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Von Istanbul nach Sobibor

Es gibt eine vergessene Generation türkischer MigrantInnen in Westeuropa. Ihre Geschichten


beginnen im Osmanischen Reich und enden vielfach in den NS-Vernichtungslagern. Corry
Guttstadt hat in einer beachtenswerten Studie die Stimmen der Opfer und die Dokumente der
Archive zusammengetragen, um zu erklären, wie und warum es zum Mord an den
türkischen Juden in Westeuropa kam und welche Rolle der türkische Staat dabei spielte. Im
Folgenden sollen die Erkenntnisse aus dieser 516-seitige Studie dargestellt werden, weil das
Wissen um diese Ereignisse kaum vorausgesetzt werden kann. Bisher hat eine
wissenschaftliche Forschung kaum stattgefunden. Guttstadt leistet hier also Pionierarbeit.

Türkische Juden in Europa


Zuerst stellt sich die Frage, warum türkische Juden massenhaft die Türkei verließen und
wanderten unter anderem nach Westeuropa aus? Die zahlreichen Kriege in der Endphase des
Osmanischen Reichs (Balkankriege, 1. Weltkrieg) und der anschließende türkische
„Befreiungskrieg“ (1919-1923), der mit zahlreichen Pogromen und Massenmorden an den
Minderheiten einherging, sind wichtige Faktoren für die jüdische Auswanderung Anfang des
20. Jahrhunderts. Mit der Entstehung der Türkischen Republik 1923 hofften die türkischen
Juden, als gleichberechtigte türkische Staatsbürger in der neuen Republik leben zu können.
Diese Hoffnungen waren jedoch schnell zerschlagen. Die kemalistische Staatsführung wollte
aus dem „Überbleibsel“ des Osmanischen Reichs eine homogene türkische Nation bilden und
verfolgte dazu eine aggressive Türkisierungspolitik. Für alle Minderheiten, so auch für die
Juden, bedeutete dies die soziale und kulturelle Ausgrenzung, den Zwang zur Assimilierung
und den ökonomischen Niedergang.

Echte Türken und Andere


Ein zentrales Konzept der Türkisierungspolitik war die Schaffung von unterschiedlichen
Staatsbürgerschaftsmodellen: Während in der türkischen Verfassung alle türkischen
Staatsbürger als gleichberechtigt deklariert wurden und eine ethnische oder religiöse
Differenzierung ausbleibt, entstanden in staatlichen Bestimmungen und Anordnungen
„unterhalb der Schwelle von Gesetzen“ (Guttstadt) eine Differenzierung zwischen türkischen
Staatsbürgern (einschließlich der Minderheiten) und ethnisch und religiös definierten
„echten“ Türken. Staatliche Anordnungen legten fest, dass in vielen Sektoren nur noch
„echte“ Türken arbeiten durften, was dazu führte, dass türkische Juden (neben anderen
Nichtmuslimen) entlassen wurden.
In den Schulen gingen die Bestimmungen wesentlich weiter: 1926 wurde angeordnet, dass
die richtige „nationale Gesinnung“ nötig sei, um als Lehrer arbeiten zu dürfen. Die privaten
Schulen der Minderheiten wurden umfassend unterminiert. So wurde einerseits ihre
finanzielle Basis angegriffen, indem sie keine externe finanzielle Unterstützung erhalten
durften und auch keine staatliche Unterstützung erhielten. Anderseits wurden die Ausgaben
gesteigert, indem das türkische Erziehungsministerium die Höhe der Lehrergehälter an den
privaten Schulen sehr hoch ansetzte. Schließlich wurde gemäß dem Laizismusgebot der
konfessionelle Unterricht verboten. So schlossen nach und nach die meisten privaten Schulen
der Minderheiten.
Ebenfalls eingeschränkt war die Bewegungsfreiheit für Nichtmuslime innerhalb der Türkei.
So waren selbst für Reisen Genehmigungen erforderlich. Kritik an diesen Maßnahmen war
verboten und wurde unterdrückt.
Die Situation spitzte sich in den 1930er Jahren weiter zu. Nach kurdischen Aufständen wurde
mit dem „Ansiedlungsgesetz“ (1934) die Deportation und Umsiedlung von nicht-türkischen
Bevölkerungsgruppen, hauptsächlich Kurden, beschlossen. Kurz nach dem Beschluss des
Gesetzes kam es in Thrakien zu Übergriffen gegen die jüdische Bevölkerung mit dem Ziel, sie
aus der Grenzregion zu vertreiben.
Die Türkisierungspolitik veranlasste in den 1920er und 1930er Jahre viele türkische Juden
dazu auszuwandern. Von den zwischen 150.000 und 200.000 in der Türkei lebenden Juden
verließ etwa die Hälfte das Land. 30.000 bis 50.000 von ihnen gingen nach Europa, wo
Frankreich das wichtigste Zielland für türkische Juden war.

