikalische Taktschlagen bzw. das Aufstampfen des
Fußes im Tanz. Dem entspricht der lateinische Ictus („Schlag“, von
lateinisch icere „schlagen“; deutsch Iktus). Dementsprechend war in der
sich an Silbenlängen orientierenden, quantitierenden antiken Metrik die
Thesis stets die lange Silbe (elementum longum) im Versfuß, der Arsis
entsprach die kurze Silbe (elementum breve), Doppelkürze (elementum
biceps) oder Ambivalenz (elementum anceps). Im Daktylus (—◡◡) zum
Beispiel war also — die Thesis und ◡◡ die Arsis. Beide Teile werden auch
als Halbfuß bezeichnet, d.h. beim Daktylus ist der erste Halbfuß — und der
zweite Halbfuß ◡◡, beim Jambus (◡—) ist der erste Halbfuß ◡ und der
zweite —.

Im 4. Jahrhundert schreibt dazu der Grammatiker Marius Victorinus:

„Was die Griechen Arsis und Thesis nennen, d. h. Anheben und Absetzen,
bedeutet die Bewegung des Fußes. Arsis ist nämlich Anheben des Fußes
ohne Ton, Thesis Absetzen des Fußes mit Ton.“

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Dann fährt er aber fort:
„Ebenso ist Arsis das Anheben von Zeit, Ton, Stimme, Thesis das Absetzen
davon und eine Art verkürzter Aussprache der Silben.“

Das heißt, eine Veränderung in der Bedeutung des Wortes Arsis vom
mechanischen Anheben hin zum Anheben der Stimme führte zu einer
Umkehrung in der Bedeutung des Begriffspaares. Dieser Wandel bildet eine
im 2. Jahrhundert einsetzende und in der Spätantike sich fortsetzende
Änderung des Sprachgefühls von der quantitierenden hin zur akzentu-
ierenden Auffassung von Dichtung. Dem Bedeutungswandel entsprechend
wurde Iktus mit der Arsis verknüpft, beide Begriffe bezeichneten nun die
betonte Silbe, Thesis dagegen bezeichnete fortan die schwächeren, unbe-
tonten Teile des Versfußes. Entsprechend dieser Auffassung wurden
schließlich die Begriffe übersetzt als Hebung (betont) bzw. Senkung
(unbetont) in die deutsche Verslehre übernommen.

Um die Verwirrung vollständig zu machen, wurde in der musikalischen
Metrik die ursprüngliche Bedeutung beibehalten, wobei es auch in diesem
Gebiet Unsicherheiten gibt. So bezeichnet Arsis in der Musik auch den
(unbetonten) Auftakt bzw. den unbetonten (leichten, schlechten) Taktteil,
Thesis dagegen den betonten (schweren, guten) Taktteil.

Aufgrund dieser Verwirrung sollte die Verwendung der beiden Begriffe
jedenfalls dann vermieden werden, wenn der Kontext nicht völlig klar ist.“

Aber endlich zurück zu Hegel, der uns folgendermaßen be-
lehrt:

Zitat: Durch „Hebung und Senkung erhält jede einzelne
Taktart ihren besonderen Rhythmus, der mit der bestimm-
ten Einteilungsweise dieser Art in genauem Zusammen-
hange steht. Der Viervierteltakt z.B., in welchem die gerade
Anzahl das Durchgreifende ist, hat eine gedoppelte Arsis:
einmal auf dem ersten Viertel und dann, schwächer jedoch,
auf dem dritten. Man nennt diese Teile ihrer stärkeren
Akzentuierung wegen die guten, die anderen dagegen die
schlechten Taktteile.“ – Ende des Zitats.

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Sie sehen: Auch in der, sagen wir: Dialektik, die zwischen
Takt und Rhythmus herrscht, schlägt die Struktur – hier:
der deutschen Sprache mit ihrem Wechsel von betonten
und unbetonten Silben; wobei der Wechsel der Töne eine
gewisse Varianz erlaubt.

In der alten japanischen Hofmusik, dem gagaku, gibt es
auch einen charakteristischen Vier-Schlag-„Takt“, in dem
Hebung oder Senkung aber keine Rolle spielen.