Autoritär, nationalistisch und NS-freundlich


Ab Mitte der 1930er Jahre verschärfte sich die nationalistische und autoritäre Politik der
Türkei noch weiter. 1936 wurden die Gewerkschaften verboten, 1938 folgte das Verbot für
Vereinigungen auf „ethnischer, religiöser oder klassenmäßiger Grundlage“. Damit waren
faktisch alle politischen Organisationen, die nicht von der Staatspartei CHP kontrolliert
waren, verboten. Der letzte große kurdische Aufstand wurde 1937-38 niedergeschlagen.
Während des Zweiten Weltkriegs verfolgte die Türkische Republik eine „einseitige
Neutralität“ (Guttstadt). Die türkische Staatsführung spielte die beiden Kriegsparteien
gegeneinander aus, um einerseits die Türkei aus dem Weltkrieg herauszuhalten und
andererseits Kredite und Waffenlieferungen zu erhalten. Die Neutralität war insofern
„einseitig“, da insgesamt eine deutschfreundliche Stimmung herrschte und der deutsche
Krieg gegen die Sowjetunion begrüßt wurde. Das NS-Regime versuchte, diese Stimmung zu
einer offenen Unterstützung ihrer Kriegsführung zu wandeln, indem sie auf panturkistische
Tendenzen in der Türkei setzte. Die Türkei sollte gegen die Sowjetunion kämpfen und dafür
türkisch besiedelte Gebiete in der Sowjetunion erhalten. Die türkische Staatsführung setzte
jedoch auf die innenpolitische Konsolidierung ihrer Herrschaft und die Türkisierung der
Bevölkerung innerhalb der Grenzen der Republik. Dagegen wurden die panturkistischen und
turanistischen Ziele der Jungtürken, die auf Gebiete im Kaukasus und Zentralasien zielten,
offiziell nicht verfolgt. So setzte die türkische Staatsführung die panturkistischen Gruppen als
Mittel der Außenpolitik ein: Von 1941 bis 1944 wurden panturkistische Publikationen und
Organisationen gefördert und ihre Kooperation mit dem NS-Regime zugelassen, um damit
Vorteile bei den Verhandlungen mit dem Dritten Reich über Handel und Waffenlieferungen
zu erlangen. Ab 1944 wurden die Panturkisten jedoch in den Hintergrund gedrängt und ihre
Publikationen verboten, um den Alliierten einen Wandel in der türkischen Außenpolitik zu
signalisieren.
Die türkischen Panturkisten, Turanisten und Faschisten waren jedoch weniger ein
Exportprodukt der NS-Propaganda, sondern vielmehr ein Teil eines türkischen
Nationalismus, der sowohl unter den Jungtürken (1908-1918) als auch in der Türkischen
Republik offizielle Staatspolitik war.
Insgesamt führte in den 1930er und 1940er Jahre der Einfluss des NS-Regimes in der Türkei
zu einem größeren Spielraum für türkische Faschisten und Rassisten und verstärkte
judenfeindliche Tendenzen der nationalistischen Staatspolitik. Ein Beispiel für dieses
Zusammenkommen von Antisemitismus und der türkistischer Staatspolitik sind die
Übergriffe und Pogrome gegen die türkischen Juden in Thrakien 1934. Sie lassen sich
einerseits als Teil einer staatlichen Türkisierungspolitik verstehen. Auf Anweisung der
Staatsführung sollten die örtlichen Sektionen der Staatspartei CHP die türkischen Juden
einschüchtern, damit sie die Region „freiwillig“ verlassen. Allerdings zeigte sich, dass die
antisemitischen Stimmungen in der Bevölkerung stärker waren als gedacht und der Staat
nicht in der Lage war, die Ausschreitungen noch zu kontrollieren: Die Übergriffe und
Pogrome schienen „aus dem Ruder“ zu laufen. Die staatlichen Sicherheitskräfte mussten
einschreiten, um die türkischen Juden vor dem Mob zu schützen. Später wurden die
Ausschreitungen offiziell verurteilt, ohne allerdings den Juden die Rückkehr in die Region zu
ermöglichen.
Während des Zweiten Weltkriegs ging die Türkisierungspolitik weiter. 1942 wurde eine
einmalige Vermögenssteuer eingeführt. Offiziell war die Steuer gegen Kriegsprofiteure
gerichtet und laut Gesetzestext zielte es nicht gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen. Die
Höhe der Steuern wurde allerdings von türkischen Behörden individuell bestimmt, wodurch
es zu einer Maßnahme gegen Nichtmuslime wurde. 87 Prozent der Besteuerten waren
Nichtmuslime – bei einem Anteil von unter 2 Prozent an der Gesamtbevölkerung. Sie zahlten
90 Prozent der Steuereinnahmen. Faktisch führte die Steuer zu einer staatlichen Enteignung
der nichtmuslimischen Minderheiten. Oft überstieg die Steueraufforderung das gesamte
Vermögen der Betroffenen, die dann in Zwangsarbeitslagern ihre „Steuerschulden“
abarbeiten sollten. Dies, begleitet von judenfeindlichen Artikeln in der Presse, führte zu einer
größeren Resignation unter den türkischen Juden, so dass viele Juden die Türkei Richtung
Palästina verließen.

Flucht in die Türkei?


In zahlreichen Publikationen wird darauf verwiesen, dass die Türkei während des Dritten
Reichs zahlreiche politische Gegner des Regimes und Juden aufgenommen hätte. Dies wird
als humanitäre Geste und als Beweis für die Nicht-Existenz des Antisemitismus in der Türkei
sowie als politische Gegnerschaft zum NS-Regime dargestellt. Allerdings muss dies relativiert
werden. So wurden die deutschen Migranten nach Nützlichkeitskriterien aufgenommen;
unter den Professoren und Ingenieuren waren ebenso Gegner wie Befürworter des NS-
Regimes, wobei letztere im Übrigen die Mehrheit der in der Türkei lebenden Deutschen
bildeten. Daneben war die Aufnahme von Juden seitens des türkischen Staates nicht
erwünscht und 1937 wies das türkische Außenministerium die Botschaften und Konsulate an,
die Migration von Juden aus Deutschland in die Türkei zu verhindern, indem etwa keine
Einreisevisa erteilt wurden. Die deutschen Juden, die bis dahin in die Türkei geflüchtet
waren, sollten ausgewiesen werden. 1938 wurde die Flucht von Juden in die Türkei dadurch
weiter erschwert, dass die türkischen Konsulate in Deutschland für die Erteilung von
Einreisevisa in die Türkei „Ariernachweise“ verlangten. In anderen Staaten mit
judenfeindlicher Gesetzgebung (Italien, Rumänien und Ungarn) sollten ebenfalls keine
Einreisevisa für Juden vergeben werden. So konnten zwischen 1933 und 1945 insgesamt nur
500 bis 600 Juden legal vor dem NS-Regime in die Türkei fliehen, wo sie nur kurze Zeit
bleiben durften und vielfach wieder abgeschoben wurden oder „freiwillig“ das Land wieder
verließen.