Er besteht aus drei „relativ“ kurzen und einem überlangen
– vierten – Ton. Man sollte hier nicht von „Schlägen“ spre-
chen. Die Dauer dieses vierten Tons bestimmt der Klang-
wechsel der shô genannten Mundorgel zum nächsten
„Takt“, der immer mit einem neuen Einatmen begonnen
wird. Hier schafft – geradezu sichtbar - der Atem Ordnung.

Hegel, seinerseits, warnt sogar davor, den Sprachrhythmus
in ein „widerstrebendes“, wie er es nennt, Verhältnis zu
Takt geraten zu lassen. Er schreibt:

Zitat: Wenn „eine dem Versrhythmus (Also dem der Spra-
che, des Textes) nach nicht akzentuierte Silbe in einem
guten Taktteile, die Arsis oder gar die Zäsur in einem
schlechten Taktteile steht, so kommt dadurch ein falscher
Widerspruch des Rhythmus der Poesie und Musik hervor,
die besser vermieden wird,“ – Ende des Zitats.

Ein wenig überspitzt gesagt: Wovor Hegel hier warnt, das
ist genau, was das japanische „ma“ erreichen möchte: die
Verschiebung, die Abweichung, die Spannung, ja, - rezep-
tionsästhetisch gesehen -, die Überraschung. Sozusagen:
die Synkope als System.

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Hegel hingegen sieht in der Synkope den „schärfsten“, frei-
lich nicht ganz unerlaubten, „Gegenstoß“ gegen den regel-
gebenden Takt. - Er schreibt nämlich:

Zitat: „Am schärfsten aber tritt der Gegenstoß im Rhyth-
mus des Taktes und der Melodie in den sogenannten Syn-
kopen hervor.“ – Ende des Zitats.

Es ist nun höchst interessant und bedenkenswert, dass
Hegel durchaus ein sklavisches Befolgen der Vorgaben des
Taktes für ästhetisch problematisch, bez. Unbefriedigend
hält. – Es klingt dann, schreibt er, sehr rhythmisch, neben-
bei: „abgeleiert, kahl und erfindungslos“. – Hegel spürt da
ein Dilemma. Er wird ganz deutlich und beklagt, dass „die
Pedanterie des Metrums“ und „die Barbarei eines ein-
förmigen Rhythmus“ – besonders in der deutschen Musik -
etwas, wie er sagt, „Lugubres, Ziehendes, Schleppendes“
hervorbringt.

Da haben es, meint Hegel, die Italiener besser, weil das Ita-
lienische einen „mannigfaltig bewegteren Rhythmus und
Erguß der Melodie“ ermögliche. –

„Das einförmige, kahle jambische Skandieren“, das Hegel
auch „jambisches Geleier“ nennt, und „das in so vielen deu-
tschen Liedern wiederkehrt, tötet das freie, lustige Sich-
Ergehen der Melodie.“ – Hegel kritisiert sogar Händel, bei
all den „sonstigen Vortrefflichkeiten“ seiner Musik – für
seine Tendenz zum „jambischen Geleier“.

An dieser Stelle, kurz vor der Endrunde, sagt mir etwas, -
„Etwas sagt mir“ ist, finde ich, eines der schönsten Idiome

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der deutschen Sprache -, also an dieser Stelle sagt mir et-
was, dass ich, damit ihre Blicke nicht noch skeptischer
werden, bei jemandem Schützenhilfe holen muss, der sich
viel besser auskannte in Fragen des Takts und des Rhyth-
mus. Der große Münchner Musikwissenschaftler Thrasy-
bulos Georgiades.

Er hat nicht nur ein großartiges Buch über Sprache und
Musik bei Schubert geschrieben, sondern auch eine für uns
und unser Thema entscheidende Entdeckung gemacht
Beim Hören traditioneller griechischer Musik bemerkte er,
dass die Melodien gar nicht so recht zu der modernen
griechischen Sprache passen. Warum?

Weil sie so klingen, als wären sie für eine moren-zählende
Sprache geschrieben. Und tatsächlich war das Altgriechi-
sche eine moren-zählende Sprache. Wohl erst in der Spät-
antike hat sich das Sprachgefühl wesentlich geändert, d.h.
von einer quantifizierenden, also nur Längen und Kürzen
unterscheidenden Auffassung zu einer stark akzentuieren-
den, betonte Hebungen und unbetonte Senkungen un-
terscheidenden Auffassung verschoben.

Das lässt sich freilich besonders deutlich an der Dichtung
beobachten und nachweisen. Wir müssen uns also klar-
machen, dass Homers bewunderte Hexameter und Pen-
tameter zu Homers Zeiten ganz anders klangen als heute.
Und dass die deutschen Klassiker, allen voran der Homer-
übersetzer Voss, die Ilias und die Odyssee in eine Disti-
chen-Form gezwungen habe, die Homer noch nicht kannte;
nicht kennen konnte. Er hätte also Schillers wunderbares
Distichon – in dieser rhythmischen Form nicht schreiben
können:

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Im Hexameter steigt des Springquells silberne Säule,
Im Pentameter drauf fällt sie melodisch herab.

Homer hätte wohl auch die Parodie, die von Matthias Clau-
dius stammt, nicht so ganz goutieren können:

Im Hexameter zieht der ästhetische Dudelsack Wind ein;
Im Pentameter drauf läßt er ihn wieder heraus.

Freilich hat wieder einmal Goethe die geschmeidigsten
Distichen geschrieben- Erinnern Sie sich nur an die Römi-
schen Elegien:

Oftmals hab’ ich auch schon in ihren Armen gedichtet
Und des Hexameters Maß, leise, mit fingernder Hand,
Ihr auf den Rücken gezählt. Sie atmet in lieblichem Schlum-
mer
Und es durchglühet ihr Hauch mir bis ins Tiefste die Brust.

In seinem Buch „Der griechische Rhythmus“ charakteri-
siert Georgiades präzise und plastisch den Unterschied.

Die uns gewohnte Auffassung, Georgiades spricht sogar
von abendländischen Schwergewichtsrhythmus, beschreibt
es u.a. so:

„Wir legen den Taktstrichen eine ordnende Betonungs-
oder zumindest Schwergewichtsfunktion bei, wie sie der
abendländischen Musik innewohnt.

In einer solchen Musik wird das rhythmische Empfinden
durch das Schwergewicht bestimmt.

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Die gleichen Schwereverhältnisse kehren periodisch wie-
der. Da das Hervorheben des Schwergewichts sich in der
rohesten Form als Betonung äußert, kann man auch sagen,
daß das rhythmische Gerüst durch das regelmäßige
Auftreten von Betonungen bestimmt wird.“

Den von ihm so genannten Quantitätsrhythmus beschreibt
Georgiades folgendermaßen:

„Hier werden Längen und Kürzen lose nebeneinander-
gereiht, ohne den Kitt der dynamischen Zusammenfas-
sung. Es werden die einzelnen, gleichberechtigten Längen
und Kürzen lediglich durch Nebenordnung, addierend und
nicht multiplizierend, aufgestellt.“

An vielen Stellen, wo Georgiades über den Zusammenhang
von Sprachstruktur und Quantitätsrhythmus meint man,
er spricht vom Japanischen und der japanischen Musik. –

Ich möchte das griechische Beispiel aber nur als Analogie
sehen. Jedenfalls verdanke ich Georgiades viele Fragestel-
lungen, die sich, wenigstens modifiziert, auf die japanische
Situation anwenden lassen.

Quod erat demonstrandum.

– Das heißt: Demonstriert habe ich ihnen etwas, ob ich
damit irgendetwas beweisen konnte, das weiß ich nicht. –
Ich wage mich aber zu warnen: Zumindest das weiß ich
wenigstens, dass es nicht leicht sein wird, meine Deutungs-
ansätze zu widerlegen. Möglich ist es vielleicht oder sogar
zweifellos, aber nicht leicht.

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Als Ausklang, aber auch als akustischer Beweis, ich hoffe
es taugt und wird auch dazu, ein Hörbeispiel für das,
worüber ich zu sprechen versucht habe.

(Stichworte: kiri-goe (=hörbar erzeugter Takt), paralleler
Verlauf der Stimmen, die Flexibilität: springender Wechsel
des Rhythmus, der „plain-chant“ (=Nähe zur Gregorianik!)
der Stimmen. Bei anscheinend völlige Freiheit der Vokal-
längen, unter Vermeidung von Schwergewichtsakzenten:

Die Tonhöhenakzente werden tatsächlich, möchte man sa-
gen, durch leichtes Auf- oder Absteigen der Melismen mar-
kiert. Einsatz eines „rauen“ Timbres, was entfernt an die
„dirty tones“ des Jazz erinnern mag... Etc.)















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