Türkische Juden unter dem NS-Regime


Zum Zeitpunkt der NS-Machtergreifung 1933 lebten etwa 750 türkische Juden im Deutschen
Reich. Im Verlauf des Zweiten Weltkrieges lebten 20.000 bis 25.000 türkische Juden im vom
NS-Regime eroberten Europa. Als Staatsbürger eines anderen Landes waren sie nicht im
gleichen Maße wie die deutschen Juden von der antisemitischen NS-Politik betroffen sondern
genossen einen relativen Schutz. Dieser Schutz wurde nie juristisch genau festgelegt und war
je nach Politik des Herkunftslandes mehr oder weniger stark. Ob ausländische Juden vor
Deportation und Mord geschützt waren, hing oft davon ab, ob ihr Herkunftsland sich für sie
einsetzte und ob das Land für das NS-Regime eine Relevanz hatte. Außenpolitische Faktoren
und gute Handelsbeziehungen konnten dazu führen, dass bestimmte ausländische Juden
nicht deportiert und ermordet wurden.
Im Falle der türkischen Juden wurde dieser Schutz dadurch unterminiert, dass die Türkei in
den 1920er und 1930er Jahre eine Reihe von Dekreten und Gesetzen erließ, die dazu führten,
dass vielen in Ausland lebenden Türken die Staatsbürgerschaft entzogen wurde. Die
Maßnahmen richteten sich zuerst gegen nichtmuslimische Minderheiten und sollten etwa die
Rückkehr von Griechen und Armeniern in die Türkei verhindern. Mit dem Entzug der
Staatsbürgerschaft war vielfach ein Einreiseverbot in die Türkei verbunden, auch dann, wenn
die Betroffenen später eine andere Staatsbürgerschaft hatten. So konnten die türkischen Juden
selbst dann nicht in die Türkei fliehen, wenn sie etwa die französische Staatsbürgerschaft
erhalten hatten.
So waren bei Kriegsbeginn 1939 bereits tausende in Europa lebende türkische Juden
ausgebürgert. Sie verloren damit ihren relativen Schutz als Bürger eines neutralen Staates. Als
nunmehr Staatenlose genossen sie keinerlei Schutz und waren oft die ersten Opfer von
Deportation und Mord.
Mit den deutschen Kriegserfolgen kamen mehr und mehr türkische Juden in den NS-
Machtbereich. Frankreich war das wichtigste Exilland für türkische Juden in Europa und
wurde 1941 besetzt. Ab 1942 setzte das NS-Regime darauf, die ausländischen Juden aus ihrem
Machtbereich zu vertreiben. Dazu wurden die neutralen Staaten aufgefordert, ihre jüdischen
Staatsbürger in die Heimatländer zurückzuführen – sonst würde man sie deportieren und
umbringen.
Die Türkei reagierte auf diese Aufforderung mit der Ausbürgerung weiterer türkischer Juden.
Von den 5.000 bis 10.000 türkischen Juden, die noch die türkische Staatsbürgerschaft besaßen
(die Übrigen waren bereits ausgebürgert), wurden mehr als 2.600 Juden ausgebürgert. Ebenso
fatal war die Entscheidung der türkischen Regierung, nur wenige Juden in die Türkei
zurückzuführen zu lassen. Die Türkei wollte eine Masseneinwanderung von Juden
verhindern, auch wenn es eigene Staatsbürger waren. Im Übrigen wurden die Kosten für die
Rückführung der türkischen Juden nicht vom türkischen Staat, sondern von jüdischen
Organisationen getragen.
Dabei hätte die Türkei sich durchaus für ihre jüdischen Staatsbürger einsetzen können. Das
NS-Regime hatte Interesse daran, die „deutschfreundliche Neutralität“ (Guttstadt) der Türkei
aufrechtzuerhalten und war auf kriegswichtige Chromlieferungen aus der Türkei
angewiesen. Diese Interessen führten auch dazu, dass das deutsche Auswärtige Amt darauf
drängte, nur die ausgebürgerten türkischen Juden zu deportieren und die türkischen
Staatsbürger vor antijüdischen Maßnahmen zu schützen.
Lediglich einzelne türkische Diplomaten setzten sich für ihre jüdischen Staatsbürger ein, um
etwa die Beschlagnahmung ihres Eigentums zu verhindern oder ihre Freilassung aus der Haft
zu erreichen. Türkische Juden, die ausgebürgert waren oder deren Papiere nicht
ordnungsgemäß waren (weil sie etwa ihre Pässe während des Krieges nicht verlängern
konnten), erhielten keinerlei Unterstützung - bis auf ein einzigen Fall: Der türkische
Honorarkonsul in Lyon stellte eigenmächtig ausgebürgerten türkischen Juden Papiere aus,
bis die türkische Regierung diese nicht gewünschte Maßnahme entdeckte und sofort
beendete.
Während des Zweiten Weltkrieges wurden etwa 3.000 türkische Juden in die
Konzentrationslager deportiert, viele von ihnen verloren ihr Leben. Andere wurden bei
Razzien und in Durchgangslagern ermordet oder starben aufgrund der unmenschlichen
Haftbedingungen. Von den 20.000 bis 25.000 türkischen Juden gelangten etwa 850 bis 900 in
die Türkei. Insgesamt war die offizielle türkische Politik darauf gerichtet eine Einwanderung
von Juden in die Türkei zu verhindern und war kaum am Schicksal der türkischen Juden
unter dem NS-Regime interessiert.
Dies lässt sich jedoch weniger aus einem türkischen Antisemitismus heraus erklären, sondern
ist vielmehr Teil einer staatlichen Politik, die auf Türkisierung und die Schaffung eines
ethnisch homogenen Staates setzte. Die Auswanderung türkischer Juden aus der Türkei in
den 1920er und 1930er Jahre war ebenso erwünscht, wie die Auswanderung anderer
Minderheiten. Und folgerichtig war die Flucht der türkischen Juden von dem NS-Regime in
die Türkei unerwünscht.

Eine wichtige Studie

Die weitere Forschung über die türkischen Juden unter dem NS-Regime wird sich an der hier
wiedergegebene Studie orientieren müssen. Corry Guttstadt stellt die Wege der türkischen
Juden detailliert dar und gibt umfassende Auskunft darüber, in welcher Situation die Juden
in der Türkei lebten und warum sie nach Europa einwanderten, wie sie vom NS-Regime
verfolgt wurden und wie sich der türkische Staat dazu verhielt.

Ismail Küpeli

Corry Guttstadt: Die Türkei, die Juden und der Holocaust. Assoziation A, Berlin/Hamburg
2008.

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